Guy de Maupassant
Das Haus
Guy de Maupassant

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Das Haus

I

Jeden Abend gegen elf Uhr ging man dort hin, genau so wie ins Café.

Immer dieselben sechs bis acht Herren fanden sich da zusammen, keine Nachtschwärmer, sondern ganz ehrbare Kaufleute und junge Herren aus der Stadt. Man trank seinen Chartreuse, neckte ein wenig die Mädchen oder führte eine ernste Unterhaltung mit der Madame, die sich allgemeiner Achtung erfreute.

Dann ging man vor Mitternacht nach Hause. Die jungen Leute blieben manchmal da.

Das Haus war sehr gemütlich, ganz klein, gelb angestrichen und befand sich an einer Straßenecke hinter der Stefanskirche. Von den Fenstern aus sah man auf den Hafen, wo die Schiffe lagen, die ausgeladen wurden, und auf den großen Salzwasserteich, »la Retenue« geheißen. Ganz hinten gewahrte man Höhenzüge mit einer alten grauen Kapelle.

Madame stammte aus einer guten Bauernfamilie aus dem Departement Eure. Sie hatte dieses Geschäft übernommen genau so, als ob sie Modistin oder Wäscherin geworden wäre. Der Makel, der an der Prostitution hängt und sich in den Städten so lebhaft und stark ausdrückt, existiert in der Normandie auf dem Lande nicht. Der Bauer sagt: »es nährt seinen Mann« und sieht sein Kind ebensogern an der Spitze eines Harems von öffentlichen Mädchen, wie als Vorsteherin eines Pensionates für höhere Töchter.

Übrigens war dieses Haus von einem Onkel ererbt. Madame und ihr Mann hatten früher in der Nähe von Ivetot eine Gastwirtschaft gehabt, gaben ihr Geschäft aber sofort auf, da sie das in Fécamp für vorteilhafter hielten. So waren sie eines schönen Morgens angekommen und hatten die Leitung des Etablissements übernommen, dessen Bestand ohne Überwachung seitens eines Besitzers gefährdet schien.

Es waren brave Leute, die sich sofort bei ihrem Personal beliebt zu machen verstanden. Der Herr starb schon nach zwei Jahren am Herzschlage. Sein neuer Beruf ernährte ihn behaglich und verurteilte ihn zur Bewegungslosigkeit. So war er dick geworden. Die Gesundheit hatte ihn sozusagen umgebracht.

Madame wurde seit ihrer Witwenschaft vergeblich von allen Stammgästen des Etablissements begehrt, aber sie galt allgemein für durchaus unnahbar und sogar ihre Pensionäre hatten ihr nichts nachsagen können.

Sie war groß, von gefälligen, runden Formen; ihre Hautfarbe war im Dunkel dieses immer geschlossenen Hauses gebleicht wie unter einem dicken Lack. Um ihre Stirn lief eine kleine Franze falscher gebrannter Lökchen und gab ihr ein jugendliches Aussehen, das einigermaßen von der Reife ihrer Formen abstach. Sie war stets heiter, hatte offene Züge, machte gern einen Spaß, jedoch mit einer Art Zurückhaltung, die ihr der neue Beruf noch nicht genommen. Gewöhnliche Worte kränkten sie immer ein wenig und wenn irgend ein ungezogener Mensch ihr Etablissement beim eigentlichen Namen nannte, ward sie wütend und empört. Sie war feinfühlig, und obwohl sie ihre Mädchen wie Freundinnen behandelte, so liebte sie es doch, merken zu lassen, daß sie von anderem Herkommen sei.

Manchmal unternahm sie mit einem Teil ihrer Pflegebefohlenen einen Ausflug zu Wagen. Dann scherzte und tollte man auf einer Wiese umher, irgendwo am Ufer des kleinen Flusses, der im Thälchen von Valmont fließt. Sie machten dann den Eindruck durchgebrannter Pensionsmädchen, rannten hin und her, scherzten und lachten wie die Kinder. Auf dem Rasen wurde gefrühstückt, Apfelwein dazu getrunken, und bei sinkender Nacht kehrte man süß ermattet und mit stiller Zärtlichkeit im Herzen heim. Dann wurde die Madame im Wagen wie eine liebe, gute, nachsichtige Mutter geküßt.

Das Haus hatte zwei Eingänge. An der Ecke lag eine Art von elendem, kleinem Café, das abends den gewöhnlichen Leuten und den Matrosen offen stand. Zwei der Mädchen waren besonders für diesen Teil der Kunden bestimmt. Sie bedienten unter Beihilfe eines kleinen bartlosen Burschen, Namens »Friedrich«, der aber stark war wie ein Bulle, die Gäste und kredenzten auf wackeligen Marmortischen einen Schoppen Wein oder ein Glas Bier. Dann setzten sie sich den Leuten auf den Schoß und animierten sie zum Trinken.

Die anderen drei Damen (es waren im Ganzen fünf) bildeten eine Art von Aristokratie und blieben für die Gäste im ersten Stock reserviert, außer wenn oben niemand war, oder sie unten dringend nötig schienen.

Der Jupitersalon, wo sich die Bürger des Ortes zusammenfanden, war blau tapeziert, und mit einem großen Öldruck »Leda mit dem Schwan« geschmückt. Man gelangte dorthin vermittelst einer kleinen Wendeltreppe, zu der von der Straße aus eine enge niedrige Thür führte, über der die ganze Nacht hindurch hinter einem Gitter eine kleine Laterne leuchtete, wie jene, die in manchen Städten am Fuße der in die Wand eingelassenen Madonnenbilder brennen.

Das Gebäude war feucht und alt und roch etwas nach Moder. Ab und zu wehte ein Duft von Eau de Cologne durch die Gänge. Wenn die Thür nach unten halb offen stand, so hörte man im ganzen oberen Stock ein donnerartiges Getöse: das pöbelhafte Gebrüll der Männer, die im Erdgeschoß saßen. Und dann lief über die Gesichter der Herren in der Bel-Etage ein Ausdruck von Beunruhigung und Ekel.

Madame, die mit ihren Klienten oben auf freundschaftlichem Fuße stand, verließ nie den Salon und interessierte sich sehr für die Neuigkeiten aus der Stadt, die sie von ihnen erfuhr. Ihre ernste Unterhaltung stand in schroffem Gegensatz zu derjenigen der drei Mädchen. Sie war wie eine Art Ruhepunkt in den gewagten Wortspielen der beleibten Rentiers, die sich jeden Abend hier die ganz anständige und höchst harmlose Ausschweifung erlaubten, ein Gläschen Schnaps in Gesellschaft öffentlicher Mädchen zu trinken.

Die drei Damen des ersten Stockes hießen Fernande, Raphaëla und Rosa »die Mähre«.

Da das Personal beschränkt war, so hatte man versucht, es so einzurichten, daß jede von ihnen einen bestimmten Typus repräsentierte, damit jeder Besucher so etwa die Verkörperung seines Ideals finden könnte.

Fernande war die blonde Schönheit, groß, fast fett, üppig, ein Mädchen vom Lande, deren Sommersprossen durchaus nicht verschwinden wollten und deren flachsartiges, spärliches, kurzes Haar farblos war wie gekämmter Hanf.

Raphaëla aus Marseille, die sich in allen Häfen herumgetrieben, verkörperte die unvermeidliche »schöne Jüdin«. Sie war mager, hatte vorspringende Backenknochen mit roten Flecken. Ihr schwarzes Haar, das sie mit Rindermarkpomade glänzend machte, bildete an den Schläfen zwei Kringel. Ihre Augen wären schön gewesen, wenn nicht das rechte auf der Hornhaut einen Fleck gehabt hätte. Ihre krumme Nase bog sich auf ein starkes Gebiß herab, oben mit zwei neuen falschen Zähnen, die von denen im Unterkiefer, welche allmählich eine dunklere, altem Holz ähnliche Färbung angenommen hatten, abstachen.

Rosa »die Mähre« war eine kleine, dicke Fettkugel mit kurzen Beinen. Sie sang von früh bis abends mit dünner Stimme, bald schmutzige, bald sentimentale Lieder, erzählte unendliche thörichte Geschichten und hörte nur auf zu reden, um zu essen und auf zu essen, um zu reden. Den ganzen Tag war sie in Bewegung, geschmeidig wie ein Eichhörnchen trotz ihrer Dicke und der Kleinheit ihrer Pfötchen. Aus allen Ecken klang ihr Lachen, eine ganze Tonleiter von schrillen Tönen, bald von hier, bald von dort, aus einem Zimmer, vom Boden, vom Café herauf und jedesmal lachte sie um nichts.

Die beiden Mädchen im Erdgeschoß, Louise, mit Spitznamen »Cocote«, und Flora, die »Schaukel« genannt, weil sie ein wenig hinkte, sahen wie Köchinnen aus, die sich zum Maskenball angezogen haben. Die eine erschien immer als eine Art Freiheitsgöttin mit einem Gürtel in den Farben der Trikolore, die andere in einem spanischen Phantasiekostüm, geschmückt mit lauter Kupfermünzen, die in ihrem rötlichen Haar bei jedem ungleichmäßigen Schritt klimperten und klirrten. Die beiden, die nicht häßlicher noch hübscher waren als andre – so die richtigen Kellnerinnen – hatten im ganzen Hafen den Spitznamen, »die beiden Pumpen.«

Unter den Mädchen herrschte ein eifersüchtiger Friede. Er ward selten gestört, dank der Vermittelung der Madame und dank ihrer ewig gleich guten Laune.

Da das Etablissement das einzige war in der kleinen Stadt, so erfreute es sich eines regen Zuspruches. Madame hatte es verstanden, ihm sozusagen einen anständigen Anstrich zu geben. Sie war gegen jedermann so liebenswürdig, so zuvorkommend und ihr gutes Herz war so bekannt, daß sie sich einer Art von Hochachtung erfreute. Die Stammgäste bemühten sich alle um sie und jeder fühlte sich sehr gekratzt, wenn sie gegen ihn liebenswürdig war. Begegneten sie einander tagsüber in Geschäften, so sagten sie wohl: »Heute abend, Sie wissen schon!« so, wie man etwa fragt: »Kommen Sie nach Tisch ins Café?«

Kurz, das Etablissement Tellier war eine Art Klub geworden und selten fehlte einer bei den täglichen Zusammenkünften.

Da fand eines Abends gegen Ende Mai der Holzhändler und frühere Bürgermeister Poulin, der heute gerade zuerst kam, die Thür verschlossen. Die kleine Laterne leuchtete nicht mehr hinter ihrem Gitter, man hörte von innen keinen Lärm, alles schien wie erstorben. Er klopfte zuerst ganz leise, darauf stärker. Niemand antwortete. Dann schritt er mit kleinen kurzen Schritten die Straße wieder hinauf, und als er auf den Marktplatz kam, begegnete er dem Schiffsrheder Duvert, der auch das Haus aufsuchen wollte. Sie kehrten zusammen um, aber ohne besseren Erfolg. Da erhob sich in ihrer Nähe plötzlich ein fürchterlicher Skandal und als sie um die Ecke bogen, gewahrten sie eine Anzahl englischer und französischer Matrosen, die mit den Fäusten an die geschlossenen Läden des Cafés donnerten.

Sofort entflohen die beiden Bürger, um nicht kompromittiert zu werden. Aber ein leises ›Pst!‹ ließ sie stillstehen. Es kam von Herrn Tournevau, dem Fischselcher, der sie erkannt hatte und sie anrief. Sie erzählten ihm, was sie wahrgenommen. Das schien ihm um so unangenehmer zu sein, als er verheiratet war, Familienvater und seine Frau ihn sehr überwachte. So konnte er nur Sonnabends dort hinkommen. »Securitatis causa«, wie er sagte. Das bezog sich auf die Thätigkeit der Sanitätspolizei, deren jedes Mal wiederkehrenden Termin ihm sein Freund Dr. Borde verraten. Heute war gerade sein Abend und so sah er sich für die ganze Woche auf das Trockene gesetzt.

Die drei Männer machten einen großen Bogen bis an den Quai und trafen unterwegs den Bankiersohn Herrn Philippe, auch ein Stammgast, und Herrn Pimpesse, den Einnehmer. Nun kehrten alle noch einmal zusammen durch die Jüdenstraße zurück, um einen letzten Versuch zu wagen. Aber die wütenden Matrosen hielten das Haus richtig belagert, schmissen mit Steinen und heulten, sodaß die fünf Besucher des ersten Stockes so schnell als möglich umkehrten und begannen in den nächsten Straßen umherzuirren.

Allmählich trafen sie noch den Versicherungsagenten Dupuis und den Handelsrichter Vasse.

Nun unternahmen sie alle einen langen Spaziergang bis an den Hafen. Dort setzten sie sich der Reihe nach neben einander auf die Granitbrüstung und sahen dem Spiel der Wellen zu. Auf den Wogenköpfen leuchtete der Schaum in der Dunkelheit mit weißem Licht, das wieder verlöschte, als es kaum erschienen und längs der Felsenküste klang durch die Nacht das einförmige Branden der See gegen die Felsen. Als die traurigen Spaziergänger dort eine Weile gesessen, erklärte Herr Dupuis:

– Na, zum Totschreien ist das nicht.

Herr Pimpesse antwortete:

– Das stimmt.

Und sie machten sich langsam wieder auf den Weg.

Nachdem sie die Straße hinabgeschritten, die sich längs des Ufers auf der Höhe hinzieht und »Sous-le-bois« heißt, kamen sie über die Holzbrücke zurück zur Retenue. Dann gingen sie an der Eisenbahn hin und gelangten endlich auf den neuen Marktplatz, wo plötzlich ein Streit ausbrach zwischen dem Einnehmer Pimpesse und dem Fischselcher Tournevau. Es handelte sich um die Eßbarkeit eines Pilzes, den der eine in der Umgegend gefunden haben wollte.

Da sich die Herren durch die Langeweile in gereizter Stimmung befanden, so wäre es vielleicht zu Thätlichkeiten gekommen, wenn sich nicht die übrigen ins Mittel gelegt hätten. Pimpesse ging wütend davon und sofort entstand eine neue Meinungsverschiedenheit zwischen Herrn Poulin, dem früheren Bürgermeister, und dem Versicherungsagenten Dupuis über die Höhe des Gehaltes des Einnehmers und über die Vorteile, die er sich etwa verschaffen könnte. Beleidigende Worte fielen von beiden Seiten. Aber da ertönte plötzlich ein mächtiges Gebrüll und die Matrosenschar, die das Warten vor dem verschlossenen Hause satt bekommen, bog auf den Marktplatz. Sie hatten sich zu zwei und zwei untergehakt, und bildeten so eine lange Prozession. Sie brüllten fürchterlich. Die Bürgersleute retteten sich unter ein Thor, und die heulende Horde verschwand nach der Abtei zu. Lange noch hörte man das immer leiser werdende Geschrei wie ein Gewitter, das sich entfernt; dann ward es still.

Herr Poulin und Herr Dupuis, die auf einander wütend waren, verschwanden nach entgegengesetzten Seiten, ohne sich zu grüßen.

Die übrigen vier setzten sich wieder in Gang, ganz von selbst nach dem Etablissement Tellier. Es lag noch immer in tiefem Schweigen verschlossen da. Ein Betrunkener klopfte beharrlich leise an der Straßenfront des Cafés und blieb dann stehen, um mit gedämpfter Stimme nach ›Friedrich‹ zu rufen. Als er sah, daß ihm niemand antwortete, setzte er sich auf die Schwelle, der Dinge zu warten, die da kommen sollten.

Die Bürger wollten sich zurückziehen, als plötzlich die Matrosenschar wieder am Ende der Straße auftauchte. Die französischen Matrosen gröhlten die Marseillaise, die englischen das »Rule Britannia«. Dann schlugen sie alle wie toll gegen die Mauern, und endlich entfernte sich die ganze Bande nach dem Quai zu, wo zwischen den Matrosen beider Völker eine Schlacht ausbrach, die einem Engländer einen zerbrochenen Arm und einem Franzosen eine zerschlagene Nase eintrug.

Der Betrunkene, der vor der Thür sitzen geblieben war, weinte jetzt, als hätte er das heulende Elend bekommen, oder wie ein Kind, dem man den Willen nicht gethan.

Endlich zerstreuten sich die Bürger.

Allmählich ward es ruhiger, ruhig in der lärmdurchtobten Stadt. Ab zu klang hie und da Stimmengetöse, dann verlor es sich in der Weite.

Nur ein Mann irrte noch umher: der Fischselcher Tournevau. Er war zu sehr außer sich, bis zum nächsten Sonnabend warten zu sollen. Und da er nicht begriff, was das bedeutete, und sich empört fragte, wie es die Polizei nur dulden könne, daß eine solche öffentliche Volkswohl-Anstalt, die sie überwacht und unter ihren Fittigen geborgen hält, geschlossen wird, so hoffte er immer noch auf irgend einen glücklichen Zufall.

Er kehrte zurück, spähte um die Mauern und wollte den Grund finden. Endlich entdeckte er auf dem Fensterladen eine Karte, die man dort angeklebt. Er zündete schnell ein Streichholz an und las die mit großer, ungleichmäßiger Handschrift hingesetzten Worte: »Wegen Einsegnung geschlossen.«

Da ging er davon, weil er einsah, daß nichts zu machen sei.

Der Betrunkene hatte sich nun quer über die ungastliche Schwelle gestreckt und schlief.

Am anderen Tag fanden alle Stammgäste einer nach dem andern einen Vorwand, mit irgend einem Aktenbündel unter dem Arm, um sich Haltung zu geben, durch die Straße zu gehen, und schnell las jeder die rätselhafte Inschrift: »Wegen Einsegnung geschlossen!«

II

Madame hatte nämlich einen Bruder, der Tischler war in Virville im Departement Eure, ihrem Heimatsort. Als Madame noch in Yvetot das Wirtshaus besaß, hatte sie die Tochter dieses Bruders über die Taufe gehalten. Sie erhielt den Namen Konstanze Rivet; Madame war eine geborene Rivet. Der Tischler, der wußte, daß es seiner Schwester gut ging, verlor sie nicht aus dem Auge, obgleich sie sich selten sahen, da sie beide beschäftigt waren und weit von einander entfernt wohnten. Aber als das junge Mädchen etwa zwölf Jahre geworden und dieses Jahr zur ersten Kommunion gehen sollte, benützte er diese Gelegenheit und schrieb seiner Schwester, daß er auf ihr Erscheinen für die heilige Handlung rechne. Die Großeltern waren tot, so konnte sie ihrer Nichte das nicht abschlagen. Sie nahm an. Ihr Bruder Josef hoffte es durch große Liebenswürdigkeit dahin zu bringen, daß sie ein Testament zu Gunsten der Kleinen mache. Madame hatte nämlich keine Kinder.

Der Beruf seiner Schwester störte ihn nicht im mindesten; übrigens wußte auch in der Gegend niemand weiter davon. Wenn man von ihr sprach, so hieß es nur: »Frau Tellier lebt in Fécamp«, dann konnte man vermuten, daß sie von ihren Renten lebe. Fécamp lag wenigstens zwanzig Meilen von Virville, und für Bauern sind zwanzig Meilen eine größere Entfernung als der Ozean für einen Kulturmenschen. Die Einwohner von Virville waren niemals über Rouen hinausgekommen, und die von Fécamp, einem Ort von dreihundert Häusern, der mitten auf der Ebene, sogar in einem anderen Departement, lag, hatte nie etwas nach Virville gezogen. Kurzum, man wußte nichts.

Aber als die Zeit der ersten Kommunion herannahte, befand sich Madame in großer Verlegenheit. Sie besaß keine Wirtschafterin und mochte das Haus nicht allein lassen, sei es auch nur einen Tag. Dann würde zwischen den Damen oben und unten sicher Streit ausbrechen, Friedrich betränke sich ganz bestimmt, und wenn er einmal einen sitzen hatte, schlug er die Leute tot um ja oder nein. Endlich entschloß sie sich, alle mitzunehmen, nur den Burschen nicht, dem sie bis übermorgen frei gab.

Sie fragte bei ihrem Bruder an. Er machte durchaus keine Schwierigkeiten und erklärte sich sogar bereit, für eine Nacht die ganze Gesellschaft unterzubringen. So führte denn am Sonnabend Morgen der Acht-Uhr-Kurierzug Madame und ihre Damen in einem Wagen zweiter Klasse davon.

Bis Beuzeville waren sie allein und schwatzten wie die Elstern. Aber auf der Station stieg ein Ehepaar ein. Der Mann war ein alter Bauer in blauer Bluse mit in Fittichen gelegtem Kragen, weiten Ärmeln, die am Gelenk enger wurden und mit kleiner, weißer Stickerei geschmückt waren. Er trug einen altertümlichen, hohen Hut, dessen rötliches Haar ganz struppig war. In der einen Hand hielt er einen riesigen, grünen Regenschirm und in der anderen einen mächtigen Korb, aus dem ganz erschrocken drei Enten guckten. Die Frau saß steif in ihrem ländlichen Staat da und glich mit ihrer spitzen, schnabelähnlichen Nase einer alten Henne. Sie setzte sich ihrem Manne gegenüber und blieb unbeweglich sitzen, weil es ihr Eindruck machte, in so feingekleidete Gesellschaft gekommen zu sein.

Und in der That schillerte das Kupee in allen Farben. Madame war in blauer Seide von Kopf bis zu Fuß, darüber trug sie einen Shawl aus unechtem französischen Cachemir, rot, augenblendend, daß er nur so leuchtete. Fernande hatte ein schottisches Kleid an und rang nach Atem, denn die Taille war von ihren Freundinnen mit aller Gewalt geschnürt, sodaß sie den hängenden Busen in zwei Kugeln in die Höhe drückte, die sich fortwährend bewegten, als wäre etwas Flüssiges unter dem Stoff.

Raphaëla trug zu einem goldfiitterbesetzten Kleide einen Federschmuck im Haar, der ein Nest kleiner Vögel darstellen sollte. Das gab ihr einen orientalischen Anstrich, der zu ihrer Judenphysiognomie gut paßte.

Rosa, »die Mähre«, war in einem Rosakleid mit mächtigen Volants erschienen. Sie sah aus wie ein zu dickes Kind, wie eine fette Zwergin. Die beiden Pumpen schienen sich Costüme aus alten Gardinen zusammengeschneidert zu haben, aus großblumigem Stoff, wie er unter der Restauration Mode gewesen.

Sobald die Damen nicht mehr allein im Wagenabteil saßen, nahmen sie eine würdevolle Haltung an und begannen von ernsten Dingen zu reden, um einen guten Eindruck zu machen. Aber in Bolbec stieg ein blondbärtiger Herr ein, mit Ringen und Uhrkette, der oben in das Netz über seinem Kopf mehrere Packete in Wachsleinwand legte. Er machte den Eindruck eines Witzboldes und ganz guten Kerls. Er grüßte, lächelte und fragte sofort gemütlich:

– Die Damen wechseln wohl die »Kaserne«?

Diese Frage erregte allgemeine Verlegenheit. Endlich gewann Madame die Haltung wieder und antwortete trocken, um die Standesehre zu wahren:

– Sie könnten wohl etwas höflicher sein!

Er entschuldigte sich:

– Pardon, ich wollte sagen das »Kloster«.

Madame fand keine Antwort; vielleicht meinte sie auch, daß ihnen Genüge geschehen. Sie nickte würdevoll und kniff die Lippen zusammen.

Da fing der Herr, der zwischen Rosa der Mähre und dem alten Bauern saß, an, mit den drei Enten zu liebäugeln, deren Köpfe aus dem großen Korb guckten. Als er merkte, daß er bei den Anwesenden Eindruck machte, begann er, die Tiere unter dem Schnabel zu krabbeln und hielt ihnen kleine Reden zu allgemeiner Erheiterung:

– Wir haben unseren kleinen Teich verlassen – quäk, quäk! um einen kleinen Bratspieß kennen zu lernen, quäk, quäk!

Die unglücklichen Tiere wandten den Hals, um seinen Zärtlichkeiten zu entgehen und machten verzweifelte Anstrengungen, ihr korbgeflochtenes Gefängnis zu verlassen. Plötzlich fingen alle drei an, in fürchterlicher Angst zu rufen:

– Quäk! Quäk! Quäk!

Da platzten die Damen heraus, bogen sich vor, schubsten einander, um besser zu sehen. Die Enten erregten ungeheures Interesse, und der Herr setzte mit Feuereifer seine Neckereien fort.

Rosa mischte sich hinein, beugte sich über die Kniee ihres Nachbarn und küßte die drei Enten auf den Schnabel. Sofort wollten alle anderen sie auch küssen, und der Herr setzte die Damen auf seine Kniee, ließ sie wippen, kniff sie und nannte sie plötzlich »Du«.

Das bäuerliche Ehepaar, das noch mehr erschrocken war als sein Geflügel, blickte sich ratlos um und wagte keine Bewegung zu machen. Über die alten, runzeligen Gesichter lief kein Lächeln, sie blieben starr und steif.

Da fing der Herr, der Geschäftsreisender war, an, Ulk zu machen und bot den Damen Hosenträger an. Er nahm ein Packet und öffnete es, aber es war nur eine Falle, denn es enthielt Strumpfbänder.

Er hatte welche in blauer, roter, violetter, rosa, mauve, ponceau Seide mit metallenen Schnallen in Gestalt zweier vergoldeter Amoretten, die sich umarmten. Die Mädchen schrieen vor Freude. Dann sahen sie die Warenproben an, mit der den Frauen eigenen Neigung, Toilettengegenstände zu betrachten. Sie befragten sich gegenseitig um ihre Ansicht, flüsterten und wisperten.

Und Madame befühlte lüstern ein paar orangefarbene Strumpfbänder, die breiter und schöner waren als die anderen, sozusagen die richtigen »Madame«-Strumpfbänder.

Der Herr wartete, da er einen Plan hatte. Endlich sagte er:

– Na, Kinder, ihr müßt sie mal anprobieren.

Und sofort brach ein Sturm der Entrüstung los. Sie klemmten die Kleider zwischen die Beine, als befürchteten sie einen Angriff. Er aber wartete ganz ruhig den richtigen Augenblick ab und sagte:

– Na, wenn ihr nicht wollt, packe ich wieder ein.

Dann fügte er noch hinzu:

– Wer sie anprobieren will, kriegt nach freier Wahl ein Paar geschenkt.

Aber sie wollten nicht, nahmen eine sehr würdige Haltung an und wichen ablehnend zurück. Doch die beiden Pumpen schnitten ein so unglückliches Gesicht, daß er ihnen den Vorschlag noch einmal machte. Vor allem schien Flora, die Schaukel, die Begierde zu quälen, und sie schwankte, was sie thun sollte. Er drang in sie:

– Na, Kleine, nur 'n bissel Mut. Sieh mal die lila an, die passen gut zu Deinem Kleid.

Da faßte sie einen Entschluß, hob den Rock und zeigte ein Bein, dick wie das einer Kuhmagd, das mit einem ordinären, schlecht sitzenden Strumpf bekleidet war. Der Herr beugte sich nieder und machte das Strumpfband zuerst unter dem Knie, dann darüber fest. Dabei kitzelte er sie ein wenig, damit sie schreien sollte. Sobald er fertig war, fragte er weiter:

– Wer will?

Sie riefen alle zusammen:

– Ich! Ich! Ich!

Mit Rosa, der Mähre, fing er an, die ein unförmliches, rundes Ding zum Vorschein brachte, mit dicken Gelenken, ein wahres Wurstbein, wie Raphaëla sagte. Der Reisende, dem Fernandes mächtige Säulen Freude machten, drückte ihr seine Bewunderung aus. Die mageren Beine der schönen Jüdin fanden weniger Beifall. Louise, die Cocote, zog dem Herrn scherzeshalber ihr Kleid über den Kopf. Und Madame war genötigt, Einhalt zu gebieten, um diese unschicklichen Scherze aufhören zu lassen. Endlich hielt Madame selbst ihr Bein hin, einen runden, muskulösen, schönen normannischen Schenkel, und der Reisende, der ganz überrascht und entzückt war, zog höflich seinen Hut, um als richtiger Kavalier diese Prachtwaden zu salutieren.

Die beiden Bauern wußten nicht, wo sie hinblicken sollten und wandten sich zur Seite. Sie sahen jetzt so vollkommen zwei Hühnern ähnlich, daß der Herr mit dem blonden Backenbart aufstand und sie ankrähte:

– Kickeriki!

Das entfesselte einen neuen Orkan von Heiterkeit.

Die Alten stiegen in Motteville aus mit ihrem Korb, ihren Enten und dem Regenschirm, und man hörte, wie die Frau, als sie davongingen, zu ihrem Mann sagte:

– Das ist Luderzeug, das nach dem verfluchten Paris fährt!

Der Handlungsreisende selbst stieg in Rouen aus, nachdem er so zudringlich geworden war, daß Madame sich genötigt gesehen, ihn energisch zurückzuweisen. Sie zog daraus die Lehre: ein anderes Mal werden wir uns hüten, mit dem ersten besten anzubändeln.

In Oissel mußten sie umsteigen und trafen auf der nächsten Station Herrn Josef Rivet, der sie mit einem großen Wagen, auf dem eine Anzahl Stühle standen und vor den ein Schimmel gespannt war, erwartete.

Der Tischler grüßte die Damen höflich und half ihnen sein Gefährt besteigen. Drei setzten sich rückwärts, Raphaëla, Madame und ihr Bruder auf die drei Stühlen vorn, und da Rosa keinen Sitz mehr fand, so nahm sie, so gut es ging, auf dem Schoß der großen Fernande Platz. Dann ging es davon. Aber das ruckweise Anziehen des alten Schinders rüttelte den Wagen so fürchterlich durcheinander, daß die Stühle anfingen zu tanzen, und die Reisenden in die Luft flogen nach rechts und nach links, wie Hampelmänner, mit erschrockenen Gesichtern, mit Angstgeschrei, wenn ab und zu ein noch heftigerer Stoß kam. Sie krampften sich seitwärts am Wagen fest, die Hüte rutschten ihnen in den Nacken, ins Gesicht oder zur Seite, während der Schimmel immer weiter trabte vorgestreckten Halses, indem er ab und zu mit seinem kleinen dünnhaarigen Schwanze nach den Fliegen schlug. Josef Rivet hatte den einen Fuß auf die Deichsel gesetzt, das andere Bein zurückgezogen und hielt mit erhobenen Händen die Zügel, während er fortwährend dabei schnalzte, sodaß der Klepper die Ohren anlegte und seinen Gang etwas beschleunigte.

Zu beiden Seiten der Straße erstreckte sich das grüne Land. Hier und da blühte gelbwogender Raps, der einen gesunden, starken Geruch auströmte; der Wind trug ihn von weitem her. Aus dem Roggen, der schon hoch stand, ragten Kornblumen mit ihren himmelsfarbigen, kleinen Köpfchen. Die Mädchen wollten sie gern pflücken, aber Herr Rivet weigerte sich, anzuhalten. Dann erschien ab und zu ein Feld, das aussah, wie mit Blut übergossen, so wuchs überall der Mohn. Und mitten durch diese Ebene, die im Farbenspiel der Blumen prangte, fuhr der Wagen dahin, der selbst aussah, als sei er mit einem Strauß noch grellfarbigerer Blumen beladen. Er verschwand hinter den großen Bäumen eines Bauernhofes, tauchte dann wieder aus dem Laub auf und rollte wieder zwischen den gelben und grünen Feldern, auf denen hier und da einmal auch rote und blaue Tupfen auftauchten, mit seiner farbigen Wagenladung voll Mädchen hin, unter den glühenden Strahlen der Sonne.

Als man vor dem Hause des Tischlers hielt, schlug es ein Uhr.

Da sie alle seit der Abfahrt nichts zu sich genommen, waren sie todmüde und ganz blaß vor Hunger. Frau Rivet lief ihnen entgegen, half einer nach der andern aussteigen und küßte sie, sobald sie auf dem Boden standen. Ihre Schwägerin schmatzte sie fortwährend ab, um sie gut zu stimmen. In der Werkstatt, aus der man die Hobelbank herausgenommen für das Festmahl am nächsten Tage, wurde gegessen.

Als eine vorzügliche Omelette erschien und dann Bratwurst, die sie mit gutem Apfelwein herunterspülten, waren alle wieder guter Laune. Rivet stieß mit allen an, und die Frau bediente, kochte, trug die Schüsseln auf und wieder ab und flüsterte jeder einzelnen ins Ohr:

– Haben Sie auch genug zu essen?

An der Wand lehnten eine Menge Bretter, und die Haufen Hobelspähne in den Ecken strömten einen harzigen Holzgeruch aus, jenen kräftigen Geruch, der den Tischlerwerkstätten eigentümlich ist, den man gern mit vollen Zügen einatmet.

Man fragte nach der Kleinen. Aber sie war in der Kirche und sollte erst abends heimkehren.

Da brach die ganze Gesellschaft auf, einen Spaziergang zu machen.

Das Dorf war ganz klein und von der Landstraße durchschnitten. Zu beiden Seiten dieses einzigen Weges lag ein Dutzend Häuser, in denen die Gewerbtreibenden des Ortes, der Fleischer, der Krämer, der Tischler, der Wirt, der Schuhmacher und der Bäcker wohnten.

Am Ende dieser Dorfstraße stand die Kirche von einem schmalen Kirchhof umgeben. Vier mächtige Linden vor dem Portal beschatteten sie vollkommen. Sie war ganz stillos aus behauenen Feldsteinen gebaut und mit einem schiefergedeckten Turm verziert. Unmittelbar an die Kirche grenzten die Felder, die ab und zu von Baumgruppen unterbrochen waren, hinter denen die Bauernhöfe lagen.

Rivet trug noch sein Arbeitsgewand. Er hatte feierlich seiner Schwester den Arm gereicht, und schritt mit ihr würdevoll dahin. Das goldflimmernde Kleid von Raphaëla hatte es seiner Frau angethan: sie ging zwischen dieser und Fernande. Zum Schluß kam die dicke Rosa mit Louise, der Cocote, und Flora, die Schaukel, humpelte atemlos hinterdrein.

Die Einwohner traten in die Thüren, die Kinder hörten auf zu spielen. Hier und da ward eine Gardine bei Seite geschoben und ein Kopf mit einer Mütze erschien. Eine alte halb erblindete Frau, die am Wege stand, die Krücken in der Hand, schlug ein Kreuz wie vor einer Prozession und aller Blicke folgten diesen schönen Stadtdamen, die von so weit her zur ersten Kommunion von Josef Rivets Töchterchen gekommen. Es hob sichtlich des Tischlers Ansehen.

Als sie an der Kirche vorbei gingen, hörten sie Kinder singen. Scharfe, piepsige Stimmen sandten ein Gesangbuchlied zum Himmel. Madame wünschte nicht, daß man eintrete, um die Kleinen nicht zu stören.

Josef Rivet führte nach dem Spaziergang, nachdem die hauptsächlichsten Bauernhöfe gezeigt worden, der Ertrag des Bodens und der Viehzucht besprochen, seine Frauenherde wieder heim in die Wohnung.

Da der Raum sehr beschränkt war, hatte man ihnen zu je zweien ein Zimmer gegeben.

Rivet mußte heute auf den Hobelspähnen in der Werkstatt schlafen. Seine Frau wollte mit ihrer Schwägerin das Bett teilen und im Zimmer daneben sollten Fernande und Raphaëla zusammenschlafen. Louise und Flora waren auf einer Matraze am Boden in der Küche untergebracht, und Rosa hatte für sich allein eine kleine, dunkle Stube über der Treppe bekommen, dem Eingang zum schmalen Hängeboden gegenüber, wo die Kommunikantin ruhen sollte.

Als das kleine Mädchen nach Hause kam, regnete es Küsse. Alle Frauen wollten mit ihr schön thun, ein Ausfluß jenes Zärtlichkeitsbedürfnisses, jenes berufsmäßigen Dranges nach Liebkosungen, der sie im Kupee dazu gebracht hatte, die Enten zu küssen. Jede einzelne nahm sie auf die Kniee, strich ihr über das feine, blonde Haar und schloß sie stürmisch in die Arme. Das Kind war sehr artig, ganz erfüllt mit Frömmigkeit, wie gestärkt durch ihre erste Beichte, und ließ sich ruhig, geduldig streicheln.

Da der Tag für alle sehr anstrengend gewesen war, ging man zeitig nach dem Essen schlafen. Eine unendliche, fast heilige Ruhe war auf das kleine Dorf niedergesunken. Die an die aufregenden Abende des öffentlichen Hauses gewöhnten Mädchen waren ganz ergriffen von diese Stille der schlafenden Landschaft. Es lief ihnen ein Schauer über den Leib, nicht vor Kälte, sondern vor tiefer Bewegung, die aus ruhelosem Herzen stieg.

Sobald sie zu Bett waren, umarmten sie sich, je zwei und zwei, als müßten sie sich gegen diesen gewaltigen Eindruck schützen, den die tiefe Stille der schlafenden Erde auf sie hervorgebracht. Nur Rosa, die Mähre, die in ihrem dunklen Zimmerchen allein lag und nicht gewöhnt war, allein zu schlafen, fühlte ein unangenehmes Gefühl sie überkommen. Sie wälzte sich auf dem Lager hin und her, da sie nicht schlafen konnte. Plötzlich hörte sie hinter dem Holzverschlag ein leises Schluchzen wie das eines Kindes. Sie erschrak und rief. Da antwortete ihr eine schwache, dünne Stimme. Es war das kleine Mädchen, das sonst immer im Zimmer der Mutter geschlafen und nun Angst hatte auf dem Hängeboden.

Rosa war entzückt, stand auf und ging leise, um niemanden zu wecken, hinaus, das Kind zu holen. Sie nahm es mit in ihr warmes Bett, drückte es an die Brust, küßte es, hätschelte es und bewies ihm übertriebene Zärtlichkeit. Dann ward sie selbst ruhiger und schlief ein. Und bis Tagesanbruch ruhte die Stirn der Kommunikantin auf der nackten Brust der Prostituierten.

Um fünf Uhr klang vom kleinen Kirchturm das Morgengeläute und weckte die Mädchen, die gewöhnlich nach den nächtlichen Anstrengungen bis in den Tag hinein schliefen. Die Bauern im Dorfe waren längst auf. Geschäftig liefen Frauen von Thür zu Thür, schwatzten und brachten vorsichtig die steifgestärkten Mousselinkleidchen oder mächtige Kerzen mit einer Schleife und Goldquasten daran.

Die Sonne stand schon hoch und lachte vom blauen Himmel herab, der nur am Horizont einen Rosaschein zeigte wie einen schwachen Rest des Morgenrotes. Hühner liefen vor ihren Ställen umher und hier und da hob ein schwarzer Hahn seinen Kopf mit dem roten Kamm, schlug mit den Flügeln und ließ sein »Kickeriki« in die Lüfte schallen, das sofort alle übrigen Hähne wiederholten.

Von den Nachbarorten kamen Wagen an, hielten vor den Häusern, und die normannischen Bäuerinnen stiegen aus in ihren dunklen Kleidern mit dem kreuzweise über die Brust gelegten Tuch, das durch einen hundert Jahr alten Silberschmuck zusammengehalten ward. Die Männer hatten über ihren Rock aus grünem Tuch, über einen neuen ebensogut, wie über einen alten, die blaue Bluse gezogen, unter der die Rockschöße herauslugten.

Als die Pferde im Stall waren, stand längs der großen Straße eine doppelte Reihe von ländlichen Rollwagen, Leiterwagen, Kabrioletts, Tilburys, Bankwagen, Gefährten jeder Form und jeden Alters, die einen vorn auf die Erde gestützt, die anderen hintenübergelegt, die Deichsel hoch in der Luft.

Im Hause des Tischlers ging es zu wie in einem Bienenkorb. Die Mädchen im Korsett und Unterrock, das Haar offen – dieses dünne, kurze, durch ewiges Brennen und Frisieren sozusagen abgefressene Haar – halfen die Kleine ankleiden.

Das junge Ding stand auf einem Tisch und rührte sich nicht, während Frau Tellier die Bewegungen ihres fliegenden Korps leitete. Man wusch und kämmte die Kleine, frisierte sie, zog sie an, legte mit einer Menge Stecknadeln das Kleid in Falten, zog die zu weite Taille zusammen und machte das Kleid elegant. Als man damit fertig war, mußte sich die Patientin setzen und durfte sich nicht mehr bewegen. Dann lief der ganze aufgeregte Mädchenschwarm davon, um sich seinerseits zu schmücken.

Die Glocke der kleinen Kirche fing wieder an zu läuten. Der Klang des armseligen Glöckchens verlor sich im weiten Himmelsraum wie eine zu schwache Stimme, die die unendliche Weite bald verschluckt. Die Kommunikanten kamen aus den Thüren und gingen schnell zum Gemeindehaus, das die beiden Schulen und das Bürgermeisteramt enthielt und am einen Ende des Ortes lag, während sich das Gotteshaus am anderen befand.

Die Eltern folgten ihren Kleinen im Sonntagsstaat mit linkischen Gebärden und jenen ungeschickten Bewegungen von Menschen, die an schwere Arbeit gewöhnt sind. Die kleinen Mädchen verschwanden ganz unter einer Wolke von weißem Tüll, der wie Schlagsahne aussah, während die Jungen, winzigen Kellnern gleich, mit einpomadisiertem Kopfe, breitbeinig, um nicht die schwarze Hose zu beschädigen, dahinschritten.

Wenn von weit her viel Verwandte gekommen waren und die Kinder umstanden, so war jede Familie stolz. Und so konnte der Tischler am stolzesten sein. Das ganze Regiment Tellier, die Kommandeuse an der Spitze, folgte der kleinen Konstanze. Der Vater gab seiner Schwester den Arm, die Mutter ging neben Raphaela, Fernande mit Rosa, die beiden Pumpen zusammen. So machte die Truppe einen majestätischen Eindruck wie ein Generalstab in großer Uniform.

Der Eindruck im Dorfe war ein gewaltiger.

In der Schule ordneten sich die Mädchen unter Leitung der frommen Schwester, die Jungen unter Befehl des Lehrers, eines schönen, sehr würdig dreinschauenden Mannes. Dann setzten sie sich, einen Gesangbuchvers singend, in Bewegung.

Die Jungen gingen voraus, in zwei langen Reihen zwischen den ausgespannten Wagen dahin. In derselben Weise folgten ihnen die Mädchen. Und da die Einheimischen den Stadtdamen aus besonderer Hochachtung den Vortritt gelassen, schritten sie unmittelbar hinter den Kleinen, den Zug zu zwei und zwei noch verlängernd, drei links, drei rechts, und ihre Kleider leuchteten wie das reine Brillantfeuerwerk.

Ihr Eintritt in die Kirche brachte große Bewegung unter die Bevölkerung. Man drängte sich, wandte sich um und stieß sich, um sie zu sehen. Und die Gläubigen schwatzten beinahe laut, ganz baff über den Anblick dieser Damen, die noch mehr leuchteten und glitzerten und strahlten selbst als die Meßgewänder. Der Bürgermeister bot ihnen seine Bank an, die erste rechts am Chor. Frau Tellier setzte sich dort mit ihrer Schwägerin, Fernande und Raphaëla; Rosa, die Mähre, und die beiden Pumpen nahmen mit dem Tischler in der zweiten Reihe Platz.

Der Chor der Kirche war voll von Kindern, die Mädchen auf der einen, die Jungen auf der anderen Seite. Sie knieten dort, lange Kerzen in der Hand, die aussahen, wie ein nach allen Seiten geneigtes Heer von Spießen.

Vor dem Chorpult standen drei Männer und sangen mit lauter Stimme. Sie dehnten die Silben des voll klingenden Latein, und ihr Amen mit feinem A—A— wollte gar kein Ende nehmen. Dazu tönte der lang gehaltene eintönige Klang des Serpents. Eine scharfe Kinderstimme antwortete und ab und zu erhob sich aus einem Chorstuhl ein Priester, der eine viereckige Mütze trug, brummte etwas, setzte sich wieder, während die drei Sänger von neuem einfielen, das Auge starr auf das große Kirchengesangbuch geheftet, das vor ihnen aufgeschlagen lag auf den ausgespannten Flügeln eines holzgeschnitzten Adlers, der auf einer Säule schwebte. Dann ward alles still. Die ganze Gemeinde kniete auf einmal nieder. Und der amtierende Priester, ein alter, ehrwürdiger Mann mit weißen Haaren, erschien, auf den Kelch niedergebeugt, den er in der linken Hand trug. Vor ihm gingen die beiden Administranten in roten Gewändern, und hinter ihm eine Anzahl Sänger in groben Stiefeln, die sich zu beiden Seiten des Chores aufstellten.

Ein kleines Glöckchen klang durch die große Stille. Der Gottesdienst begann. Der Priester ging langsam vor dem vergoldeten Tabernakel hin und her, beugte das Knie und sang mit gebrochener Stimme, die vor Alter etwas meckernd klang, die Einleitungsgebete. Sobald er schwieg, fielen die Sänger und das Serpent auf einmal ein. Dazu sangen die Leute in der Kirche etwas weniger stark, bescheidener, wie es der Gemeinde geziemt.

Plötzlich ertönte das »Kyrie eleison« aus allen Kehlen und allen Herzen. Der Tonschwall war so gewaltig, daß vom alten Gewölbe durch die Erschütterung kleine Kalk- und Holzteilchen herabfielen. Die Sonne, die auf dem Schieferdach glühte, erzeugte in der kleinen Kirche eine wahre Schmelzofentemperatur. Und große Bewegung, ängstliche Erwartung vor dem Nahen des unaussprechlichen Mysteriums, ließ die Herzen der Kinder schneller schlagen und schnürte den Müttern die Kehle zusammen.

Der Priester, der einige Zeit gesessen, stieg wieder zum Altar hinauf mit bloßem Haupt, auf dem man das silberglänzende Haar sah, und schritt mit zitternder Gebärde zum heiligen Akte.

Er wandte sich zu den Gläubigen, streckte die Hände gegen sie aus und rief:

Orate fratres. Betet, meine Brüder!

Alles betete. Nun flüsterte der alte Priester wundersame, heilige Worte. Kurz nach einander klang das Glöckchen, und die Menge neigte sich vor Gott. Die Angst der Kinder stieg bis aufs Äußerste.

Da erinnerte sich plötzlich Rosa, die die Stirn in die Hände gebeugt dasaß, ihrer Mutter daheim, der Kirche in ihrem Dorfe und ihrer eigenen Einsegnung.

Es war ihr, als sei der Tag wiedergekommen, da sie noch so klein gewesen, an dem sie dagestanden in ihrem weißen Kleidchen, und sie fing an zu weinen. Zuerst glitten nur karge Thränen langsam über ihre Wangen. Dann aber gewann die Erinnerung immer mehr Gewalt über sie, die Halsadern schwollen an, ihre Brust hob und senkte sich, und sie schluchzte. Sie hatte ihr Taschentuch gezogen, wischte sich die Augen, betupfte sich Nase und Mund, daß man nichts hören sollte. Aber vergeblich. Eine Art von Röcheln drang aus ihrer Kehle, und zwei andere herzzerreißende, tiefe Seufzer antworteten ihr. Ihre beiden Nachbarinnen, die neben ihr knieten, Louise und Flora, waren von denselben fernen Erinnerungen überwältigt und stöhnten auch unter einem Strom von Thränen.

Aber Thränen stecken an. So fühlte auch Madame die Augen naß werden, und als sie sich zu ihrer Schwägerin umdrehte, sah sie, daß die ganze Bank weinte.

Der Priester bereitete das heilige Abendmahl vor. Die Kinder dachten an nichts mehr, sie lagen auf den Steinfliesen mit einer Art von furchtsamer Ergebenheit. Eine Frau, eine Mutter, eine Schwester nach der anderen netzte das gewürfelte Kattuntaschentuch mit ihren Thränen und preßte es mit der linken Hand auf ihr bebendes Herz. So überwältigte sie alle die heilige Handlung sowie der Anblick der schönen Damen, die dort knieten und die Schauer und Schluchzen überlief.

Wie eine brennende Lunte, die man in ein trockenes, reifes Kornfeld wirft, das Feuer weiterträgt, so steckten in einem Augenblick Rosas und ihrer Gefährtinnen Thränen die Menge an. Männer, Frauen, Greise, junge Kerls in neuer, blauer Bluse, alles weinte. Und es war, als ob über ihren Häuptern etwas Übermenschliches schwebe, ein Hauch des göttlichen, unsichtbaren, allmächtigen Wesens.

Da hörte man im Chor der Kirche ein kurzes Aufklopfen. Die Nonne hatte auf ihr Buch geschlagen und gab damit das Signal zur Kommunion. Und die Kinder näherten sich, von heiligem Schauder ergriffen, dem Tische des Herrn.

Eine ganze Reihe kniete nieder. Der alte Priester, der die silbervergoldete Monstranz in der Hand hielt, schritt an ihnen vorbei und reichte ihnen zwischen zwei Fingern die geweihte Hostie, den Leib Christi, die Erlösung der Welt. Sie öffneten wie im Krampfe nervös zitternd, mit geschlossenen Augen und bleichem Antlitz den Mund, und das lange Tuch, das unter ihr Kinn gehalten ward, zitterte wie fließendes Wasser.

Plötzlich durchlief die ganze Kirche eine Bewegung, ein Sturm von Schluchzen und unterdrückten Rufen. Wie Windstöße, die den Wald niederbeugen, lief es dahin, und der Priester blieb, eine Hostie in der Hand, ganz erstarrt vor innerer Bewegung stehen, indem er sich sagte: das ist Gott, Gott der unter uns tritt, der seine Gegenwart ankündigt, der auf mein Flehen sich niederläßt auf sein knieendes Volk. Und er stammelte unbestimmte Gebete, ohne die Worte zu finden, Gebete, die nur aus der Seele kamen, voller Inbrunst zum Himmel.

Er beendete die Kommunion mit solcher Glaubenserregung, daß ihn beinahe die Kraft verließ. Und als er selbst das Blut unseres Herrn und Heilandes getrunken, versank er weltverloren in tiefe Dankbarkeit.

Hinter ihm ward die Gemeinde allmählich ruhiger. Die Sänger in ihren weißen Gewändern setzten mit etwas unsicherer Stimme ein, noch halb von Thränen erstickt, und auch das Serpent klang heiser, als ob selbst das Instrument geweint hätte.

Da hob der Priester die Hände, gab ein Zeichen, daß sie schweigen sollten, und schritt durch die Reihe der Kommunikanten, die ganz in ihr Glück versunken schienen, bis an das Gitter des Chors.

Die Gemeinde hatte sich unter Stühlrücken gesetzt Und jetzt schnaubte sich alles gewaltig. Sobald man den Priester sah, ward es ruhig, und nun fing er leise zögernd, mit verschleierter Stimme an, zu sprechen:

– Liebe Brüder! Liebe Schwestern! Liebe Kinder! Ich danke euch aus tiefstem Herzen, ihr habt mir das größte Glück meines Lebens bereitet. Ich fühlte, wie Gott auf mein Flehen sich niederließ auf uns. Er kam, er war da, gegenwärtig, er erfüllte eure Seelen, daß eure Augen weinen mußten. Ich bin der älteste Priester der Diözese, und heute bin ich der glücklichste. Ein Wunder ist unter uns geschehen, ein wirkliches, ein großes, ein erhabenes Wunder. Während Jesus Christus zum erstenmal einging in den Leib dieser Kleinen, hat sich der hellige Geist, die Taube, der Hauch Gottes niedergelassen auf euch, hat euch ganz eingenommen, hat euch gepackt und euch niedergebeugt, wie Schilf unter dem Winde.

Dann sagte er mit deutlicher Stimme, indem er sich zu den beiden Bänken wandte, wo die Gäste des Tischlers saßen:

– Vor allem danke ich euch, meine lieben Schwestern, die ihr von so weit her gekommen seid und deren Gegenwart unter uns, deren sichtlicher Glaube, deren lebhafte Frömmigkeit allen ein heilsames Vorbild gewesen ist! Ihr seid die Stütze meiner Gemeinde, eure Frömmigkeit hat die anderen mitgerissen. Vielleicht hätte ohne euch dieser große Tag nicht solchen wahrhaft göttlichen Charakter getragen. Manchmal bedarf es nur eines auserwählten Schafes, um den Herrn zu bewegen, daß er auf seine Herde niederfährt.

Die Stimme versagte ihm, und er fügte nur noch hinzu:

– Der Herr segne euch! Amen.

Dann stieg er zum Altar hinauf, um die heilige Handlung zu beenden.

Nun beeilte sich alles fortzugehen. Die Kinder wurden erregt, sie waren müde durch die lange Anspannung. Nebenbei hatten sie Hunger, und auch die Eltern gingen allmählich davon, ohne das letzte Evangelium, abzuwarten, da sie das Festmahl vorbereiten wollten.

Am Eingang herrschte ein fürchterliches Gedränge, Lärm, Durcheinander von Geschrei und Stimmen in normannischem Accent. Die Bevölkerung bildete Spalier. Und als die Kinder kamen, stürzte sich jede Familie auf die ihren.

So ward Konstanze, sobald sie erschien, von allen Mädchen umringt und abgeküßt. Vor allen konnte Rosa sich nicht genug thun, sie zu umarmen. Endlich nahmen Frau Tellier und diese sie in die Mitte, jede bei einer Hand, Raphaela und Fernande trugen ihr das lange Kleid aus Mousselin, daß es nicht im Staube schleppen sollte. Louise und Flora schlossen mit Frau Rivet den Zug. Und das Kind, das noch ganz befangen war von Gott, den es in sich trug, setzte sich unter dieser Art Ehreneskorte in Bewegung.

Das Festmahl war in der Werkstatt auf langen Brettern angerichtet, die man über Böcke gelegt.

Die Thüre nach der Straße stand offen, sodaß die ganzen Freudenausbrüche des Dorfes hereinklangen. Überall ging man ans Essen. Durch alle Fenster sah man die festlich gekleideten Bauersleute bei Tisch sitzen, und von überall her schollen heitere Rufe. Die Bauern in Hemdsärmeln tranken ungemischten Apfelwein, ein Glas nach dem anderen, und mitten in jeder Gesellschaft sah man Kinder sitzen, die von der Feier kamen.

Ab und zu rollte in der glühenden Mittagssonne ein Bankwagen daher im trägen Trabe einer alten Mähre, und der Mann in der Bluse, der die Zügel führte, warf einen lüsternen Blick auf all das Essen.

In der Wohnung des Tischlers kam die Heiterkeit erst nicht recht zum Ausbruch. Die heilige Handlung zitterte noch in den Herzen nach. Nur Rivet war ganz im Zuge und schüttete ein Glas nach dem andern hinab. Frau Tellier sah alle Augenblicke nach der Uhr. Denn, um nicht zwei Tage zu verlieren, mußte man den Vier-Uhr-Zug zu erreichen suchen, der sie abends nach Fécamp zurückbringen sollte.

Der Tischler gab sich alle mögliche Mühe, die Aufmerksamkeit abzuziehen, damit seine Gäste bis zum nächsten Tag blieben. Aber Madame ließ sich nicht herumkriegen. Wenn es sich ums Geschäft handelte, war mit ihr nicht zu spaßen.

Sobald der Kaffee eingeschenkt war, befahl sie ihren Pflegebefohlenen, sich schnell zurecht zu machen. Dann wandte sie sich zu ihrem Bruder:

– Du, Du mußt gleich anspannen.

Und sie ging, um selbst ihre letzten Vorbereitungen zu treffen.

Als sie wieder herunterkam, erwartete sie ihre Schwägerin, um mit ihr wegen der Kleinen zu sprechen. Und eine lange Unterhaltung fand statt, aber ohne jeden Erfolg. Die Bäuerin heuchelte pfiffigerweise eine große Zärtlichkeit, aber Frau Tellier, die das Kind auf den Knieen hielt, verpflichtete sich zu gar nichts, gab nur allgemeine, unbestimmte Versprechungen ab: man würde sich schon um sie kümmern, es wäre noch Zeit, und sie würden sich schon wiedersehen.

Aber der Wagen fuhr nicht vor, und die Mädchen kamen nicht herunter. Man hörte sie sogar oben schreien, sich hin und her schubsen und in die Hände klatschen. Da ging endlich Madame hinauf, während die Tischlersfrau in den Stall lief, um nach dem Wagen zu sehen.

Rivet, der ganz betrunken und halb entkleidet war, versuchte vergeblich, Rosa zu vergewaltigen, die sich dabei wand vor Lachen. Die beiden Pumpen hielten ihn am Arme zurück und suchten ihn zu beruhigen, weil sie diese Szene nach der heiligen Handlung des Morgens unanständig fanden. Aber Raphaëla und Fernande hetzten ihn auf Rosa und hielten sich vor Lachen die Seiten. Bei jedem vergeblichen Versuch des Trunkenen kreischten sie laut auf. Der Mann war wütend, sein Gesicht dunkelrot, und er suchte die beiden Frauen, die sich an ihn gehängt, abzuschütteln. Mit aller Kraft zerrte er an Rosas Kleid und rief:

– Alte Vettel, willst Du wohl!

Aber Madame war empört, warf sich dazwischen, packte ihren Bruder am Arm und warf ihn so heftig hinaus, daß er gegen die Wand flog.

Eine Minute darauf hörte man, wie er sich im Hofe Wasser auf den Kopf pumpte, und als er auf seinem Wagen wieder erschien, war er schon ganz nüchtern geworden.

Wie am Tage vorher setzte man sich in Bewegung, und der kleine Schimmel zog in seinem tänzelnden Schritte seine Last davon.

Im Freien unter der glühenden Sonnenglut löste sich die Fröhlichkeit, die während des Essens nicht aufgekommen war. Die Mädchen lachten jetzt über das Rütteln des alten Wagens, suchten einander sogar von den Stühlen zu stoßen, kreischten ab und zu laut auf, da sie durch die vergeblichen Versuche Rivets aus Rand und Band gebracht waren.

Unendliche Lichtflut lag auf den Feldern, daß die Blendung den Augen weh that. Die Räder wühlten auf der Straße eine Staubwolke auf. Noch lange stob sie hinter dem Wagen her.

Plötzlich bat Fernande, die Musik liebte, Rosa, zu singen. Und jene fing das Lied an vom dicken Pfarrer von Meudon, aber Madame gebot sofort Ruhe, denn sie fand dieses Lied heute sehr unpassend. Sie fügte hinzu:

– Sing' uns lieber was von Béranger vor.

Da wählte Rosa nach einigem Zögern etwas aus und fing mit ihrer verbrauchten Stimme an: »Das Lied von der Großmutter«:

Großmutter hatte Wein getrunken,
Ein volles Glas – Geburtstag war –
Und sprach, zur Brust den Kopf gesunken:
Liebhaber hatt' ich 'ne ganze Schaar!
    Ach, mein Arm,
    Mein Bein so rund!
    Schad' ist's um manche
    Verlorene Stund'!

und der Chor der Mädchen, den Madame selbst anführte, wiederholte:

    Ach, mein Arm,
    Mein Bein so rund!
    Schad' ist's um manche
    Verlorene Stund'!

– Das paßt famos! erklärte Rivet, der den Text wundervoll fand.

Rosa fuhr fort:

Mama, Du bist nicht fromm geblieben?
– Nein, denn ich lernte ganz allein,
Mit fünfzehn Jahren kaum, zu lieben!
Ich konnt' nicht schlafen bei Mondenschein . . . .

Sie heulten alle zusammen den Kehrreim und Rivet klopfte mit dem Fuß auf die Deichsel und schlug den Takt mit den Zügeln auf dem Rücken des Schimmels, der sich, als hätte ihn der Rhythmus selbst begeistert, in Galopp setzte. Der Galopp wurde so rasend, daß die Damen im Wagen durcheinander flogen.

Sie setzten sich wieder zurecht und kreischten dabei wie die Wahnsinnigen. Und immer klang das Lied weiter, das sie aus Leibeskräften in die Weite hinaus brüllten unter dem glühenden Himmel, während sie mitten durch die reifenden Ernten fuhren, von dem kleinen Pferde gezogen, das jedesmal, wenn der Kehrreim wiederkehrte, von neuem durchging und zur großen Freude der Gesellschaft immer hundert Meter galoppierte.

Ab und zu richtete sich an der Straße ein Steinklopfer auf und blickte dieser verrückten, heulenden Gesellschaft, die auf dem Wagen im Staube dahinjagte, erstaunt durch seine Brille nach.

Als man am Bahnhof ausstieg, ward der Tischler zärtlich:

– Nee, das ist aber doch zu schade, daß ihr fortgeht. Wir hätten solchen Unsinn gemacht.

Madame antwortete verständig:

– Alles zu seiner Zeit. Man kann nicht bloß immer Feste feiern.

Da kam Rivet ein Gedanke:

– Weißt Du was, ich werde euch mal nächsten Monat in Fécamp besuchen.

Und dabei blinzelte er Rosa mit listiger Miene zu, während seine Augen glänzten.

Madame aber schloß:

– Ach, man muß vernünftig sein. Wenn Du willst, kannst Du kommen, aber Du darfst keine Dummheiten machen.

Er antwortete nicht, und da der Zug pfiff, fing er sofort an, alle der Reihe nach abzuschmatzen. Als er an Rosa gekommen war, wollte er durchaus ihren Mund finden, den diese ihm jedesmal durch eine heftige Seitwärts-Bewegung entzog. Er hielt sie umklammert, aber er konnte nicht zu seinem Ziele gelangen, weil ihn seine große Peitsche, die er in der Hand behalten und die hinter dem Rücken des Mädchens hin- und herfuhr, daran hinderte.

Der Portier rief:

– Einsteigen! Nach Rouen!

Sie stiegen ein.

Ein kleiner Pfiff, den lauter die Lokomotive wiederholte, ertönte. Keuchend fauchte die Maschine die erste Dampfwolke hinaus, während die Räder allmählich anfingen, sich offenbar mit Anstrengung zu drehen.

Rivet verließ den Bahnhof und lief an den Schlagbaum, um Rosa noch einmal zu sehen. Und als der Wagen mit seiner menschlichen Ware an ihm vorüberrollte, knallte er, was er konnte, mit der Peitsche, sprang umher und rief aus Leibeskräften:

    Ach, mein Arm,
    Mein Bein so rund,
    Schad' ist's um manche
    Verlorene Stund'!

Dann blickte er einem weißen Taschentuch nach, das aus dem Wagenabteil wehte.

III

Bis sie ankamen, schliefen sie den ruhigen Schlummer des guten Gewissens. Und als sie das Haus betraten, gestärkt für den Beruf des Abends, konnte Madame sich nicht enthalten, zu sagen:

– Alles was wahr ist, ich sehnte mich schon wieder zurück!

Schnell wurde zu Abend gegessen, dann legten sie das Kriegsgewand wieder an und erwarteten die Stammgäste. Und die kleine Laterne, die unten am Hause brannte, zeigte den Vorübergehenden an, daß die Herde sich im Schafstall wieder eingefunden.

Im Nu hatte sich die Nachricht verbreitet, man wußte nicht wie und nicht durch wen. Herr Philipp, der Bankiers-Sohn, war sogar so liebenswürdig, durch einen Eilboten Herrn Tournevau, der in seiner Familie gefangen saß, zu benachrichtigen.

Der Fischselcher hatte gerade wie jeden Sonntag ein paar Vettern zu Tisch geladen, und man trank eben den Kaffee, als ein Dienstmann erschien mit einem Briefe. Herr Tournevau war sehr erregt, riß den Umschlag auf und erbleichte. Dort standen nur diese paar Worte, mit Bleistift geschrieben: »Ladung Schellfische wieder gefunden. Schiff Hafen eingelaufen. Gute Sache für Sie. Schnell kommen.«

Er suchte in der Tasche, gab dem Überbringer zwanzig Centimes und ward plötzlich rot bis über die Ohren, während er sagte:

– Ich muß durchaus fort.

Dann reichte er seiner Frau den einsilbigen wunderlichen Brief. Darauf klingelte er und das Mädchen erschien.

– Schnell meinen Überzieher, schnell den Hut!

Sobald er auf der Straße stand, fing er an zu laufen, pfiff eine Melodie, und der Weg erschien ihm zweimal so lang als sonst, so groß war seine Ungeduld.

Das Etablissement Tellier war wie zum Feste hergerichtet. Im Erdgeschoß tönten in tobendem Lärm die Stimmen der Hafenleute. Louise und Flora wußten kaum, wo sie zuerst hinhören sollten, tranken einmal mit diesem, einmal mit jenem und verdienten mehr als je ihren Spitznamen der beiden Pumpen. Fortwährend wurden sie von allen Seiten gerufen; sie konnten schon gar nicht mehr allen Ansprüchen genügen, und die Nacht versprach sehr anstrengend für sie zu werden.

Der Kundenkreis des ersten Stockes war um neun Uhr vollzählig versammelt. Handelsrichter Vasse, der erklärte, aber platonische Liebhaber von Madame, sprach mit ihr leise in einer Ecke und beide lächelten, als ob eine Verständigung bald erzielt werden würde. Bürgermeister a. D. Poulin ließ Rosa auf den Knieen reiten. Sie blickte ihm tief in die Augen und streichelte den weißen Backenbart. Auf seinen schwarzen Hosen sah man ein Stück ihres nackten Schenkels, der unter dem zurückgeschlagenen, gelbseidenen Kleide vorlugte. Ihre roten Strümpfe waren mit einem blauen Strumpfband, dem Geschenk des Handlungsreisenden, geschmückt.

Die große Fernande lag auf dem Sofa, hatte beide Füße Herrn Pimpesse, dem Einnehmer, über den Leib gelegt. Ihr Oberkörper lag auf dem Schoße des jungen Herrn Philipp, den sie mit dem rechten Arme umschlang, während sie in der linken Hand eine Cigarette hielt.

Raphaëla schien mit Herrn Dupuis, dem Versicherungsagenten, in Unterhandlung zu stehen und ihre Unterhaltung endigte mit den Worten:

– Ja, mein Liebling, heute abend will ich gern!

Dann tanzte sie allein in rasendem Tempo einen Walzer quer durch den Salon und rief:

– Heute abend mache ich, was Du willst!

Die Thür ging plötzlich auf und Herr Tournevau erschien. Alles rief begeistert:

– Hurrah! Tournevau!

Und Raphaëla, die sich immer noch drehte, fiel ihm um den Hals. Er packte sie, ohne ein Wort zu sprechen, mit festem Griff, hob sie wie eine Feder von der Erde, lief durch den Salon, verschwand in der Hinterthür und stürmte mit seiner lebenden Last unter allgemeinem Jubelgeschrei die Treppe zu den Zimmern hinauf.

Rosa, die den ehemaligen Bürgermeister aufregte, indem sie ihn abküßte und ihn an beiden Enden seines Backenbartes zugleich zog, um seinen Kopf gerade zu stellen, machte sich das Beispiel zu nutze:

– Na, willst Du nicht auch?

Da stand der brave Mann auf, schob seine Weste wieder zurecht und folgte dem Mädchen, indem er in der Tasche suchte, wo sein Geld steckte.

Fernande und Madame blieben mit den vier Herren allein, und Herr Philipp rief:

– Ich stoße euch auf Sekt! Frau Tellier lassen Sie mal drei Flaschen anfahren.

Da umarmte ihn Fernande und flüsterte ihm bittend ins Ohr:

– Spiel uns doch mal eins zum Tanz.

Er stand auf, setzte sich an das alte Spinett, das in einer Ecke träumte, und entlockte dem Instrument einen weinerlichen, rauh klingenden Walzer. Das große Mädchen umschlang den Einnehmer und Madame überließ sich dem Arme des Herrn Vasse. Dann drehten sich die beiden Paare unter fortwährenden Küssen im Kreise. Herr Vasse, der früher viel in Gesellschaft getanzt hatte, gab sich alle mögliche Mühe, und Madame sah ihn wie berauscht an mit jenem Blick, der »ja« zu sagen scheint, ein »ja«, das in seiner Heimlichkeit viel süßer ist als ein Wort.

Friedrich brachte den Champagner. Der erste Pfropfen knallte und Herr Philipp spielte die »Aufforderung zur Quadrille.«

Die vier tanzten sie ganz wie in der besten Gesellschaft mit allen Einzelheiten und förmlichen Verbeugungen.

Darauf fing man an zu trinken. Da erschien Herr Tournevau wieder, befriedigt, erleichtert, strahlend und rief:

– Ich weiß nicht, was in die Raphaëla gefahren ist, aber die macht's ausgezeichnet heute abend.

Als man ihm dann ein Glas anbot, schüttete er es auf einmal hinab und stammelte:

– Donnerwetter! Seid ihr nobel!

Sofort begann Herr Philipp eine schnelle Polka zu spielen, und Herr Tournevau flog mit der schönen Jüdin davon und hielt sie dabei in der Luft, sodaß ihre Füße die Erde nicht berührten. Herr Pimpesse und Herr Vasse waren wieder im Tanze davongestürmt. Ab und zu blieb ein Paar am Kamin stehen, um ein Glas Sekt hinunter zu schütten. Der Tanz drohte gar kein Ende zu nehmen, als plötzlich Rosa, ein Licht in der Hand, mit aufgelöstem Haar, in der Thüre erschien. Sie war in Hemd und Pantoffeln, sah ganz rot aus vor Erregung und rief:

– Ich will tanzen.

Raphaëla fragte:

– Und Dein Alter?

– Der? Der schläft schon! Er schläft ja immer gleich ein!

Sie packte Herrn Dupuis, der allein auf dem Sofa sitzen geblieben war. Und die Polka fing wieder an.

Aber der Sekt war alle. Da erklärte Herr Tournevau:

– Ich schmeiße eine Flasche!

– Ich auch! rief Herr Vasse.

– Ich schließe mich an! schloß Herr Dupuis.

Alle klatschten beifällig in die Hände.

Jetzt kam Leben in die Gesellschaft, und es wurde der reine Ball. Ab und zu erschienen sogar einmal Louise und Flora von unten, schnell einmal herum zu tanzen, während ihre Kunden im Erdgeschoß unruhig wurden. Dann eilten sie wieder mit schwerem Herzen ins Café hinab, weil sie nicht dableiben konnten.

Um Mitternacht wurde noch immer getanzt. Ab und zu verschwand eines der Mädchen und wenn man sie suchte, weil ein vis-à-vis fehlte, bemerkte man plötzlich, daß auch einer der Herren nicht da war.

– Wo kommt ihr denn her? fragte scherzend Herr Philipp gerade als Herr Pimpesse mit Fernande herunterkam.

– Wir wollten Herrn Poulin schlafen sehen! antwortete der Einnehmer.

Und diese Redensart hatte einen Riesenerfolg. Einer nach dem anderen ging mit einem oder dem anderen Mädchen hinauf, um »Herrn Poulin schlafen zu sehen.« Und die Damen zeigten sich diese Nacht von unbegreiflichem Entgegenkommen. Madame schloß die Augen, denn sie hatte in der Ecke lange Besprechungen mit Herrn Vasse, als ob sie die letzten Einzelheiten einer bereits beschlossenen Sache festsetzen wollten.

Endlich erklärten um ein Uhr die beiden Verheirateten, Herr Tournevau und Herr Pimpesse, daß sie nach Hause gehen müßten und verlangten die Rechnung. Nur der Champagner wurde angerechnet und sogar bloß mit sechs Franken die Flasche statt zehn, die er gewöhnlich zu kosten pflegte. Als sie sich über diese Großmut wunderten, antwortete Madame mit strahlender Miene:

– 's ist nicht alle Tage Sonntag.

 


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