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Es war etwas über zwei Monate später. Dschunubistan hatte sich fügen müssen. Der Dschirbani stand mit seinem stark vermehrten Heer nun an der Grenze von Gharbistan, welches keinen besonderen Herrscher besaß, sondern ebenso wie auch Scharkistan dem Mir von Ardistan unmittelbar untergeben war. Wir beide aber, nämlich Halef und ich, befanden uns unsern Truppen weit voraus; warum, das wird der Leser bald erfahren. Wir hatten Gharbistan quer durchritten und uns dann bei dem Mir von Ardistan als Abgesandte des Dschirbani melden lassen. Es war uns von ihm eine Reiterschar entgegengeschickt worden, um uns nach Ard, seiner Hauptstadt und Residenz, zu führen. Diese Leute behaupteten, daß sie die Aufgabe hätten, uns zu beschützen. In Wahrheit aber hatten wir uns als ihre Gefangenen zu betrachten, weil es ihnen bei Leben oder Tod befohlen war, uns der Gewalt des gefürchteten Tyrannen auszuliefern. Sie waren das, was wir in Europa als Soldaten bezeichnen, und wurden von einem Oberst angeführt, der sich alle Mühe gab, uns glauben zu machen, daß nicht die geringste Gefahr für uns vorhanden sei. Daß wir unsere beiden Hengste ritten, versteht sich ganz von selbst. Aber unsere Gewehre hatten wir bei dem Dschirbani zurückgelassen, ebenso auch die Pistolen und Revolver, und zwar aus zwei gewichtigen Gründen. Erstens wollten wir als Gesandte oder vielmehr als Parlamentäre gelten und durften also nicht bewaffnet sein, und zweitens wollte ich meine beiden kostbaren Gewehre nicht der Gefahr aussetzen, in die Hände des Mirs zu geraten. Wir waren also vollständig unbewaffnet, denn die Messer, die dort ein jeder fortwährend trägt, waren nur als Eßwerkzeuge, nicht aber als Waffen zu betrachten. Auch unsere Hunde hatten wir nicht mit. Es war ausgeschlossen gewesen, sie mit nach Ardistan zum Mir zu nehmen. Sie konnten uns da leicht hinderlich sein. Darum hatten wir sie zurückgelassen und der Pflege Abd el Fadls, Merhamehs und des Dschirbani anvertraut.
Unsere Eskorte hatte uns schon anderthalb Tage lang durch ein Land geführt, welches sich immer gesegneter und fruchtbarer zeigte, je mehr wir uns der Hauptstadt näherten. Aber wir bemerkten gar wohl, daß man einsamen Wegen den Vorzug gab, um Begegnungen möglichst zu vermeiden. Das Terrain stieg langsam, aber ununterbrochen an. Das Land war bergig geworden. Aber die Berge waren nicht kahl, sondern teils dicht bewaldet, teils mit Reben oder Fruchtbäumen besetzt. Wo es eine breitere Ebene gab, sahen wir Häuser, Gärten und Felder liegen, und aus der Tiefe der Bergesengen glänzte fließendes Wasser zu uns herauf. Das war gegenüber der Wüste der Tschoban, die wir glücklich überwunden hatten, ein erfreulicher Anblick für uns.
Der heutige Nachmittag war schon über halb verflossen, als sich die Zeichen mehrten, daß die Residenz nahe sei. Auf allen Wegen sah man Menschen, die entweder dorthin gingen oder von dorther kamen. Begegnungen waren gar nicht mehr zu vermeiden. Besonders fiel uns der große Prozentsatz der Militärpersonen auf, die sich unter diesen Leuten befanden. Sie waren, wie vor zwei Monaten die Dschunub, fast ganz gleich gekleidet und an ihren Gewändern mit Abzeichen versehen, die sich auf die betreffende Charge bezogen.
Wir hatten eine lang hingestreckte Höhe zu erklimmen gehabt, an der sich Wein- und Johannisbrotgärten aneinanderreihten. Ich dachte dabei an meinen Lieblingsberg, den Karmel, auf dessen Höhe es auch Wein und Johannisbrot in Menge gibt. Jetzt, als wir den Kamm erreichten, hielten wir unwillkürlich unsere Pferde an, denn der Anblick, der sich uns von hier aus bot, war überraschend schön, war sogar selten schön. Vor uns lag ein weiter, weiter, rundum von Bergen eingeschlossener Talkessel, den vier Flüsse durchzogen, die sich grad unter uns vereinigten. An den Ufern dieser Flüsse lag Haus an Haus und Garten an Garten, soweit unsere Blicke reichten. In den Gärten herrschte die Palme vor. Es war fast so, wie wenn man von den Baradafelsen aus auf Damaskus herunterschaut, nur noch viel schöner. Die Häuser zeigten alle möglichen Baustile. Auch Gotteswohnungen gab es in großer Zahl und, wie es schien, von jeder geschichtlichen Art. Wir sahen geschlossene und offene Säulentempel; links drüben ein Bau, der einem indianischen Teokalli – Gotteshaus – glich, und rechts, auf der andern Seite, eine hoch und massig gebaute Chinesenpagode. Dazwischen ragten schlanke, mohammedanische Minaretts in die Lüfte. Hier und da stand auch ein kleineres, bescheideneres Haus, mit einem christlichen Kreuz auf dem Dach. Sollten das etwa Kirchen sein?
Vor allen Dingen stieg grad im Mittelpunkt der Stadt ein wunderbar komponierter und gegliederter Bau aus Stein zum Himmel auf, der unsere Blicke auf sich zog und gar nicht wieder von sich lassen wollte. Das Mittelstück desselben, ein großes, kühnes Kuppelwerk, wurde nach Nord, Süd, Ost und West von vier gewaltigen Türmen flankiert, welche ganz gewiß die Höhe des Kölner Domes hatten, einander auf das genaueste glichen und, unten massig geschlossen, sich nach oben hin immer feiner und feiner filigranisierten, so daß ihre Spitzen sich in Äther zu verwandeln und ganz in ihm zu verschwinden schienen. An diese vier Haupttürme schlossen sich nach den vier Himmelsrichtungen wieder Kuppeln an, aber kleinere, die eine Interpunktion von gleichmäßig kleineren Türmen bekamen und in eine weitere Folge von immer tiefer herabsteigenden Kuppeln, Türmen und Türmchen verliefen, bis der hoch aufgeschwungene Grundgedanke die Erde wieder erreichte, aus der er gestiegen war. War das ein christlicher Dom? Etwa die Kathedrale?
»Nicht wahr, eine herrliche Stadt?« fragte der Oberst, der es uns ansah, welchen Eindruck das alles auf uns machte. »Hier stand zur Zeit der ersten Menschen das Paradies. Siehst du die vier Flüsse? Sie heißen Phison, Dschihon, Tigris und Phrat. Diese Namen stehen schon in euerm Koran oder in eurer Bibel oder in euern Wedabüchern. Mich geht das nichts an, denn ich glaube an kein solches Buch. Die Türme sind das Schloß des Mirs. Gott selbst hat den Grundstein gelegt, als das Paradies noch stand, grad in der Mitte desselben. Er befahl den Assyra und Babyla, die Riesen waren, den Bau zu beginnen, den er zur Wohnung für den Mir von Ardistan bestimmte. Sie gehorchten. Später aber kamen die Christen, welche behaupten, daß alles nur ihnen allein gehöre. Sie trieben die Assyra und Babyla von dannen und bauten weiter. Als alles fertig war, setzten sie auf jede Spitze, Ecke und Kante ein Kreuz. Der damalige Mir ließ das geschehen. Er lächelte dazu, daß sie glaubten, in diesem seinem Hause wohnen zu können. Als das letzte Kreuz seinen Platz erhalten hatte, ließ er sie alle wieder entfernen und zog hinein, wo nun sein Nachkomme noch heutigen Tages wohnt. Die Christen aber wurden ob ihres Hochmutes streng bestraft. Sie sind noch heut verachtet und verhaßt, und es ist eine große Gnade des Mirs, daß er sie nicht ganz vernichtet oder vertrieben, sondern ihnen erlaubt hat, in den kleinsten und abgelegensten Häusern der Stadt zu wohnen, die als Warnungszeichen mit einem Kreuz versehen sein müssen, damit niemand sich verunreinige, indem er seinen Fuß über eine solche Schwelle setzt. Doch kommt! Wir müssen weiter. Der Mir hat befohlen, euch noch vor Abend abzuliefern, weil die von euch gewünschte Audienz noch heute stattzufinden hat.«
»Wohin führst du uns?« fragte ich.
»Natürlich nach dem Schloß, in dem ihr wohnen werdet, denn ihr seid seine Gäste.«
»Gäste?«
Bei diesem Worte sah ich ihm scharf in die Augen. Er wurde zwar ein wenig verlegen, bestätigte aber doch:
»Ja, Gäste!«
»Hat er dich beauftragt, uns dieses Wort zu sagen? Wirklich dieses?«
»Grad dieses! Ganz gewiß!« Nach dieser Versicherung fuhr er gedämpften und vertraulichen Tones fort: »Er ist außerordentlich begierig, euch zu sehen. Er kennt euch schon.«
»Woher?«
»Das darf ich nicht verraten. Vielleicht sagt er es euch selbst.«
Wir setzten uns wieder in Bewegung und ritten auf der andern Seite der Höhe zur Stadt hinab. Niemand beachtete uns. Wir waren nicht anders gekleidet als hier jedermann, und keiner von allen, deren Blicke auf uns fielen, hielt uns für fremde oder gar für aus irgend einem Grund interessante Menschen. Es war genau so, wie wenn zwei Deutsche mit einigen Einheimischen durch die Straßen von Paris oder London reiten. Die paar Menschen verschwinden unter der ungezählten Menge der übrigen Passanten. Wir ritten wohl eine ganze Stunde lang durch verschiedene Straßen, Gassen und Gäßchen, kamen über mehrere Brücken und hatten bei den Verschiedenheiten und den Gegensätzen, die uns da überall und in jeder Form und Beziehung entgegentraten, das Gefühl, uns in einer Weltstadt zu befinden, die alles in sich vereinigt, was die Erde ihren Bewohnern bietet. Das machte auf meinen wackeren Halef einen beinahe entmutigenden Eindruck.
»Mir beginnt angst zu werden, Sihdi!« sagte er. »Das ist etwas ganz anderes als draußen im Wald, auf dem Feld oder gar in der freien Wüste, wo man tun kann, was einem beliebt. Hier aber ist man nicht mehr Herr seiner selbst. Hier hilft alle Tapferkeit und Klugheit nichts. Man wird erdrückt, mag man sich noch so wehren! Du aber lächelst?«
»Ja. Du fürchtest dich weder vor den Bäumen des Waldes, noch vor den Halmen des Feldes, noch vor den Sandkörnern der Wüste, obgleich du sie nicht zählen kannst. Vor diesen Menschen aber wird dir bange, obgleich ihre Zahl noch lange nicht so groß ist als die Zahl der Blätter oder Nadeln eines einzigen ausgewachsenen Baumes im Wald! Glaubst du etwa, daß Allah draußen vor der Stadt geblieben ist? Oder haben wir unsern Mut, unsern Scharfsinn, unsere List da draußen weggeworfen und reiten nun ohne Glauben an Gott und an uns selbst als Narren und Dummköpfe einem unvermeidlichen Untergang entgegen?«
Da reckte er seine kleine Gestalt so hoch wie möglich empor und antwortete:
»Nein, Sihdi, nein; das nicht! Wenn du so weiter denkst und bleibst wie jetzt, werden wir diese Riesenstadt so frei verlassen, wie wir gekommen sind! Ja, es ist wohl richtig, daß es ein unendlich kühner und verwegener Plan gewesen ist, nach Ard zu reiten, um den Mir kennenzulernen, bevor der eigentliche Kampf gegen ihn beginnt. Wenn er uns durchschaut, so weiß er, daß wir nur als Spione gekommen sind, die man entweder mit Knüppeln totzuschlagen oder mit Stricken am Hals aufzuhängen pflegt. Und er ist ein rücksichtsloser, grausamer Mensch, dem es ein großes Vergnügen machen wird, uns von der Spitze eines seiner vielen Türme herunterwerfen zu lassen. Aber wir würden uns so etwas doch wohl nicht ganz gutwillig gefallen lassen. Wenigstens ich würde, falls es uns wirklich an das Leben gehen sollte, ihm schnurstracks an den Hals springen und ihm zwei Hände breit weiter unten fühlen lassen, wie lang die Klinge meines Messers ist! Also sei getrost, Sihdi! Ich verlasse dich nicht, mag es kommen, wie es will!«
So war er, der liebe, kleine Kerl; er tröstete und munterte mich auf, obwohl die Bangigkeit sich doch nicht an mich, sondern an ihn herangeschlichen hatte. Daß er mich selbst in der gefährlichsten Lage nicht verlassen würde, verstand sich ganz von selbst!
Der Riesenbau des Schlosses blieb uns durch jede Straßen- und Häuserlücke sichtbar, an der wir vorüberkamen. Er schob seine Füße viel weiter vor, als wir dachten, und so waren wir überrascht, als wir plötzlich an einem Mauertor hielten und der Oberst uns sagte, daß wir am Ziel angekommen seien. Das Tor führte nicht in ein Gebäude, sondern in einen offenen Hof, dessen zwei Hauptseiten aus Stallungen bestanden. Hier wurden, wie wir erfuhren, die Pferde der Gäste des Mirs untergebracht, und zwar nur die wertvollen Pferde, nicht aber die gewöhnlichen, die nicht der Mühe wert waren, welche man sich mit Tieren besserer oder gar reinster Abstammung gibt. Der Oberst wollte uns, sobald wir abgestiegen waren, gleich weiterführen, doch gingen wir nicht darauf ein, denn in unserer gegenwärtigen Lage hatten unsere Pferde für uns genau denselben Wert wie wir selbst. Er mußte warten, bis sie untergebracht, gesäubert, gewaschen und getränkt worden waren und ihr Futter vorgelegt bekommen hatten. Als er darüber ungeduldig wurde und uns sagte, daß er nicht so lange warten könne, sondern dem Mir Bericht erstatten müsse, antwortete Halef in seiner ihm eigenen, deutlichen Weise:
»Wir verlangen ja gar nicht, daß du länger bleibst. Nur der Mir soll warten, da du nicht warten kannst. Mein Pferd steht mir höher als er!«
Der Offizier aber wartete doch! Dann führte er uns durch ein Innentor nach einem der kleinen Nebentürme, in dem die beiden Stuben lagen, die uns angewiesen wurden. Dort übergab er uns einem Diener und entfernte sich. Der Diener war sehr höflich, aber auch sehr einsilbig. Er brachte uns Essen und Trinken und setzte sich dann draußen vor die Tür, so daß es, da er Pistolen im Gürtel stecken hatte, ganz so aussah, als ob er nicht unser Domestik, sondern unser Wächter sei. Das Essen war sehr gut und sehr reichlich. Als wir gesättigt waren, genossen wir für kurze Zeit die Aussicht, die sich uns durch das Fenster bot. Wir sahen von da aus bis weit zu der Höhe hinaus, von der wir herabgekommen waren. Dann gingen wir hinunter nach dem Hof, weniger, um noch einmal nach unseren Pferden zu sehen, als vielmehr um zu erfahren, wie es mit der Freiheit bestellt war. Der Diener hinderte uns nicht, die Stuben zu verlassen, aber er kam dann hinter uns her. Und als wir unten nach dem Außentor schritten, machte er uns darauf aufmerksam, daß es verschlossen sei. Es werde uns geöffnet werden, wenn wir in die Stadt zu gehen wünschten; aber da müsse er vorher die Wache kommen lassen, die uns zu begleiten habe, weil der Mir nicht wolle, daß uns auf irgendeine Weise ein Leid oder etwas Ähnliches geschehe. Nun wußten wir, woran wir waren. Man betrachtete uns als Gefangene, obgleich man es uns nicht direkt zu hören gab. Das beunruhigte uns aber nicht, denn wir hatten überhaupt nichts anderes erwartet. Als wir hierauf in unsere Wohnung zurückgekehrt waren, brach die Nacht herein, und der Diener brachte uns Licht. Eine Stunde später kam der Oberst und teilte uns mit, daß er den Befehl habe, uns zum Mir zu führen. Dieser werde zwar nicht mit uns sprechen; wir aber hätten ihm die vorgeschriebene Demut zu erweisen und alle Fragen, die er durch andere an uns richten lasse, schnell und der Wahrheit gemäß zu beantworten.
»Da sehe ich schon kommen, was kommt!« flüsterte Halef mir zu. »Das wird sich mein Sihdi wohl kaum gefallen lassen!«
Der Mir von Ardistan ist ein hochstehender, orientalischer Fürst, ein Selbstherrscher, der kein anderes Gesetz kennt, als nur seinen eigenen Willen. Die Fama sprach nicht gut über ihn, sondern schlecht, sehr schlecht. Man sagte ihm nach, daß selbst der reichste, der höchste, der beste und klügste Mensch für ihn nichts weiter sei als nur eine Mücke, die man zwischen zwei Fingerspitzen zerdrückt. Ich aber wußte, daß der Mensch stets menschlich bleibt, sowohl in guten, als auch in bösen Dingen. Kein Mensch kann so vortrefflich sein, daß er nur Engel ist. Und kein Mensch kann von Gott so völlig aufgegeben werden, daß man nur noch Teuflisches, nichts Menschliches mehr an ihm findet. Auch der Mir von Ardistan war jedenfalls weder ein Engel noch ein Teufel und stand dem letzteren wohl kaum so nahe, wie das Gerücht behauptete. Wenn ihm ein Menschenleben so gar nichts galt, so lag das vielleicht weniger an ihm als an dem Umstand, daß er es jahraus jahrein nur mit niedrigen, kriechenden Speichelleckern, Schmarotzern und Schranzen zu tun hatte. Womöglich war ihm noch niemals ein Mensch von wirklichem Wert vor die Augen gekommen. Das war aber doch nur ein Grund, ihn zu bemitleiden, nicht aber, ihn zu fürchten oder gar zu hassen!
Wir wurden durch lange Gänge und mehrere Treppen hinauf- und hinuntergeführt. Es gab überall nur so wenig Licht, wie gerade nötig war zu sehen, wo man ging. Die Wände waren verhangen. Die Teppiche und Matten töteten den Schall eines jeden Schrittes. Wie draußen im Freien war man auch hier bemüht, jede Begegnung zu vermeiden. Wir trafen keinen Menschen, nicht einmal eine dienstbare, uns die Räume öffnende Person an. Das alles tat der Oberst selbst. Endlich führte er uns gar in einen langen, schmalen, vollständig dunklen Raum, den wir in seiner ganzen Ausdehnung durchschritten, indem wir uns hüben und drüben mit den Händen weitertasteten. Das war, wie sich dann herausstellte, Berechnung. Wir sollten uns infolge dieser Dunkelheit von der uns nun entgegenstrahlenden Lichtfülle überwältigt und geblendet fühlen.
Zum Verständnis der nun folgenden Szene habe ich zu bemerken, daß ich, wenn ich vom »Öffnen der Räume« sprach, nicht habe sagen wollen, daß wirkliche, hölzerne, verschließbare Türen vorhanden gewesen seien. Ob es überhaupt welche gab, das wußten wir nicht; gesehen hatten wir keine, ausgenommen das Tor, durch welches wir aus der Straße in den Hof geritten waren. Sonst aber waren alle Türöffnungen, durch die wir bis zum jetzigen Augenblick gekommen waren, mit Teppichen oder Gardinen verhangen gewesen, die man, um passieren zu können, zurückzuschlagen hatte. Dieses Zurückschlagen der Vorhänge meinte ich, als ich von dem Öffnen der Türen oder der Räume redete. Als der Oberst die dicken, schweren Gardinen, welche das gegenwärtige riefe Dunkel abschlössen, auseinanderzog und uns aufforderte, einzutreten, drang uns zu gleicher Zeit beides entgegen, eine Fülle aller möglichen Wohlgerüche und eine Fülle aller möglichen Licht- und Strahlenbrechungen mit Hilfe gefärbter Gläser, Ampeln und Laternen, die von der Decke hingen und an den Wänden befestigt waren. Das brennende Sesamöl und die brennenden Kerzen waren parfümiert. Das Auge wurde geblendet und jeder Empfindungsnerv sofort in eine Art von Betäubung versetzt.
Es war ein Saal, in den wir traten, sogar der Thronsaal des Mirs von Ardistan, und doch auch wieder nicht, sondern etwas ganz anderes. Dieser Saal hatte, architektonisch betrachtet, etwas Frommes, Heiliges, ja Kirchliches an sich, doch drang dieser Ausdruck oder Eindruck nicht vollständig durch; er wurde durch die weltliche Ausschmückung, so kostbar diese auch war, profaniert.
Ich will den köstlichen Thronstuhl nicht beschreiben, auch nicht den, der darauf saß, denn ich sah ihn nicht, sondern ich sah nur die Gewänder, die er trug, und die weißen Schleier, die sein Angesicht so verhüllten, daß nur eine schmale Queröffnung für die Augen offenblieb. Das alles glänzte von Gold und blitzte und funkelte von Diamanten und anderen edlen Steinen. Zu seiner Rechten und zu seiner Linken standen seine Hofstaaten und die höchsten seiner Offiziere, sie alle in flimmernde Kleidungen oder Uniformen gehüllt. Noch weiter von ihm entfernt eine Menge niedrigerer Chargen, die aber eine solche Menge von Waffen trugen, daß man damit eine sechsmal größere Anzahl für den Kampf hätte ausrüsten können. Es war also nicht nur auf die Wirkung des Reichtumes und die Pracht, sondern wenigstens auch auf den kriegerischen Eindruck abgesehen, den man auf uns machen wollte. Wir zwei armen Teufel kamen uns dagegen wie ein Paar wertlose Pfennige vor, die unter einen Haufen von Zwanzigmarkstücken geraten sind.
Warum diesen Aufwand wegen uns beiden? So fragten wir uns. Doch blieb uns keine Zeit, diese Frage zu beantworten, denn wir konnten doch nicht stehenbleiben. Aller Augen waren auf uns gerichtet, was wir tun und sagen würden. Wir schritten also zur Mitte des Saales vor, bis wir dem Thron gerade gegenüberstanden. Da blieben wir stehen und schauten auf den Herrscher oder vielmehr auf seine weit ausgebreiteten, übereinanderliegenden Prachtgewänder, unter denen er, die Augen abgerechnet, vollständig verschwand. Er regte sich nicht, wir also ebenso nicht.
»Warum grüßt ihr nicht?« fragte eine Stimme, die mir sofort bekannt vorkam.
»Wen sollen wir grüßen?« antwortete ich.
»Den Herrscher!«
»Wo ist er? Er zeige sich!«
»Hier sitzt er, hier! Bist du blind?«
Der, welcher sprach, hatte bisher hinter dem Mir gestanden; jetzt trat er ein wenig zur Seite, so daß wir ihn sahen. Es war – der Panther. Darum war mir die Stimme sogleich bekannt vorgekommen. Ich ließ mich von seiner Anwesenheit nicht im geringsten überraschen, sondern entgegnete:
»Blind wohl kaum. Aber wie es scheint, sehe ich falsch. Ich bin gekommen, um mit dem Mir von Ardistan zu sprechen und sehe an seiner Stelle weiter nichts als einen ganz gewöhnlichen Tschoban, der seinen Vater, sein Volk und seine Heimat verlassen hat, um sie an ihre Feinde zu verraten. Pfui!«
Ich spuckte aus und wendete mich, um wieder fortzugehen.
»Halt! Du bleibst!« versuchte er, mich anzudonnern.
»Wer will mich halten?« fragte ich.
»Ich! Wir alle!«
»Versuche es!«
Ich ging. Halef, der Wackere, folgte mir.
»Halt, halt!« befahl der Panther abermals.
»Halt, halt, halt, halt!« riefen die andern.
Die näher Stehenden eilten uns nach. Einige faßten nach uns. Einer, der mich mit der Linken beim Arm ergriff, zog sogar seinen krummen Säbel. Den riß ich ihm aber aus der Hand, schleuderte den Kerl mitten unter die andern hinein und rief:
»Zurück! Nehmt euch in acht! Wer aber sofort zum Teufel fahren will, der komme her!«
Einen Augenblick lang war alles still. Jeder stand vor Entsetzen unbeweglich. Eine solche Entweihung dieses Thrones, dieses Heiligtumes war unerhört, war noch niemals vorgekommen, war ein todeswürdiges Verbrechen, welches unbedingt gerächt werden mußte. Im nächsten Augenblick brach man auf uns ein; so viel war sicher! Ich war entschlossen, bis hinaus in den engen Gang zu retirieren und, indem wir uns dort in der Finsternis zurückzogen, niemand an uns heranzulassen. Vielleicht erreichten wir den Hof und den Stall. Was dann zu geschehen hatte, das stand dann freilich nicht in unserer Hand. Aber es kam, trotz der Größe und der Nähe der Gefahr, doch nicht so weit. Draußen näherte sich ein ungeheurer Lärm, eine Menge Stimmen, die angstvoll durcheinanderschrien. Die Gardine des Haupteinganges wurde weggerissen, und man brüllte herein:
»Zu Hilfe! Zu Hilfe! Rettet euch! Vier tolle Hunde, vier tolle Hunde! Wie die Kamele so groß!«
»Wo?« fragten die, welche soeben auf uns eindringen wollten.
»Erst unten am Tor des Stallhofes. Da heulten sie und wollten herein. Sie konnten aber nicht. Da rannten sie nach dem Haupttor und hetzen nun, nach Spuren suchend, durch alle Räume und Gänge – da, da! Rettet euch! Sie kommen! Sie kommen!«
Das Geschrei da draußen und auch hier bei uns wurde jetzt von scharf rufenden Hundestimmen übertönt. Das war kein Heulen und Bellen, sondern jenes weittönende, sehnsuchtsvolle Suchen und Fragen, welches nicht eher verstummt, als bis der Hund den vermißten Herrn gefunden hat. Es näherte sich. Es wollte vorüber, denn es gab da draußen keine Fährte von uns, weil wir von der andern Seite gekommen waren. Wir sahen sie vorüberjagen, alle vier, erst Hu und Hi, dann, schärfer windend, auch Aacht und Uucht. Schon waren sie vorbei, da kehrte Uucht um und warf einen Blick herein. Sie hatte einen hinaustreibenden Lufthauch aufgefangen. Uns sehen und wie eine Löwin brüllend, vor übergroßer Freude, das war eins. Im nächsten Augenblick waren auch die drei andern da. Sie warfen sich auf uns. Sie hätten uns umgerissen und überkugelt, wenn wir nicht schnell an die Wand retiriert wären, um ihren Liebkosungen standhalten zu können. Was aber außer uns beiden und ihnen sich noch im Saal befand, das rief, schrie, heulte und brüllte vor Schreck und Entsetzen aus allen Kehlen und rannte schleunigst zur Tür hinaus.
Die braven Tiere hatten sich also nicht halten lassen. Es war, wie wir später hörten, jede Mühe und alle Zärtlichkeit vergebens gewesen. Wir wußten gar wohl, daß sie unbedingt geblieben wären, wenn man sie nicht falsch behandelt hätte, denn wir hatten es ihnen befohlen und waren von ihnen verstanden worden. Welchen Fehler man gemacht hatte, erfuhren wir hernach; jetzt aber konnten wir nicht darnach fragen und mußten uns darein, daß sie uns nachgeeilt waren, fügen, gleichviel ob es für uns gut war oder nicht. Jedenfalls war es eine ganz bedeutende Leistung von ihnen. Fast vier volle Tagesreisen, erst zwei durch Charbistan und dann fast zwei durch Ardistan. Durch eine stockfremde, reich belebte Stadt! Wegen des verschlossenen Tores durch den ganzen Palast, bis sie uns hatten! Wie verdurstet, verhungert, vergrämt und abgehetzt sie aussahen! Und wie sie nun vor Freude wimmerten und weinten. Wir meinten es ehrlich gut mit ihnen. Wir liebkosten sie mit allen Händen und allen Worten, die sie verstanden. Sie mußten Wasser und Fleisch bekommen!
»Ja, Wasser, vor allen Dingen Wasser!« sagte Halef. »Und Fleisch, viel Fleisch! Und wenn ich die Küche des Mirs erstürmen müßte! Sie haben es verdient, wahrhaftig verdient!«
»Brauchst nicht zu stürmen!« ließ sich da eine tiefe, klare Stimme vernehmen. »Herrliche Hunde! Prächtige Hunde! Werde selbst Befehl geben! Geht getrost in eure Stuben! Es geschieht euch nichts, solange ihr in diesem Hause seid! Ihr seid meine Gäste. Verstanden, meine Gäste! Werde euch den Nahsir es Serahja – den Schloßvogt, Schloßhauptmann – senden. Sogleich!«
Man denke sich unser Erstaunen. Wir hatten angenommen, sie alle seien hinaus, und hatten nur noch Augen für unsere Hunde gehabt. Und nun jetzt, da er zu sprechen begann und wir zu ihm hinschauten, sahen wir, daß gerade die Hauptperson, nämlich der Mir, ganz ruhig sitzen geblieben war und unsere Liebe und Zärtlichkeit für die erschöpften Tiere beobachtete. Jetzt stand er auf, nahm seine Kleider zusammen, hob sie, um sich fußfrei zu machen, vorn empor und ging hinaus. An der Tür blieb er noch für einen Augenblick stehen, wendete uns das Gesicht, welches wir des Schleiers wegen auch jetzt nicht sahen, noch einmal zu und wiederholte:
»Werde den Nahsir es Serahja senden. Der bringt Fleisch. Lebt wohl!«
»Maschallah!« wunderte sich Halef, als der Mir sich entfernt haue. »Hättest du so etwas für möglich gehalten, Effendi?«
»Ich denke, wir werden erst geköpft, dann enthauptet und schließlich gar noch hingerichtet, weil wir mit dem Säbel – du, da liegt er noch! Und nun scheint er ganz zufrieden zu sein und schickt uns gar noch Fleisch! Was sagst du dazu?«
»Daß die Hunde uns gerettet haben!«
»Ich auch! Wer hat sie gesandt?«
»Frag nicht, sondern komm!«
»Gleich, gleich, Sihdi. Erlaube nur, daß ich erst einmal – hier ist keine Wand, sondern nur ein großer, dünner Schleier, durch den man sieht, daß kleine Sternchen sich dahinter bewegen. Was mag das sein?«
Er ging nach der betreffenden Seite. Dort gab es, wie gewöhnlich bei Kirchenemporen, eine Balustrade, die eigentlich frei, jetzt aber bis hinauf an die Decke abgeschlossen war, und zwar durch senkrechte Reihen allerfeinsten bucharischen Wollenstoffes, zwischen denen man, wenn man sie zur Seite schob, in den hinter der Balustrade liegenden Raum hinausschauen konnte. Der war groß, sehr groß, aber völlig finster. Die Sterne, von denen Halef gesprochen hatte, waren brennende Lämpchen, zwar ziemlich zahlreich, aber doch nicht imstande, auch nur die allergeringste Beleuchtung hervorzubringen. Nur von dem Raum aus, in dem wir uns befanden, fiel ein nebelhafter Schein hinaus, der dem Schweif eines Kometen glich. Ich vermutete, daß wir uns unter der Hauptkuppel der Kathedrale befanden, konnte es aber nicht behaupten, da wir wohl erst morgen am Tage imstande waren, hierüber zu entscheiden.
Das unverhoffte, gütige Verhalten des Mirs war, wie man zugeben wird, geeignet, uns zu veranlassen, dem, was uns erwartete, ruhiger entgegenzusehen als bisher. Über sein Äußeres befanden wir uns im unklaren. Nur seine Stimme hatten wir gehört. Sie klang tief und rein und gar nicht unsympathisch. Die Zunge stieß, wie es schien, bei den Konsonanten »Sin« und »Sad« ein wenig an. Das klang gar nicht so, wie man sich die Stimme eines finstern Tyrannen, Despoten oder Wüterichs gewöhnlich zu denken pflegt. Ich hatte das Gefühl, als sei das Herz dieses Mannes keinesfalls von Stein, und Halef war ganz derselben Meinung. Eben, als wir den Rückweg nach unserer Wohnung antreten wollten, kam der Oberst gerannt. Der Mir selbst hatte ihn getroffen und ihm befohlen, zu uns zu eilen, um uns wieder dahin zurückzuführen, woher er uns geholt hatte. Wenn ich an den Lärm und an den Aufruhr dachte, den unsere Hunde hier im Schloß hervorgebracht harten, so wäre mir der höchste Zorn des Fürsten erklärlich gewesen. Und was trat ein? Das gerade Gegenteil! Er nahm sich ihrer grad so wie wir in Liebe an! War das nicht wunderbar? Als wir uns dann wieder bei uns befanden, waren wir viel ruhiger als vorher, zumal der Diener die Weisung erhalten zu haben schien, von jetzt an weniger Wächter als vielmehr Domestik zu sein.
Er brachte zunächst Wasser für die Hunde. Dann drei Pfeifen und Tabak. Die dritte sei für den Nahsir es Serahja, der bald erscheinen werde. Doch sollten wir ja mit dem Rauchen nicht auf ihn warten, sondern immer beginnen. Wir taten das, und da stellte sich heraus, daß der Tabak von jener außerordentlich seltenen Sorte war, die man Bachuhr – Wohlgeruch – nennt und nur einmal bei Fürstlichkeiten oder sonstwie vom Schicksal bevorzugten Personen zu rauchen bekommt. Ich rauchte ihn hier zum ersten Male. Für den Schloßhauptmann war er jedenfalls nicht bestimmt. Wahrscheinlich war dieser, wie ja so mancher Diener, ein heimlicher Mitraucher seines Gebieters, und wir hatten das Vergnügen, ebenso heimlich daran teilnehmen zu dürfen.
Als er sich einstellte, war er ein ganz anderer Mann, als wir uns ihn gedacht hatten. Wir verbeugten uns bei seinem Gruß ganz unwillkürlich viel tiefer und erwiderten ihn viel höflicher, als es von der dortigen Sitte vorgeschrieben war. Er stand in den mittleren Jahren, war hoch und schlank, aber kräftig gebaut, und hatte einen köstlichen, nachtdunklen, bis auf die Brust herabwallenden Bart, der sein männlich schönes, farbloses Gesicht fast totenbleich erscheinen ließ. Seine Augen waren sogenannte Rätselaugen. Man mußte sie studiert haben, ehe man wagen konnte, sie zu beschreiben. Gekleidet war er in einen ganz gewöhnlichen, einfachen, weißen Stoff, und weder an seiner Hand noch sonst irgendwo war ein Ring oder sonst ein Schmuck zu sehen. Nachdem er uns begrüßt hatte, ging er sofort zum Zweck, der ihn herbeigeführt hatte, über: er setzte sich zu den Hunden nieder, streichelte und liebkoste sie und gab dem Diener einen Wink, auf welchen dieser einen Korb voll Fleisch hereinbrachte, der draußen niedergesetzt worden war, und ein Messer dazu. Hierauf begann er, das Fleisch in kleine Stücke zu zerschneiden und den Hunden zu geben. Natürlich weigerten sie sich erst, es zu nehmen. Sie hätten trotz ihres jedenfalls großen Hungers alles zurückgewiesen, wenn ihnen von uns die Erlaubnis versagt worden wäre. Das rührte ihn. Er gab jedem gleich viel, keinem ein Stückchen mehr. Er schnitt je vier Stückchen ab, und diese mußten von genau gleicher Größe sein. War eines größer, so wurde den drei andern das, was fehlte, zugelegt. Dabei unterhielt er sich mit ihnen. Er gab ihnen Kosenamen. Er sprach mit ihnen, als ob sie Menschen seien. Und wenn ihn einer verstand, so freute er sich. Noch viel mehr aber, wenn sich einer vertraulich an ihn schmiegte oder ihm dankbar die Hand leckte. Dabei hatte er eine ganz andere Stimme. Sie klang zärtlich, kindlich, hingebend, vertrauensvoll und ebenso Vertrauen erweckend.
Als er fertig war, schob er zwar den Korb, nicht aber die Hunde von sich. Sie mußten bei ihm bleiben. Er stopfte sich eine Pfeife und steckte sie selbst in Brand, denn der Diener war nicht mehr da. Er hatte ihm durch einen Wink bedeutet, sich zu entfernen. Nachdem er einige Züge des köstlichen Rauches getan und ausgeblasen hatte, begann er das Gespräch, indem er sagte:
»Wundert euch nicht, daß ich die Hunde liebe! Sie sind besser als die Menschen. Hat dich jemals ein Hund belogen?«
»Nein«, antwortete ich, weil er bei dieser Frage mich ansah.
»Betrogen?«
»Nein.«
»Zeigt er dir Liebe, wenn er dich haßt?«
»Gewiß nicht!«
»Und wenn ein Hund, ein Pferd oder irgend ein Haustier mißrät, mißtrauisch und bissig wird, wer ist schuld daran? Der Mensch, der nicht wie ein Mensch, sondern wie eine Bestie an ihm handelt! Ich liebe die Hunde, die Pferde. Sie sind wahr. Sie sind offen und ehrlich. Sie lügen nicht! Die Menschen aber hasse ich, verachte ich. Ich habe noch keinen gefunden, der es wert wäre, auch nur ein einziges Stück Fleisch von mir zu bekommen, wie diese eure Hunde!«
»Armer Mann!« sagte Halef.
»Arm? Bloß arm?« fragte der Ardistani. »Noch schlimmer als arm, noch schlimmer! Selbst die Hunde, die ich mir halte, um doch auch einmal ehrliche Liebe zu finden, dürfen nicht immer bei mir sein und werden mir von andern verzogen. Man unterschlägt, entwendet und raubt mir ihre Zuneigung und Treue. Wie beneide ich euch! Wie freute ich mich über die Treue dieser schönen Tiere und über eure Einsicht und euern Verstand, daß ihr sie nicht bestraftet, anstatt ihnen dankbar zu sein. Ich sage euch, der Augenblick, an dem eure Hunde kamen und fast vor lauter Liebe zu euch gestorben wären, ist ein unendlich wichtiger für mich, viel wichtiger, als ihr ahnt. Es kam zum ersten Male nach dem Tode meiner Mutter die Ahnung, ja die Gewißheit über mich, daß es außer ihr doch Menschen gibt, die wert sind, nicht nur von Hunden, sondern auch von Menschen geliebt zu werden!«
»Du warst dabei, als unsere Hunde kamen?«
»Ja. Doch in anderer Kleidung. Darum erkennt ihr mich nicht wieder. Warum habt ihr den Mir nicht gegrüßt?«
»Wir sind keine Schneider, die Kleiderstoffe und Anzüge studieren wollen, sondern wir kommen als Männer, um den Mann zu sehen und zu sprechen! In unserer Heimat grüßt man den Mann, nicht aber das Gewand.«
»Wie stolz!«
Dieser Ausruf klang halb bewundernd, halb aber auch beleidigt, mit einem Anflug von Zorn, den er doch nicht ganz überwinden konnte. Er erhob warnend, wahrscheinlich auch drohend, den Finger und fuhr fort:
»Dieser Stolz hätte euch das Leben kosten können!«
»Wohl kaum!« antwortete ich.
»O doch! Sogar gewiß! Man hätte euch mit den Säbeln zerhackt und zerhauen! Nur eure Hunde haben euch gerettet!«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht! Wir hatten unsere Messer. Ich hatte auch schnell einen Säbel. Und wir hatten einen Schild, mit dem wir ganz sicher jeden Stich oder Hieb und jede Kugel abgehalten hätten.«
»Einen Schild?« fragte er. »Ich sah doch keinen!«
»Er saß auf dem Thron. Ich meine den Mir.«
»Wieso? Den Mir?«
»Wir wären zu ihm hingesprungen und hätten ihn gepackt, um uns durch seinen Körper zu schützen. Er hätte sich nicht wehren können, schon der unbehilflichen Kleidung wegen nicht. Dieser Schild war gut. Ihm hätte man jedenfalls nichts getan.«
»Und wenn aber doch?« fragte er.
»So wären wir gewiß nicht gestorben, ohne ihm vorher unsere Messer in das Herz zu bohren!«
Da schnellte er mit einem Sprung in die Höhe und rief:
»Ist das wahr? Bei allen Teufeln! Ist das wahr?
»Gewiß! Ich gebe dir mein Wort!«
Halef bestätigte es. Da schritt der Ardistani nach dem Fenster, schaute, um zu überlegen und sich zu beruhigen, lange, lange Zeit hinaus, drehte sich dann zu uns um und sprach:
»Ich sage euch, daß der Mir niemals, so lange er lebt, wieder eine so unbehilfliche Kleidung anlegen wird! Und ich sage euch weiter, daß es schade, jammerschade um euch gewesen wäre, wenn man euch erschlagen hätte:« Ich sehe endlich, endlich einmal Menschen, die wirklich Menschen sind, sogar Männer, wirkliche Männer! Freilich, was ihr mir da sagt, das würdet ihr dem Mir wohl nicht zu sagen wagen, denn ...«
»Warum nicht?« unterbrach ich ihn.
»Er ist ein Tyrann, ein Despot, ein schonungslo...«
»Ja, das ist er!« fiel ich ihm abermals in die Rede. »Aber warum ist er es? Wer hat ihn dazu gemacht? Haben die Menschen, die ihn umgaben, irgendeinen Wert? Und wenn sie einen haben, dann doch nur als Masse! Wieviel Hunderttausende von ihnen werden geboren, nur um wieder zu sterben und zu verfaulen, ohne daß es auch nur einem einzigen von ihnen gelingt, auf sie gestützt, über sie emporzusteigen. Ist es da ein Wunder, daß er, der nicht emporzusteigen braucht, weil er oben geboren ist, dieses sogenannte Menschenmaterial eben nur als Material betrachtet, als weiter nichts?«
Er trat wieder näher, langsam und rief atmend. Seine Augen begannen zu glänzen. Seine bleichen Wangen färbten sich. Ich fuhr fort:
»Wäre er in meinen Augen ein Tyrann, so wäre ich nicht hierhergekommen; darauf verlasse dich! Du glaubst, ich fürchte mich vor ihm? Habe ich mich nicht in seiner Gegenwart geweigert, ihn zu grüßen? Habe ich ihm nicht gesagt, daß es genau so ist, als ob ich ihn gar nicht sehe? Habe ich ihn nicht dadurch gezwungen, aus dem lächerlichen toten Herrschergewand, welches einem Sarg gleicht, herauszutreten und mir den Menschen, den Mann, den wahren Mir zu zeigen, nicht aber den Sklaven seines höfischen Mummenschanzes und seiner eigenen Knechte und Mägde?«
»Gezwungen hast du ihn?« fragte er verwundert. »Und herausgetreten ist er?«
»Ja«, antwortete ich.
»Wann? Wo?«
»Jetzt, hier!«
Während ich das sagte, stand ich auf, um die Arme über der Brust zu kreuzen und mich höflich zu verneigen. Halef tat dasselbe. Da wich der Ardistani einen Schritt von uns zurück und fragte:
»So wißt ihr, wer ich bin? Ihr habt mich erkannt?«
»Ja.«
»An deiner Aussprache, am Sin und Sad.«
Da ging ein fröhliches Lächeln über sein Gesicht, und er rief aus:
»Wirst du es glauben, daß du außer Mutter, Vater und Lehrer der erste bist, der es wagt, von diesem Fehler zu sprechen? Oh, diese Kriecher, diese Würmer, diese Läuse, Wanzen und Flöhe! Es zuckt einem der Fuß, sie hinabzustoßen, so oft sie kommen, gleich tausend auf einen Tritt!« Er machte eine Fußbewegung, als ob er jemand oder irgend etwas mit dem Fuß in die Tiefe stoße, setzte sich nieder, stopfte sich seine Pfeife von neuem, schob uns den Tabak hin, dasselbe zu tun, und sprach dabei weiter: »Es sollte geheim bleiben, wer ich bin, aber nun ihr es wißt, mag es so auch richtig sein. Ich will zunächst als Fürst zu euch sprechen, aber nur kurz; viel länger dann auch als Mensch. Als Fürst betrachte ich euch als Feinde. Ich weiß, wer ihr seid. Du bist ein Effendi aus Germanistan, und dein Begleiter ist ein arabischer Scheich, der den Ussul alle eure Erlebnisse erzählte. Von ihnen erfuhr es der Prinz der Tschoban, der es dann mir hier berichtete. Ihr wißt nun also, warum ich euch so behandle, wie ich keinen andern Menschen behandelt habe oder später behandeln werde. Wir sind Feinde, aber Männer. Unser Stolz sei, ehrlich zu sein, uns einander nicht zu belügen. Ich bitte euch darum, mich nur nach Dingen zu fragen, die ich euch mitteilen darf, sonst bin ich gezwungen, entweder zu schweigen oder unwahr zu sein. Warum seid ihr gekommen? Seid aufrichtig! Es geschieht euch nicht mehr, als wenn ihr lügt. Vor allen Dingen seid ihr versichert, daß ihr das Gastrecht meines Hauses und meiner Stadt genießt und erst jenseits der Stadtgrenzen wieder vogelfrei werdet.«
»Ich danke dir!« erwiderte ich. »Ja, laß uns Männer sein und nur die Wahrheit sagen! Wir sind nicht deine Feinde, sondern nur deine Freunde, wahrscheinlich sogar die besten und ehrlichsten, die du hast. Doch, um das zu erkennen, mußt du besser über uns unterrichtet sein, als der Palang dich unterrichtet hat. Es ist Krieg. Der Dschirbani steht vor der Pforte von Gharbistan, bereit, die Grenze zu überschreiten, sobald er Nachricht von uns bekommt. Ebensowenig, wie ich dich nach deinen Kriegsplänen und deinen Truppen frage, ebensowenig wirst du mich nach den meinigen fragen. Wir kommen nur wegen der Geiseln zu dir, wegen weiter niemand und nichts. Wir wollen sie befreien und ...«
»Ihr zwei?« fragte er da schnell.
»Ja, nur wir zwei«, antwortete ich.
»Das sieht euch ähnlich; beim Himmel, das sieht euch ähnlich! Und das sagst du mir so offen?!«
»Warum sollte ich das nicht? Wir sind ja grad aus dem Grund gekommen, es dir zu melden und von dir zu erfahren, was wir wissen müssen, um sie befreien zu können.«
Da nahm sein Gesicht einen Ausdruck an, den ich nicht beschreiben kann. Er wußte nicht, ob er mich für maßlos unverschämt und frech oder für ganz wahnsinnig aufrichtig halten solle. Daß ich einfach nur psychologisch handelte, war für ihn nicht zu erkennen. Er schlug die Hände zusammen, sah mich wie ein Wunder an und rief:
»Ich soll euch verraten, was ihr wissen müßt, um mir meine Gefangenen zu stehlen! Ich selbst, ich selbst! Wer so etwas zu verlangen wagt, der muß – doch sprich: Was willst du wissen?«
»Ob die Geiseln noch leben, die Prinzen der Ussul.«
»Sie leben noch.«
»Wo sie sich befinden.«
»In der Stadt der Geister, die man auch die Stadt des Todes oder der Toten heißt.«
»Droht ihnen der Tod?«
»Ja, der sichere.«
»Wann?«
»Sobald eure Truppen die engere Grenze von Ardistan überschreiten. Das ist unabänderlich bestimmt.«
»So danke ich dir! Wir haben weiter keine andere Frage, denn das ist alles, was wir wissen wollen.«
»So könnte ich euch wohl, wenn ich wollte, sofort entlassen, und euer Zweck wäre damit erreicht?«
»Ja.«
Da sprang er wieder auf, lief in der Stube hin und her und staunte:
»Was seid ihr doch für Menschen! Noch nie habe ich so etwas erlebt! Kaum ist es zu begreifen!«
Er trat wieder zum Fenster und schob den Kopf weit hinaus, als ob er das Bedürfnis fühle, seine Stirn zu kühlen. Dann kehrte er zu uns zurück, setzte sich nieder und entschied:
»Unsere Unterredung als Feinde, Offiziere und Diplomaten ist jetzt zu Ende. Der Mir von Ardistan gewährt euch für morgen eine zweite Audienz, in welcher er euch Bescheid sagen wird auf das, was wir jetzt sprachen. Und nun wollen wir nur noch Männer und nur noch Menschen sein, weiter nichts. Es ist jetzt, seitdem ich Prinz war und hernach regierte, das erste Mal, daß ich mich frei von Fesseln, frei von Ekel und Verachtung fühle. Meine Seele möchte atmen, möchte wirklich einmal atmen. Gewährt ihr das! Stört sie nicht, die Lebenslust zu trinken, die mit euch hier hereingekommen ist! Sprecht frei und ohne Sorge! Seid offen, und seid ehrlich! Fürchtet den Tyrannen nicht! Ich weiß, daß ich es bin, ein Bedrücker, ein Gewalt- und Schreckensherrscher, anmaßend, hochmütig, erbarmungslos. Aber dieser Despot sitzt nicht hier vor euch. Der blieb vor Schreck über die vier »tollen Hunde« im Prunkgewand stecken. Und als er sah, daß alle die Schurken und Speichellecker vor den Hunden flohen, ohne daß es einem einzigen von ihnen einfiel, auch nur eine Hand für den Fürsten zu rühren, um ihn vor den giftigen Bissen der Ungetüme zu bewahren, da erschrak er über die unendliche Größe dieses Undankes und dieses Verlassenseins und kroch tiefer und tiefer in die Majestät des Audienzanzuges hinein. Da steckt er noch und wird uns hier nicht stören. Hierher ist nur meine Seele gekommen. Gönnt ihr ein wenig Licht, ein wenig Wärme, daß es ihr möglich wird, auf eine kurze Stunde zu vergessen, daß sie weiter nichts, weiter gar nichts ist, als die verschmachtende innere Sehnsucht eines – von Gott zur Nächstenliebe geschaffenen, vom Schicksal aber zur Gewalttätigkeit verurteilten Herrschers!«
Sein Wunsch wurde erfüllt, und zwar unendlich gern. Wir unterhielten uns zunächst wie Männer, die einander kennenlernen wollen, dann wie Menschen, die nach den ersten und letzten Gründen und Zwecken ihres Daseins suchen, nach der Aufgabe, human zu sein und Frieden zu halten, hierauf wie gute Bekannte, die sich bestreben, einander zu veredeln und zu heben, endlich fast gar wie innerlich Verwandte, die untereinander verpflichtet sind, eines einigen Sinnes zu sein. Der Mir war ganz bei der Sache, und er blieb auch dabei, obwohl Stunde um Stunde verrann. Er schien sich wie neugeboren zu fühlen. Er wurde heiter. Er lachte oftmals glücklich auf. Es kam sogar vor, daß er zu uns herübergriff und unsere Hände drückte. Freilich geschah es hier oder da, daß der Herrscher und Gewalthaber plötzlich in ihm rege wurde. Dann schaute er einen Augenblick wie ganz verdutzt um sich und nahm einen Anlauf, uns in unsere Nichtigkeit hinabzuwerfen, stets aber gewann die Seele schnell wieder die Oberhand und stellte das in Gefahr geratene Gleichgewicht wieder her.
Einmal während des Gespräches, als der Audienzsaal erwähnt wurde, fragte Halef, was das für viele und kleine Flämmchen seien, die man durch die dünne Stoffwand sehen könne.
»Das ist der Himmel von Bet Lahem – Bethlehem – dessen Sterne nach einem alten Gesetz jetzt während der Nacht brennen müssen, um auf den großen, heiligen ›Stern des Erlösers‹ zu warten. Hörtest du noch nichts hiervon?«
»Nein«, antwortete ich.
»Aber die Sage vom zurückgekehrten Fluß kennst du wohl? Und auch die Behauptung, daß alle hundert Jahre sich das Paradies öffne und daß die Erzengel und Engel über die Erde rufen, ob endlich Friede sei?«
»Ja, das hat man uns bei den Ussul erzählt.«
»Das alles ist natürlich weiter nichts als Sage, nur Sage. Aber das Volk glaubt daran und hält es für Wirklichkeit. Man hat diesen Glauben zu respektieren, wenn man nicht wagen will, die Macht über die Gewissen der nur allzu leichtgläubigen zu verlieren. Da oben in Dschinnistan gibt es natürlich nur feuerspeiende Berge, aber nicht das Paradies. Auch ist weder Gott jemals herabgekommen noch der Fluß wieder zurückgelaufen. Er hat sehr einfach infolge einer geologischen Katastrophe seinen Lauf geändert und fließt nicht mehr diesseits, sondern jenseits der Berge ab. Dadurch wurden die Bewohner von Ardistan gezwungen, ihre damalige Hauptstadt, die jetzige Stadt der Geister oder Stadt der Toten zu verlassen und sich eine andere Residenz zu bauen. Das taten sie in dieser Gegend, hier, wo zwischen vier kleineren Flüssen, die nicht von dem System des großen Stromes abhängig waren, die damals sehr reichen Christen sich diese Landeskirche gebaut hatten, die ganz natürlich nun zum Fürstensitz dienen mußte. Um dieses Volk nicht allzusehr zu empören, warf man es nicht ganz aus der Kirche hinaus, sondern ließ ihm einen Anteil an ihr, der ein fast ganz ideeller war und die jetzigen Besitzer gar nicht störte. Man knüpfte nämlich an die alten Sagen an und fügte eine Art prophetischen Versprechens hinzu, welches sich selbstverständlich niemals erfüllen wird, weil es kein göttliches ist, obgleich die Christen es für ein göttliches halten. Man sagte nämlich, daß diese Kirche ein Bild der kommenden Erlösung, also des Christentums sei, und daß sich die Weltereignisse in ihrer Mittelkuppel vor ihrem Eintritt bildlich vollziehen würden. Diese Kuppel wurde den Christen gelassen, aber nicht für stets, sondern nur für große Zeiten. Für gewöhnliche Zusammenkünfte haben sie ihre kleinen, mit einem Kreuz bezeichneten Gotteshäuser; aber alle hundert Jahre einmal, wenn die Berge brennen und da oben sich für die Frage nach dem Frieden das Paradies öffnet, muß Bet Lahem gerüstet sein, den Stern des Erlösers zu sehen. Dann dürfen sie allabendlich bis früh die Kirche besuchen. Dann hängen zahlreiche Lämpchen von der hohen Kuppel herab, um das Firmament von Bet Lahem darzustellen, und grad über dem stets tief verhüllten Hochaltar wartet der große Stern des zündenden Funkens, der von der Erde hinaufzusteigen und ihn zu entflammen hat.«
»Was für ein Stern ist das? Und was für ein Funke?« erkundigte ich mich.
»Alle die vielen Flammen und Flämmchen können natürlich nur durch Zündschnur angezündet werden. Für den gewöhnlichen Gebrauch führen zwei Schnüre empor, welche von der rechten Seite des Hochaltars aus bedient werden. An seiner linken Seite aber steigt diejenige Schnur in die Höhe, welche bestimmt ist, die Flammen des großen Sternes zu entfachen. In der Mitte aber befindet sich die für den Hochaltar selbst, der, seitdem hier Fürsten wohnen, nie enthüllt worden ist und auch nie enthüllt werden wird. Die Christen aber denken anders. Sie behaupten folgendes: Wenn die Zeit endlich gekommen ist, daß die Erlösung vom Himmel steigt und Friede auf Erden werden soll, grad dann wird sich alles vereinigen, was den Frieden nicht fördert, sondern unterdrückt. Es wird nicht nur Krieg sein zwischen Ardistan und Dschinnistan, sondern auch zwischen den Staaten von Ardistan untereinander. Darum kommt der Friede nicht den Fluß herab, sondern den Fluß herauf, ganz ungeahnt und in fremder, ganz unbekannter, aber christlicher Gestalt. Er hat kein Heer bei sich, keine Art von irdischen Waffen. Aber er verbindet sich mit den Bewohnern der Stadt der Geister und der Toten und kommt mit ihnen nach der Residenz gezogen, sie ohne Schuß und Schwert und ohne eine Spur von Blutvergießen zu erobern. Der Mir, der um diese Zeit über Ardistan herrscht, wird ein Feind des Christentums sein und es unterdrücken, so viel er nur vermag. Aber er wird gezwungen sein, den Stern, der über Bet Lahem zu erscheinen hat, mit eigener Hand zu entzünden. Sobald er dieses tut, ist der Gang des Kommenden unmöglich aufzuhalten. Er wird zunächst den Hochaltar für immer enthüllen. Sobald dieses geschieht, werden die Stimmen der Barmherzigkeit und Güte aus der Höhe des Firmamentes schallen und Himmelstöne, die man im Land Ardistan noch niemals hörte, werden zu vernehmen sein, laut, wie Sturmbrausen, lieblich, wie Engelsworte, und leise, wie die Atemzüge der Seelen, die am Herzen Gottes ruhen.«
Er machte jetzt eine kurze Pause und sprach dann mit einer geringschätzigen, wegwerfenden Handbewegung weiter:
»Du siehst, Effendi, daß man diesen törichten Menschen viel versprechen konnte, weil man wußte, daß nichts zu halten war. Man hat in Zeiträumen von hundert Jahren einmal die Lampen und Kerzen für den Hochaltar und für den Stern von Bet Lahem vorzubereiten und sich, solange die Berge leuchten, den abendlichen Besuch der Christen gefallen zu lassen; das ist alles. Keinem Mir von Ardistan wird es jemals, zumal wenn er das Christentum haßt, einfallen, den Stern der Erlösung zu entzünden. Wer soll als Güte und Barmherzigkeit in der Höhe des Firmaments singen? Und welcher Mensch soll die Himmelstöne hervorbringen, die man im Land Ardistan noch niemals zu hören bekam? Auch du wirst lachen. Oder nicht?«
»Nein«, antwortete ich. »Für mich sind Sagen heilig.«
»Aber diese Sage wurde fabriziert, absichtlich fabriziert, um die Christen zu betören!«
»Das zu beweisen, würde dir wohl schwerfallen! Wie nun, wenn die Fabrikanten sich selbst getäuscht haben? Wenn sie unbewußt einem höheren Gebot gehorchten, während sie glaubten, ihren eigenen Absichten dienstbar zu sein? Also, der heilige Raum steht den Christen gegenwärtig offen?«
»Ja, während der ganzen Nacht.«
»Und kommen sie?«
»Von weit und breit her! In langen, großen Pilgerzügen! Heute kam ein Zug aus Scharkistan, der große Feier hält.«
»Um welche Stunde?«
»Von Mitternacht bis früh. Sie hat also schon begonnen.«
»Du weißt, ich bin Christ. Ist es mir als deinem Gast erlaubt, dann, wenn du uns verlassen hast, hinabzugehen, um dem Schluß dieser Feier beizuwohnen?«
Er schaute mich eine kleine Weile an und lächelte dann wie belustigt. Es schien ihm ein Gedanke zu kommen. Er antwortete:
»Ja, du bist Christ, leider, leider! Aber ein gebildeter, kein unvernünftiger und blindgläubiger. Dieses Reden und Plärren wird dich nicht erbauen, sondern dir ebenso lächerlich vorkommen, wie mir selbst. Ich habe also nichts dagegen, daß du gehst. Ja, du kannst es sogar gleich tun, und ich werde dich begleiten. Ich gehe sehr oft des Abends unbekannt durch die Stadt, den verräterischen Bart unter dem Gewand verbergend. Warum nicht auch einmal in den nächtlichen Gottesdienst der Christen. Ich sah ihn noch nie. Wenn ihr wollt, so können wir gehen. Wir kehren dann nach hier zurück.«
Er stand auf und knüpfte seinen langen, köstlichen Bart unter sein Obergewand. Dann zog er den Zipfel seines Turbantuches hervor und ließ ihn wie einen Halbschleier über Stirn und Augen fallen. Hierdurch wurde er unkenntlich. Wir gingen.
Unser Weg führte uns auch jetzt über mehrere nur ganz spärlich beleuchtete Treppen und Gänge, aber diesesmal bis hinab zur ebenen Erde. Daß wir die Hunde nicht mitnahmen, sollte ich wohl nicht erst erwähnen. Das Hauptportal des hohen, herrlichen Kuppelbaues war geöffnet; aber wir traten durch eine Seitentür herein. Ja, das sah allerdings aus wie ein nächtlicher Himmel, wie ein Firmament. Der Himmel war dunkel, und die Sterne erschienen sehr klein. Sie standen überhaupt nur an der einen Hälfte der Wölbung; auf der andern Hälfte gab es keinen einzigen. Der betreffende Beamte war wohl ein sparsamer Mann. Er glaubte, das Christentum habe auch am halben Himmel genug und ließ also den andern Teil des Firmaments dunkel. Darum gab es hier unten in der Tiefe nur eine Art von besserer Dämmerung, die alles, was wir sahen, geheimnisvoll oder schattenhaft erscheinen ließ.
Es waren viele, sogar sehr viele Menschen vorhanden. Es gab welche, die kamen, und welche, die gingen. Andere wandelten leise durch den weiten, weiten Raum; er war ihnen heilig. Überall, an allen Orten, knieten welche, die beteten. Die nicht von hier, sondern aus anderen Gegenden waren, standen in Gruppen beisammen und hörten ihre Redner sprechen, deren Worte nur in der Nähe verstanden werden konnten, dann aber nur bloß als Lärm in die Lüfte stiegen. Wir schritten, das alles beobachtend und von Gruppe zu Gruppe stehenbleibend, nach dem Hochaltar, welcher vollständig verhüllt war. Diese Hülle bestand aus einem starken Holzgerüst, worauf man dicke Filzplatten genagelt hatte. Es gab da in Manneshöhe einige Öffnungen, die mich augenblicklich nicht interessierten. Hoch über diesem Altar schwebte irgend etwas, was nicht deutlich zu erkennen war. Vielleicht der Stern von Bet Lahem, auf den sich die vom Mir erzählte Sage bezog.
In der Nähe der Stelle, an der wir uns jetzt befanden, standen viele, viele Menschen eng beisammen, um einem Prediger zuzuhören, der von einer Kanzel herab zu ihnen sprach. Ich hörte, daß er die Sage erzählte, aber nicht als Sage, sondern als Weissagung. Er war ein ehrwürdiger alter Priester, der in schöner Begeisterung redete und seine Hörer hinriß. Gern hätte ich ihm länger zugehört, aber der Mir, der sich vorgenommen hatte, mir alles zu zeigen, lenkte meine Aufmerksamkeit von ihm ab nach dem dunkeln Teil des weiten Raumes, wo etwas in die Höhe stieg, was ich nicht erkennen konnte.
»Dort ist der Platz für die Sänger und für die Orgel«, sagte er.
»Eine Orgel ist da?« fragte ich erstaunt.
»Ja«, antwortete er.
»In diesem Land? In Ardistan?«
»Warum nicht? Meinst du, daß es nur bei euch Orgeln gebe? Ich hörte, die Orgeln seien überhaupt hier bei uns im Morgenland erfunden. Erst gab es nur eine sehr, sehr kleine und uralte. Dann aber, jetzt gerade vor hundert Jahren, als die Berge brannten wie heute, schenkte der damalige Abd el Fadl, Fürst von Halihm, den hiesigen Christen eine neue. Man sagt, sie sei in Anglistan gemacht und über Indien hierhergekommen. Wodurch der damalige Mir von Ardistan gezwungen worden ist, dies zu erlauben, das habe ich nicht erfahren können, selbst von meinem Vater nicht. Es waren fremde Menschen, die sie brachten und hier zusammensetzten. Dann gingen sie wieder fort.«
»Wie sonderbar!« sagte ich. »Und wie schade, daß man sie nicht sieht! Es ist so dunkel!«
»Du möchtest sie gerne sehen?« sagte er.
»Ja; sehr gerne!«
»So warte! Man hat heut nur einen Teil der Lampen und Lichter angebrannt; warum, das weiß ich nicht. Dort ist die Zündschnur für den anderen Teil. Es soll gleich heller werden!«
Er ging nach einer der erwähnten Öffnungen in der Hülle des Hochaltars und griff hinein. Es dauerte einige Zeit, ehe er fand, was er suchte. Inzwischen richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf den alten, ehrwürdigen, begeisterten Redner, der jetzt gerade nach meiner Seite gerichtet sprach, so daß ich seine Worte deutlich hörte:
»Es wird die Zeit des Friedens kommen, denn sie muß kommen, weil alles sich erfüllt, was uns verheißen ist. ›Friede auf Erden!‹ erklang es auf dem Feld von Bethlehem, als der Stern am Himmel stand und der Erlöser uns geboren wurde. ›Friede auf Erden!‹ wird es wieder klingen, wenn auch bei uns der Stern erscheint, der Stern der Sage, hier, in diesem Hause, auf den wir alle ...«
Er hielt mitten in seiner Rede inne und schaute nach oben. Die Augen aller seiner Zuhörer folgten derselben Richtung.
In demselben Augenblick war der Mir schnell wieder zu mir getreten, um zu fragen:
»Siehst du sie nun, die Orgel? Wie hell das ist! Fast scheint es, als ob ...«
Da sprach auch er nicht weiter und richtete seinen Blick nach oben.
»Der Stern! Der Stern von Bethlehem!« rief der Redner jubelnd. »Er ist da! Er ist da! Wer hat ihn angesteckt?«
»Den Stern habe ich angebrannt, den Stern, nicht die Lampen und Lichter!« schrie der Mir erschrocken. »Wir sind ja auf der falschen Seite! Es war nicht die richtige Schnur! Ich muß ihn wieder verlöschen, verlöschen, ver...«
Er eilte nach der Öffnung zurück und griff hinein, doch vergeblich. Es war wohl möglich gewesen, die Flammen zu entzünden, doch wieder auslöschen konnte man sie nicht. Man mußte sie brennen lassen, bis sie aus Mangel an Nahrung von selbst verschwanden. Er war jetzt nicht nur erschrocken, sondern außer sich. Infolge der Bewegung seines Armes nach dem Innern der Öffnung hatte sich vorn sein Gewand geöffnet und der Bart erschien. Er bemerkte das gar nicht. Um besser sehen zu können, schob er sich, anstatt sich zu verhüllen, den Zipfel des Turbantuches aus dem Gesicht. Der Geistliche erkannte ihn und rief:
»Der Mir von Ardistan hat es getan! Der Mir mit seiner eigenen Hand! Die Prophezeiung beginnt, sich zu erfüllen!«
Da griff der Mir meine Hand und Halefs Hand, versuchte, sich zwischen uns zu verbergen und herrschte uns zu:
»Fort, fort! Schnell, schnell! Sonst gibt es einen Aufruhr sondergleichen! Fort, nur fort!«
Wir eilten, so schnell wir konnten, von dannen, aber jedermann schaute uns nach oder kam gar hinterdrein, und erst zehn, dann zwanzig, fünfzig, hundert und noch mehr Stimmen riefen:
»Der Stern ist da! Vom Mir selbst angezündet! Vom Mir, vom Mir! Vom Feind der Christen! Genau, wie es verheißen ist! Vom Mir selbst, vom Mir selbst!«
Ein Blick zeigte mir, daß hinter uns alles in Aufruhr war. Dann hörten wir keine Rufe und Worte mehr, sondern nur noch ein erregtes Summen, wie von einem zornig gewordenen Bienenvolk, bis wir auch dieses nicht mehr vernahmen. Kein Mensch begegnete uns unterwegs auf den Treppen und Gängen. Wir erreichten unsere Wohnung völlig ungesehen.
»Das ist gut, sehr gut!« sagte der Mir in großer Aufregung. »Man kann mir nichts beweisen! Ich leugne natürlich alles ab; ich bin es nicht gewesen! Und ihr, ihr werdet mir bezeugen, daß ich es nicht gewesen sein kann, weil ...«
»Wir werden dir bezeugen, daß du es gewesen bist!« schnitt ich ihm seine Rede ab. »Du hast von uns gefordert, die Wahrheit zu sagen!«
»Ja, zu mir! Aber nicht zu diesem niedrigen, verächtlichen Christenvolk!«
»Ich bin sie jedermann schuldig, Gott, mir und allen Menschen. Vor allen Dingen bin ich sie denen schuldig, die du als ein niedriges, verächtliches Christenvolk bezeichnest. Auch ich bin Christ, das weißt du ja!«
Da war es, als ob er sich plötzlich in einen anderen Menschen verwandle. Er richtete sich hoch auf. Seine Stirne wurde schmal; seine Augen verkleinerten sich; seine Brauen berührten einander. Der Despot trat hervor.
»Was ihr zu sagen habt, ist nicht eure, sondern meine Sache; ich bin der Herrscher!« donnerte er mich an. »Dieser Hadschi Halef hat zwar gesagt, daß ihm sein Pferd viel höher stehe als ich – ihr hört, daß ich alles erfahre – aber das ändert nichts an dem Gehorsam, den ihr mir schuldet. Wenn man euch fragt, werdet ihr sagen, daß ich nicht der Mann gewesen bin, der mit euch in der Kirche war und die Unbedachtsamkeit beging, sich an der Zündschnur zu vergreifen! Ich befehle es!«
»Es zu befehlen, bleibt dir unbenommen«, antwortete ich ruhig. »Wir aber sind weder Untertanen von dir, noch stehen wir in deinen Diensten. Und selbst wenn dies wäre, so würde es uns um keines Kaisers oder Königs willen einfallen, etwas zu sagen, was eine Lüge ist!«
»Ihr müßt, ihr müßt!« herrschte er mir zu. »Ihr befindet euch in meiner Gewalt. Es bedarf nur eines Winkes von mir, so seid ihr verloren!«
»Du irrst«, lächelte ich. »Wir stehen in Gottes Hand, nicht aber in der deinen. Und was den Wink betrifft, von dem du sprichst, so brauche ich nur meine Hand zu rühren, um zu erreichen, daß unsere Hunde dich sofort in Stücke reißen. Schau sie an, und nimm dich in acht! Sie dulden nicht, daß man in diesem Ton zu uns redet!«
Obgleich er sie vorhin gefüttert hatte, zeigten ihm jetzt alle vier Hunde ihre drohenden Zähne. Hu und Hi hatten sich gerade vor ihn hingestellt und richteten ihre Aufmerksamkeit ausschließlich nur auf ihn. Sie waren bereit, sich sofort auf ihn zu werfen. Aacht und Uucht aber, meine beiden, waren intelligenter und auch mit feineren Sinnen begabt. Sie drohten ihm zwar auch, doch waren ihre Augen mehr nach der Tür als auf ihn gerichtet, als ob da draußen jemand stehe und uns belauschte. Der Mir bemerkte das ebensogut wie ich. Er trat schnell hinaus und fragte den Gang hinauf und hinab, ob jemand hier sei. Niemand antwortete. Er fragte zum zweiten und zum dritten Male, doch ebenso ohne Erfolg. Da kam er wieder herein und sagte:
»Das kommt mir verdächtig vor! Wären eure Hunde mein, so schickte ich sie jetzt hinaus, um ...«
Ich war ganz seiner Meinung. Ich wartete gar nicht, bis er ausgesprochen hatte, sondern ich gab den betreffenden Wink, worauf Aacht und Uucht sofort aus dem Zimmer verschwanden. Im nächsten Augenblick hörten wir ein Fauchen. Das war Uucht. Sie war verwundet worden. Gleich darauf hörten wir ihr zorniges Knurren, in welches Aacht einstimmte. Knochen krachten; mehrere Menschen riefen um Hilfe. Hu und Hi stürzten auch hinaus. Es gab noch einige Schreie und wiederholtes Knacken und Splittern von Knochen; dann war es still. Wir eilten mit dem Licht hinaus. In einiger Entfernung von unserer Wohnung, und zwar nach der Seite, wohin der Mir sich zu entfernen hatte, lagen vier Menschen, und bei jedem stand einer der Hunde. Uucht blutete. Sie hatte einen Stich in den Hals bekommen, doch war er nicht gefährlich. Von den vier Personen lebte keine mehr. Ihre zerbissenen Gurgeln hingen heraus, waren vollständig zermalmt.
»Kennst du sie?« fragte ich den Mir, indem ich den Schein des Lichtes auf ihre Gesichter fallen ließ.
Er schaute nieder und antwortete erstaunt:
»Der Leutnant von der heutigen Wache mit drei Soldaten! Was wollte er hier, wo er nichts zu suchen hat? Warum antwortete er nicht, als ich fragte? Auf wen war es abgesehen? Auf mich oder auf euch? Ihr seht, sie waren scharf bewaffnet!«
Ich mußte sofort an den Panther denken, den zweiten Prinzen der Tschoban, sagte aber nichts, sondern erkundigte mich:
»Die drei Soldaten sind gleichgültig. Aber kennst du die Familie des Leutnants?«
»Ja.«
»Wer und was ist sein Vater?«
»Er ist tot. Auch er war Offizier; aber ich ließ ihn wegen Ungehorsams erschießen.«
»Und das hinderte nicht, daß der Sohn wieder Offizier wurde?«
»Vielleicht bei euch, aber nicht in Ardistan. Ich werde sofort selbst nach der Wache gehen und diese Sache untersuchen.«
»Das würde ich nicht tun. Wo wohnt dieser Leutnant?«
»In der Nähe des Schlosses, bei seiner Mutter.«
»Der Witwe dessen, den du hast erschießen lassen?«
»Ja.«
»Wer wohnt noch mit in demselben Hause?«
»Ein Bruder des Erschossenen, weiter niemand.«
»So kannst du höchstwahrscheinlich bei dieser Mutter und seinem Bruder mehr erfahren als auf der Wache. Nur darfst du keine Zeit verstreichen lassen und mußt selbst gehen. Die Persönlichkeit hat zu wirken.«
Er sah mir einige Augenblicke lang still in das Gesicht und sagte dann:
»Warum kommt mir dieser dein Rat so selbstverständlich vor, obwohl er gegen alle Regel und Gepflogenheit streitet? Ist es nur deshalb, weil der Prinz der Tschoban mir von dir erzählt hat? Oder ist es auch deine Persönlichkeit, welche wirkt? Ich werde tun, was du geraten hast. Kehrt in eure Zimmer zurück, und geht zur Ruhe! Verbindet Uucht! Ich werde euch das Zeug dazu durch den Diener schicken.«
Er liebkoste und streichelte die Hunde alle, vom ersten bis zum vierten; dann entfernten wir uns mit ihnen und ließen ihn bei den Leichen allein zurück, ohne uns um das, was er nun tat, weiter zu bekümmern. Nun hörten wir, da es keine Türen, sondern nur Vorhänge gab, von meinem Zimmer aus nach einiger Zeit die leisen, durch die Teppiche gedämpften Schritte von Leuten, welche jedenfalls beauftragt waren, sowohl die Leichen als auch die Spuren dessen, was geschehen war, zu entfernen. Dann wurde es wieder still. Nur der Diener kam noch, der uns den Verbandstoff für die verwundete Hündin brachte und sich dann wieder entfernte.
Man wird es begreiflich finden, daß der Schlaf uns floh. Wir saßen in meiner Stube beieinander und besprachen die Ereignisse dieses hochwichtigen Tages, natürlich mit leiser Stimme. Die Hunde lagen bei uns und schienen zu schlafen. Da plötzlich hob Uucht ihren Kopf, lüpfte das eine, nach der Tür gerichtete Ohr, blieb für einige Augenbücke in dieser lauschenden Haltung und hob dann die Oberlippe, so daß die Spitzen ihrer weißen, prächtigen Zähne zum Vorschein kamen. Sofort begann auch Aacht zu lauschen und seine Zähne zu zeigen.
»Es ist wieder jemand draußen!« flüsterte Halef.
Ich sagte nichts, sondern nickte nur. Dann stand ich auf und trug das brennende Licht in Halefs Stube, so daß es in der meinigen nun finster war und wir nicht von draußen gesehen werden konnten. Hierauf schlugen wir vorsichtig den Türvorhang zurück und schauten hinaus. Wir sahen eine männliche Gestalt, die ein Windlicht in der Rechten hielt und mit leisen, vorsichtigen Schritten den Gang durchmaß. Sie suchte. Das Windlicht gab nur nach der einen Seite Schein und ließ die andere dunkel. Als der Mann an die Stelle kam, wo die vier Toten gelegen hatten, blieb er stehen und bückte sich nieder. Er bemerkte die noch blutig feuchten Stellen, und wir sahen, daß er erschrak. Er befühlte den Teppich prüfend mit den Händen und untersuchte den Ort so genau wie möglich. Als er sich wieder erhoben hatte, blieb er ein Weilchen überlegend stehen. Dann gab er sich einen Ruck, als ob er zu einem Entschluß gekommen sei und schritt weiter, in der Richtung auf uns zu. Wir traten von der Türöffnung zurück und geboten den Hunden Ruhe.
Er kam. Er blieb draußen vor unserem Vorhang stehen. Der Schein seines Lichtes zeigte uns das Gewebe unserer Vorhänge. Ein Bösewicht von Profession hätte dies ganz unbedingt mit in Berechnung gezogen und die Laterne von uns abgewendet. Daß er das nicht tat, war für uns ein Beweis seiner Unerfahrenheit. Genau so, wie wir sein Licht von innen bemerkten, mußte ihm das unsere von außen auffallen, wenn auch nicht so deutlich, weil wir uns im Dunkeln befanden, er aber nicht. Er ging weiter bis zur nächsten Türe und blieb da lauschend stehen. Das war Halefs Türe. Ich flüsterte diesem zu:
»Tritt hinaus in deine Stube! Ich bringe ihn dir herein.«
Der Hadschi folgte dieser Weisung, ich aber trat wieder an den Eingang zu meiner Stube und schob die beiden Gardinenteile ein wenig auseinander, gerade nur so weit, daß ich durch die schmale Lücke hinaussehen konnte. Der Mann lehnte soeben sein Windlicht an die gegenüberliegende Wand und schlich sich hierauf zu Halefs Türvorhang, den er genau so auseinanderzog wie ich den meinigen. Er schaute durch die so entstandene Lücke zu dem Hadschi hinein. Da trat ich schnell hinaus, huschte zu ihm hin, faßte ihn am Genick und schob ihn in die Stube hinein, wo Halef ihn unter einer tiefen Verbeugung lachend mit den Worten begrüßte:
»Sei uns herzlich willkommen, du schleichende Laterne! Setze dich nieder, und glaube, daß du nicht bloß uns, sondern auch diese kennenlernst!«
Er meinte damit die Hunde, die er, während er dies sagte, hereinkommen ließ. Ich aber drückte den Mann auf den Boden nieder, wo er, ohne den geringsten Widerstand zu leisten, sich setzte und augenblicklich von den Hunden eingeschlossen wurde. Er starrte uns an. Der Mund stand ihm offen, aber er sagte nichts, so sehr erschrocken war er. Ich holte sein Windlicht herein, stellte es so auf, daß der Schein grell auf ihn fiel und setzte mich ihm gegenüber. Es war, als ob diese direkte Berührung durch das Licht ihn nicht nur wieder zu sich bringe, sondern ihn auch von jeder Verlegenheit befreie. Der Ausdruck des Verblüfftseins verschwand aus seinem Gesicht. Er lächelte, und dieses Lächeln war keineswegs ein verlegenes, sondern es prägte sich in ihm das Selbstbewußtsein eines Mannes aus, welcher weiß, daß er die Situation beherrscht, obgleich es den Anschein hat, daß er von ihr überwältigt worden sei. Er war kein gewöhnlicher Mann, das sah man ihm gleich beim ersten Blick an. Seine Züge waren intelligent, ja, fast möchte ich sagen, durchgeistigt. Sie waren scharf, wohl infolge fleißigen Nachdenkens, und dennoch weich, mit einem deutlichen Anflug von Schwärmerei. Dieser Mann konnte vielleicht sogar fanatisch sein; der angeborene Grundzug seines Innern aber war Wohlwollen und Gerechtigkeit.
»Ich war in schwerer Sorge«, sagte er. »Sie verleitete mich, diesen nächtlichen Gang zu unternehmen, der eigentlich tief unter meiner Würde hegt. Kennt ihr mich?«
»Nein«, antwortete ich.
»Ich bin der Basch Islami von Ardistan und wohne mit hier im Schloß. Das heißt, ich residiere hier. Mein eigentliches Haus aber steht weit draußen vor der Stadt.«
Basch heißt so viel wie Haupt, also der Oberste. Er war Mohammedaner und wohl im Besitz desselben allerhöchsten geistlichen Amtes, welches in der Türkei der Scheik ul Islam bekleidet. Ich frug ihn nicht. Er fuhr fort:
»Ich kenne euch sehr gut, sogar viel besser, als ihr denkt.«
»Woher?« fragte Halef.
»Erlaubt, daß ich euch das erst später sage! Bevor ich euch derartige Mitteilungen machen kann, muß ich mich erst versichern, daß ihr wirklich diejenigen seid, für die ich euch halte. Vor allen Dingen bitte ich euch, ja nicht etwa zu glauben, daß ihr mich hier überrumpelt habt. Ich kam in der Absicht hierher, mit euch zu sprechen und ...«
»Hier? Heut? In dieser Nacht?« unterbrach ich ihn.
»Ja«, nickte er. »In dieser Nacht! Freilich verfolgte ich auf diesem heimlichen Gang auch noch einen andern Zweck. Es sollte sich etwas ereignen, was aber nicht geschehen zu sein scheint. Es war etwas unendlich Wichtiges. Ich wartete auf die Meldung, doch vergeblich. Da ergriff mich schwere Sorge. Ich machte mich auf, um selbst nachzusehen. Da bemerkte ich Blutflecken und schlich mich hierher, um euch nach dem, was geschehen ist, zu fragen. Denn nur ihr allein seid es, von denen ich schon gleich jetzt die zuverlässigste Auskunft zu erhalten vermag.«
»Was willst du von uns wissen?« fragte ich in der Überzeugung, daß diese Unterredung eine unendlich wichtige für uns sei und daß ich mich der größten Vorsicht zu befleißigen habe.
Indem ich diese Frage aussprach, sah ich, daß Uucht ihren Kopf nach der Korridortür wendete, ihn dann aber beruhigt wieder auf die Vorderpfoten legte. Und gleich darauf schielte Aacht nach der Verbindungstür zu meiner Stube und bewegte dabei die Spitze seines Schwanzes. Der Basch Islami bemerkte hiervon nichts; er sprach unbesorgt weiter. Halef aber hatte es ebensogut wie ich gesehen; er lächelte. Aus diesem Gebaren der beiden Hunde war zu schließen, daß irgend jemand erst am Vorhang der Korridortür gestanden und sich dann leise in mein Zimmer geschlichen hatte. Da befand er sich noch jetzt. Es war eine den Hunden bekannte, mit ihnen befreundete Person. Das konnte ganz selbstverständlich nur der Mir sein. Er war aus irgendeinem Grund zu uns zurückgekehrt, und zwar so leise, wie die nächtliche Stunde es erforderte, und hatte bemerkt, daß jemand bei uns war. Nun saß er drüben in meiner Stube und hörte jedes Wort, welches hier hüben bei uns gesprochen wurde. Das war ein Umstand, der uns beiden, nämlich Halef und mir, die Situation für den gegenwärtigen Augenblick außerordentlich erschwerte, der aber auch viele Weiterungen abschnitt, die sonst zu erwarten gewesen wären. Wir beide sahen, daß auch die zwei anderen Hunde, nämlich Hu und Hi, den Mir witterten; der Basch Islami aber ging ahnungslos auf meine Fragen ein:
»Was ich von euch zu erfahren wünsche, ist eigentlich wenig und doch viel, sogar sehr viel. Ich weiß, daß der Mir bei euch gewesen ist, um eure Hunde zu füttern. Ich weiß auch schon, daß er euch in die Kirche geführt und dort den Stern von Bet Lahem entzündet hat, ganz selbstverständlich aus Versehen. Er hat mit euch die Kirche dann verlassen. Wo ist er jetzt?«
Da antwortete ich:
»Ich gebe zu, daß er bei uns war, daß er uns in die Kirche führte, daß er dort den Stern entzündete und daß er uns sodann wieder hierher begleitete. Wie aber soll ich wissen, wo er sich jetzt befindet? Meinst du, daß er sich von uns bewachen lasse?«
»Nein; das meine ich nicht. Aber da draußen auf dem Gang gibt es frische Blutflecke. Kennt ihr sie?«
Ja.«
»Was ist es für Blut?«
»Menschenblut.«
»Von wem?«
»Von Soldaten.«
»Wer hat es vergossen?«
»Hier unsere Hunde.«
Da sprang er mit einem lauten Schrei des Entsetzens empor und rief:
»Von diesen Hunden? Von diesen riesigen, entsetzlichen Ungetümen wurde die Tat vollbracht? Warum? Warum? War der Mir dabei?«
»Gewiß war er dabei.«
»Und er hat gewußt, daß es nur ihm galt, ihm allein?«
»Ihm allein?«
»Ja.«
»Das ist nicht wahr. Es galt auch uns!«
»Du irrst! Ich bin der, der es weiß! Ich bin ...«
Er hielt mitten im Satz inne, ließ seinen Blick über mich, über Halef und die vier Hunde gehen und fuhr dann fort:
»Ich muß aufrichtig sein; ich muß es sagen, ich muß! Und doch ist es so schwer, so unendlich schwer! Es kann mich und alle verderben. Ich werde beten, ehe ich es tue, ja beten!«
Er kniete nieder, faltete die Hände, hob den Blick empor und betete El Fathha, die erste Sure des Korans.
Es war tief ergreifend, diesen Mann hier vor uns knien und beten zu sehen. Mein ganzes Herz stellte sich an seine Seite und nahm für ihn Partei. In meinem Inneren kämpften zwei Gestalten gegeneinander: er und der Mir. Wer würde siegen? Es war nicht ausgeschlossen, daß ich in diesem Kampf mit samt meinem wackeren Halef auch mit unterging! Da erhob sich der Basch Islami aus seiner knienden Stellung, setzte sich wieder nieder, wie er vorher gesessen hatte, und fuhr fort:
»So hoffe ich denn zu Allah, daß der Weg, den ich hier gehe, nicht der falsche, sondern der richtige ist! Ich höre in mir eine Stimme, die mir sagt, ich müsse euch vertrauen, sonst gehen wir alle an unserer ehrlichen, gerechten Sache zugrunde. Effendi, ich bitte euch, mir zuzuschwören, von dem, was ich euch jetzt sage, dem Mir nichts zu verraten!«
»Ich schwöre nie«, antwortete ich. »Aber mein Wort ist stets so heilig wie ein Schwur.«
»Gut! So versprecht ihr mir, ihm nichts davon mitzuteilen?«
»Ja. Wenn du es ihm nicht selbst sagst, wir sagen ihm nichts.«
Dieses mein Versprechen scheint vielleicht hinterlistig gegeben zu sein. Man wird aber gleich hören, daß es ehrlich gemeint war. Der Basch Islami fuhr fort:
»Das, was ich euch zu sagen habe, ist ungeheuer wichtig. Wenn ihr es verratet, kann es mir und vielen anderen das Leben kosten. Gebt ihr mir euer Wort, daß es genau so sein soll, als ob ich euch nichts gesagt habe?«
»Ja; wir geben es«, antwortete ich.
Ich wußte gar wohl, was ich da sagte. Ich versprach es nicht nur für mich und Halef, sondern ebenso auch für den Mir, der ja draußen saß und alles auch hörte. Auch der Basch Islami schien eine Ahnung von der Verantwortlichkeit zu haben, die ich übernahm, denn er sah mich mit großen, fast bewundernden Augen an und sprach:
»Du bist ein kühner Mann, Effendi! Weißt du, was du versprichst?«
»Ich weiß es.«
»So darf ich Vertrauen zu euch haben und euch alles sagen. Hört also, und staunt: Der Herrscher von Ardistan wird abgesetzt!«
Er sagte jedes Wort so gewichtig, als ob er es mit Buntstift unterstreiche. Ich aber erkundigte mich im ruhigsten Ton:
»Von wem?«
»Vom Basch Islami von Ardistan, also von mir. Verstanden?«
Erst jetzt erlaubte ich mir zu staunen.
»Von dir? Wirklich von dir?« fragte ich in ziemlich ungläubigem Ton.
»Ja, von mir!« versicherte er stolz.
»Bist du der Mann dazu, so etwas Großes, Schweres und Wichtiges zu vollbringen?«
Ich sah ihn dabei prüfend an. Da schlug er sich die Hand auf die Brust und antwortete:
»Ich bin es! Ich bin der Basch Islami. Ich habe darüber zu wachen, daß es Glauben gibt im Land, daß Allah der Erste und der Höchste ist im Leben und im Sterben. Ich habe dafür zu sorgen, daß Gerechtigkeit und Menschlichkeit herrsche allüberall, wohin die Würde meines Amtes reicht. Wie aber sieht es aus in Ardistan unter der Regierung dieses unseres Herrschers? Er glaubt weder an Gott noch an den Teufel. Er lacht über Himmel und Hölle, über Seligkeit und Verdammnis. Er betet nie. Er bedrückt das Land. Er saugt die Untertanen aus. Er bestiehlt die Witwen und Waisen. Kein Mensch ist seines Lebens sicher. Er haßt den Frieden. Wohin du schaust, fließt Blut. Wir haben ihn gebeten; er lachte. Wir haben ihn gewarnt; er spottete. Wir haben ihm gedroht; er höhnte. Seine Härte wuchs; seine Grausamkeit stieg über alle Grenzen. Wir trugen es, denn wir hatten ihm Treue geschworen. Und wir hofften, daß Allah sich unser erbarmen und das Herz des Tyrannen endlich, endlich einmal rühren werde. Aber dieser Wunsch erfüllte sich nicht, sondern es geschah das Gegenteil. Der Mir fing Händel an mit dem Mir von Dschinnistan, dem gütigsten und weisesten Herrscher aller Völker und Reiche, die es gibt. Er erklärte ihm den Krieg. Das ist wahnsinnige Vermessenheit. Wir sehen unseren Untergang vor Augen. Wir müssen uns retten und können dies nur dadurch tun, daß wir ihn von der Stelle entfernen, an der er steht.«
Der Basch Islami machte hier eine Pause. Dies benutzte ich, ihn zu fragen:
»Wer sind diese ›wir‹, von denen du sprichst? Du meinst dich nicht allein?«
»Nein. Ich vertrete nur die Mohammedaner des Landes. Doch stehen an meiner Seite auch die Obersten der anderen Religionen.«
»Der Christen?«
»Nein, diese nicht. Die Christen sind wie die Hunde, die dem, der sie martert, die Hand noch lecken. Sie behaupten, Gott habe den Mir eingesetzt; darum bleiben sie ihm treu! Aber wir Mohammedaner zählen nach Millionen, die Buddhisten ebenso und die Lamaisten noch viel mehr, die Andersgläubigen gar nicht mitgerechnet. Wir sind gegen den Mir zusammengetreten, um ihn abzusetzen und einen anderen Herrscher zu wählen. Die Ereignisse sind uns günstig. Seine besten Truppen hat er nach Norden gegen den Mir von Dschinnistan gesandt, und von Süden kommen die Scharen der Ussul und Tschoban herangezogen, um die Hauptstadt zu berennen. Das Heer der Dschunub, auf welches er rechnete, wurde von euch vernichtet und zerstreut. Und nun kommt ihr beide selbst nach Ard, ohne euch vor ihm zu fürchten. Das erschien uns der geeignete Augenblick, den längst beschlossenen Schritt zu tun. Wir erfuhren, daß der Mir hierher zu euch gegangen sei. Wir befahlen der Wache, die zu uns hält, ihn hier gefangenzunehmen ...«
»Ah! Bei uns!« unterbrach ich ihn.
»Ja, bei euch!«
»Er sollte getötet werden?«
»Einstweilen nur verschwinden.«
»Und wir? Was sollte mit uns beiden geschehen?«
»Das hatte sich noch zu finden!«
»Nein, nicht zu finden, sondern es war beschlossene Sache! Der Mir sollte bei uns überfallen und getötet werden. Uns wollte man als seine Mörder bezeichnen. Dann wehe uns beiden ehrlichen, unschuldigen Menschen! Gott aber verhütete diese Tat. Als die Mörder kamen, fanden sie diese Stuben nur von den Hunden besetzt. Wir waren mit dem Mir in der Kirche. Der Gottesdienst der Christen hat ihm also das Leben und den Thron gerettet. Euer Plan war überhaupt nicht wohlüberlegt. Ihr hattet nicht mit den Hunden gerechnet. Und wenn eure ganze Wache nochmals käme, ich ließe die Kerle alle zerreißen, vom ersten bis zum letzten! Es sind aber nur vier gekommen, nicht um uns zu überfallen, sondern um auszukundschaften, wie es stehe. Sie haben es mit dem Leben bezahlt! Und was wird mit dir?«
Er sah mir mit einer geradezu verblüffenden Offenheit und Ehrlichkeit in das Gesicht und antwortete:
»Nichts wird mit mir! Ich glaube an dich! Du wirst dem Mir nichts sagen!«
»Allerdings nicht! Ist auch nicht nötig, denn er weiß es schon!«
»Er weiß es?« fuhr er erschrocken auf. »Von wem?«
»Von dir. Er hat es gehört. Er sitzt da draußen in der Nebenstube!«
Kaum hatte ich das gesagt, so wurde die Gardine geöffnet, und der Mir trat ein. Sein Gesicht war nicht nur bleich, sondern todesbleich. Seine Augen flimmerten; seine Lippen zitterten; seine Hände bebten.
»Woher weißt du, daß ich hier bin?« fragte er mich, wobei seine Stimme vor Aufregung ganz rauh und heiser klang.
»Die Hunde verrieten dein Kommen«, antwortete ich. »Sofort als du leise kamst, noch ehe du in das Zimmer tratest, sagte mir das leise Wehen ihrer Schwänze, daß derjenige nahe ist, der sie gefüttert hat«
»Und trotzdem gabst du ein Versprechen, welches du unfähig bist, zu halten?«
»Wieso? Ich pflege nichts zu versprechen, was ich nicht halten kann. Ich habe versprochen, dir nichts zu sagen!«
»Scherze nicht auch noch! Das war dein erstes Versprechen. Du gabst aber noch ein anderes; das lautete: Was dieser Hund, dieser Empörer, dieser Verräter und Mörder hier sage, daß solle so sein, als ob er nichts gesagt habe! Dabei wußtest du, daß ich hier bin und alles höre. Hast du da nur dich verpflichtet?«
»Nein, sondern auch dich!«
»Also auch ich soll mich so verhalten, als ob ich gar nichts wisse?«
»Ja.«
»Soll man etwa diesen Schuft und Schurken laufenlassen?«
»Ja.«
Wir waren, als der Mir hereinkam, aufgestanden. Der Basch Islami wußte vor Schreck und Angst weder aus noch ein. Er versteckte sich hinter mich. Ich aber sah dem Herrscher ruhig in die höchst gefährlich flackernden Augen.
»Bist du wahnsinnig?« fragte er, indem seine Stimme den Klang verlor und sich zum drohenden Zischen zusammendrückte.
»Nein«, antwortete ich. »Was dir wie Wahnsinn erscheint, ist bessere und schärfere Berechnung, als du denkst! Ich bitte dich, mir zu vertrauen und mein Wort auf dich zu nehmen und es so zu halten, wie auch ich es halte!«
»Und wenn ich mich weigere, auf diesen Wahnsinn einzugehen?«
»So zwinge ich dich!«
»Mich zwingen?« donnerte er, indem er sich hoch aufrichtete. »Womit?«
»Mit dieser meiner Faust oder mit diesem meinem Messer! Ich habe mein Wort für dich gegeben, und du hast es für mich zu halten; dann sind wir quitt. Tust du das nicht, so verläßt nur einer von uns beiden diese Stube; der andere bleibt liegen! Was ich mit vollem Bewußtsein versprochen habe, das halte ich. Ich sterbe eher, als daß ich zum Lügner werde!«
Er wich einen Schritt zurück, zeigte die weiß glänzenden Zähne und ballte die Fäuste. Auch ich richtete mich auf. Da hob Halef warnend die Hand und bat ihn:
»Tue, was er fordert, tue es! Es ist zu deinem Glück! Mein Sihdi weiß stets, was er sagt! Wäre er mit dir allein, so würde er ganz anders reden; so aber kann er nicht!«
Der Basch Islami aber sank in seiner Todesangst in die Knie und begann zum zweiten Male zu beten:
»Lob und Preis sei Gott, dem Weltenherrn, dem Allerbarmer, der da herrschet am Tage des Gerichtes. Dir wollen wir dienen, und zu dir wollen wir flehen, auf daß du uns führest den rechten Weg, den Weg derer, die deiner Gnade sich freuen, und nicht den Weg derer, über welche du zürnest, und nicht den Weg der Irrenden!«
Das klang so gnadebedürftig, so hilflos, so ohnmächtig! Die Zähne des Mir verschwanden. Seine Fäuste öffneten sich; sein Gesicht wurde ein ganz anderes. Mir noch immer finster, aber doch nicht mehr drohend in das Gesicht sehend, rief er aus:
»Was bist du für ein Mensch! Ich sah überhaupt noch keinen! Du bist der allererste, und darum will ich tun, was du verlangst. Es drängt mich, an dich zu glauben, wie dieser dein Hadschi Halef an dich glaubt.« Er deutete auf den Basch Islami und fuhr fort:
»Ich soll ihn laufenlassen?«
»Ja«, antwortete ich. »Genau so, als ob du gar nichts wüßtest, gar nichts erfahren hättest.«
»Nicht bei ihm aussuchen lassen?«
»Nein.«
»Ihn nicht absetzen lassen, nicht bestrafen?«
»Nein. Du weißt ja nichts!«
Da lachte er laut auf. Es klang halb grimmig und halb belustigt. Dann ergriff er das Blendlicht, gab es dem Basch Islami in die Hand und befahl ihm:
»Mach dich hinaus, Schurke, augenblicklich hinaus! Und vergiß nie, daß es kein Moslem, sondern ein Christ war, der dich rettete!«
Der oberste Mohammedaner von Ardistan gehorchte sofort. Ich ging zur Türe und schaute ihm nach, bis sein Licht im äußersten Korridor verschwand. Als ich mich dann nach dem Mir umdrehte, stand er erwartungsvoll in der Mitte des Zimmers und sprach:
»So! Ich habe das Unmögliche getan! Und nun rechtfertige dich! Ich erwarte den sofortigen Beweis von dir, daß ich richtig gehandelt habe!«
»Du wirst ihn bekommen und keine Minute darauf zu warten haben!« antwortete Halef in zuversichtlichem Ton.
Ich aber fragte den Mir:
»Glaubst du an das, was der Basch Islami sagte? Nämlich, daß sich außer den Christen alle Untertanen verbunden haben, dich abzusetzen?«
»Ich glaube es«, antwortete er. »Ich glaube nicht nur an seine Behauptungen, sondern noch viel mehr an die Darstellung, die du von der Sache gabst. Ich sollte nicht nur verschwinden, also etwa gefangengenommen, sondern ich sollte hier ermordet werden. Und euch wollte man als die Mörder bezeichnen. Dann war man beide los, nämlich mich und euch. Ich mußte den Basch Islami arretieren. Es mußte bei ihm und bei allen seinen Mitschuldigen ausgesucht werden, um hinter alles zu kommen. Ich mußte sie hinrichten lassen. Ich habe ...«
»Du irrst!« unterbrach ich ihn. »Das alles wäre falsch gewesen.!«
»Warum?«
»Weil der Basch Islami recht hat. Du bist ja wirklich der Tyrann, als den er dich beschrieb! Es ist alles wahr, was er behauptete! Er hat keineswegs zu viel gesagt, sondern zu wenig! Es ist, als ob du deine Untertanen absichtlich triebst, sich gegen dich aufzulehnen. Daß du nicht schon längst vom Thron gestoßen oder gar ermordet worden bist, kommt mir wie ein Wunder vor, an dem ...«
»Schweig!« unterbrach er mich. »Glaubst du, weil ich nachsichtig gegen dich gewesen bin, werde ich mir nun alles gefallen lassen? Ich zermalme dich!«
Er streckte beide Arme aus, als ob er mich ergreifen wolle.
»Versuche es!« antwortete ich. »Der Zermalmte bist dann du! Das Doppelheer des Dschirbani steht an deinen Grenzen. Wenn er diese Grenzen überschreitet und mit den Verschwörern gemeinsame Sache macht, bist du verloren. Sie werden ihn mit Jubel empfangen. Ich aber denke gar nicht daran, dir nur Dinge zu sagen, die dich beleidigen müssen. Du bist ein Tyrann; ja, das ist richtig. Aber du bist noch mehr wert als das: du bist ein groß angelegter Mensch. Du brauchst nur zu wollen, so verwandelt sich der Peiniger in den Wohltäter. Laß den Basch Islami laufen, und forsche nicht nach seinen Mitschuldigen und ihren Absichten! Es wird doch alles anders, als sie denken. Bis jetzt sind sie im Recht. Lehre sie empfinden, daß sie unrecht haben und daß du edel bist; dann bricht ihr Widerstand ganz in sich selbst zusammen. Daß du den Basch Islami nicht festnahmst, war der erste große Schritt in die neue Zukunft hinüber, die du deinem Volke bietest. Es wird dir größeren Segen bringen, als du denkst. Deine Aufgabe ist nicht, die Völker gegeneinander in Haß und Tod zu treiben, sondern ein Fürst der Liebe und des Friedens zu sein. Habe ich dich heute zur Umkehr und zum Guten verführt, so bin ich auch bereit, die daraus entspringenden Folgen zum Guten zu lenken. Sollte die Empörung, die wir heut entdeckten, wirklich ausbrechen, so wird der Dschirbani dir seine Scharen sofort zur Verfügung stellen, sie wie mit einem Schlag zu unterdrücken!«
Der Mir hatte die gegen mich erhobenen Arme schon längst wieder sinken lassen und mich mit Spannung angehört. Jetzt stieß er schnell und energisch die Frage hervor:
»Ist das wahr? Er, der gegen mich zieht, will mir in diesem Fall helfen?«
»Es ist wahr. Ich hafte dafür!«
»Und was verlangt er für die Hilfe?«
»Nichts.«
»Gar nichts?« fragte er erstaunt.
»Gar nichts! Er kommt als dein Freund, hilft dir die Revolution niederschlagen und kehrt dann zu derselben Stelle zurück, an der er sich jetzt befindet, um wieder dein Gegner zu sein!«
»Und das ist wahr? Wirklich wahr?«
»So wahr, wie ich es sage! Er verlangt keinen Lohn; er tut es umsonst, aus Interesse für dich, den er achtet! Höchstens hätte ich eine Bitte, also nicht er, sondern ich, die ich dir vorlegen möchte, bevor du dich entschließest. Nicht eine Bitte für mich, sondern für dich, zu deinem eigenen Heil.«
»Sage sie!«
»Es ist heut der fünfzehnte Kanun el Auwal – Dezember –. Auf den fünfundzwanzigsten diesen Monates fällt das größte und wichtigste Fest der Christen, welches ihr hierzulande Id el Milad – Fest der Geburt, Weihnacht – nennt. Erlaube, daß sie es in ihrer Weise feiern, und zwar da unten in der Kirche, in der großen Mittelkuppel, wo wir waren! Tue es nicht nur um ihret-, sondern ebenso auch um deinetwillen! Du hast gehört, daß sie die einzigen sind, die treu und ehrlich zu dir halten, obwohl man überall weiß, daß du sie haßt und verfolgst. Lehre sie, dich achten und dich lieben. Dann besitzt du in ihnen einen unwiderstehlichen Keil, die Feindschaft aller anderen zu zersprengen. Es ist so wenig, um was ich dich für sie bitte: die Erlaubnis, die Geburt des Erlösers zu feiern, den ja auch die Mohammedaner verehren. Es ist also nicht etwa ein Vorzug, den du den Christen damit erweist; sie aber werden dir mit einem Male dafür zu Helfern werden, auf die du dich verlassen kannst in jeder Not und auch in der jetzigen Gefahr!«
Die Antwort blieb, als ich gesprochen hatte, aus. Halef lächelte. Der Mir aber trat, wie schon früher, an das offene Fenster und schaute lange, lange in die Nacht hinaus. Er kämpfte einen stillen, aber schweren Kampf, den Kampf mit sich selbst, den Kampf mit seiner eigenen niedrigen Anima, der es noch nicht gelungen war, sich zur Seele zu erheben. Es vergingen mehrere Minuten. Als er sich dann zu uns umdrehte, lag etwas wie ein Glanz auf seinem bleichen Gesicht. Er lächelte und seine Stimme klang in fast herzlicher Güte:
»Sihdi, was seid ihr doch für Menschen, ihr zwei! Ich erkläre mich für überwunden, und ich tue das gern, denn ich weiß, daß ich dadurch zum Sieger werde. Was ich zu tun habe, ist beschlossen; ich mache aber keine Worte. Seid ihr bereit, mir den Schlaf dieser Nacht zu opfern?«
»Sehr gern!« antwortete Halef schnell.
»Ich werde sofort satteln lassen, euere beiden Pferde und auch eines für mich. Wir reiten. Wohin, das erfahrt ihr unterwegs. Ich verlasse euch jetzt, komme aber in kurzer Zeit wieder. Darf ich einen eurer Hunde oder zwei mit mir nehmen? Zu meinem Schutz, falls auf den finsteren Gängen da draußen noch Vorsicht geboten ist?«
Halef befahl Hu und Hi, mit ihm zu gehen. Sie gehorchten. Als der Mir sich mit ihnen entfernt hatte, richtete der kleine Hadschi sich so hoch auf, wie er konnte, und sprach:
»Effendi, was sind wir doch für unvergleichlich tüchtige Kerle! Wir sind erst einige Stunden da, und doch schon so ein Sieg! Ich gratuliere!«
»Mach dich nicht lächerlich!« widersprach ich ihm. »Was hast du denn für große Dinge getan? Und wer ist es, der mir versprochen hat, nicht mehr zu prahlen? Ja, es gibt einen, den wir bewundern müssen. Das bist aber nicht du, und das bin nicht ich, sondern das ist der Mir, der einen Sieg über sich selbst errungen hat, gegen den alle deine sogenannten Siege einfach weiter nichts als Niederlagen sind. Du magst mir noch so viel versprechen, so fällst du dein er Ruhmredigkeit doch immer wieder zum Opfer: er aber hat in einer einzigen Stunde mehr besiegt und mehr überwunden, als du während deines ganzen Lebens überwunden hast und noch überwinden wirst!«
Wie gewöhnlich, wenn er sich blamiert fühlte, griff er auch hier zum Scherz, indem er mich mit den Worten des Mirs abwies:
»Schweig! Glaubst du, weil ich nachsichtig gegen dich gewesen bin, werde ich mir nun alles gefallen lassen? Ich zermalme dich!«
Das klang so possierlich, daß ich so schwach war, zu lachen. Da fuhr er fort:
»Allah sei Dank! Er lacht! Dadurch hat er sich gerettet, denn nun bin ich nicht mehr gezwungen, ihn zu zerschmettern! Effendi, sag: Wohin denkst du, daß wir reiten?«
In dieser Weise pflegte er über jede Niederlage, die er erlitt, hinwegzugehen, und das schlimmste dabei war, daß man ihm nicht zürnen konnte. Wohin der nächtliche Ritt gehen sollte, wußte und ahnte ich ebensowenig wie er, daß es aber ein sehr wichtiger sei, das konnte man sich wohl denken. Es blieb uns nichts anderes übrig, als das, was kommen wollte, nun ruhig abzuwarten. Und es kam. Es war kaum mehr als eine halbe Stunde vergangen, als der Mir mit den beiden Hunden zu uns zurückkehrte. Er war so einfach gekleidet wie vorher und hatte einen Mantel mit Kapuze, wie ihn gewöhnliche Leute zu tragen pflegen, übergeworfen. Wer ihn nicht kannte, vermutete gewiß nicht, was für ein hochstehender Herr er war. Er führte uns in den Hof hinunter, in dem wir bei unserem Kommen abgestiegen waren. Dort standen unsere gesattelten Pferde. Wir untersuchten das Riemenzeug, und als wir alles in Ordnung fanden, stiegen wir auf und ritten mit dem Mir, gefolgt von unseren vier Hunden, zum Tor hinaus, welches hinter uns wieder geschlossen wurde.
Es war eine finstere Neumondnacht. Der Himmel stand zwar voller Sterne, doch war ihr Licht nicht imstande, die Atmosphäre der großen Stadt zu durchdringen. Das Kirchenschloß stieg empor wie ein dunkles Rätsel, um dessen Ecken und Kanten wir biegen mußten, bis wir die von dem Mir beabsichtigte Richtung erreichten. Da stand zur Seite eines engen Gäßchens ein kleines Haus, auf welches der Mir deutete, indem er sagte:
»Hier wohnte der nun tote Leutnant mit seiner Mutter und ihrem Bruder. Ich ließ sie einsperren, werde sie aber noch heut wieder entlassen. Es darf ihnen doch unmöglich schlimmer ergehen als dem Basch Islami, dem Haupttäter, der mir entkommen durfte. Der Bruder leugnete alles; er behauptete, nichts zu wissen. Seine Schwester aber gestand in ihrer Erregung um den Sohn, daß ich heut nicht etwa nur gefangengenommen, sondern erstochen werden sollte. Der neue Mir habe es befohlen.«
»Der neue Mir?« fragte ich. »Den gibt es also schon?«
»Sie sagte es.«
»Hat sie seinen Namen genannt?«
Ja. Aber sie ist wahnsinnig. Daß ich ihren Mann habe hinrichten lassen, hat sie um den Verstand gebracht. Sie konspiriert seitdem gegen mich. Sie wagte in ihrer wahnsinnigen Rachsucht sogar das Leben ihres Sohnes. Und dann, als sie hörte, daß er tot sei, versuchte sie, sich dadurch an mir zu rächen, daß sie den einzigen Menschen, den ich bisher liebte, als den neuen Mir bezeichnete und also als den Bösewicht, der befohlen habe, mich heut zu töten. Sie ist verrückt!«
»Darf ich erfahren, wer dieser Mann ist?«
»Mein Schützling und Schüler, der Panther, der zweite Prinz der Tschoban! Ist das nicht Wahnsinn?«
»Wohl kaum!« antwortete ich. »Die Mohammedaner stehen an der Spitze der Empörung, und er ist leidenschaftlicher Anhänger des Islams.«
»Das hindert aber nicht, daß er mich aufrichtig liebt und mir treu und dankbar ist! Ich erkläre es für eine Verrücktheit, grad ihn, diesen Prachtmenschen, einer solchen Tat für fähig zu halten. Ich würde gar nicht anstehen, sogar auch dich für unheilbar irrsinnig zu erklären, falls du mir mit derartigen Verdächtigungen kämst!«
»So schweige ich!«
»Wie? Hattest du etwa die Absicht ...« dehnte er.
»Ja«, gestand ich ein.
»So rate ich dir, lieber still zu sein! Du könntest damit leicht alles verderben, was du gewonnen hast!«
Das klang so kurz, so abgerissen, ja drohend, daß ich schwieg und mir vornahm, den Gegenstand nicht wieder zu berühren, außer wenn er selbst mich dazu veranlassen würde.
Wir kamen aus dem engen Häusergewirr in einen Teil der Stadt, in dem die Gassen breiter waren. Da hielt er vor einem größeren Haus an, an dessen wohlverschlossenem Tor ein Läutebrett hing. Diese Bretter vertreten die Stelle unserer Klingeln Sie sind sehr dünn und mit einem hölzernen Hammer versehen, mit dem man schlägt. Jedermann kennt den Ton seines Brettes und weiß also, sobald er erklingt, daß man zu ihm will. Der Mir gebot uns, abzusteigen und unsere Pferde in einiger Entfernung anzubinden. Wir taten dies. Dann traten wir an das Tor. Da läutete er, ohne daß er uns sagte, wer da wohne. Es war schon gegen Morgen. Alles schlief. Er mußte wiederholt läuten, ehe jemand kam und von innen nach unserem Begehr fragte.
»Dies ist das Haus, in dem der Basch Nasrani von Scharkistan zu Gast wohnt?« erkundigte sich der Mir.
»Ja«, antwortete der dienstbare Geist, der hinter dem Tor stand.
»Ist er daheim?«
»Er schläft. Er ist vor ganz kurzem aus der Kirche gekommen. Gönne ihm die Ruhe!«
»Ich muß mit ihm sprechen!«
»Warum? Ist es so wichtig, daß ich ihn wecken muß? Wer bist du? Vielleicht ein reicher, vornehmer Mann? Denn sonst würdest du es nicht wagen, den Obersten der Christen von Scharkistan um seine Ruhe zu bringen!«
»Ich bin ein armer Mann, ein Bettler; ich kann nichts bezahlen. Aber ich habe gesündigt und muß meine Seele retten. Ich will beichten. Sag ihm das, weiter nichts!«
»So warte!«
Der Diener entfernte sich. Der Mir erklärte uns:
»Jetzt wißt ihr, zu wem ich will. Zu dem Oberpriester von Scharkistan, der in der Kirche sprach und mich erkannte, als der Stern zu brennen begann. Ich prüfe ihn. Und indem ich ihn prüfe, prüfe ich die ganze Christenheit und die Lehre von der christlichen Liebe. Darauf, ob er sich im Schlaf stören läßt, soll es ankommen, ob ich deinen Wunsch erfülle und den Christen erlaube, das Fest der Geburt in ihrer Weise zu feiern. Warten wir!«
Man kann sich denken, wie gespannt ich auf das Resultat dieser Prüfung war! Wir hörten nach kurzer Zeit wieder Schritte, die sich näherten, und eine andere Stimme fragte von innen:
»Bist du noch da?«
»Ja«, antwortete der Mir, indem er dicht an das Tor trat, um zunächst nur sich allein sehen zu lassen.
»Ich öffne gleich!«
»Ist er zu sprechen?«
»Natürlich, ja! Ich bin nicht der Diener, sondern der Priester selbst. Er weckte mich.«
»Und da standest du sofort auf?«
»Sofort!« erklärte der Basch Nasrani, indem er halb aus dem sich jetzt öffnenden Tor trat. »Du befindest dich in Seelennot. Das ist die höchste Not, die es gibt. Du willst beichten. Beichten heißt, mit dem Erlöser zu sprechen. Was wäre das für ein Heiland, für ein Erlöser, der weiterschlafen könnte, wenn er Seelen retten soll!«
»Aber ich bin arm; ich bin ein Bettler!«
»Vor Gott sind wir alle Bettler! Vielleicht bettle ich mehr als du! Vor Gott kann ein Bettler reicher sein als ein Millionär. Bist du reich an Reue, so ist er reich an Gnade. In dieser deiner Reue bist du reicher als ein Fürst, der nichts bereut. Ich heiße dich willkommen. Tritt ein!«
»Es sei!«
Mit diesen Worten folgte der Mir der Aufforderung des Oberpriesters. Wir beiden andern kamen hinterher. Als der Basch Nasrani uns sah, fragte er:
»Du bist nicht allein?«
»Nein. Da sind noch zwei. Zwar keine so großen Sünder, wie ich, dafür aber die größten Bettler, die es gibt. Sie betteln sogar für dich! Nun komm!«
Der oberste Pfarrer von Scharkistan verriegelte das Tor und führte uns nach dem Haus. Es mochte ihm nicht ganz unbedenklich erscheinen, daß es jetzt plötzlich drei anstatt nur einen Besucher gab. Er hatte seine Lampe hinter der Tür des Hauses stehen. Dort angekommen, nahm er sie auf und leuchtete uns in eine Stube, welche der Empfangsraum zu sein schien. Da bat er, uns niederzusetzen.
»Nein, setzen werden wir uns nicht«, antwortete der Mir. »Wir haben keine Zeit dazu.«
Erst jetzt fiel das Licht der Lampe auf unsere Gesichter. Der Priester erschrak. Er erkannte uns sofort.
»Der Mir, der Mir!« rief er erschrocken aus, indem er die Lampe schnell wegsetzte, sonst hätte er sie fallen lassen. »Und seine Begleiter aus der Kirche?«
»Ja, ich bin es, und sie sind es auch!« antwortete er. »Ich wollte erst leugnen, in der Kirche gewesen zu sein. Das ist die Sünde, die ich dir zu beichten habe. Ich hoffe, daß du sie mir vergibst. Und hier ist Kara Ben Nemsi Effendi, ein christlicher Wanderer aus Dschermanistan. Er hat mir gesagt, daß in zehn Tagen das große Fest der Geburt des Heilandes sei. Er wünscht dieses Fest mit den Christen meiner Länder zu feiern. Er hat mich gebeten, euch den großen Kuppelbau der Kathedrale dazu zur Verfügung zu stellen. Ich habe beschlossen, diesen Wunsch zu erfüllen. Ich liebte die Christen nicht. Darum gab es nur in Scharkistan einen Oberpriester, einen Basch Nasrani; der bist du. Du wohntest nur zuweilen als Gast, gerade so wie heut, in diesem meinem Land und in dieser meiner Stadt. Heut habe ich dich und mit dir euer Christentum geprüft. Ich ernenne dich zum Basch Nasrani von Ardistan und Gharbistan, so daß du nun der Oberpriester aller Länder bist, die ich unmittelbar regiere. Ich ersuche dich, heute nachmittag genau zur dritten Stunde in das Schloß zu kommen, um dich bei diesem Effendi hier zu bedanken und die Vorbereitungen zum Fest zu besprechen. Er ist leicht zu finden. Seine Zimmer liegen unmittelbar neben den meinen. Schlaf wohl!«
Sobald er das gesagt hatte, ergriff er die Lampe und schritt schnell hinaus. Wir folgten ihm ebenso rasch, ohne uns nach dem Basch Nasrani umzusehen. Wir eilten mit der Lampe nach dem Tor, setzten sie dort nieder, schoben den Riegel zurück und traten auf die Straße. Erst als wir unsere Pferde bestiegen, hatte der brave geistliche Herr seine Überraschung überwunden und kam uns nachgerannt. Indem wir davonritten, hörten wir zwar seine Stimme, konnten aber nicht verstehen, was er sagte. Etwas Unangenehmes war es jedenfalls nicht!