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China ist ein wunderbares Land. Seine Kultur hat sich in ganz anderer Richtung bewegt und ganz andere Formen angenommen als diejenige der übrigen Nationen. Und diese Kultur ist hochbetagt, greisenhaft alt. Die Adern sind verhärtet und die Nerven abgestumpft; der Leib ist verdorrt und die Seele vertrocknet, nämlich nicht die Seele des einzelnen Chinesen, sondern die Seele seiner Kultur.
Schon Jahrtausende vor unserer Zeitrechnung hatte dieselbe eine Stufe erreicht, welche erst in allerneuester Zeit überschritten zu werden scheint, und zu diesem Fortschritte ist China mit der Gewalt der Waffen gezwungen worden. Derjenige französische Missionar, welcher das Reich der Mitte le pays de l'âge caduc, das Land des hohen Alters, nannte, hat sehr recht gehabt. Es ist da eben alles greisenhaft, sogar die Jugend.
Wer die Kinder beobachtet, lernt die Eltern genau kennen. So ist es auch mit dem Volke. Eine Nation ist unschwer nach dem Thun und Treiben ihrer Kinderwelt zu beurteilen. Die Arbeit des Kindes ist das Spiel. Wie aber spielt der Chinese?
Der Europäer sieht im Spiele nur das Mittel zur körperlichen und geistigen Kraftentwickelung. Er will die Muskeln stärken, die Knochen festigen, die Brust erweitern, die Willenskraft erwecken, den Scharfblick üben und das Gemüt bereichern. Das Spiel soll im Knaben den späteren Mann, im Mädchen die einstige sorgliche, treue Hüterin des Hauses erkennen lassen.
Anders bei den Chinesen. Wo sieht man da die roten Wangen und blitzenden Augen, wo hört man das lustige helle jauchzen der Kinder? Fast nirgends! Der chinesische Knabe tritt aus seiner Thür langsam und bedächtig, schaut um sich wie ein Alter, schreitet ohne irgend eine lebhafte Bewegung nach dem Spielplatze hin und sinnt nun nach, womit er sich beschäftigen werde. Er ist ein Erwachsener in verkleinertem Maßstabe. Sein gelbes Gesicht rötet sich höchstens dann ein wenig, wenn er ein Heimchen erblickt. Er fängt es, sucht noch eins dazu und setzt sich nieder, um die beiden Tiere gegeneinander kämpfen zu lassen. Mit Behagen sieht er, wie sie sich die Glieder abbeißen, sich gräßlich verstümmeln und selbst dann noch kämpfen, wenn sie nur noch aus dem gliederlosen Rumpfe bestehen. Ist es da ein Wunder, daß die Grausam- und Gefühllosigkeit des Chinesen als eine seiner hervorragendsten Eigenschaften bezeichnet werden muß?
Dort spielen zwei Knaben Ball. Sie schleudern ihn einander nicht zu; sie fangen und schlagen ihn nicht; sie werfen ihn nicht an eine Mauer, um ihn abprallen und rikoschettieren zu lassen. Der eine schlägt den Ball mit der flachen Hand so oft in die Höhe, als es ihm möglich ist, ohne ihn zur Erde fallen zu lassen. Ist dieses letztere geschehen, so nimmt der andere ihn auf und versucht dasselbe Spiel. So stehen sie still und stumm nebeneinander, doch nein, nicht stumm, denn sie zählen. Für jeden Schlag, der dem ersten mehr gelingt als dem zweiten, hat dieser letztere einen Kern, eine Frucht oder sonst etwas zu bezahlen. Dabei suchen sie einander nach Kräften zu betrügen. Hier entspringt der große Eigennutz, die gewissenlose Schlauheit, welche den Chinesen auszeichnet.
Das Hauptspiel der Knaben ist das Drachensteigenlassen. Es ist das sogar ein Sport, den die erwachsenen Männer, reich und arm, vornehm und niedrig, treiben. Der Chinese hat es darin zu einer Fertigkeit gebracht, welche Bewunderung erregt und einer besseren Sache wert wäre. Es gibt wohl kaum irgend ein Tier, dessen Gestalt der Sohn der Mitte nicht, in Papier nachgeahmt, in die Luft steigen ließe. Am prächtigsten bildet er den Tausendfuß nach; die Gestalt ist oft an die dreißig Ellen lang und ahmt die Bewegungen des Tieres mit merkwürdiger Naturtreue nach. Habichte steigen an einer und derselben Schnur in die Höhe und umkreisen einander genau so, wie wirkliche Habichte es an windigen Tagen thun.
Während der deutsche Knabe seinen Drachen aus reiner, unschuldiger Lust an der Sache steigen läßt, verbindet der Tschin-tse-tsi mit diesem Spiele eine Absicht, welche uns nicht als lobenswert erscheinen dürfte. Er bestreicht die Schnur mit einem Klebstoffe und streut gestoßenes Glas darauf. Mit der so präparierten Schnur sucht er dann die Drachenschnüre anderer Knaben zu durchschneiden oder zu durchsägen, daß deren Drachen vom Winde mit fortgenommen werden. Sollte damit nicht die bekannte chinesische Hinterlist und Schadenfreude großgezogen werden?
Turnanstalten gibt es keine im ganzen Reiche, so groß dasselbe ist. Daher der Mangel an Mut und körperlicher Gewandtheit.
Mädchen sieht man niemals im Freien spielen. Sie scheinen zu derselben Abgeschlossenheit wie ihre Mütter verurteilt zu sein. Es ist sehr schwer, bei einem Besuche die Frau des Hauses zu Gesicht zu bekommen. Und doch haben die Chinesen sich das nicht von den Hoeï-hoeï angeeignet, deren es Millionen bei ihnen gibt.
So spielt die Jugend fast nur, um die schlechten Eigenschaften zu entwickeln, welche sich beim Erwachsenen ausgebildet haben. Spricht ein Fremder mit einem Knaben, so bekommt er keine lebhaften Antworten zu hören, kein freundlich lächelndes Gesicht zu sehen. Es ist ganz so, als ob er mit einem Alten spräche. Wie gesagt, schon die Jugend macht einen greisenhaften Eindruck.
Und wie der Greis, welcher sich am Spätabende seines Lebens nicht erst von seinen bisherigen Anschauungen trennen will, so ist auch der Chinese wenig oder gar nicht bereit, die Ansichten anderer sich anzueignen. Dies ist besonders in religiöser Beziehung der Fall, weshalb die christliche Mission in China noch gar keine nennenswerten Früchte getragen hat.
Mag der Missionar die herrlichen Lehren des Christentums immerhin noch so eifrig und noch so begeistert entwickeln, der Chinese hört ihm ruhig zu, ohne ihn zu unterbrechen, denn das gebietet die Höflichkeit; aber am Schlusse wird er freundlich sagen: »Du hast sehr recht und ich habe auch recht. Put tun kiao, tun li; ni-men tschu hiung,« zu deutsch: »Die Religionen sind verschieden, die Vernunft ist nur eine; wir sind alle Brüder.«
Die Neuerungen, welche die letzten Jahrzehnte dem Lande gebracht haben, sind demselben entweder aufgezwungen worden oder der Chinese hat sich zu ihnen nur aus Eigennutz verstanden. Sie sind auch nur in Küstengegenden zu spüren, während das Landesinnere nach wie vor wie ein Igel die Stacheln gegen jede fremde Berührung sträubt.
Kanton ist diejenige Stadt, in welcher der lebhafteste Fremdenverkehr herrscht. Darum verhält man sich dort gegen den Ausländer und seine Kultur nicht so sehr abweisend wie anderswo. Man sieht ein, daß der Umgang mit ihm große Vorteile bringt; man möchte sich diese Vorteile wohl gern aneignen, sieht aber durch die Gesetze einen starren Zaun um sich gezogen, welcher nicht zu übersteigen ist. Höchstens darf man sich erlauben, heimlich eine Lücke durch denselben zu brechen.
Eine solche Lücke war es, welche sich dem Methusalem öffnete, als der Tong-tschi ihm und seinen Gefährten die Gastfreundschaft anbot und einen Paß versprach.
Über eine Woche hatten sie in Hongkong bleiben müssen, bevor die Untersuchung gegen die Piraten so weit gediehen war, daß die Vernehmung der Zeugen nicht mehr vonnöten war. Der Tong-tschi war mit dem Ho-po-so schon am ersten Abende abgereist, und beide hatten dem Studenten gesagt, wo, wie und wenn er sie in Kanton finden könne.
Dieser Name ist falsch. Kanton oder vielmehr Kuang-tung heißt die Provinz. Der Name der Hauptstadt aber ist Kuangtschéu-fa. Sie liegt 150 Kilometer vom Meere entfernt am nördlichen Ufer des Perlstromes und bildet ein unregelmäßiges Viereck, welches von einer neun Kilometer langen Mauer umgeben wird. Diese ist auf Sandsteinfundament aus Ziegeln gebaut, acht Meter hoch und sechs Meter dick und wird von fünfzehn Thoren durchbrochen. Eine Quermauer, durch welche vier Thore gehen, scheidet die Alt- oder Tatarenstadt von der Neu- oder Chinesenstadt. An den Seiten schließen sich ausgedehnte und volkreiche Vorstädte an, welche der zahlreichen Bevölkerung doch nicht Platz genug bieten, weshalb über dreihunderttausend Menschen auf Flößen, Booten und ausgedienten Schiffen wohnen, die an die Flußufer befestigt sind, aber so oft ihre Plätze wechseln, daß für den eigentlichen Stromverkehr nur eine schmale Wasserrinne frei und offen bleibt.
Man schätzt die Zahl dieser Boote, welche Sam-pan genannt werden, auf über achtzigtausend. Die mobilen Bewohner derselben werden mit dem Namen Tan-kia bezeichnet. Auf diesen Sam-pan herrscht ein so wechselvolles Leben, daß der Fremde wochenlang zuschauen könnte, ohne müde zu werden. Doch ist es für ihn keineswegs geraten, mit allzu großem Vertrauen ein solches Boot, besonders des Nachts, zu besteigen, denn die Tan-kia sind Menschen, vor denen man sich wohl in acht zu nehmen hat. Sie gehören der ärmsten Klasse, der Hefe des Volkes an, haben entsetzlich mit der Not des Lebens zu ringen und finden dennoch alle Veranlassung, die Mandarinen als Blutegel zu betrachten, vor denen sie die Tasse mageren Reis, die ihren Hunger stillen soll, verbergen müssen. Da wird die Not denn stärker als die Ehrlichkeit, und so führen die meisten Tan-kia ein Leben, welches die Augen des Gesetzes mehr oder weniger zu scheuen hat.
Man lockt die Fremden unter den verschiedenartigsten Vorspiegelungen auf die Boote. Wohl dem, der dann nur als gerupftes Hühnchen davonschwimmen darf! Tausende sind verschwunden – vielleicht in die Magen der Fische, ohne daß eine Spur von ihnen aufzufinden war.
Längs des Flusses stehen die fremden Faktoreien mit ihren großen, wohlgepflegten Gärten und riesigen Warenhäusern, welche Hong genannt werden.
Scha-mien, das Europäerviertel, hat eine sehr malerische Lage. Es war ursprünglich eine in den PerIfluß vorspringende Landzunge und wurde durch einen hundert Fuß breiten Kanal vom Lande abgetrennt. Jetzt ist es ein Gemeinwesen für sich. Drei Brücken, welche durch Gitterthore verschlossen werden können, führen nach Kanton hinüber, und die eleganten Steinhäuser liegen zwischen grünen Grasplätzen, duftenden Gärten und schattigen Alleen so angenehm, wie hier nur möglich.
Hier legte der Dampfer der »China Navigation Company« an, welchen die sechs Reisenden doch noch benutzt hatten, um nicht möglicherweise abermals auf eine Piratendschunke zu geraten.
Obgleich der Dampfer den letzten Teil der Strecke nur mit halber Schnelligkeit fuhr, war es doch absolut unbegreiflich, daß er die umherjagenden Boote nicht dutzendweise unter sich begrub.
Und wie ging es erst am Landeplatze zu! Da drängten sich Hunderte und Aberhunderte auf die aussteigenden Passagiere los, um einige Sapeken zu verdienen. Das schrie, brüllte, kreischte durcheinander, daß man die einzelnen Stimmen fast gar nicht zu unterscheiden vermochte. Da boten sich Sänftenträger, Wäscher, Barbiere, Bootsleute, Führer, Händler, Dolmetscher an, indem einer den andern zur Seite stieß, um sich vorzudrängen.
Der Methusalem stieg gar nicht aus. Er wartete, bis die Schreienden glaubten, daß das Schiff sich geleert habe, und sich einen anderen Ort suchten, um dort denselben Spektakel zu wiederholen.
In Scha-mien gibt es nur einen einzigen Gasthof, welcher einem portugiesischen Wirte gehört. Dorthin begaben sich die sechs zunächst, und zwar ganz in der bekannten Weise und Reihenfolge.
Es versteht sich von selbst, daß sich sogleich eine Menge Menschen fanden, welche von dem Anblicke der für sie fremdartigen, sonderbaren Gestalten herbeigelockt wurden. Der Ausruf »Fan-kwei«, fremde Teufel, wurde vielfach hörbar, doch wagte niemand, die Reisenden zu belästigen, wohl wegen deren würdevoller Haltung und weil man in Turnerstick wirklich einen Mandarin vermutete.
Der Gasthof war keineswegs ein Hotel zu nennen. Die Europäer werden am Tage über von ihren Geschäften vollständig in Beschlag genommen und des Abends versammeln sie sich in ihren verschiedenen landsmännischen Klubs, so daß der Gastwirt nicht auf sie rechnen kann und sich also auf niedriger stehende Gäste einrichten muß.
Er bot den Reisenden sogleich Zimmer an; Degenfeld aber lehnte ab und fragte nur, ob Bier zu haben sei. Er hatte keins, erbot sich aber, welches aus dem nahen Klubhause holen zu lassen, und bald bekamen sie einen vortrefflichen Bergedorfer Gerstensaft vorgesetzt, den sie sich aus dem Stammglase des Blauroten munden ließen.
»Ich dachte, Sie wollten hier kein Bier mehr jenießen,« meinte der Gottfried. »Wenigstens sagten Sie in Hongkong so, von wejen die teuren Preise.«
»Ja, dat heeft hij gezegd – ja, das hat er gesagt,« stimmte der Dicke bei.
»O, der Methusalem und kein Bier! Dat paßt nie zusammen.«
»Paßt schon!« sagte Degenfeld. »Heut aber darf ich es mir schon noch bieten. Wir haben für diese ganze Woche im Hotel nichts zu bezahlen gehabt, weil wir als Zeugen zum Bleiben gezwüngen waren. Old England hat unsere Zeche übernommen. Darauf können wir uns nun einige Gläser genehmigen. Aber unser Freund Liang-ssi wird nicht länger teilnehmen können.«
»Warum nicht?« fragte der Genannte.
»Weil Sie fort müssen, nämlich zuerst zu dem Agenten, welcher den Brief nach Deutschland besorgte, und sodann zum Tong-tschi, um ihm zu melden, daß wir angekommen sind. Wir werden hier abwarten, ob der erstere uns vielleicht hier aufsucht und ob der letztere sein Wort hält und uns zu sich kommen läßt.«
Darauf hin entfernte sich der Chinese, um draußen sich einen Palankin zu nehmen und die beiden Personen aufzusuchen. Die anderen tranken weiter.
Die noch im Zimmer anwesenden Gäste starrten die fünf mit verwunderten Augen an. Es waren einige Europäer unter ihnen, die nicht erstaunt zu sein brauchten, kaukasisch geschnittene Gesichter hier zu sehen; aber daß die Leute Studententracht trugen, hier im fernen China, das kam ihnen mehr als sonderbar vor.
Der Methusalem fühlte sich gelangweilt von diesen immerfort auf ihn gerichteten Blicken. Er sah, daß hinter dem Hause ein Garten lag, und ging hinaus, um einmal einen chinesischen Garten in. Augenschein zu nehmen.
Wenn er geglaubt hatte, hier echt chinesische Anlagen zu erblicken, so war er in einer großen Täuschung befangen gewesen. Der Garten war klein, auf drei Seiten von Mauern umgeben, stieß mit der vierten an das Haus und zeigte nicht einmal eine Blume, sondern nur Küchengewächse.
Nur an der dem Hause gegenüber liegenden Mauer stand ein schön blühender Strauch, den er noch nicht kannte. Er trat näher, um die Blüten genauer zu betrachten. Da hörte er einen Pfiff jenseits der Mauer, an der Stelle, wo er diesseits stand. Die Mauer reichte ihm bis an die Schulter. Nicht aus Neugierde, sondern ganz unwillkürlich bog er den Kopf vor, um zu sehen, wer da gepfiffen habe.
Es stand ein Chinese draußen, welcher sehr gut gekleidet war, also der besseren Klasse angehören mußte. Auch derjenige, welchem der Pfiff gegolten hatte, war zu sehen. Dieser gehörte ganz gewiß dem niedrigsten Pöbel an. Er war barfuß; die Hose reichte ihm nur bis an die Kniee; anstatt eines Rockes oder einer Jacke trug er einen aus langen Grashalmen gefertigten Umhang in Form eines rundum vom Halse bis auf den Unterleib niederhängenden Kragens. Der Kopf war unbedeckt und mit einem dünnen Zöpfchen verziert, welches einem Rattenschwanze sehr ähnlich sah.
An der Mauer führte ein gerader, schmaler Weg vorüber, jenseits desselben hinter Mauern wieder Gärten lagen. Auf diesem Wege, zwischen den Mauern, kam der Mann eiligst herbeigelaufen.
»Tsching, tsching, ta bang!« grüßte er bereits von weitem.
Ta bang heißt großer Kauf- oder Handelsherr.
»Schrei nicht so!« warnte ihn der andere, natürlich in chinesischer Sprache. »Niemand braucht zu hören, daß sich hier jemand befindet. Warum hast du mich so lange warten lassen?«
»Ich stand weiter oben und wartete auf den sehr alten Herrn.«
Wenn der Chinese sehr höflich sein will, so nennt er sich sehr jung und den, mit welchem er spricht, sehr alt. Mit dem »sehr alten Herrn« war also der andere gemeint, obgleich er höchstens halb so alt wie der Sprecher war.
»Nun, hast du es dir überlegt?« fragte dieser.
»Ja.«
»Und was hast du beschlossen?«
»Ich kann es nicht thun.«
»Warum nicht?«
»Es ist zu gewagt und bringt nichts ein.«
»Bist du toll, oder hast du vergessen, wieviel ich dir geboten habe?«
»Ich habe es nicht vergessen, tausend Li.«
»Nun, ist das nicht genug?«
»Nein, es ist zu wenig.«
»Um einen Gott zu stehlen? Das ist doch sehr leicht.«
»Ja, aber ich soll den Gott nicht nur stehlen, sondern ihn auch bis in das Innere der Stadt bringen.«
»Sinne nach, so wirst du ein Mittel finden, wie das ohne Gefahr geschehen kann!«
»Ich weiß eins; aber ich soll den Gott auch im Garten des Nachbar Hu-tsin vergraben. Das ist eine dreifache Mühe.«
»Nein, es ist nur eine einzige That.«
»Den Gott Stehlen, den Gott bringen und den Gott vergraben, das sind drei ganz verschiedene Thaten. Ich müßte also dreitausend Li bekommen.«
»Schurke! Ich gebe tausend, nicht mehr!«
»Der ältere Herr mag bedenken, daß die Sache nicht leicht ist. Der Gott ist aus Metall, halb so groß wie ich und sehr schwer. Ich brauche noch einen zweiten Mann dazu.«
»Du bist kräftig genug; ich kenne dich und weiß, was du zu leisten vermagst.«
»Tragen könnte ich ihn vielleicht allein, aber in die Stadt bringen nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil ich den Gott in eine Sänfte setzen muß. Und zu einer Sänfte gehören doch zwei Männer.«
»Das ist freilich wahr.«
»Also müßte ich wenigstens zweitausend Li bekommen, eintausend für mich und eintausend für den andern.«
»Aber am Tage kannst du den Gott nicht stehlen und des Nachts sind die Straßen verschlossen; da kannst du ihn nicht bringen!«
»Ich stehle ihn in der Dämmerung. Jetzt werden die Straßen erst eine Stunde nach Einbruch des Abends geschlossen. Da habe ich vollständig Zeit, ihn zu bringen und auch einzugraben.«
Wenn dieser Mann von einer Stunde sprach, so sind das nach unserer Zeitrechnung zwei. Der Chinese hat nämlich zwölf Doppelstunden, »Schi« genannt, deren erste nachts elf bis ein Uhr währt.
»Mute dir nicht zu viel zu!« warnte der Vornehme. »Besser ist's, du stiehlst ihn heute und bringst ihn morgen zu meinem Nachbar.«
»Ich habe keinen Ort, ihn bis morgen aufzubewahren. Mein Herr Wing-kan muß bedenken, daß sich ein großer Lärm erheben wird, wenn man erfährt, daß ein Gott im Tempel fehlt. Die ganze Stadt wird in Aufruhr geraten, vielleicht heute abend schon. Er muß vergraben werden, gleich nachdem ich ihn gestohlen habe. Ich bringe ihn im Siüt-schi und bin noch vor dem Hai-schi fertig.«
Die Doppelstunden heißen, wie schon erwähnt, »Schi«, welchem Worte die Zeichen des Zwölfercyklus vorgesetzt werden. Die Stunden heißen also und währen, von nachts elf Uhr an gerechnet:
tsi-schi 11 bis 1 Uhr
tsch'eu-schi 1 bis 3 Uhr
yîn-schi 3 bis 5 Uhr
maò-schi 5 bis 7 Uhr
schîn-schi 7 bis 9 Uhr
ssi-schti 9 bis 11 Uhr
ngu-schi 11 bis 1 Uhr
Wéi-schi 1 bis 3 Uhr
schin-schi 3 bis 5 Uhr
yeù-schi 5 bis 7 Uhr
siüt-schi 7 bis 9 Uhr
hái-schi 9 bis 11 Uhr
Wenn der Mann sagte, daß er den »Gott« im Siüt-schi bringen und noch vor dem Hai-schi fertig sein werde, so meinte er, daß er nach sieben Uhr zu kommen und vor elf Uhr mit dem Vergraben des gestohlenen Gegenstandes fertig zu sein beabsichtige. Er fügte noch hinzu:
»Mein älterer Gebieter wird einsehen, daß ich es nicht für tausend Li thun kann. Es ist zu beschwerlich und mit großer Gefahr verknüpft. Wenn man mich ergreift, so werde ich hingerichtet, vielleicht gar mit dem Pfahle, denn einen Gott zu stehlen, wird strenger als alles andere bestraft.«
»Das weiß ich allerdings. Darum will ich dir die zweitausend Li bezahlen, vorausgesetzt, daß du deine Sache brav machst und kein Verdacht auf mich selbst fällt.«
»Ich werde es so schön machen, daß alle Schuld auf den Lin fallen muß. Aber wann bekomme ich das Geld?«
»Morgen um dieselbe Zeit komme ich hierher, um es dir zu bringen.«
»Und wann soll es geschehen? Wohl noch heute? ja? je eher, desto besser. Daß dieser Hu-tsin baldigst für die Beleidigung bestraft wird, welche ich freilich noch gar nicht kenne.«
»Es ist eine doppelte. Er weiß die Käufer an sich zu locken, so daß ich oft ganze Tage lang im Laden sitze, ohne einen Li einzunehmen. Darüber ärgerte ich mich und sagte ihm, daß er die Tochter eines T'eu zum Weibe habe. Darauf beschimpfte er mich dadurch, daß er öffentlich sagte, einige meiner Ahnen seien durch den Henker gestorben, und außerdem könne er nachweisen, daß ich kein ehrlicher Goldschmied sei, da ich mit geringem Metalle arbeite und mich einer falschen Wage bediene. Nun sind auch diejenigen Kunden, welche ich hatte, vollends von mir weggeblieben.«
»Die erstere dieser Beleidigungen ist allerdings todeswürdig. Kein Mensch würde sie ungeahndet lassen. Wer läßt seine Ahnen beschimpfen!«
»Kein wirklicher Sohn seiner Eltern! Er behauptete, meine Vorfahren seien überhaupt nur Tsien gewesen.«
»So müßte er eigentlich vor den Richtet kommen!«
»Das fällt mir nicht ein. Man würde ihn bestrafen, aber ich hätte ebensoviel zu bezahlen wie er. Diese Mandarinen gleichen dem tiefen Sande, in welchem der Regen stets gleich verschwindet. Sie sind unersättlich.«
»Aber wenn er nicht verklagt wird, so wird man sagen, daß er doch recht gehabt haben müsse!«
»Immerhin! Wenn er nun als der Dieb eines Gottes ertappt wird, ist es nicht nur um sein Leben, sondern auch um seine Ehre geschehen, und dann wird man mir gern glauben, wenn ich sage, daß er gelogen habe. Dazu sollst du mir verhelfen und ich werde dich heute abend an meiner Gartenmauer erwarten, sobald der Siüt-schi angebrochen ist. Für jetzt aber wollen wir uns trennen. Der Ort ist zwar sehr einsam. Aus diesem Grunde und weil du hier im Sam-pan wohnst und mich in dieser Stadtgegend kein Mensch kennt, habe ich diese Stelle für unsere Zusammenkünfte gewählt. Aber es könnte doch jemand kommen. Hast du vielleicht noch eine Frage?«
»Nein.«
»Und ich kann mich auf dich verlassen?«
»So wie immer. Es ist ja nicht das erste Mal, daß ich für meinen hochgeehrten Alten stehlen gehe, und ich habe mich immer seines Beifalles erfreut. Also gehen wir. Tsing, tsing!«
»Tsing leao!«
Der Methusalem hörte, daß einer von ihnen sich entfernte. Es mußte der Vornehme sein, welcher von dem Diebe Wing-kan genannt worden war. Das laute Geräusch der Schritte konnte nur von Schuhen herrühren und der Verbrecher war ja barfuß.
Nach wenigen Minuten war ein anderes Geräusch zu hören.
Es klang wie ein mit den Händen verursachtes Kratzen oder ein Reiben des Körpers an der Mauer. Der Blaurote trat schnell hinter den erwähnten Strauch und bückte sich nieder, so daß dieser ihn vollständig verbarg. Gleich darauf erschien das Gesicht des Diebes draußen über der Mauer. Er hatte emporklettern müssen, weil der Weg tiefer als der Garten lag. Der Mann mußte die zu seinem Handwerke so unentbehrliche Vor- und Umsicht besitzen. Er blickte herein, um zu sehen, ob das Gespräch vielleicht hier einen Zeugen gehabt habe. Als er niemand sah, sprang er wieder ab und entfernte sich.
Dem Methusalem war das, was er gehört hatte, von großem Interesse. Ein Gott, also ein Götzenbild, sollte aus einem Tempel gestohlen werden. Das war, wie der Dieb ganz richtig gesagt hatte, ein Verbrechen, auf welches das Gesetz die härteste, qualvollste Todesstrafe legte. Und für welchen Preis wagte der Mann sein Leben? Tausend Li sollten sein Anteil sein, also ungefähr sechs Mark nach deutschem Gelde!
Degenfeld fragte sich, ob die Sache ihn etwas angehe. Er antwortete mit ja. Ob ein Götze aus einem der vielen hiesigen Tempel entfernt würde oder nicht, das konnte ihm sehr gleichgültig sein; aber es handelte sich darum, daß ein Unschuldiger als schuldig hingestellt werden sollte. Es war Pflicht, dies zu verhüten. Aber wie? Nun, es lag sehr nahe, daß der Student sogleich an Tong-tschi, den Mandarin, dachte. Ihm wollte er erzählen, was er hier erlauscht hatte, und dieser mochte dann das weitere verfügen.
Er ging in die Gaststube zurück und erzählte seinen Gefährten das Begebnis, natürlich mit leiser Stimme, um von den anderen Gästen nicht gehört oder gar verstanden zu werden. Als er geendet hatte, sagte der Gottfried, indem er eine Grimasse zog und den Kopf schüttelte:
»Schönes Land, wo nicht mal die Jötter sicher vor den Spitzbuben sind! Wat sagen Sie dazu, Mijnheer?«
»Wat ik zeg? Een god zal gernuist worden? Dat is voorbeeldelos; dat is nook niet daageweest –.was ich sage? Ein Gott soll gemaust werden? Das ist beispiellos (vorbildlos); das ist noch nicht dagewesen.«
»Dat mögen auch schöne Jötter sind, die sich von so einem Spitzbuben ins Jemüse schleppen lassen! Aberst interessant ist es doch im höchsten Jrade. Kommen wir da nur so herjeschneit und werden augenblicklich schon Mitinhaber einer solchen Kriminalanjelegenheit! Wat jedenken Sie zu thun, oller Methusalem?«
»Was meinst du wohl?«
»Nun, ich würde mir eijentlich in diese jöttliche Sänftenwanderung jar nicht mischen und es dem Idol überlassen, sich selbst seiner Haut zu wehren; aberst da ein Unschuldiger ins Verderben jestürzt werden soll, so möchte ich jeraten haben, die Sache beim hiesigen ›Staatsangwalting‹, wie unser Turnerstick sagen würde, zur Anzeige zu bringen.«
»Nun,« fiel der Kapitän schnell und eifrig ein, »ist dieses Wort etwa nicht richtig? Hat es etwa nicht ein ang und auch ein ing? Ich höre zu meiner Freude, daß Sie sich meine Lehren so nach und nach zu Herzen nehmen. Wenn Sie dabei beharren, werden Sie bald ein ebenso gutes Chinesisch reden wie ich selbst. Übrigens stimme ich bei: Wir müssen Anzeige machen. Dieser Hu-tsin scheint ein ehrlicher Mann zu sein, während Wing-kan jedenfalls ein Schurke ist, da der Dieb schon öfters für ihn gestohlen hat. Was aber hat es denn mit den Ahnen auf sich? Ist das wirklich eine so tödliche Beleidigung?«
»Hier in China, ja. Schon bei uns daheim würde kein Ehrenmann seine Ahnen unbestraft beschimpfen lassen; hier aber ist es noch ein ganz anderes, da das Andenken an die Vorfahren geradezu als Kultus behandelt wird. Es ist eine der lobenswerten Eigenschaften des Chinesen, daß er seine Eltern in hohem Grade ehrt und den Verstorbenen eine nie ermüdende Pietät widmet. Ts'in ts'in, ›die Eltern als Eltern behandeln‹, oder anders ausgedrückt, lao ngu lao, ›ich behandle die Alten als Alte‹, gilt als unumstößliche Regel. Den Manen der Vorfahren ist ein besonderer Platz des Hauses gewidmet und geweiht, an welchem man ihnen zu gewissen Zeiten Opfer bringt. Alle Unehre und jede Ehre, welche dem Nachkommen widerfährt, fällt auch auf seine Ahnen zurück, die dann mit ihm gelobt oder verachtet werden. Die Stätte, an welcher sie begraben liegen, ist eine heilige und wird mit Fleiß gepflegt, solange ein Nachkomme vorhanden ist.«
»Aber wenn das nicht der Fall wäre?«
»Nun, dann gehen die Überreste freilich den Weg alles Fleisches; das Grab wird nicht mehr beachtet, und bald liegen die Knochen zu Tage und werden mit Füßen getreten. Jeder denkt eben nur an seine Ahnen; diejenigen anderer Leute gehen ihn nichts an. Es gibt hier herrlich angelegte Gottesäcker, aber es ist keineswegs religiöser Zwang, in einem solchen begraben zu werden. Der Chinese trachtet vor allen Dingen danach, nach seinem Tode in heimatlicher Erde oder gar im Boden seiner Provinz, seines Distriktes zu ruhen. Ob aber seine Leiche da einem Begräbnisplatze oder der freien Erde übergeben wird, das ist ihm gleich, wenn er sich nur vorher überzeugt hat, daß seine abgeschiedene Seele mit dem betreffenden Orte zufrieden ist.«
»Zufrieden? Hm! Sie kann ja nichts dagegen haben. Was wollte sie thun?«
»Sie sendet Unglück über Unglück auf die Nachkommenschaft und zwingt dieselbe, ihr eine andere Stelle anzuweisen, an welcher sie sich komfortabler eingerichtet fühlt. So wenigstens ist die Meinung der Chinesen. Jeder bestimmt, wo er begraben sein will. Hat er das aber versäumt, so wenden sich seine Anverwandten an gewisse Priester, welche in dieser wichtigen Angelegenheit bewandert sind. Sie reisen im Lande umher, natürlich auf Kosten der Anverwandten, besichtigen die Stellen, welche ihnen als geeignet erscheinen, und halten mit dem Geiste Zwiegespräch. Hat er ihnen dann den Punkt bezeichnet, so kehren sie zurück, um die Hinterlassenen zu benachrichtigen und die Überreste hinzuschaffen. Es versteht sich ganz von selbst, daß der Geist um so wählerischer ist, je wohlhabender seine Anverwandten sind und je besser sie die Priester bezahlen können.«
»Also ein kleines Geschäftchen dabei?«
»Ja. Sind die Verwandten sehr zahlungsfähig, so kommt es vor, daß der Geist seiner Begräbnisstelle überdrüssig wird, oder es stellt sich an derselben irgend ein Mangel heraus, von welchem er vorher nichts geahnt hat. Da ist ihm vielleicht die Aussicht nicht gut genug, oder die Stelle ist zu rauh oder feucht, so daß er des Nachts frieren muß. Scharfen Zug kann er nicht vertragen. Vielleicht ist in der Nähe eine Mühle angelegt worden, deren Klappern ihn in seiner Ruhe stört. Dann erscheint er dem Priester und sendet denselben zu den Hinterlassenen, damit diese ihm einen trockeneren, wärmeren, zugfreien und ruhigeren Ort suchen und seine Gebeine dorthin schaffen lassen. Abgeschiedene, welche besonders eigensinnig und empfindlich sind, müssen wiederholt begraben werden, bis die Verwandten endlich doch die Geduld verlieren und ihm sagen lassen, sie achteten und ehrten ihn außerordentlich, aber er möge nun auch sie in Ruhe lassen und von jetzt an verständig sein; sie seien entschlossen, für ihn nun keinen Li mehr auszugeben, da er ihnen schon mehr als genug gekostet habe.«
»Dat ist lustig!« lachte Gottfried von Bouillon. »Und dat jeschieht wirklich in allem Ernste?«
»Sehr!«
»Und wat lag in dem Worte Tsien für eine Beleidigung?«
»Auch eine große. Man unterscheidet in China nämlich drei Klassen der Bevölkerung. Die erste heißt Liang = die ehrenwerte; die zweite Tsien = die wertlose, und die dritte Man = die heimatslose. Diese Unterscheidung wird streng festgehalten. In die ehrenwerte Klasse gehören Tsu = der Adel, Nung = der Ackerbauer, Tsang = der Kauf- und Handelsstand, und endlich Kung = der Handwerker. Zur wertlosen Klasse zählen die Bedienten, Schauspieler, Sänger, Tänzer, Musikanten, Sträflinge, Leichenwäscher und Henker. Die Klasse der Heimatslosen umfaßt alle, welche keinen festen Wohnsitz haben, von einer Provinz zur anderen ziehen und also meist in den öffentlichen Herbergen leben. \Ving-kan gehört als Goldschmied der ehrenwerten Klasse an. Sein Nachbar hat aber behauptet, daß die Ahnen desselben zu den Wertlosen gehört hätten, daß sogar einige von ihnen hingerichtet worden seien. Das ist eine höchst beleidigende Mißachtung, ja Beschimpfung der Verstorbenen. Doch habe ich alle Lust, zu glauben, daß der Beleidiger die Wahrheit gesagt hat. Dafür soll ihm ein gestohlenes Götzenbild im Garten vergraben werden. Findet man es, woran kein Zweifel sein kann, da sein Gegner wohl Anzeige machen wird, so ist er verloren. Wir müssen das verhüten. Ich bin gewillt, mit Tong-tschi darüber zu sprechen. Vielleicht ist es ihm möglich, die Wohnung der beiden noch vor Abend zu ermitteln.«
Jetzt kehrte Liang-ssi zurück. Er meldete:
»Den Agenten muß ich nochmals aufsuchen, denn er war verreist und kommt erst morgen wieder heim. Auch der Mandarin war ausgegangen, kehrt aber bald zurück. Der Hausmeister teilte mir mit, daß Zimmer für uns bereit gehalten seien, und ist selbst mit mir gekommen, um Sie in Sänften abzuholen. Er wird sogleich erscheinen.«
Er hatte kaum ausgesprochen, so trat der Genannte, ein behäbig aussehender und fein gekleideter Chinese, ein, verbeugte sich tief und lud die sechs Personen im Namen seines Gebieters und in den höflichsten Ausdrücken ein, in den Palankins Platz zu nehmen, welche draußen für sie bereit ständen. Degenfeld bezahlte das Bier, welches noch teurer als in Hongkong war, und folgte dann mit den Gefährten dem Hausmeister.
Draußen standen sieben mit prächtigen Vorhängen versehene Sänften. Vier Läufer, welche, um den Weg durch das Volksgedränge bahnen zu können, mit Stöcken versehen waren, standen dabei. Der Hausmeister komplimentierte die Gäste in die Palankins und zog deren Vorhänge zu, damit die so fremd und auffällig gekleideten Insassen nicht durch die Zudringlichkeit des Publikums belästigt werden könnten. Hinter der letzten Sänfte hielten auch zwei Diener, welche die Gewehre zu tragen hatten, weil diese ihrer Länge wegen nicht in die Portechaisen gingen.
Was Heimdall Turnerstick betraf, so bückte er sich, ehe er einstieg, nieder, um nachzusehen, ob sein Tragsessel etwa einen beweglichen Boden habe. Er war um eine Erfahrung reicher und hatte keine Lust, eventuell wieder »Sänfte laufen« zu müssen. Zu seiner Beruhigung sah er und überzeugte er sich auch noch mit den Händen, daß der Boden fest und stark genug war, ihn zu tragen.
Als auch der Hausmeister eingestiegen war, setzten sich die Träger in schnelle Bewegung. Der Methusalem schob die Vorhänge ein klein wenig zurück, um hinausblicken zu können, ohne selbst gesehen zu werden.
Ein Gedränge, wie es in diesen Straßen gab, war ihm noch niemals vorgekommen. Übrigens war, sobald die eigentliche Stadt erreicht wurde, von »Straßen« keine Rede. Die Gassen waren so schmal, daß die Sänfte die halbe Breite des Weges einnahm. Sie glichen den Schlupf- und Seitengäßchen alter deutscher Kleinstädte. Die Häuser hatten oft nur das Parterre, nie aber mehr als einen Stock, und alle waren mit Läden versehen, welche offen standen, so daß man die Waren und den Verkäufer sehen konnte. Die Dächer hatten die sonderbarsten Formen und waren mit fremdartigen Schnörkeleien versehen. An jedem Hause hingen lange, schmale Firmenschilder senkrecht hernieder, während sie bei uns platt an die Mauer befestigt werden. Sie trugen auf beiden Seiten in chinesischer Schrift ein Verzeichnis der hier ausgestellten Waren und den Namen des Ladenbesitzers. Will man sich ein Bild von dem Verkehre machen, welcher sich in diesen Gassen bewegte, so muß man sich die Schlußzeit einer Theatervorstellung denken, wo sich das dicht zusammengedrängte Publikum in geschlossener Masse durch die Ausgänge schiebt. Und doch ist dieser Vergleich unzureichend, da hier in den Gassen sich ja nicht alle in einer und derselben Richtung bewegten, sondern zwei Strömungen gegeneinander stießen. Hier durchzukommen, konnte eben nur Chinesen gelingen.
Da kamen ernste, berittene Mandarinen mit einem Gefolge von Dienern, Kulis mit schweren Lasten, die ein türkischer Hammal wohl kaum hätte überwältigen können, beladene Esel und Maultiere, Ausrufer, Handwerker, Geschäftsleute, ambulante Verkäufer, Bettler, Soldaten und Kinder, welche, wenn es Knaben waren, mit ihren ernsten Gesichtern und auf dem nackten Schädel hin und her bammelnden Zöpfchen einen eigenartigen Anblick boten. Das gab ein Schieben, Stoßen und Drängen, ein wüstes Durcheinander, welches ganz unentwirrbar zu sein schien. Das schrie, plärrte, brüllte, heulte und lachte, dazu das Hämmern der Schmiede, das Klappern der Verkäufer, das Klingeln der Garköche, das Hacken und Klopfen der Fleischer und hundert anderen Geräuscharten, welche zusammen ein dumpfes Brausen ergaben. Alle Stände waren vertreten; auch Frauen erblickte man, wenn auch ganz selten. Diese gehörten den niederen Ständen an und hatten unverstümmelte Füße. Erblickt man doch einmal ein weibliches Wesen, welches mit verkrüppelten Klumpfüßchen, sich auf einen festen Stock stützend, mühsam durch das Gedränge humpelt, so ist es gewiß eine verarmte und nun doppelt arme und elende Person, welche nun durch die Not zum Gehen gezwungen wird.
Zu beiden Seiten öffneten sich die Läden und Buden der Seidenhändler, Schuhmacher, Stoffhändler, Mützen- und Hutmacher, Lackwarenarbeiter, Porzellanhändler, Barbiere, Geldwechsler, Kuchenbäcker, Blechschmiede, Fleischer, Obsthändler, Gemüsekrämer und vieler anderer. Meist waren, wie in den türkischen Bazars, die gleichartigen Geschäfte in einer Straße zusammengelegt. Die Gassen endeten in triumphbogenartig überwölbten Pforten, welche des Abends verschlossen werden, um die Aufsicht zu erleichtern. Und dabei herrschte überall ein Halbdunkel, weil die Gassen eng sind und oft zum Schutze gegen Sonne oder Regen mit Strohmatten überdeckt werden.
So ging es durch die Drachen-, Gold-, Schatz-, Seiden-, Apotheker-, Wechsler-, Tiger- und Silbergasse an der Blumen- und später an der Pagode der fünfhundert Geister vorüber. In Europa wäre es geradezu ein Ding der Unmöglichkeit, sich da durchzuarbeiten; der Chinese bringt es fertig; er ist es nicht anders gewöhnt.
Einen ekelhaften Anblick boten die Bettler, deren es außerordentlich viele gab. Sie standen, lehnten, hockten, wackelten, schlürften und taumelten allüberall herum. Ihr Aussehen war erbärmlicher als erbärmlich. Sie waren mit allen möglichen und unmöglichen Schäden und Gebrechen behaftet, hatten sich die Gesichter absichtlich mit stinkendem Schmutze oder Blut beschmiert und der Grausamkeit der Natur so sehr und auf alle Weise nachgeholfen, daß man sich mit Abscheu von ihnen wenden mußte. Und doch werden sie von der Polizei geduldet. Das Bettlertum bildet in China eine soziale Macht, von deren Bedeutung und Einfluß der Europäer gar keine Ahnung hat.
Endlich hielten die Träger auf einer etwas breiteren Straße vor einem großen, palastähnlichen Hause. Der gänzliche Mangel an Verkaufsläden und von Firmenschildern in seiner breiten Fronte ließ vermuten, daß es entweder behördlichen Zwecken diene oder einem reichen Privatmanne gehöre.
Die benachbarten Häuser waren kleiner und schmäler. Die an ihnen niederhängenden, bunt bemalten und mit Gold- und Silbercharakteren beschriebenen Tafeln bewiesen, daß sie von Geschäftsleuten bewohnt seien.
Als der Methusalem beim Aussteigen einen Blick auf das zur Rechten liegende Nachbarhaus warf, glänzten ihm auf breitem Brette zwei Schriftzeichen entgegen, welche sogleich seine Aufmerksamkeit fesselten. Es waren die Zeichen Hu-tsin, also der Name desjenigen, in dessen Garten der gestohlene Gott vergraben werden sollte.
Es konnte in der großen Stadt mehrere Personen desselben Namens geben. Demnach fragte der Student den Hausmeister:
»Wer wohnt hier nebenan?«
»Hu-tsin, der Juwelier,« lautete die Antwort.
»Und wer ist dessen Nachbar?«
»Wing-kan, auch ein Juwelier. Wir befinden uns hier auf der Edelsteinstraße.«
Es konnte also keinen Zweifel geben: die beiden betreffenden Juweliere waren Nachbarn des Tong-tschi, ein Zufall, welcher gar nicht vorteilhafter hätte sein können.
Der Methusalem verlautete nichts über den Grund seiner Fragen. Er kannte die Zuverlässigkeit des Hausmeisters nicht. Wenn derselbe ein Freund des Wing-kan war, so hätte er auf den Gedanken kommen können, denselben zu warnen.
Aus dem breiten Thore des Hauses traten mehrere Diener, welche die Gäste nach einem großen Zimmer geleiteten, über dessen Thüre das Wort »Versammlungssaal« geschrieben stand.
Das Zimmer war chinesisch ausgestattet, mit schönen Bambusmöbeln und einem großen Kerzenleuchter. Sogar ein langer Spiegel, welcher vom Boden bis hinauf zur Decke reichte, war vorhanden.
Hier machte ihnen der Hausmeister nochmals seine tiefen Verneigungen, um sie an Stelle des Hausherrn willkommen zu heißen, entschuldigte diesen letzteren wegen seiner Abwesenheit und gab dann den Befehl, ihnen den Thee zu reichen.
Dieser wurde auf goldenen Präsentiertellern gebracht und aus winzig kleinen Tassen getrunken. Die Zubereitung war genau diejenige des Kaffees bei den Orientalen: Der Thee wurde in die Tasse gethan und mit kochendem Wasser übergossen. Nachdem er einige Augenblicke gezogen hatte, war er von einem Aroma und Wohlgeschmacke, derlei der Europäer an den exportierten Sorten gar nicht kennt.
Dann bat der Haushofmeister die Gäste, ihm zu folgen. Er führte sie durch mehrere Gemächer in ein großes Badezimmer, in welchem acht Wannen aus verschiedenem Materiale standen. Zwei derselben waren aus Marmor und durch Scheidewände von den anderen getrennt. Der Major domus erklärte, daß diese beiden Becken nur für den Herrn und die Gebieterin des Hauses bestimmt seien, jetzt aber von den beiden vornehmsten der Gäste benutzt werden könnten.
»Die vornehmsten?« meinte der Gottfried, als ihm diese Erklärung übersetzt worden war. »Dat ist der Methusalem, und dat bin nachher ich selberst.«
»Sie?« fragte Turnerstick. »Ein Wichsier soll vornehmer sein als wir andern?«
»Ja, denn wenn der \Vichsier nicht von seinem Glanze ein bißchen an die Stibbeln seines Herrn abjiebt, dann kann vom Glanze eben keine Rede sein. Nicht wahr, Miinheer?«
»Neen. Wichsier blijft Wichsier!«
»Wat? Sie wollen mir aus dat Stipendium jagen? Dat habe ich Ihnen nicht zujetraut. Ich bin stets Ihr freundschaftlich jesinnter Jottfried jewesen und jetzt retournieren Sie mir in dat jewöhnliche Publikum zurück? Ich kündige hiermit meine bisherige Jewogenheit und frage nur, wer denn nun der zweite Vornehme unter uns sein soll!«
»Darüber kann es gar keinen Zweifel geben,« sagte Methusalem. »Turnerstick ist Generalmajor; er steht also dem Range nach über uns allen und muß die feinste Wanne haben.«
»Richtig! Dat hatte ich verjessen. Ich trete also zurück. Hätte ich mir als Feldmarschall verkleidet, so jehörte die Wanne mich! Doch denke ich, daß ich in einer anderen auch nicht versaufen werden. Also abjemacht; plätschern wir ein bißchen!«
Der Chinese ist bekanntlich nicht wegen allzugroßer Reinlichkeit berühmt. Die besseren Stände aber stehen allerdings in einem besseren Rufe. Dennoch mußte der Besitzer eines Hauses, welches einen solchen Baderaum aufwies, nicht nur ein reicher, sondern ein Mann sein, welcher überhaupt es mit dem Komfort des Lebens hielt. In dem Kasten, aus dem er errettet worden war, hatte Tong-tschi freilich nicht danach ausgesehen.
Nach dem Bade wurden die Gäste in das Speisezimmer geleitet, wo ihrer eine Mahlzeit harrte, welche aus Fisch, Geflügel, Fleisch, Gemüse, dem allgegenwärtigen Reis und endlich einer Schüssel bestand, die einen dünnen Mus enthielt, welcher einen der Mandelmilch ähnlichen Wohlgeschmack hatte. Auf seine Erkundigung erfuhr der Methusalem, daß der Brei aus fein gestoßenen Aprikosenkernen bereitet worden sei. Diese Speise verdient es, auch in Deutschland nachgeahmt zu werden.
Dann erhielten die Reisenden die für sie bestimmten Zimmer, jeder ein besonderes, angewiesen. Es war aus allem zu ersehen, daß der Tong-tschi seinem Hausmeister den Methusalem als denjenigen bezeichnet hatte, dem die größte Aufmerksamkeit zu erweisen sei. Er erhielt das am feinsten eingerichtete Gemach.
Nun konnten sie sich ausruhen und nach Gutdünken thun, was sie wollten. Nur falls sie die Absicht haben sollten, sich die Stadt zu besehen, bat der Hausmeister, daß sie die Palankins benutzen sollten, da sie sonst die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf sich ziehen würden und sehr leicht belästigt, ja sogar beleidigt werden könnten.
»Aber zu einem Ausgange nur in die nächste Nachbarschaft ist die Sänfte doch nicht nötig?« fragte Methusalem.
»Darf der ganz Kleine fragen, wohin Sie wollen?«
Der »ganz Kleine« ist ein Ausdruck, mit welchem der Chinese sich selbst bezeichnet, wenn er mit einem Höherstehenden spricht. Der Hausmeister meinte also sich.
»Zum Nachbar, dessen Juwelenladen ich mir ansehen will.«
»Zu Hu-tsin?«
»Ja.«
»Der wohnt so nahe, daß Sie der Sänfte wohl nicht bedürfen. Er ist ein berühmter Juwelier und ein ehrlicher Mann. Gehen Sie nur nicht zu seinem Nachbar Wing-kan!«
»Warum zu diesem nicht?«
»Er ist ein Betrüger, obgleich das Gegenteil auf seinem Schilde steht. Beide sind einander sehr feindlich gesinnt.«
»So werde ich dem letzteren nichts abkaufen. Gottfried, brenn die Pfeife an!«
»Augenblicklich!« antwortete der Genannte, welcher sich im Zimmer des Blauroten befand. »Wir müssen bei dem Manne mit die nötige Kultur und Schicklichkeit erscheinen, wozu doch nichts so notwendig ist, wie Ihre Hukah und meine Fagottoboe.«
Auch für Tabak hatte man gesorgt. Es stand eine ganze Vase voll auf dem Tische. Von dem Inhalte derselben wurde die Wasserpfeife gestopft, und nachdem dieselbe in Brand gesteckt worden war, brachen die beiden auf, von dem Hausmeister bis an das Thor begleitet.
Sie legten die wenigen Schritte in der schon oft beschriebenen Weise und gravitätischen Haltung zurück. Trotz der Kürze des Weges sahen sie ein, daß der Hausmeister sehr recht gehabt hatte, als er ihnen für etwaige Ausflüge den Gebrauch der Sänften empfahl. Sie waren kaum aus dem Hause getreten, so blieben die Straßenpassanten stehen, um die beiden ihnen so sonderbar vorkommenden Menschen in Augenschein zu nehmen.
Methusalem ging nicht hart am Hause hin. Er hielt sich auf der Mitte der Straße, um vielleicht einen Blick in den zweiten Laden werfen zu können. Das gelang ihm auch.
An den beiden Häusern hingen mehrere Firmenschilder herab, je eins mit den Namen der Besitzer, also Hu-tsin und Wing-kan; auf der anderen waren die Artikel verzeichnet, welche man bei ihnen kaufen konnte. Wing-kan hatte noch extra auf ein Brett schreiben lassen: »Hier wird man ehrlich bedient«, eine Aufschrift, welche im Gegenteile zu seiner Absicht das Mißtrauen der Leser erregen mußte, da kein ehrlicher Geschäftsmann es für notwendig halten wird, seine Kunden in so besonderer Weise auf eine Eigenschaft aufmerksam zu machen, welche man ohnedies bei ihm vorauszusetzen hat.
Er saß unweit seiner offenen Ladenthüre. Methusalem sah ihn und erkannte gleich den Mann, welchen er belauscht hatte. Es konnte nun gar kein Zweifel mehr vorhanden sein.
Er trat in den Laden Hu-tsins, welcher sich allein in demselben befand. Der Juwelier war ein Mann in den mittleren Jahren, wohlgestaltet und sehr sorgfältig gekleidet. Er trug einen langen, dünnen Schnurrbart, dessen Spitzen ihm zu beiden Seiten fast bis auf die Brust reichten. Als er die beiden Männer sah, erhob er sich von seinem Platze. Indem er sie anblickte, war er ein sprechendes Bild unendlichen Erstaunens. Zwei so fremdartige Gestalten waren noch nie bei ihm gewesen.
»Tsching!« grüßte der Methusalem kurz, indem er eine Rauchwolke von sich blies.
»Tsching!« rief auch Gottfried und zwar in einem Tone, als ob er der Kaiser von China in eigener Person sei.
»Schim Hu-tsin – Sie heißen Hu-tsin?« fragte der Student.
»Pi-tseu – das ist mein Name,« antwortete der Juwelier, welcher sich von seiner Betroffenheit erholte und unter tiefen Verneigungen und ehrerbietigen Handbewegungen die beiden einlud, näher zu treten.
»Ich komme nicht, um etwas zu kaufen,« fuhr Methusalem fort. »Ich habe notwendig mit Ihnen zu sprechen.«
»Sie – – mit mir!« fragte der Mann, dem es ein Rätsel war, was so ein fremder Herr gerade mit ihm zu reden habe. »Ist es etwas Wichtiges?«
»Sehr, nicht für mich, aber für Sie.«
»Was?«
»Es handelt sich um Ihr Leben.«
»Um – mein – Leben? T'ien-na, o mein Himmel! Ist das möglich?«
»Ja. Ich bin gekommen, um Sie vom Tode zu erretten.«
»Weshalb sollte ich sterben? Sind Sie ein fremder Arzt? Bin ich krank?«
»Nein. Sie sollen hingerichtet werden.«
»Herr, ich bin kein Verbrecher!«
»Das weiß ich; aber es kommt auch vor, daß Angeklagte unschuldig verurteilt werden.«
»Angeklagte? Wessen will man mich anklagen? Was soll ich verbrochen haben?«
»Sie sollen ein Götterbild geraubt haben.«
Der Mann erbleichte und begann zu zittern. »Ein Götterbild!« stieß er hervor. »Das ist ein Verbrechen, welches mit dem schrecklichsten Tode bestraft wird!«
»Allerdings. Und von diesem Tode will ich Sie erretten.«
»Herr, man kann mich nicht verurteilen, denn ich habe die That nicht begangen. Ich achte die Gesetze und bin mir niemals einer Schuld bewußt gewesen, am allerwenigsten aber einer so gräßlichen.«
»Aber man wird die Figur bei Ihnen finden.«
»Bei – – mir?! Wo?«
»Im Garten.«
»Da mag man suchen!«
»Ja, man wird suchen und wenn man sie dort findet, sind Sie verloren.«
»Das wäre ich allerdings; aber ich weiß gewiß, daß man nichts finden wird.«
»Und ich weiß ebenso gewiß, daß man sie bei Ihnen ausgraben wird!«
»Dann müßte sie ein anderer eingegraben haben!«
»Ja, und das ist eben der Fall. Ein Feind von Ihnen will die Figur stehlen und bei Ihnen vergraben lassen. Erstattet er dann Anzeige, so wird sie bei Ihnen gefunden und Sie werden als Dieb und Tempelschänder zum Tode verurteilt.«
Da schlug der Juwelier die Hände zusammen und rief im Tone des Entsetzens:
»Welch ein Unglück! Ich bin verloren; ich bin verloren!«
»Schreien Sie nicht so! Sie sehen, welch eine Menge von Menschen vor Ihrem Laden steht, um mich zu begaffen. Sie sind nicht verloren, denn ich bin gekommen, Sie zu retten. Wir müssen die Angelegenheit mit allem Bedacht besprechen.«
»Ja – besprechen – mit allem Bedacht! Ich werde jemand rufen, der einstweilen im Laden bleibt. Sie aber werden die Güte haben, mich hinauf in mein Zimmer zu begleiten.«
Er rief einen Namen durch eine Thür, welche im Hintergrunde des Ladens angebracht war. Ein junger Mann kam herein. Dann forderte er Methusalem und Gottfried auf, ihm zu folgen.
Es ging durch die erwähnte Thür nach einem kleinen Vorplatze, von welchem aus eine Treppe zum Stock emporführte. Dort traten sie in eine Stube, die der Arbeitsraum des Juweliers zu sein schien. In einer Ecke war ein Brettchen angebracht, auf welchem eine kleine, dicke Figur des Buddha saß. Vor derselben brannte ein Licht.
Der Juwelier bot zwei Stühle an. Er selbst brauchte keinen. Die Unruhe, welche ihn ergriffen hatte, erlaubte ihm nicht, sich zu setzen. Gottfried zog seinen Stuhl hinter denjenigen des Studenten, welcher sich würdevoll niederließ.
»Schade, daß ich nicht jenug chinesisch verstehe, um dem Jange dieser Unterredung folgen zu können!« sagte der erstere. »Ich möchte doch zu jern wissen, wat er sagt.«
»Du wirst es erfahren. Das versteht sich von selbst.«
»Also ein Feind von mir will das thun, wovon Sie sprachen!« sagte der Juwelier. »Wer mag das sein?«
»Kennen Sie keinen Menschen, welcher Sie so sehr haßt, daß er eines so nichtswürdigen Anschlages fähig ist?«
»Nur einen.«
»Wer ist das?«
»Wing-kan, mein Nachbar.«
»Dieser ist es.«
»Dieser? Wissen Sie das genau?«
»Ja. Ich habe seine Unterredung mit dem Menschen, welcher den Diebstahl ausführen soll, belauscht.«
»Wer ist dieser Dieb?«
»Das weiß ich nicht. Ich kenne ihn nicht. Ich bin fremd, ein Tao-tse-kue, erst heut hier angekommen. Wing-kan will sich rächen, weil Sie ihn beleidigt haben.«
»Er hat mich vorher gekränkt!«
»Ja. Er hat gesagt, daß Sie eine Tochter des Bettlerkönigs zum Weibe haben.«
»Das wissen Sie!«
»Ich hörte es aus seinem Munde.«
»Sie sind fremd und werden also wohl nicht wissen, daß dies eine schwere Beleidigung ist. Kein braver Mann spricht von dem Weibe eines anderen. Ich sah das Mädchen und gewann sie lieb, ohne zu wissen, wer sie war. Ich hörte dann, daß der T'eu ihr Vater sei. Dennoch nahm ich sie zum Weibe, weil sie gut und brav war. Muß man mir das vorwerfen? Ich war arm; der T'eu hat mich zum wohlhabenden Manne gemacht, denn er ist sehr, sehr reich. Muß ich ihm und meinem Weibe da nicht dankbar sein? Darf ich sie beschimpfen lassen?«
»Nein. In meinem Vaterlande ist es keine Schande, die Tochter eines Bettlers zu heiraten.«
»Auch eines Bettlerkönigs?«
»Bettlerkönige gibt es bei uns nicht.«
»Nicht? Dann ist Deutschland ein sehr unglückliches Land!«
»Inwiefern?«
»Weil die Menschen dort kein Mittel besitzen, sich von der Zudringlichkeit der Bettler zu befreien.«
»O, wir haben ein sehr gutes, welches viel besser und heilsamer wirkt als das Ihrige.«
»Welches?«
»Die Polizei.«
»Was kann da die Polizei thun? Doch nichts, gar nichts! Wenn ein Bettler von mir eine Gabe haben will und ich verweigere sie ihm, so zwingt er sie mir ab. Er bestreicht sich das Gesicht mit Kot. Er taucht sein Gewand in Jauche und setzt sich vor meine Thür, daß ich den Gestank nicht aushalten kann und kein Mensch zu mir hereintritt, um etwas zu kaufen. Oder er nimmt einen Gong in die Hand und schlägt so lange auf denselben ein, bis ich den entsetzlichen Lärm satt habe und ihm etwas gebe. Oder er holt eine ganze Schar anderer Bettler herbei, welche sich vor meiner Thür im Kote wälzen, sich mit Messern ins Fleisch stechen und so lange heulen und klagen, bis die Vorübergehenden mir wegen meiner Hartherzigkeit Vorwürfe machen und drohen, nichts mehr von mir zu kaufen. Ein Bettler kann einen Geschäftsmann ruinieren.«
»Nur hier bei Ihnen. In meinem Vaterlande nicht.«
»Was thut dort die Polizei mit ihm?«
»Wenn er sich so benähme, wie Sie erzählen, so würde er bestraft.«
»Womit?«
»Man sperrte ihn ein, erst für kurze Zeit, wenn es sich wiederholte, auf längere Zeit, und wenn er sich dann noch nicht gebessert hätte, für lebenslang.«
»Wohin sperrt man ihn da?«
»In ein Arbeitshaus, wo er arbeiten muß und andere, fleißige Menschen nicht mehr belästigen kann.«
»Aber wenn er nun alt, krank, ein Krüppel ist, der nicht arbeiten kann!«
»So wird er versorgt, von der Gemeinde oder auch vom Staate. Betteln ist streng verboten.«
»So ziehen bei Ihnen die Bettler nicht in ganzen, großen Scharen im Lande umher?«
»Nein.«
»Dann ist Ihr Vaterland ein sehr glückliches Land und kein unglückliches, wie ich vorhin sagte. Bei uns ist das anders.«
»Greift die Polizei nicht ein?«
»Nein. Kein Mensch und kein Polizist darf sich an einem Bettler vergreifen. Man muß sich an den Bettlerkönig, an den T'eu wenden. Kauft man sich bei ihm durch eine Summe los, so erhält man von ihm eine Bescheinigung, einen Zettel, welchen man an die Thür klebt. Dann gehen die Bettler vorüber. Der T'eu hat eine große Macht über sie. Er verteilt das Geld, welches er für diese Zettel einnimmt, unter sie. Ist er mit einem Distrikte fertig, so zieht er mit seinen Scharen nach einem anderen, um dort dasselbe zu thun.«
»Das würde man bei uns Kwei-tsun nennen und ihn samt seiner ganzen Schar für zehn Jahre einsperren.«
»Ist das nicht grausam?«
»Nein, das ist Ordnung. Warum soll der arbeitsame Mensch es dulden müssen, daß der Bettler ihm Geld abzwingt? Bei euch werden die Bettler beschützt und die Fleißigen belästigt. Bei uns ist es umgekehrt, und ich halte das für das Richtige.«
»Ich auch, obgleich man das hier nicht sagen darf. Es kommt vor, daß die Regierung, die Behörde gezwungen ist, mit dem Bettlerkönige einen Kontrakt abzuschließen. Tritt zum Beispiel einer der großen Flüsse aus seinen Ufern, so werden weite Strecken Landes überschwemmt und Millionen von Menschen verlieren ihren Erwerb. Da sind Hunderttausende brotlos und zu Bettlern geworden. Sie wählen sich einen Bettlerkönig und ziehen fort, um sich von ihm in den glücklicheren Provinzen durch die Gaben, welche er erzwingen muß, ernähren zu lassen. Er regiert sie; er hat Gewalt über ihr Leben. Sie müssen ihm gehorchen. Hätten sie ihn nicht, so würden sie sich zügellos über das ganze Reich ergießen und namenloses Unheil stiften. Es würde gebrannt, geraubt und gemordet. Es würde eine Revolution der anderen folgen und kein friedlicher Mensch wäre seines Lebens und seines Eigentumes sicher. Darum müssen wir Bettlerkönige haben, und darum werden dieselben von der Regierung und allen Behörden gern und willig anerkannt.«
»So hat ein solcher T'eu ja fast eine größere Macht als ein Wang, ein Vizekönig und Regent einer ganzen, großen Provinz!«
»Allerdings. Kein Beamter, und stehe er noch so hoch und sei er noch so mächtig, wird es wagen, einen T'eu zu beleidigen, denn dieser könnte sich leicht an ihm rächen. Er würde sämtliche Unterthanen seines Bettlerreiches, viele Tausende, herbeirufen und mit denselben die betreffende Provinz überschwemmen. In Peking würde man erfahren, wer schuld daran ist, und den Vizekönig sofort absetzen, weil er Unglück über seine Provinz gebracht und also bewiesen hat, daß er zum Regieren unfähig ist. Ja, ein Bettlerkönig ist ein außerordentlich mächtiger Mann. Ist es also klug, mich zu beleidigen, weil ich der Schwiegersohn eines solchen bin?«
»Das ist sehr unvorsichtig gehandelt.«
»Ja. Ich kann mich an Wing-kan rächen. Das weiß er sehr genau, und daher will er mir zuvorkommen und mich und meine Familie verderben. Denn hier bei uns werden die Frauen und Kinder der Verbrecher auch mitbestraft.«
»Das habe ich schon erfahren. Es war mir unbegreiflich, daß jemand wegen einer einfachen Beleidigung ein so schweres Verbrechen, wie der Diebstahl eines Gottes ist, nur um Rache zu üben, wagen kann. Jetzt sehe ich klarer. Wing-kan fürchtet Ihre Rache und noch vielmehr diejenige Ihres Schwiegervaters, des T'eu. Darum will er Sie unschädlich machen.«
»Und den T'eu mit, welchen die Strafe für mein Verbrechen auch treffen würde, weil er der Vater meines Weibes ist. Selbst ein Bettlerkönig darf nicht, so große Macht er auch besitzt, ein Verbrechen begehen. Thut er das, so verfällt er dem Gesetze wie jeder andere und hat keine Gnade oder Hilfe zu erwarten, weil alle seine Unterthanen sich von ihm lossagen. Das ist die Berechnung meines Nachbars, wenn die Sache sich wirklich so verhält, wie Sie es sagen.«
»Es ist genau so. Um Ihnen das zu beweisen, will ich Ihnen erzählen, wie ich den Anschlag erfahren habe.«
Er berichtete ihm alles. Der Juwelier sah sich in einer außerordentlich gefährlichen Lage. Er lief in der Stube hin und her; er warf mit den Armen um sich; er riß und zerrte an seinem Zopfe. Er war ein braver und wackerer Mann, welchem der Methusalem die vollste Teilnahme schenkte.
»Was soll ich thun, was soll ich thun?« fragte er.
»Das müssen Sie am besten wissen!«
»Soll ich schnell zum Sing-kuan gehen und Anzeige machen?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil jetzt die That noch nicht geschehen ist und Sie Ihrem Nachbar also nichts beweisen können.«
»So meinen Sie, daß ich ruhig zuwarten soll, bis er den Gott in meinem Garten vergräbt?«
»Ja.«
»Das ist gefährlich, außerordentlich gefährlich.«
»Gar nicht!«
»O doch! Sie kennen die Gesetze unseres Landes nicht. Wehe dem, auf dessen Grund und Boden oder auch nur in dessen Nähe ein Verbrechen geschieht! Er wird ganz unerbittlich mitbestraft. Kein Chinese wird zum Beispiele einem Ertrinkenden beispringen, um ihm das Leben zu retten.«
»Nicht? Das wäre ja schrecklich!«
»Und doch ist es so. Wenn der Mann dennoch ertrinkt, so würde man den Retter als Mörder festnehmen. Wenn jemand, um sich an mir zu rächen, sich vor meiner Thür entleibt, so bin ich der Schuldige und werde bestraft. Wenn mein Nachbar das Bild des Gottes bei mir vergräbt, so mag ich tausendmal beweisen können, daß er selbst es gestohlen und in meinen Garten versenkt hat; es ist bei mir gefunden worden und ich muß die Strafe erleiden.«
»Das ist freilich schlimm. Die Sache steht also folgendermaßen: Verhüten Sie jetzt die That, mit welcher man Sie bedroht, so können Sie dem Nachbar nichts beweisen, und er wird sich eine andere Art der Rache aussinnen, gegen welche Sie sich dann nicht wehren können. Lassen Sie die That aber geschehen, so fallen Sie mit ins Verderben.«
»Ja so ist es. Ich glaube jedes Wort, was Sie mir gesagt haben; ich bin überzeugt, daß Wing-kan diese Absicht hegt: aber ich sehe kein Mittel, den Schlag von mir und meiner Familie abzuwenden. Den Dieb, mit welchem Wing-kan das Verbrechen beabsichtigt hat, können Sie nicht näher bezeichnen?«
»Nein.«
»Machte ich jetzt Anzeige, so würde man ihn zwar suchen, aber nicht finden. Der Raub würde also doch geschehen.«
»Ja, aber es könnten Polizisten in Ihren Garten postiert werden, welche den Kerl gleich in Empfang nehmen, wenn er kommt.«
»Nein, nein!« wehrte der Juwelier ab. »Er würde sagen, daß er in meinem Auftrage gehandelt habe, und dann wäre ich auch verloren.«
»So müßte man schleunigst die Priester benachrichtigen, acht auf ihre Gottheiten zu geben. Wir kennen ja die Stunde, in welcher der Raub ausgeführt werden soll.«
»Wissen Sie, in welchem Tempel sich der Gott befindet, auf den es abgesehen ist?«
»Nein.«
»O wehe! Und wissen Sie, wie viele Tempel wir hier in Kuang-tschéu-fu besitzen?«
»Ja, hundertzwanzig.«
»Das sind nur die großen, berühmten. Es gibt ihrer viel, viel mehr. Ehe die Benachrichtigung, von welcher Sie sprechen, an alle diese Orte kommt, ist der Raub geschehen. Auch das gibt keine Hilfe.«
Er rannte wieder auf und ab und riß an seinem Zopfe. Der Methusalem rückte auf seinem Sitze hin und her, rieb sich die Stirn, that ein paar tüchtige Züge aus der Pfeife und sagte dann:
»So verworren und verwickelt habe ich mir die Sache freilich nicht vorgestellt. Ich dachte nicht daran, daß derjenige, in dessen Nähe oder auf dessen Besitzung ein Verbrechen geschieht, in dieser Weise mitverantwortlich gemacht wird. Wir dürfen die That nicht geschehen lassen, weil Sie sonst auf alle Fälle mitbestraft werden. Wir dürfen sie aber auch nicht verhüten wollen, weil dies unmöglich ist.«
»Ja, Sie müssen bedenken, daß der Abend bald hereinbrechen wird. Es ist keine Zeit mehr dazu vorhanden.«
»Einesteils, und andernteils wäre für Sie damit nichts gebessert, da es Ihnen nicht gelungen wäre, den Nachbar unschädlich zu machen. Und das muß vor allen Dingen geschehen, wenn Sie in Zukunft sicher leben wollen.«
»Das ist wahr; das ist wahr! Raten Sie, helfen Sie! Ich werde Ihnen sehr, sehr dankbar sein!«
»Hm! Woher soll man einen Rat nehmen? Advokaten wie in meinem Vaterlande gibt es hier nicht. Polizei kann uns nichts nützen. Schließlich komme ich selbst mit in Gefahr, wenn man hört, daß ich diese Kerls belauscht habe. Erlauben Sie mir einen Augenblick! Ich will da meinen Gefährten fragen.«
»Ist er nicht Ihr Diener?«
»Diener und Freund.«
»Er hat doch alles mitangehört. Warum spricht er nicht?«
»Er versteht die Sprache dieses Landes nicht vollständig. Er ist ein kluger Kopf, ein Pfiffikus. Rechtlichkeit und Gesetz können hier nicht helfen. Nur allein der Pfiffigkeit könnte es vielleicht gelingen, Rettung zu bringen.«
»So fragen Sie ihn, schnell, schnell!«
Der Methusalem erklärte seinem Gottfried, wie die Sache stand. Dieser hörte aufmerksam zu und sagte dann:
»Ja, wenn die sojenannten Klugen nichts mehr wissen, so wenden sie sich an die anjeblich Dummen. Die Karre steckt drinnen, tief jenug im Schmutze. Kein Mensch und kein Methusalem kann ihr herausbekommen. Und da soll sich nun der olle Jottfried ins jeschirr lejen, um sie aufs Trottoir zu bringen!«
»Beleidigt dieses Vertrauen etwa?«
»Fällt mich nicht ein! Denke jar nicht daran! Aber eine fatale Sache ist es und bleibt es. Man kann da sehr leicht mit in dat Käsefaß stecken bleiben. Bitte, jeben Sie mich mal dat Mundstück her!«
Er langte nach der Pfeifenspitze.
»Wozu?«
»Um meine Jeistlichkeit anzurejen und aufzufrischen. Ein juter Zug aus die Pfeife stärkt den Verstand und den Mutterwitz. Es ist dat zwar jejen die Subordination, aberst in diesem Falle werden Sie mich schon mal erlauben.«
»Da, rauche!«
Er gab ihm die Spitze hin, obwohl er wußte, daß es von Gottfried nur ein nichtiger Vorwand war. Er wollte ihn aber bei guter Laune erhalten, weil er von dem schlauen \Wichsier wirklich einen guten, vielleicht rettenden Gedanken erwartete.
Gottfried that einige derbe Züge, brummte nachdenklich vor sich hin, zog die Stirn in tiefe Falten, that wieder einige Züge, räusperte sich, hustete, that abermals einen Zug, aber einen außerordentlich kräftigen, blies den Rauch in derbem Stoße von sich, reichte dann dem Methusalem das Mundstück zurück und sagte:
»Jeschmeckt hat's jut!«
»Nun, weiter!«
»Und jeholfen hat's auch!«
»Dir ist also ein Gedanke gekommen?«
»Ein Jedanke wie ein Licht!«
»Welcher?«
»Der allereinfachste von die janze Welt.«
»Heraus damit!«
Na, nur Jeduld! Ich stelle mich die Sache nämlich folgendermaßen vor: Wie du mich, so ich dich!«
»Wieso?«
»Er will ihm uns verjraben, nun verjraben wir ihm ihn.«
»Dummes Zeug! Wer soll das verstehen! Rede doch nur deutsch, ordentlich nach der Grammatik!«
»Wenn ich derjenige bin, welcher die Kastanien aus dem Feuer holen soll, so hat die Jrammatik sich nach mich zu richten und nicht ich mir nach sie. Verstanden! Mein Mittel ist ein jutes deutsches. Es jründet sich auf ein altes, deutsches, echt jermanisches Sprichwort, welches in andrer Weise lauten würde: ›Wie es aus dem Walde schallt, so schallt es wieder hinein‹.«
»Umgedreht ist es richtig!«
»Nein. Dat muß ich verstehen. Ich meine nämlich: Er will ihm in unserm Walde verjraben, jut, so verjraben wir ihm in den seinigen, nämlich den Jötzenonkel.«
Methusalem machte ein froh erstauntes Gesicht und rief:
»Alle Wetter! Gottfried, du hast's, du hast's wirklich!«
»Nicht wahr! Jottfried hat ihm allemal! Auf diese Weise kommt unser Freund hier in keine Jefahr. Der jetreue Nachbar und desgleichen macht Anzeije, die Polizei kommt und jräbt hier nach, findet aber nichts. Während sie mit die lange Nase da steht, machen nun wir Anzeije. Man jräbt beim juten Heinrich drüben und findet nun die Jöttlichkeit in seinem eijenen Jarten. Was weiter?«
»Weiter nichts, weiter gar nichts! Das ist genug. Das bringt erstens Rettung und ist zweitens ein Streich, so recht nach meinem Herzen.«
»Nach dat meinige auch. Und dat beste dabei ist, daß wir keinen Menschen und auch keinen Mandarin brauchen. Auch kommen wir selbst gar nicht in Betracht, weder als Zeujen noch als Gejenzeujen mit Pflichteid und jutes Jewissen. Wir handeln hinter die Kulissen und sehen von unserm Olymp herab jemütlich zu, wat die Menschen für riesije Dummheiten machen. Teilen Sie dem Manne diese meine Ansicht mit. Ich bin der Mann, der ihm jeholfen hat.«
»Ja, der bist du, denn ich glaube nicht, daß ich auf diesen prächtigen Gedanken, welcher wohl nicht allzuschwer auszuführen sein wird, gekommen wäre!«
»Ist auch kein Wunder, wenn der Methusalem nun mal altersschwach wird und wackelig auf seine Jeisteskraft. Fragen Sie nur immer mir, wenn Sie mal nicht vorwärts kommen können! Ich habe immer denjenigen Rat, welcher jut ist, leider aber es doch nicht zum Jeheimerat bringen wird.«
Methusalem teilte dem Chinesen mit, welchen Vorschlag Gottfried ihm gemacht hatte. Der Juwelier faßte sich wieder bedenklich am Zopfe.
»Das ist auch sehr gefährlich!« sagte er.
»Aber das einzige, was Sie thun können.«
»Meinen Sie, daß es gelingen werde?«
»Das kommt auf die Lage der Gärten an. Wing-kan hat doch wohl auch einen?«
»Ja. Er ist genau so groß wie der meinige.«
»Sie stoßen aneinander?«
»Ja.«
»Wodurch werden sie getrennt?«
»Durch eine Mauer.«
»Ist diese zu übersteigen?«
»Ja.«
»So ist Ihnen geholfen. Sie warten, bis die Figur bei Ihnen eingegraben worden ist und nehmen sie dann schnell wieder heraus, um sie beim Nachbar zu vergraben.«
»Aber wenn man mich dabei erwischt!«
»Das dürfen Sie eben nicht geschehen lassen. Sie müssen vorsichtig verfahren. Wing-kan hat keine Ahnung davon, daß Sie von der Sache wissen. Er wird also noch viel weniger ahnen, daß Sie ihm den Gott hinüberschaffen.«
»Aber dazu bin ich allein zu schwach.«
»Sie haben ja Hände, welche Ihnen helfen werden.«
»Wessen Hände sollen das sein? In ein solches Geheimnis darf ich keinen meiner Leute ziehen.«
»Das ist auch gar nicht nötig. Sie haben doch uns.«
»Sie? Wollten Sie mir helfen? ja das wäre gut! Dann wollte ich es wagen!«
»Natürlich helfen wir Ihnen, und zwar sehr gern.«
»Wie dankbar werde ich Ihnen dafür sein! Aber da müssen Sie gleich bei mir bleiben.«
»Warum das?«
»Später können Sie nicht zu mir.«
»O doch. Man mag immerhin die Gasse verschließen. Wir wohnen ja in derselben.«
»In dieser Gasse? Wo da? Bei wem?«
»Nebenan beim Tong-tschi.«
Jetzt machte der Juwelier ein ganz neues Gesicht. Aus lauter Überraschung hatte er sie gar nicht mit der vorgeschriebenen Höflichkeit empfangen. Und dann war er allzusehr mit seiner Angst beschäftigt gewesen, als daß er hätte darüber nachdenken können, ob er vornehme oder gewöhnliche Leute vor sich habe.
»Beim Tong-tschi?« fragte er. »Sind Sie etwa die Fremden, welche ihn errettet haben?«
»Hm! Was wissen Sie von dieser Angelegenheit?«
»Er ist ein sehr hoher und reicher Mandarin und ich bin nur ein Kaufmann. Mein Weib ist sogar die Tochter eines Bettlerkönigs. Dennoch steigt die Frau des Tong-tschi zuweilen drüben in ihrem Garten auf die Stufen, um sich mit der meinigen zu unterhalten. Da wissen wir, daß der Tong-tschi kürzlich viel länger fortgeblieben ist, als er gesagt hatte. Seine Frau war voller Sorge. Sie befürchtete, es sei ihm ein Unglück geschehen. In diesen Tagen nun hat sie meinem Weibe im Vertrauen erzählt, daß ihr Mann wieder zurück sei; er habe sich in einer entsetzlichen Gefahr befunden, sei aber von fünf oder sechs fremden Männern, welche nicht aus China sind, errettet worden. Sie hat dabei gesagt, daß diese Fremden eingeladen seien und als Gäste zum Tong-tschi kommen würden.«
»Weiter wissen Sie nichts?«
»Nein.«
»Auch nicht, welcher Art die Gefahr gewesen ist, in welcher der Mandarin sich befunden hat?«
»Nein.«
»So schweigen Sie darüber gegen jedermann, sonst könnten Sie den Tong-tschi sich leicht zum Feinde machen!«
»Ich werde schweigen. Aber darf ich wohl erfahren, ob Sie diese fremden Herren sind?«
»Ja, wir sind es.«
Da verneigte er sich bis zum Boden herab und sagte:
»Dann bin ich ganz unwürdig der hohen Ehre, welche Sie mir erweisen. Fremde Herren, welche dieser Mandarin zu sich ladet, müssen in ihrem Lande die höchsten Stellen begleiten. Ich bin viel zu gering, als daß ich Ihnen in das Angesicht blicken darf. Und nun sind Sie gekommen, mich über die mir drohende Gefahr zu benachrichtigen! Nehmen Sie mein Geld, mein Leben, alles, was mir gehört; es ist Ihr Eigentum!«
»Es freut mich, daß Sie ein dankbares Herz besitzen. Ich glaubte, daß Sie ein ehrlicher Mann seien, und darum bin ich gern gekommen, Sie zu retten. Und was ich einmal anfange, das pflege ich auch zu vollenden. Wir werden Ihnen helfen, den Gott in Wing-kans Garten zu vergraben. Haben Sie dazu die nötigen Werkzeuge?«
»Ja.«
»Sie sagen, daß die beiden Frauen zuweilen miteinander sprechen. Ich vermute also, daß Ihr Garten auch an denjenigen des Mandarins stößt?«
»Ja, nur ist der letztere viel, viel größer und prächtiger als der meinige.«
»So ist uns die Sache ja möglichst leicht gemacht. Wollen Sie uns einmal Ihren Garten zeigen, aber so, daß niemand uns bemerkt!«
»Da brauchen wir nur nebenan zu gehen. Wir können durch das Fenster hinausblicken.«
Er führte sie in eine Nebenstube, welche zwei Fenster hatte. Anstatt der Glastafeln war eine sehr feine Gaze eingezogen. Er öffnete eins derselben. Man hatte gleich den Garten vor sich.
Er war klein, auf chinesische Weise angelegt. Zwergbäume, blühende Sträucher, Taxus- und Buchsbaumwände, über welche Kronen emporragten, welche in Tierformen gezogen waren. Rechter Hand lag der Garten seines Feindes, ganz in derselben Weise angelegt und gepflegt. Die Trennungsmauer war nicht ganz mannshoch.
Zur linken Hand lag der Garten des Mandarinen, welcher allerdings auch nur so tief wie die beiden anderen war, aber desto breiter sein mußte. Hinter diesen Gärten schien ein Pfad vorüber zu führen. Das war jedenfalls der Weg, auf welchem der Dieb die Figur bringen wollte.
»Prächtig!« sagte der Methusalem. »Die Gärten liegen für unsere Absicht außerordentlich bequem. Wir steigen über die Mauer des Mandarinen und befinden uns dann in Ihrem Garten. Das übrige wird sich dann finden.«
»Das wollen Sie wirklich thun?« fragte Hu-tsin.
»Sogar sehr gern.«
»So weiß ich nicht, wie ich Ihnen dankbar sein soll! Ich bin viel zu gering nur der Ehre, daß Sie mein niedriges Haus betreten haben, und nun wollen Sie gar – – –«
»Still!« unterbrach ihn der Blaurote. »Sie sind ein braver Mann, welchem wir gerne helfen. Auch halten wir es für unsere Pflicht, ein Verbrechen zu verhüten, welches wir verhüten können.«
»So darf ich also wirklich auf Ihre Mithilfe rechnen?«
»Ganz bestimmt.«
»Wann werden Sie kommen?«
»Mit Beginn des Siüt, wenn es so dunkel geworden ist, daß man es nicht sehen kann, wenn wir über die Mauer steigen.«
»Bringen Sie auch die anderen hohen Herren mit?«
»Nein, je weniger Personen eingeweiht sind, desto besser ist es.«
»Aber wenn wir ihrer bedürfen? Wenn wir drei nicht allein fertig werden können? Ich darf von meinen Leuten keinen ins Vertrauen ziehen.«
An diesem Falle ist es mir nicht schwer, noch einen meiner Gefährten zu holen. Diese werden mich jetzt vermissen. Wir wollen gehen.«
»Ist der Tong-tschi daheim?«
»Nein, er ist ausgegangen, wird aber noch vor Abend wiederkommen, da dann die Thore der Straßen geschlossen werden.«
»Danach braucht er sich nicht zu richten. Er kann auch des Nachts gehen und kommen, wie und wenn es beliebt. Ihm werden alle Pei-lu geöffnet.«
Pei-lu heißen die triumphbogenartigen Bauwerke, welche die Straßen abschließen und zu diesem Zwecke mit Pforten versehen sind. Außer diesem Zwecke haben sie noch einen andern. Sie dienen nämlich als Denkmale der Verdienste derjenigen Personen, zu deren Andenken sie errichtet worden sind.
Wenn ein Beamter oder ein Bürger viel für das Land, die Provinz oder die Stadt gethan hat, so wird ihm ein solcher Peilu errichtet, welcher seinen Namen trägt und in weithin sichtbaren Zeichen eine Aufzählung der Tugenden des Betreffenden enthält.
Nicht nur Verstorbene erhalten solche Denkmäler, sondern es kommt auch vor, daß Lebenden welche gesetzt werden. Diese müssen dann die Kosten bezahlen, wodurch aber die Ehre, welche ihnen erwiesen wird, keinerlei Schmälerung erleidet.
Die beiden Deutschen verabschiedeten sich von dem Chinesen. Er begleitete sie unter unaufhörlichen Bücklingen bis vor seine Ladenthür und machte es ihnen da nochmals bemerklich, daß er ganz sicher auf ihre Hilfe rechne, ohne welche er auf keine Rettung rechnen könne.
Zu Hause angekommen, begaben sie sich nach Methusalems Zimmer.
»Sollen die anderen wirklich nichts davon erfahren?« fragte Gottfried.
»Nein, jetzt noch nicht.«
»Aber ihre Hilfe würde uns unter Umständen dienlich sein.«
»Unter Umständen, ja. Aber wir wollen lieber warten, bis diese Umstände eintreten.«
»Wollen wir nicht wenigstens unsern Richard mitnehmen?«
»Auch ihn nicht. Zu ihm habe ich noch eher Vertrauen als zu den andern. Er ist über seine Jahre hinaus vorsichtig und bedächtig. Das haben wir auf der Dschunke erfahren, wo wir ohne sein schnelles, besonnenes und tapferes Handeln ermordet worden wären. Aber er ist mir von seiner Mutter anvertraut worden; er ist halb noch Knabe, und ich bin verantwortlich für alles, was mit ihm geschieht. Ich mag ihn nicht unnötigerweise an einer Gefahr teilnehmen lassen.«
»Halten Sie die Sache für gefährlich?«
»Nein, aber unter Umständen kann sie es doch werden. Gehe jetzt und suche die anderen auf. Sie werden nach mir fragen. Dann sage ihnen, daß ich ungestört sein wolle, weil ich die Absicht habe, meine Notizen einzuschreiben. Später kommst du zurück. In einer Viertelstunde wird es dunkel.«
Der Gottfried ging. Bald nachher kam ein Diener, um die von der Decke herabhängende Laterne anzuzünden und sich zu erkundigen, ob der »ganz Vornehme und sehr Alte« irgend einen Befehl auszusprechen habe.
»Nein, ich danke!« antwortete der Student. »Aber sage mir, ob es erlaubt ist, in den Garten zu gehen?«
»Des Morgens nicht, weil zu dieser Zeit die ›Blume des Hauses‹ draußen lustwandelt.«
»Aber jetzt?«
»Ja. Wünscht mein Gebieter hinauszugehen?«
»In kurzer Zeit. Ich bin ein Yuet-tse und wünsche, ungestört nachdenken zu können.«
»Ich werde den Schöpfer des Gedichtes bis an die Pforte führen und dort auf seine Rückkehr warten. Vielleicht hat er mir während seines Spazierganges einen Befehl zu erteilen.«
»Nein, denn mein eigener Diener wird mich begleiten und dir meinen Wunsch mitteilen, wenn ich einen solchen haben sollte. Ich wünsche, ganz ungestört zu sein.«
Der Mann verbeugte sich und ging. Kurze Zeit später kam Gottfried zurück.
»Wo befinden sich die anderen?« fragte Methusalem.
»In Turnersticks Zimmer, wo sie Thee trinken, Pfeife rauchen und Domino spielen. Habe nicht jewußt, daß diese Chinesigen auch dat Domino kennen.«
»Sie spielen es sogar sehr gern, doch sind die Steine und Ziffern anders arrangiert als bei uns. Horch!«
Von der Straße her ertönte der Schall der Gongs, welche von den Wächtern geschlagen wurden, und dazwischen hörte man den Ruf: »Siüt-schi, siüt-schi!« Es war nach abendländischer Rechnung abends sieben Uhr, nach chinesischer aber begann die elfte Stunde.
»Jetzt wird es Zeit,« sagte Degenfeld. »Hast du dein Messer?«
»Ja. Wer soll meuchlings erstochen werden?«
»Niemand, doch ist es möglich, daß wir es brauchen. Auch die Revolver habe ich bei mir.«
»Bin ebenso damit versehen. Fühle mir überhaupt als Raubritter, der im Begriffe steht, mit verhängten Zügeln zum Burgthore hinauszusprengen. Bin wirklich neubegierig, wie dat Abenteuer enden wird.«
»Hoffentlich gut. Komm!«
Draußen stand ihrer wartend der Diener. Er führte sie bis an die Gartenpforte und zog sich dann zurück. Es war schnell dunkel geworden. Man hätte einen Menschen auf acht Schritte nicht zu sehen vermocht, und binnen zehn Minuten mußte es noch dunkler werden.
»Jetzt wird der Jott jestohlen,« flüsterte Gottfried.
,»Ja, jetzt ist die Zeit. Hoffentlich gelingt der Diebstahl.«
»Schöner Wunsch!«
»Aber gerechtfertigt. Wenn der Raub nicht gelingt, sind wir morgen wieder gezwungen, herauszuschleichen, was aber schwieriger sein dürfte, da dann der Tong-tschi gewiß daheim sein wird. Komm zur Mauer!«
Sie huschten geräuschlos nach derselben hin und blieben zunächst lauschend stehen. Es war jenseits kein Geräusch zu hören.
»Jetzt hinüber, aber ja ganz leise!« raunte Degenfeld dem Wichsier zu.
Sie schwangen sich hinauf und ließen sich drüben langsam wieder hinab. Kaum hatten ihre Füße den Boden berührt, so tauchte eine dunkle Gestalt neben ihnen auf.
»Hu-tsin?« fragte der Student flüsternd.
»Ich bin der ganz Armselige!« antwortete der Gefragte ebenso leise.
»Wie lange sind Sie hier?«
»Seit kurzem erst.«
»Sind Sie einmal rundum gegangen?«
»Nein. Ich dachte, Wing-kan könne drüben hinter der Mauer stehen und lauschen. Er darf doch nicht wissen, daß ich da bin.«
»Recht so! Und die Werkzeuge?«
»Liegen hier neben mir. Was thun wir jetzt, hoher Gebieter?«
»Ihr beide steckt euch hinter diese Taxushecke. Es ist möglich, daß Wing-kan herüberkommt und sich überzeugt, daß niemand hier im Garten ist. Er wird das sogar sehr wahrscheinlich thun. Ich will einmal rekognoszieren und kehre bald zurück.«
Er zog seine Stiefel aus und schlich sich fort. Schritt für Schritt gehend, suchte er die Finsternis mit den Augen zu durchdringen. Zwei Seiten des Gartens schritt er ab, ohne etwas Auffälliges zu bemerken. Die dritte Seite bildete die Mauer, welche den Garten des einen Juweliers von demjenigen des andern trennte. Indem er da langsam vorwärts ging, stieß sein Fuß, glücklicherweise nur daran streichend, an etwas Hartes, was da am Boden lag. Er bückte sich nieder, um den Gegenstand zu befühlen. Es waren eine Hacke, ein Spaten und eine Schaufel, die da auf- und nebeneinander lagen.
Diese Werkzeuge waren jedenfalls von Wing-kan herübergeschafft worden; es war gar nicht anders möglich. Vielleicht war er noch in der Nähe.
Degenfeld duckte sich nieder und lauschte. Er strengte seine Augen möglichst an, konnte aber weder etwas hören noch etwas sehen.
Er bewegte sich, zur Erde niedergebückt, noch einige Schritte weiter, und da sah er eine Gestalt an einem Baume lehnen, kaum vier Schritte von sich entfernt. Hätte er nicht diese gebückte Haltung eingenommen gehabt, so wäre er von dem Manne unbedingt bemerkt worden.
Schnell bog er zur Seite und setzte sich da hinter einen Buchsbaumrand nieder, um zu erwarten, was da kommen werde. Die Hauptsache war jetzt, daß Gottfried und Hu-tsin an ihrem Platze blieben und ja nicht auf den Gedanken kamen, ihr Versteck zu verlassen.
Glücklicherweise dauerte es nicht lange, so hörte man von draußen Schritte. Es kamen mehrere Männer, schnell laufend. Sie hielten jenseits der Mauer an. Man hörte an ihrem lauten Atem, daß sie ihre Lungen sehr angestrengt hatten.
Die dunkle Gestalt verließ den Baum und huschte nach der Außenmauer hin. Degenfeld folgte, aber selbstverständlich mit größter Vorsicht, um ja kein Geräusch zu verursachen.
»Scht!« ertönte es von draußen.
»Scht!« antwortete es von innen, »Ist der hohe Herr da?«
»Ja. Hast du ihn?«
»Sogar zwei!«
»Zwei? Einer war genug.«
»Es ging so leicht; da nahmen wir gleich zwei.«
»Die beiden Götter waren nicht zu schwer?«
»Nein. Sie sind von Holz.«
»Aus welchem Tempel?«
»Aus dem Pek-thian-tschu-fan, welches nicht so entfernt ist und auch weniger gut bewacht wird.«
»So ist's gelungen, ohne bemerkt zu werden?«
»Ja, aber beim nächsten Umgang, wenn der Hai-schi geschlagen wird, muß man es unbedingt sehen. Bis dahin muß hier alles beendet sein.«
»Wie bringen wir die Götter herein?«
»Wir heben sie hinauf, und Sie nehmen sie drüben hinab.«
»Gut, dann schnell.«
Der Methusalem hörte die Fragen und Antworten genau. Zwei große Gegenstände wurden von draußen her über die Mauer gehoben. Der Juwelier hob sie, halb und halb ließ er sie herabfallen. Dann gebot er:
»Nun kommt selbst herein!«
»Noch nicht. Wir müssen vorher die Sänfte zur Seite tragen, daß sie nicht gesehen wird, falls jemand noch so spät vorüberkommen sollte.«
Man hörte ihre Schritte. Bald kehrten sie zurück und kamen über die Mauer gesprungen. Es waren zwei Personen.
»Ist hier alles in Ordnung?« fragte der eine.
»Ja.«
»Niemand im Garten?«
»Nein.«
»Wollen wir uns nicht vorher genau überzeugen?«
»Das habe ich bereits gethan. Ich bin zweimal um den ganzen Garten gegangen.«
»So können wir beginnen. Aber wo?«
»Nicht weit von hier. Die Werkzeuge liegen dort. Ich habe heut am Tage über die Mauer geschaut und mir die Stelle ausgewählt, wo die Erde am lockersten ist. Kommt, und bringt die Götter!«
Er ging voran, und die beiden Männer folgten ihm mit den Figuren, welche vielleicht zwei Ellen hoch und also doch ziemlich schwer waren. Dort, wo die Werkzeuge lagen, hielten sie an.
»Hier graben wir,« sagte der Juwelier. »Aber ja leise, damit man nichts hören kann. Eine Hacke ist da; aber der Spaten macht viel weniger Geräusch.«
Die drei Bösewichter begannen zu arbeiten, und zwar sehr hastig, was Wing-kan zu der Bemerkung veranlaßte:
»Ihr macht zu schnell. Das hört man ja dort im Hause!«
»Nein,« lautete die Antwort. »Wir müssen uns sehr beeilen, sonst werden die Thore verschlossen. Dann sind wir gefangen.«
Sie gaben sich alle Mühe, bald fertig zu werden. Es galt übrigens auch gar nicht, die Arbeit sehr sorgfältig zu verrichten. Sie wußten ja, daß die Figuren hier vergraben wurden, um bald gefunden zu werden.
Es war noch keine halbe Stunde vergangen, so hatten sie ihre Arbeit gethan.
»So!« sagte Wing-kan. »Das ist geschehen. Das war die Hauptsache. Das übrige kommt von selbst.«
»Wie will mein Gebieter es nun anfangen?« fragte der eine der Männer, jedenfalls derjenige, mit dem der Juwelier hinter der Gartenmauer des portugiesischen Gasthauses gesprochen hatte.
»Ich warte, bis der Raub ausgerufen wird.«
»Das wird sehr bald geschehen.«
.»Dann laufe ich zum Mandarin.«
»Zu welchem?«
»Zu Tong-tschi hier nebenan.«
»Der ist aber doch nicht ein Mandarin des Gerichts!«
»Nein, aber doch ein Mandarin. Die Gasse ist verschlossen, und ein Sing-kurm wohnt nicht hier. Also muß ich zu ihm. Ich sage ihm, ich höre, daß zwei Götter gestohlen seien. Ich glaube, daß mein Nachbar Hu-tsin der Räuber ist.«
»Der Mandarin wird fragen, woher meinem vornehmen Alten dieser Verdacht komme.«
»Ich habe noch im Garten gelustwandelt und da gesehen, daß der Nachbar zwei Figuren vergraben hat.«
»So ist's recht! Das wird helfen! Nun sind wir fertig. Also unser Geld bekommen wir erst morgen?«
»Nein, schon jetzt. Es ist besser, ich zahle gleich. Dann brauche ich morgen nicht nach Scha-mien zu gehen. Ich habe euch die Beutel schon bereit gelegt, hier neben der Mauer. Da sind sie. In jedem tausend Li.«
»Ist's richtig gezählt?«
»Ganz richtig.«
»Ich hoffe es. Am letztenmal hatte mein Herr sich um volle fünfzig Li verzählt.«
»Ich verzähle mich nie. Du hast schlecht nachgezählt.«
»Will der sehr alte Beschützer nicht lieber warten, bis wir nachgezählt haben?«
»Wo wollt ihr denn zählen?«
»Hier.«
»Im Dunkeln?«
»Ja. Wir brauchen nichts zu sehen. Wir greifen das Geld.«
»So zählt, wenn ihr Lust habt. Ich aber kann unmöglich warten. Ich werde meinen andern Nachbar besuchen gehen, um einstweilen diesem zu erzählen, was ich hier gesehen habe. Wenn dann der Raub ausgerufen wird und wir hören, daß zwei Götter fehlen, so wird er mich auffordern, Anzeige zu machen. Er wird dann wie ein Zeuge für mich gelten. Die Werkzeuge hier werde ich sofort verschließen.«
Er warf Hacke, Schaufel und Spaten über die Mauer hinüber und stieg dann nach. Man hörte seine Schritte verklingen und dann einen Riegel knirschen.
Die beiden Spitzbuben standen still da und horchten, bis nichts mehr von ihm zu hören war. Dann sagte der eine:
»Er hat uns wieder betrogen!«
»Ja, ich glaube nicht, daß jeder Beutel tausend Li enthält. Aber es ist dennoch viel Geld. Jetzt müssen wir uns beeilen. Komm!«
Sie wollten fort; sie mußten hart an Degenfeld vorüber. Diesem kam der Gedanke, sie festzuhalten. Ob ihm das gelingen werde? Pah! Er war ein starker Mann, und der Schreck that gewiß auch das seinige. Er ließ sie an sich vorbei, schnellte dann empor – ein schneller Schritt hinter ihnen her, ein Doppelgriff – er hatte sie beide bei den Hälsen und krallte seine Finger mit aller Gewalt um dieselben.
Ein unterdrückter Schrei, ein vergebliches Sträuben und Zappeln – sie brachen zusammen. Er hielt sie dennoch fest und preßte sie auf das kräftigste nieder. Keiner gab nun einen Laut von sich. Sie machten noch einige krampfhafte Bewegungen, dann lagen sie mit ausgestreckten Gliedern still unter seinen Fäusten.
Jetzt ließ er los, um zu sehen, ob sie aufspringen würden. Sie thaten es nicht, denn sie waren entweder bewußtlos oder stellten sich so. Er zog sein Messer und schnitt ihnen Streifen von den schon an und für sich nicht reichlichen Gewändern. Dann band er sie Rücken an Rücken aneinander, so daß sie sich nicht befreien konnten, und rollte sie eine Strecke weit zur Seite.
Nun kehrte er zu den beiden, welche auf ihn warteten, zurück. Sie hatten das Übersteigen und auch das Hacken und Schaufeln gehört und waren um ihn besorgt gewesen. Er erzählte ihnen, was er ganz allein fertig gebracht hatte. Hu-tsin eilte sogleich ins Haus, um feste Stricke zu holen, mit denen die Kerls fester und sicherer gebunden werden sollten. Dann suchten sie den Ort auf, an welchem die Figuren vergraben lagen.
Degenfeld ging mit den Stricken allein zu den Gefangenen. Sie durften gar nicht wissen, was mit ihnen vorging und wie viele Personen sie gegen sich hatten. Er verband ihnen nun auch die Augen. Dann wurden sie emporgehoben und über die Mauer in Wing-kans Garten geworfen.
Diesseits dieser Mauer begann nun das Ausgraben. Als man damit fertig war, wurde das Loch wieder zugemacht. Dann stieg Degenfeld hinüber und erhielt das Handwerkszeug und die Götter zugelangt; nachher folgten die beiden anderen ihm nach.
Nun war da drüben eine Viertelstunde lang ein leises, kaum vernehmbares Geräusch zu hören, dann ein mehrmaliges kräftiges Klopfen, wie wenn Pfähle in die Erde geschlagen würden. Hierauf kamen die drei wieder über die Mauer zurück.
»So, das ist herrlich gelungen,« sagte der Methusalem. »Nun mag dieser Wing-kan Anzeige machen. Er fällt in seine eigene Grube.«
»In welcher ich umkommen sollte,« ergänzte der Chinese. »Herr, Sie sind mein Retter. Wie soll ich Ihnen danken!«
»Dadurch, daß Sie sich ganz genau so benehmen, wie ich es Ihnen jetzt da drüben gesagt habe.«
»Wollen Sie nicht mit mir hereinkommen in das Haus? Nun die Gefahr vorüber und mir das Herz wieder leicht ist, möchte ich Sie bewirten.«
»Dazu haben wir keine Zeit. Wir müssen zurück. Der Mandarin darf ja nicht erfahren, daß wir hier gewesen sind.«
»So erweisen Sie Ihrem armseligsten Diener wenigstens die Gnade, daß er morgen Ihr Angesicht schauen kann!«
»Das können wir thun. Morgen werden wir kommen, um uns alles erzählen zu lassen. Jetzt aber möchten wir uns reinigen. Gibt es bei Ihnen einen Ort, wo das geschehen kann, ohne daß man uns sieht?«
»Ja, kommen Sie, kommen Sie!«
»Nehmen Sie die Werkzeuge mit; sie dürfen nicht im Garten bleiben.«
Er führte sie in einen Verschlag und holte Laterne und Bürste, wo sie den Schmutz entfernten, welcher leicht zum Verräter werden konnte. Dann verabschiedeten sie sich von ihm und stiegen in den Garten des Mandarinen zurück.
Dort stellte sich Gottfried wie ein Diener an die Pforte, und Degenfeld spazierte auf und ab. Aber das brauchte er nicht allzulange zu thun, denn er wurde bald geholt und zwar von dem Tong-tschi selbst, welcher nach Hause gekommen war und, als er erfahren hatte, daß die erwarteten Gäste angekommen seien, nun in den Garten geeilt kam, um Degenfeld zu begrüßen.
»Und nun,« sagte er, als die ersten Komplimente gewechselt waren, »muß ich Sie bitten, mir einen Wunsch zu erfüllen.«
»Welchen?«
»Niemand darf wissen, in welcher Lage ich mich befunden habe, und daß Sie meine Retter gewesen sind. Meinem Weibe allein habe ich es erzählt. Sie wünscht, Sie zu sehen, um Ihnen danken zu können. Darf ich Sie zu ihr führen?«
Degenfeld wußte, was das für eine Auszeichnung für ihn war. Darum antwortete er in höflichstem Tone:
»Ich betrachte diesen Wunsch als einen Befehl der Herrin und werde demselben Gehorsam leisten.«
»So kommen Sie! Sie wartet schon längst auf Sie.«
Er führte die beiden in das Haus zurück und in eine Art Vorzimmer, in welchem der Mijnheer, Turnerstick, Richard und Liang-ssi schon harrten, und verschwand in der nächsten Thür.
Nach einigen Minuten holte er sie ab, um sie eintreten zu lassen. Sie kamen in einen wirklich glänzend ausgestatteten Salon, der nicht groß war. Hier empfing die Frau des Mandarinen wohl ihre Freundinnen, da alles darauf hindeutete, daß Damen hier oft verkehrten. Stickereien und andere weibliche Luxusarbeiten lagen auf den Tischen; kostbares Porzellan blickte von den künstlichen Simsen, und musikalische Instrumente hingen an den Wänden.
Die Gäste hatten sich kaum gesetzt, so erschien die Dame am Arme einer Dienerin. Sie bedurfte einer solchen Stütze, da sie allein nur schwer zu gehen vermochte, eine Folge der größten chinesischen Schönheit, welche sie besaß, nämlich ihrer Klumpfüßchen.
Den Töchtern vornehmer Eltern werden gleich nach der Geburt die acht kleinen Zehen der Füße nach der Sohle zu umgebogen und mittels Bandagen da festgebunden. Nur die große Zehe darf ihre Lage behalten, entwickelt sich aber auch nicht naturgemäß, da der ganze Fuß und also auch sie unter der grausamen Behandlung sehr zu leiden hat. Die Zehen, und vor allen Dingen die Nägel derselben, wachsen in das Fleisch der Sohle hinein, was langwierige Schwärungen und natürlich große Schmerzen bereitet.
So ein armes Kind lernt niemals gehen, sondern nur humpeln, nimmt aber das alles gern in den Kauf, um so glücklich sein zu können, einen – schönen Fuß zu haben. Dieser Fuß besteht nur aus der unter den Mittelfuß gewaltsam vorgedrückten Ferse und der großen Zehe. Das Pantöffelchen, mit welchem diese letztere bekleidet ist, hat allerdings die Kleinheit eines Puppenpantoffels; desto unförmlicher aber ist der Teil des Fußes, den man nicht zu sehen bekommt, da das lange Gewand ihn bedeckt.
Das beschwerliche, schmerzhafte Gehen ist nicht ohne Einfluß auf Körper und Geist. Es hängt beiden etwas Krüppelhaftes an. Ein Mensch, der nicht gehen, der sich nicht anmutig, frisch, gewandt und kräftig bewegen kann, wird gewiß gedrückten Gemütes oder Geistes sein.
Als eine weitere große Schönheit gilt bei den Chinesen die Wohlbeleibtheit. Wer nicht fett ist, kann ganz unmöglich schön sein. Eine hagere Person ist stets häßlich.
Auch in dieser Beziehung war diese Dame sehr schön. Sie war von kleiner Gestalt, hatte aber eine so immense Taille, daß es dem Mijnheer, als sie eintrat, unbewacht entfuhr:
»Rechtvaardige hemel, is deze vrouw dick, zeer onfeilbaar dick – gerechter Himmel, ist diese Frau dick, ganz unfehlbar dick!«
Wenn Mijnheer van Aardappelenbosch so in Ekstase geriet, so kann man sich wohl denken, daß der Durchmesser dieser Dame so ziemlich gleich ihrer Höhe war. Sie näherte sich mit großem Erfolge der Kugelform.
Ihr Haar war mit Hilfe vieler Nadeln, in denen Diamanten glänzten, in eine schmetterlingsähnliche Form gesteckt. Ihr Körper wurde bis zum Boden herab von kostbarer Seide umwallt. Ihre Hände waren tief in den weiten, bis über die Kniee reichenden Ärmeln verborgen, und um ihren Hals hing eine schwere, goldene Kette, an welcher mehrere Amulette befestigt waren.
Das kleine Gesichtchen war nach der Sitte vornehmer Chinesinnen dick mit Bleiweiß und Zinnober bestrichen, was den Zügen eine maskenartige Unbeweglichkeit und Starrheit erteilte, von welcher die kleinen, schief geschlitzten Äuglein eine sehr bewegliche Ausnahme machten.
»Tsching, tsching, tsching, tsching, kia tschu!« grüßte sie mit ihrem dünnen, durchdringenden aber sehr freundlich klingenden Kinderstimmchen.
Kia tschu heißt »meine Herren«.
Den Kapitän überkam eine außerordentlich galante Regung. Er als derjenige, welcher von allen das feinste Chinesisch sprach, mußte auf jeden Fall jetzt das Wort ergreifen und dem heben Wesen etwas Zartes sagen. Darum trat er zwei Schritte vor, verbeugte sich außerordentlich tief, hustete einmal, zweimal und begann:
»Gnädige Frau Chinesing! Mein Herz ist wonnangvoll berührt von Ihrer holdong Liebangswürdigkeit. Zwar bing ich unverheiratingt, aber ich weiß das Glück zu schätzung, eine Gatting dieses Mandarengs so liebreich vor Augang zu habung. Ich muß Ihneng mein Komplimangt machong und empfehle uns alle Ihreng Wohlwollung! Tsching, tsching und abermals tsching!«
Sie hatte kein Wort außer dem letzten dreimaligen Tsching verstanden. Sie erriet, daß er sie begrüßte und ihr irgend etwas Angenehmes gesagt hatte. Darum lächelte sie ihn dankbar an und gab ihm durch ein freundliches Nicken zu erkennen, daß sie mit seiner Aufführung nicht unzufrieden sei. Er trat wieder zurück und flüsterte dem Dicken zu:
»Eine feine Frau, bei meiner Seele! Spricht ein außerordentlich regelrechtes Chinesisch! Hat jedes Wort verstanden! Allen Respekt!«
Jetzt wendete sie sich an den Methusalem.
»Sie sind der Retter meines Herrn,« sagte sie zu ihm. »Ohne Sie lebte er nicht mehr und ich würde dann vor Leid gestorben sein. Ich danke Ihnen.«
Sie schob aus dem Ärmel ein kleines, bleiches Kinderhändchen hervor, um es ihm zu geben. Degenfeld ergriff erst ihren seidenen Ärmel und mit demselben ihre Hand, damit dieselbe nicht direkt von der seinigen berührt werde, zog dann das mit der Seide bedeckte Händchen an seine Lippen und antwortete:
»Tsui-schin put tui!«
Diese vier Silben schließen alles ein, wodurch ein Chinese seine Demut auszudrücken vermag. Wörtlich lauten sie: »Ich Sünder darf nicht antworten.«
Daß er ihre Hand nicht berührte, war ein Beweis großer Hochachtung und Ehrerbietung, den sie dadurch belohnte, daß sie auch den andern das Händchen bot. Sie folgten dem Beispiele des Methusalem und bemühten sich, einen gleich eleganten Handkuß fertig zu bringen, was dem Mijnheer nicht allzu gut gelang, da beide so dick waren, daß sie sich nur gerade so mit den Händen erreichen konnten.
Während der Mandarin seine Gemahlin dann höflich nach ihrem Zimmer begleitete, rief der Dicke:
»Goede god, was dat eene vrouw! Moet die ontzettend veel gegeten hebben – guter Gott, war das eine Frau! Muß die entsetzlich viel gegessen haben!«
Damit hatte er sein scharfsinnigstes Urteil abgegeben. Der Gottfried wollte eine verbessernde Bemerkung machen, wurde aber unterbrochen. Es ließ sich draußen ein ganz eigenartiger, sich nähernder Lärm vernehmen. Man hörte die schmetternden und doch dumpfen Töne mehrerer Gongs, welche entsetzlich disharmonierten, und dazwischen rufende oder schreiende Männerstimmen.
Der Mandarin kam zurück und sagte:
»Hören Sie es? Es muß ein großes Unglück oder ein großes Verbrechen geschehen sein. Die Wächter verkünden es. Lassen Sie hören!«
Er öffnete ein Fenster. Der Lärm war jetzt vor dem Hause. Die Gongs schrillten in die Ohren, und eine heisere Stimme machte etwas, was selbst der Methusalem nicht verstand, in halb singendem und halb heulendem Tone bekannt.
»Welch ein Verbrechen!« rief der Mandarin, welcher diese Art des Ausschreiens gewohnt war und die Worte also verstanden hatte. »So etwas ist in Kuang-tschéu-fu noch nie geschehen!«
»Was ist's?« fragte Degenfeld, welcher aber wohl wußte, um was es sich handelte.
»Aus dem Pek-thian-tschu-fan sind zwei Götter geraubt worden.«
»Heute?«
»Vor kurzer Zeit. Beim Beginne des Siüt-schi sind sie noch da gewesen. Jetzt aber vermißt man sie. Zwei Menschen, welche eine Sänfte draußen stehen hatten, sind als Thäter verdächtig. Der Ausrufer beschreibt sie.«
Die Gefährten warfen ihre forschenden Blicke schnell auf den Methusalem. Sie ahnten, daß es sich um die beiden Männer handle, welche er belauscht hatte. Er that, als ob er ihre Blicke nicht bemerke, und sagte:
»Götter rauben! Das sollte man nicht für möglich halten! Kann so etwas denn wirklich geschehen?«
»Es ist geschehen, folglich kann es geschehen,« antwortete der Tong-tschi. »Hoffentlich entdeckt man die Tempelschänder, und dann wehe ihnen! Man wird alle Gassen, Straßen und Plätze mit Polizei und Militär besetzen, so daß keine Ratte hindurch kann. Wenn die Thäter sich nicht bereits aus der Stadt geflüchtet haben, so sind sie verloren.«
»Aber zu welchem Zwecke könnten Menschen sich an Göttern vergreifen?«
»Das wissen Sie nicht? Das ahnen Sie auch nicht?«
»Nein.«
»Um Glück zu haben, um reich zu werden. Wer so einen Gott ins Haus zu bringen vermag, dem muß derselbe natürlich dienen. Aber sie sind nicht für einen, sondern für alle da. Darum werden sie in den Tempeln aufgestellt, damit ein jeder zu ihnen kann, um ihnen seine Bitten vorzutragen. Wer aber –- was gibt es?«
Diese letztere barsche Frage galt einem Diener, welcher eingetreten war.
»Hohe Exzellenz,« antwortete dieser, »der ganz unwürdige Juwelier Wing-kan bittet in tiefster Demut eine Meldung machen zu dürfen.«
»Der? Er mag heimgehen; ich habe nichts mit ihm zu schaffen.«
»Er sagte, daß es sehr notwendig sei, daß es unserer Exzellenz den größten Nutzen bringen werde.«
Man verspreche einem Chinesen einen Vorteil, so wird er sofort bereit sein, die Hand nach demselben auszustrecken! Der Tong-tschi machte keine Ausnahme.
»Laß ihn herein!« befahl er. »Aber sage ihm vorher, daß ich ihm die Finger und Zehen zusammenpressen lasse, wenn er mich ohne Grund belästigt hat!«
Der Genannte trat ein, senkte den Kopf fast bis zum Boden herab und blieb in dieser Stellung an der Thüre stehen.
»Was willst du so spät?« fuhr der Beamte ihn an.
»Allmächtiger Kuan-fu,« antwortete der Gefragte im Tone knechtischer Furchtsamkeit, »ich muß in die Strahlen Ihrer Sonne eilen, weil kein Sing-kuan in unserer Gasse residiert.«
»Sing-kuan? So ist es eine Kriminalangelegenheit?«
»Ja.«
»Was habe denn ich mit solchen Sachen zu thun! Ich sehe, daß ich dich einsperren lassen muß.«
»Ihre leuchtende Gnade wird mir die Freiheit lassen, wenn sie erfährt, daß es sich um die gestohlenen Götter handelt.«
Der Mandarin hatte sich auf einen Stuhl gesetzt, da es mit seiner Würde nicht zu vereinigen gewesen wäre, wenn er stehend mit diesem Manne gesprochen hätte. Jetzt aber sprang er auf und rief:
»Um diese Götter? Richte dich empor, und sprich frei und schnell zu mir. Was weißt du über diese hochwichtige Angelegenheit?«
»Ich glaube den Mann zu kennen, bei dem die Geraubten sich befinden.«
»Du? Wer ist es?«
»Hu-tsin, mein Nachbar.«
Die Brauen des Tong-tschi zogen sich finster und drohend zusammen.
»Der? Dein Feind?« fragte er. »Dieser Mann ist ehrlich und kein Dieb. Von ihm könntest du lernen, zu sein, wie man sein muß. Er stiehlt nicht; am allerwenigsten aber raubt er Götter! Weißt du, was du thust, wenn du ihn einer solchen That beschuldigst?«
»Ich weiß es; aber ich habe ihn noch nicht beschuldigt, sondern nur eine Vermutung ausgesprochen.«
»Nun, warum vermutest du, daß er der Thäter ist? Aber hüte dich, ein Wort mehr zu sagen, als du verantworten kannst! Du bist nicht der Mann, mit dem ich Nachsicht haben würde!«
Der Juwelier nahm diese harten Worte demütig hin und sagte:
»Ich will niemand anklagen und niemand beschuldigen; aber ich halte es für meine Pflicht, Ihrer Erleuchtung zu sagen, was ich gesehen habe.«
»Nun, was?«
»Ich hatte heut am Tage viel gearbeitet, darum ging ich, als der Abend anbrach, in den Garten, um mich zu erholen und frische Luft zu atmen. Ich stand an der Mauer. Es war schon dunkel; dennoch sah ich zwei Männer kommen, welche einen Palankin trugen und an dem Garten meines Nachbars hielten. Sie gaben ein Zeichen, und er antwortete ihnen, denn er hatte auf sie gewartet. Ich sah, daß sie zwei schwere Gegenstände aus der Sänfte nahmen und über die Mauer hoben. Dann stiegen sie nach und gruben mit ihm ein Loch, in welches sie die Gegenstände vergruben. Ich schlich mich hin, denn das Treiben dieser Leute kam mir verdächtig vor. Als ich über die Mauer blickte, erkannte ich, daß es Figuren seien. Sie legten dieselben in das Loch und machten es wieder zu. Die beiden Männer sprangen über den Zaun; Hu-tsin aber blieb noch in seinem Garten. Das ist's, was ich gesehen habe.«
»Himmel! Ist es möglich!« rief der Mandarin. »Eine Sänfte mit zwei Männern, zwei Figuren, gerade um diese Zeit! Das stimmt ja alles sehr genau! Sollte Hu-tsin doch ein Verbrecher sein?«
»Ich kann das nicht beantworten. Ich habe nur erzählt, was ich gesehen habe.«
»Was thatest du dann?«
»Ich überlegte. Hu-tsin mußte etwas Verbotenes vorhaben, weil alles so heimlich geschah. Sollte ich ihn anzeigen, den ehrlichen Hu-tsin, und mich in Gefahr bringen? Ich wußte keinen Rat und begab mich darum zu dem anderen Nachbar, dem ich alles erzählte. Da hörten wir ausrufen, daß zwei Götter gestohlen worden seien, und nun wußte ich auf einmal, wer die beiden Figuren gewesen waren. Ich sah ein, daß ich reden müsse. Auch der Nachbar trieb mich zu Ihrer Mächtigkeit zu eilen, um derselben diese Mitteilung zu machen.«
Der Mandarin schritt erregt auf und ab und rief dabei:
»Hu-tsin, Hu-tsin! Hätte ich mich in ihm so sehr geirrt! Mensch, du hast mir doch die Wahrheit gesagt?«
»Ihre Herrlichkeit mag mich zu Tode prügeln lassen, wenn ein einziges Wort erfunden ist.«
»Das würde ich auch thun; darauf kannst du dich verlassen! Hast du dir die Stelle gemerkt, an welcher das Loch gegraben worden ist?«
»Ganz genau.«
»Und kannst du es mir zeigen?«
»Ja.«
»Du wirst mich augenblicklich zu Hu-tsin begleiten. Aber wehe dir, wenn ich dich bei einer Lüge ertappe! Wehe dir, wenn du dir diese Geschichte nur ausgesonnen hast, um deinem Nachbar Schaden zu bereiten! Du hättest die Summe der Qualen von zehn Menschen, welche zu Tode gemartert werden, zu erleiden!«
Wing-kan verbeugte sich und antwortete im zuversichtlichsten Tone:
»Ich bin zu allem bereit. Mein Gewissen ist rein und mein Herz gerecht. Meine Seele sträubt sich dagegen, daß der Heuchler gerade durch mich entlarvt werden soll, aber ich folge dem Gebote der hohen Religion.«
»So warte hier; ich komme gleich zurück!«
Er wollte fort, kehrte aber unter der Thür wieder um, kam auf den Methusalem zu und fragte ihn:
»Sie sind ein großer Gelehrter Ihres Landes. Haben Sie auch die Gesetze der Gerechtigkeit studiert?«
»Ja.«
»So sollen Sie erfahren, wie man es bei uns versteht, den Verbrecher zu ergreifen und zu bestrafen. Wollen Sie mich jetzt begleiten?«
Nichts konnte dem Methusalem willkommener sein als diese Frage. Als er sie bejahend beantwortete, bestimmte der Tong-tschi:
»Gut, Sie gehen also mit, und Ihre Gefährten ebenso. Ich werde nach Polizisten oder Soldaten senden.«
Er ging hinaus.
Der Juwelier fand erst jetzt Zeit, den Anwesenden seine Aufmerksamkeit zu schenken. Er musterte sie mit frech neugierigen Blicken, rümpfte, wohl über ihre ungewöhnlichen Erscheinungen, die breite Stumpfnase und trat dann zu Turnerstick, um ihn zu fragen:
»Tsche-sié sing-song-tschin – diese Leute sind wohl Schauspieler?«
»Sing-song« heißt nämlich Theater, Schauspiel. Da die Schauspieler zur unehrbaren Klasse gehören, lag in dieser Frage eine Beleidigung. Er hatte den Kapitän gefragt, wohl weil er diesen infolge seiner Kleidung für den Vornehmsten hielt. Turnerstick verstand ihn nicht und antwortete:
»Willst du die Güte habeng, den Mund zu haltung, Spitzbubing! Wir habeng mit dir nichts zu schaffang.«
Der Juwelier verstand kein Wort, erkannte aber aus der abwehrenden Handbewegung des Kapitäns, daß dieser ihn abgewiesen habe und sagte in stolzem Tone:
»Tsen-kam ni yen, ni tuan-schan ye sing-song-tschin – wie dürfte ich mit dir reden, du bist sicherlich auch ein Schauspieler!«
»Wat hat er jesagt?« fragte Gottfried von Bouillon, dem der Ausdruck, in welchem diese Worte gesprochen worden waren, nicht gefallen hatte.
»Er hält uns für Schauspieler, welche hier dem Schinder gleich geachtet werden,« antwortete Methusalem.
»Potztausend! Hätte ich mein Fagott mit da, so wollte ich ihm eine Quadrille ins Jesicht blasen, die sich jewaschen haben sollte. Soll ich ihm eins auf die Hühneraugen widmen?«
»Nein. Laßt ihn! Er ist nicht wert, daß wir ihm überhaupt antworten.«
»Dat ist wahr, und es widerstrebt meinem Standesjefühl als Wichsier, mir mit ihm zu verunreinigen. Der Löwe darf sich nicht mit dem ljel abjeben. Lassen wir ihn also seitwärts liejen. Er wird ja sehr bald erfahren, wat wir von ihm denken.«
Der Tong-tschi trat wieder herein, und bald folgten ihm mehrere bewaffnete Polizisten mit kegelförmigen Mützen. Sie sind fast die einzigen, welche noch diese von der altchinesischen Tracht übrig gebliebene, von den Tataren verdrängte Kopfbedeckung tragen.
Nun wurde aufgebrochen. Unten stand ein Peloton Soldaten, mit Luntenflinten bewaffnet und auf der Brust und dem Rücken je einen schildförmigen Einsatz, auf welchem das Wort »Ping«, d. i. »Soldat«, zu lesen war.
Der Mandarin mußte auch diese wenigen Schritte der Würde seines Standes angemessen zurücklegen. Voran schritten vier Läufer. Dann kam er in seiner Staatssänfte, hinter ihm seine Gäste auch in Sänften, dann der Ankläger, von den Polizisten umgeben, und schließlich die Soldaten, bei denen aber von einem Gleichschritte keine Rede war. Sie hielten ihre Gewehre ganz wie es ihnen paßte und liefen dabei nach Belieben durcheinander. Vor dem Hause Hu-tsins wurde angehalten.
Die Herrschaften stiegen nicht eher aus den Sänften, als bis geöffnet worden war.
Die Straße war nicht erleuchtet, und doch war es ziemlich hell, denn es befanden sich viele Leute, welche Laternen trugen, auf derselben. Zwar dürfen nur Bevorzugte aus einer Gasse in die andere; aber die Bewohner aus einer und derselben Straße dürfen auch des Abends unter gewissen Umständen miteinander verkehren. Nur ist jeder einzelne angewiesen, eine Papier- oder sonstige Laterne bei sich zu tragen.
Überhaupt ist die Beaufsichtigung der Bevölkerung in China eine sehr weit durchgeführte. Es gibt Beamte, welche für eine gewisse Anzahl von Straßen und für alles, was in denselben passiert, verantwortlich sind. Unter ihnen stehen die »Straßenhäupter«, deren jeder eine einzelne Straße beaufsichtigt, welche wieder in verschiedenen Abteilungen von »Häuserhäuptern« bewacht wird. Unter diesem stehen dann die Familienväter, welche alles, was in ihrer Familie geschieht, zu verantworten haben.
Wird ein Verbrechen begangen, so wird die ganze Familie des Verbrechers, das betreffende »Häuserhaupt«, das »Straßenhaupt« und unter Umständen auch das Haupt des betreffenden Stadtteiles mit in Strafe gezogen.
Die Kunde, daß zwei Götter geraubt worden seien, hatte viele Leute auf die Straße gelockt, wo sie in stillen Gruppen beisammenstanden, um die entsetzliche Neuigkeit leise zu besprechen. Die Häuserhäupter standen dabei, um sorglich darüber zu wachen, daß ja weder Lärm noch Unordnung entstehe.
Hu-tsin hatte vom Methusalem genaue Anweisung erhalten, wie er sich verhalten solle. Er wußte, daß der Tong-tschi kommen werde, und hatte denselben hinter seiner verschlossenen Thür erwartet. Kaum war das Klopfen erschollen, so öffnete er dieselbe.
Er war so klug, sich zu stellen, als ob er in hohem Maße erstaunt über den Besuch des Mandarins sei, verbeugte sich bis zum Boden nieder und fragte im Tone tiefster Unterwürfigkeit nach der Veranlassung desselben.
»Du wirst es erfahren,« antwortete der Beamte. »Jetzt mach vor allen Dingen Platz und hole deine unwürdige, übel riechende Familie herbei!«
Zwei der Polizisten ergriffen den Juwelier beim Zopfe und zerrten ihn hinaus. Der Mandarin begab sich beim Scheine der mitgebrachten Papierlaternen nach dem Garten, wohin ihm die andern folgten.
Bald brachten die Polizisten den Mann wieder. Er hatte seine Frau, seine Kinder und Dienerschaft bei sich. Er selbst blieb in tief gebeugter Haltung stehen; seine Angehörigen warfen sich auf die Kniee nieder und blieben in dieser Stellung vor dem Beamten liegen. Dieser wandte sich im strengsten Tone an den Angeklagten:
»Weißt du, weshalb wir kommen?«
»Meine große Niedrigkeit ahnt nicht, aus welchem Grunde Ihr Glanz mein dunkles Haus erleuchtet,« antwortete der Gefragte.
»Das lügst du! Standest du nicht an deiner Thür, als wir kamen?«
»Ja.«
»Was hast du da zu stehen? Dein böses Gewissen hat dich hingetrieben.«
»Ich hörte, daß viele Leute auf der Gasse seien, und wollte nachsehen, was sie da treiben. Da aber kam Ihre hohe Gerechtigkeit, um bei mir abzusteigen.«
»Ja, meine hohe Gerechtigkeit! Das hast du ganz richtig gesagt. Dieser Gerechtigkeit wirst du verfallen. Weißt du denn, weshalb sich so viele Menschen auf der Straße befinden?«
»Ich vermute es.«
»Nun?«
»Wegen den beiden Göttern, welche geraubt worden sind.«
»Woher weißt du, daß diese That geschehen ist?«
»Wir hörten den Ausrufer, welcher es bekannt machte.«
»Nur daher weißt du es? Hast du es nicht schon vorher auf eine andere Weise erfahren?«
»Nein.«
»Das ist eine Lüge, für welche ich die dich treffende Strafe verschärfen werde. Du hast von dem Raube gewußt, noch bevor überhaupt ein anderer etwas davon erfuhr, denn du selbst bist der Räuber!«
Ein guter Inquirent hütet sich bekanntlich, dem Inquisiten das Verbrechen in dieser Weise auf den Kopf zu sagen. Er versucht vielmehr, denselben mit einem Netze von scheinbar unwesentlichen Fragen zu umgeben, aus welchem dann, wenn die letzte Masche zugezogen ist, der Angeschuldigte nicht zu entrinnen vermag. Eine solche ins Gesicht geschleuderte Behauptung aber kann die Überführung des Verbrechers leicht zur Unmöglichkeit machen. – Hu-tsin stellte sich erschreckt und antwortete:
»Was waren das für Worte! Was sagt Ihre Herrlichkeit! Ich soll es sein, welcher die Götter geraubt hat, ich, der ich der gläubigste und eifrigste Anhänger des großen und heiligen Unterrichtes bin? Welch eine Anschuldigung! Ich kann beweisen, daß ich von früh bis jetzt meinen Laden, meine Wohnung nicht verlassen habe!«
»Das kannst du beweisen, ja; aber du hast zwei Männer mit der That beauftragt, welche dir die geraubten Götter dann gebracht haben!«
»Ich? Ehrwürdigster Herr, ich weiß nichts davon!«
»Lüge nicht! Du hast die Götter in deinem Garten vergraben lassen!«
»Wer hat das gesagt? Wer will das behaupten?«
»Wing-kan, dein Nachbar, welcher alles gesehen hat und nun als Ankläger hier vor dir steht.«
»Dieser? Meine demütige Bewunderung Ihrer hohen Würde wagt es, Ihnen zu sagen, daß dieser Mann bekanntlich mein Feind ist. Er hat dieses Märchen erdacht, um mich in Schaden zu bringen.«
»Es ist kein Märchen, sondern die Wahrheit. Willst du leugnen, daß du nach Einbruch der Dunkelheit in deinem Garten gewesen bist?«
»Nein; das leugne ich nicht.«
»Siehst du, daß ich dich sofort überführen werde! Was hast du da vergraben?«
»Nichts, das ich wüßte, nichts!«
»Hast du nicht mit zwei Männern gesprochen, welche die beiden Götter in einer Sänfte gebracht haben?«
»Nein.«
»Das ist abermals Lüge, wie ich dir sogleich beweisen werde. Weißt du, mit welcher Strafe der Raub eines Gottes geahndet wird?«
»Ja, mit dem Tode.«
»Dieser Strafe bist du verfallen, und nicht du allein, sondern deine Familie mit dir. Auch die Häupter dieser Straße und deiner Abteilung derselben werden sich zu verantworten haben, weil ihre Wachsamkeit eine so unzureichende war, daß eine solche That hier geschehen konnte. Ich weiß genau, wo du die Götter versteckt hast, und werde jetzt nachgraben lassen.«
»Ihre Erhabenheit mag dies thun; ich will und kann es nicht verhindern. Meine Unschuld wird dann an den Tag kommen.«
Er sagte das im Tone der größten Überzeugung. Der Mandarin kannte ihn als einen ehrlichen Mann; er hatte nur schwer an seine Schuld glauben können. Er sah ihm forschend in das Gesicht und sagte dann:
»Dein Ruf ist bisher gut und unbefleckt gewesen; darum möchte ich deinen Versicherungen gern Glauben schenken. Doch wehe dir, wenn wir die Götter bei dir finden! Wing-kan hat alles gesehen. Er weiß, wo du die Heiligen vergraben hast, und wird uns jetzt die Stelle zeigen. Laß die zum Graben nötigen Werkzeuge herbeibringen!«
Sie wurden gebracht und untersucht. Hu-tsin war so vorsichtig gewesen, sie sorgfältig zu reinigen. Es, haftete ihnen keine Spur des Schmutzes an, den man an ihnen zu sehen erwartete. Sie waren im Gegenteile so blank und rein, daß der Mandarin kopfschüttelnd sagte:
»Die sind heut nicht im Gebrauch gewesen. Hast du noch andere?«
»Nein.«
»So haben wohl die Diebe ihre eigenen Werkzeuge mitgehabt. Vorwärts, Wing-kan, zeige uns den Ort!«
Der Genannte schritt eiligst voran. Er war vollständig überzeugt, daß sein Anschlag gelingen werde. Bei der betreffenden Stelle angekommen, blieb er stehen, nahm einem der Polizisten die Laterne aus der Hand, ließ das Licht derselben zur Erde fallen und sagte in triumphierendem Tone:
»Hier ist es! Ihre Erhabenheit wird bemerken, daß hier vor ganz kurzer Zeit gegraben worden ist. Man suche nach!«
»Ja, man suche nach!« befahl der Mandarin. »Jetzt wird es sich entscheiden, welchen von euch beiden ich bestrafen zu lassen habe, ihn als Götterdieb oder dich als Verleumder gegen ihn und Lügner gegen die Obrigkeit.«
Es wurde ein Halbkreis um die an der Mauer liegende Stelle gebildet, und zwei Polizisten griffen zu Spaten und Schaufel, um die Nachgrabung zu beginnen.
Wing-kan war seiner Sache ganz gewiß, wie man aus seiner zuversichtlichen Miene ersehen konnte; aber auch Hu-tsin zeigte keine Spur von Angst. Aber sehr bald war in dem Gesicht des ersteren eine Veränderung zu bemerken, welche immer größer wurde, je tiefer die Polizisten in die Erde kamen.
Die beiden Figuren waren nur oberflächlich eingescharrt worden. Jetzt besaß das Loch bereits eine Tiefe von zwei Ellen, und noch war nichts von ihnen zu sehen. Der Methusalem trat herzu, blickte hinab und sagte dann:
»Hier können die Götter nicht vergraben worden sein. An der Oberfläche war die Erde weich, wie bei jedem Beete; nun aber ist sie hart und fest, was nicht der Fall wäre, wenn man vor kurzem hier gegraben hätte.«
»Das ist richtig,« stimmte der Mandarin bei. »Weißt du ganz gewiß, daß diese Stelle es gewesen ist?«
Diese Frage war an Wing-kan gerichtet. Sein Gesicht hatte alle Farbe verloren, und er stierte mit dem Ausdrucke des Entsetzens in das leere Loch.
»Ja, es war hier,« stieß er hervor.
»Aber du siehst doch, daß die Götter nicht vorhanden sind.«
»So sind sie indessen entfernt worden!«
»Das wird dir niemand glauben. Wer einen Raub in die Erde versteckt, gräbt ihn nicht einige Minuten später schon wieder aus. Vielleicht hast du dich geirrt, und die Stelle ist anderswo.«
»Nein, sie ist hier; ich weiß es ganz gewiß!«
»Dann ist es erwiesen, daß du gelogen hast, um deinen ehrlichen Nachbar zu verderben!«
»Nein, nein! Ich habe die Wahrheit gesagt. Ich habe ganz genau gesehen, daß die Götter hier eingegraben wurden.«
»Lüge nicht! Ich kenne dich! Du bist ein Verleumder. Von Hu-tsin aber weiß jeder Mensch, daß er ein ehrlicher Mann ist!«
»Ja, der bin ich,« bemerkte der Genannte, indem er vortrat. »Ich habe bis jetzt geschwiegen, weil ich es nicht für möglich hielt, daß jemand gar so schlecht sein könne. Nun aber will ich sprechen. Ihre Gnade wird meine Worte anhören!«
»Sprich!« befahl der Mandarin. »Was hast du zu sagen?«
»Ich hatte heute viel gearbeitet und wollte mich, als ich den Laden schloß und es dunkel geworden war, im Garten erholen. Indem ich – – –«
»Du fängst ja ganz genau so an wie er,« unterbrach ihn der Mandarin. »Das sind fast dieselben Worte, welche ich von ihm hörte. Sprich weiter!«
»Indem ich still an meiner Mauer stand und die frische, reine Luft genoß, sah ich trotz der Dunkelheit zwei Männer kommen, welche eine Sänfte trugen.«
»Genau so wie er, ganz genau! Weiter!«
»Sie hielten an der Mauer seines Gartens an,« fuhr Hu-tsin fort, »nahmen zwei schwere Gegenstände aus der Sänfte und warfen dieselben zu ihm herein.«
»Das ist nicht wahr! Das ist Lüge!« rief Wing-kan aus. »Was er erzählt, das ist an seiner eigenen Mauer und in seinem eigenen Garten geschehen!«
»Schweig!« donnerte der Mandarin ihn an. »Ich habe deine Lügen gehört und will nun auch hören, was Hu-tsin zu sagen hat. Du antwortest nur, wenn ich frage! Wir haben hier nichts gefunden, also ist es erwiesen, daß du gelogen hast. Fahre fort, Hu-tsin!«
Der Genannte erzählte weiter:
»Die beiden Männer, deren Gesichter ich nicht erkennen konnte, schafften die Sänfte zur Seite, wo sie jetzt noch stehen wird. Dann kamen sie zurück und stiegen in den Garten des Nachbars, welcher sie wohl erwartet hatte, denn ich hörte seine Stimme; er sprach mit ihnen. Dann vernahm ich das Geräusch einer Hacke oder eines Spatens. Man machte ein Loch; man wollte also etwas vergraben. Ich lauschte lange Zeit, bis das Geräusch verschollen war. Dann hörte ich einen Riegel und eine Thür gehen; Wing-kan kehrte in sein Haus zurück. Ich war überzeugt, daß nun auch die zwei Männer sich entfernen würden. Ich hörte auch, daß sie zur Mauer kamen, um über dieselbe hinauszuspringen. Da aber geschah etwas, was ich noch nie gehört habe und was mich in größten Schreck versetzte.«
»Was?« fragte der Mandarin.
»Es ertönten zwei gewaltige Stimmen miteinander. Ich konnte nicht genau unterscheiden, ob sie aus der Luft oder aus der Erde kamen; aber ich hörte ganz deutlich die Worte: »Halt, zurück, ihr Buben! Ihr habt uns entweiht. Ihr hieltet uns für tote Wesen; wir aber besitzen Leben über Leben und halten euch fest, bis der Rächer kommt, um euch an der Stätte eurer That zu ergreifen!« Darauf hörte ich ein Geräusch, wie wenn jemand mit Gewalt fortgeschleppt und auf der Erde hingeschleift wird; ein kurzes, ängstliches Wimmern folgte, und dann war es still.«
»Zwei Stimmen?« fragte der Mandarin. »So waren also außer den beiden Sänftenmännern noch andere Leute da?«
»Leute? Menschen? O Herr, das waren keine menschlichen Stimmen! Das waren entweder über- oder unterirdische Worte. So können nur Geister oder Götter sprechen. Es war entsetzlich anzuhören!«
Der Mandarin sah nachdenklich zur Erde. Er war jedenfalls überzeugt, daß Götzenbilder nicht sprechen können, aber er durfte das nicht wissen lassen; er mußte sich den Anschein geben, als ob er an solche Wunder glaube. Höchst wahrscheinlich stieg in ihm ein Verdacht gegen Hu-tsin auf, doch sagte er in salbungsvollem Tone:
»Die Überirdischen sind voller Macht; was ist die Schwäche der Menschen gegen sie! Was hast du dann weiter noch gesehen oder gehört?«
»Im Garten des Nachbars keinen Laut mehr. Ich stand stumm und entsetzt. Ich wußte nicht, was ich denken sollte. Dann hörte ich den Schall des Gong auf der Gasse und die laute Stimme des Ausrufers. Ich konnte aber die Worte nicht verstehen. Darum kehrte ich in das Haus zurück, um die Meinen zu fragen, was verkündigt worden sei. Ich erfuhr, daß zwei Götter geraubt worden sind und wurde vom Entsetzen gepackt. Sollten es diese sein, welche man zu Wing-kan gebracht und deren Stimme ich gehört hatte? In diesem Falle war ich verpflichtet, schnell Anzeige zu erstatten.«
»Warum hast du das nicht sofort gethan?« fragte der Mandarin.
»Weil ich doch eigentlich nicht genau wußte, was im Garten des Nachbars geschehen war. Ich hatte nicht sehen können, welche Gegenstände über die Mauer geworfen worden waren. Ich konnte also nicht sagen, daß es die Götter gewesen seien. Jedermann weiß, daß Wing-kan mir feindlich gesinnt ist. Meine Anzeige konnte also leicht als Racheakt erscheinen. Ich beriet mich also mit meiner Familie und wollte dann auf die Gasse gehen, um Genaueres zu erfahren. Ich hatte die Absicht, nachzusehen, ob noch Menschen draußen seien. Eben wollte ich öffnen, so wurde geklopft, und als ich die Thür aufmachte, da trat Ihre Hoheit herein und beschuldigte mich, die Götter geraubt zu haben. Wing-kan hat mich dieser That verdächtigt, und nun erst ist es mir gewiß, daß die beiden Gegenstände, welche ihm in den Garten gebracht wurden, die gestohlenen Götter gewesen sind.«
Als er geendet hatte, trat eine kurze Pause ein, welche zuerst von Wing-kan unterbrochen wurde. Dieser rief, obgleich er von dem Mandarin zum Schweigen aufgefordert worden war, in zornigem Tone:
»Welch eine Niederträchtigkeit! Er will die Schuld seiner That auf mich wälzen! Wir alle haben gesehen, daß die Erde hier aufgelockert war, und daß man also vor kurzem hier gegraben hat!«
Dieses Argument war so richtig, daß der Mandarin es unterließ, ihm abermals das Wort zu verbieten.
»Er wird die Götter ausgegraben und an einem anderen Orte versteckt haben,« fuhr Wing-kan fort. »Ihre Hochwürdigkeit wird vielleicht den Befehl erteilen, sorgfältig nachzuforschen und dann bin ich überzeugt, daß der Raub gefunden wird.«
»Ich werde thun, was mir beliebt, nicht aber das, was dir gefällt,« entgegnete der Tong-tschi. »Es wird sich sofort zeigen, wem ich glauben darf, dir oder ihm. Sagtest du nicht, daß die beiden Sänftenträger sich entfernt hätten?«
»Ja.«
»Hu-tsin aber behauptet, daß sie noch hier sind. Man sehe nach, ob die Sänfte zu finden ist!«
Einige Polizisten stiegen über die Gartenmauer, um zu suchen. Nach Verlauf von nur einigen Minuten hatten sie den Palankin gefunden und brachten ihn bis an die Mauer, um ihn da stehen zu lassen, selbst aber wieder in den Garten zurückzusteigen.
»Hu-tsin hat recht,« erklärte der Mandarin. »Die Sänfte ist noch da, also sind auch die Träger noch nicht fort. Nehmt Wing-kan in eure Mitte und seht darauf, daß er nicht entkommt! Wir werden uns in seinen Garten verfügen, um dort nachzusuchen.«
Die Polizisten bemächtigten sich des Anklägers, welcher sich nicht im geringsten dagegen sträubte. Zwar konnte er sich das Verschwinden der beiden Statuen keineswegs erklären, aber es fiel ihm gar nicht ein, anzunehmen, daß sie bei ihm selbst zu finden seien. Er war vielmehr überzeugt, daß der Gang nach seinem Garten ohne jeden Erfolg sein werde. Dann aber wollte er verlangen, daß man wieder in denjenigen Hu-tsins zurückkehre, um dort nachzusuchen, wo dann der Raub ganz gewiß gefunden werden mußte.
Abermals verschmähte der Tong-tschi, von einem Hause nach dem andern zu gehen. Er bestieg die Sänfte; Wing-kan wurde von den Polizisten in die Mitte genommen. Drüben angelangt, begab man sich sofort in den Garten, welcher so klein war, daß er von den mitgebrachten Laternen vollständig erleuchtet ward.
Da bot sich den Ankömmlingen ein Anblick, welcher von Wing-kan gewiß nicht erwartet worden war. Nämlich zwischen zwei Zwergbäumen war die Erde aufgegraben und wieder zugeworfen, so daß sie nun eine kleine Erhöhung bildete. Auf dieser letzteren saßen die zwei Sänftenträger, an den Händen und Füßen gefesselt und mit dem Rücken an zwei starke Pfähle gebunden, welche da eingeschlagen worden waren. Zwischen den Zähnen hatten sie abgerissene Fetzen ihrer Kleidung stecken, so daß sie nicht zu rufen vermochten.
Wing-kan brach vor Schreck beinahe in die Kniee, als er diese Gruppe erblickte. Der Mandarin aber rief, indem er die beiden Kerls genau in Augenschein nahm:
»Das sind ja die Diebe, ganz genau so, wie man sie beschrieben hat! Wing-kan, wie kommen sie in deinen Garten?«
»Das – – weiß ich nicht,« stammelte der Gefragte mit blutleeren Lippen.
»Wie? Du weißt es nicht? So weiß ich es desto besser. Du selbst hast die That begangen, deren Schuld du auf deinen ehrlichen Nachbar werfen wolltest!«
»So ist es, ganz gewiß!« stimmte Hu-tsin bei. »Und die Stimmen, welche ich vernahm, sind diejenigen der geraubten Götter gewesen, durch deren Macht die Missethäter hier zurückgehalten worden sind. Die Erde ist aufgegraben. Wenn der hochehrwürdige Tong-tschi hier nachgraben lassen wollte, so bin ich überzeugt, daß man die Verschwundenen finden wird.«
»Wollen sehen! Bindet die Kerle los, und grabt nach!« befahl der Mandarin.
Die Sänftenträger wurden von den Pfählen, nicht aber von ihren weiteren Fesseln befreit und zur Seite geschafft. Kaum hatte man dann die obere dünne Bodenschicht entfernt, so kamen die beiden Götzenbilder zum Vorschein. Sie wurden aus der Grube genommen, sorgfältig abgewischt und dann aufgestellt.
Fast hätten die Reisenden laut aufgelacht, als sie nun die Göttergestalten vor sich sahen. Es waren zwei sitzende, sehr wohlbeleibte hölzerne und mit Bronzefarbe angestrichene Puppen, welche sich in der heitersten Stimmung zu befinden schienen, denn sie lachten im ganzen Gesichte so, daß die kleinen mongolischen Schlitzaugen fast ganz verschwanden.
»Dat ist drollig!« meinte Gottfried von Bouillon. »Wenn alle Jötter von China so jemütliche olle Schwedens sind, so will ich es mich jern jefallen lassen. Sie scheinen ihr jutes Auskommen zu haben und sich sogar jetzt in die allerbeste Laune zu befinden. Wat meinen Sie dazu, Miinheer?«
»Wat ik zeg? Zij ziin ontzettend veel dik. Zij moeten zeer goed gegeten hebben – was ich sage? Sie sind entsetzlich viel dick. Sie müssen sehr gut gegessen haben.«
»Was meinen diese beiden Herren?« fragte der Mandarin, welcher diese Bemerkungen natürlich nicht verstanden hatte.
»Sie wundern sich darüber, daß ein Mensch auf den schrecklichen Gedanken kommen kann, solche Götter aus ihrer Ruhe und Beschaulichkeit zu reißen,« antwortete Methusalem.
»Es ist das das größte Verbrechen, welches ein Mensch begehen kann. Bindet den Götterschänder! Seine Strafe wird der That angemessen sein!«
Da warf sich Wing-kan vor ihm nieder und schrie voller Angst:
»Gnade, Gnade, allerhöchster Herr! Ich bin unschuldig! Ich weiß nicht, wie diese Männer und diese Götter in meinen Garten gekommen sind!«
»Du wärest verloren, selbst wenn du das wirklich nicht wüßtest, denn die Gottheiten sind auf deinem Grund und Boden gefunden worden. Aber niemand wird dir glauben. Du hast sie stehlen lassen!«
»Nein, nein, sondern Hu-tsin hat es gethan und sie hier eingraben lassen, um mich zu verderben.«
Jetzt hielt der Methusalem es für angezeigt, nun auch seinerseits eine Bemerkung zu machen, weil der unschuldige Hu-tsin sonst doch noch in die Untersuchung verwickelt werden konnte. Er fragte den Juwelier:
»Du kennst diese beiden gefesselten Männer nicht?«
»Nein.«
»Hast nie mit ihnen gesprochen?«
»Niemals!«
»Hast du heute dein Haus verlassen?«
»Auch nicht.«
»Das ist eine Lüge! Du warst drunten in Scha-mien und hast hinter dem Gasthause des Portugiesen gestanden!«
»Sie irren sich, edler Urahne!«
»Ich irre mich nicht, denn ich stand in der Nähe hinter der Mauer und habe gehört, was du mit dem älteren dieser Männer sprachst. Sie haben die Götter in deinem Auftrage gestohlen, und das Geld, welches du ihnen dafür bezahlt hast, muß sich noch in ihren Taschen befinden. Der edle und mächtige Tong-tschi mag sie aussuchen lassen und wird sich überzeugen, daß ich die Wahrheit sage!«
Da ergriff der Mandarin den Methusalem beim Arme, zog ihn zur Seite und fragte ihn leise:
»Herr, haben Sie wirklich eine solche Unterredung belauscht?«
»Ja,« flüsterte der Gefragte als Antwort.
»Und Sie erkennen die beiden wieder?«
»Genau. Ich kann beschwören, daß sie es sind.«
»So wissen Sie, weshalb Wing-kan die Götter stehlen ließ? Um seinen Nachbar zu verderben?«
»Ja.»
»So hat er sie drüben vergraben, und sie sind dann ohne sein Wissen in seinen eigenen Garten versenkt worden. Das ist gut, denn dadurch ist ein Unschuldiger gerettet worden; aber diejenigen, welche die Gottheiten herübergebracht haben, sind verloren, wenn es so zur Sprache kommt. Ich bin ein freisinniger Kuan-fu und weiß, was ich von diesen Figuren zu halten habe; aber andere denken nicht so wie ich und die Gesetze sind blutig streng. Sie sind mein Gast und ich selbst würde dem Verderben nicht entgehen können, wenn die Untersuchung alles genau an das Tageslicht brächte. Schweigen Sie also; schweigen Sie, sonst sehen Sie Ihre Heimat niemals wieder, obgleich Sie dort ein mächtiger Kuan-fu sind! Sie würden hier auf eine Weise verschwinden, daß keinen eine Verantwortung treffen könnte. Niemand, auch ich selbst nicht, darf erfahren, wie die Sache eigentlich zugegangen ist. Ich muß dafür sorgen, daß Sie dabei gar nicht in Rede kommen. Sie haben mir das Leben gerettet, und ich freue mich, Ihnen dankbar sein zu können. Aber schweigen müssen Sie, sonst sind wir alle mit verloren!«
Der Mandarin wendete sich nach dieser Warnung mit ernstem Gesicht an die Polizisten und befahl ihnen, die Sänftenträger auszusuchen. Das Geld wurde bei ihnen gefunden. Er ließ ihnen die Knebel abnehmen und fragte sie in drohendem Tone:
»Soll ich euch die Hände und Füße zerquetschen lassen, oder wollt ihr mir meine Fragen freiwillig beantworten? Bedenkt, daß ihr auf der That betroffen seid und nicht leugnen könnt! Gebt ihr mir nicht die Auskunft, die ich haben will, so trifft euch allein die Strafe und zwar zehnfach hart!«
Das Zerquetschen der Finger und Zehen war in China bis in die neueste Zeit eine sehr oft in Anwendung gebrachte und außerordentlich schmerzhafte Tortur. Die beiden Männer sahen ein, daß es besser sei, freiwillig ein Geständnis abzulegen, als es sich durch solche Qualen entreißen zu lassen. Darum antwortete der eine im demütigsten Tone:
»Der hohe Mächtige mag fragen und wir Unwürdigen werden antworten.«
»Ihr habt die Götter aus dem Tempel geholt?«
»Ja.«
»Wing-kan hat euch dazu verführt und dafür bezahlt?«
»So ist es. Hätte er uns nicht verführt, so hätten wir es nicht gethan, denn wir sind sonst ehrliche Leute und fürchten und ehren die Gottheiten.«
»Hat er euch gesagt, wozu er sie haben will? Bedenkt wohl, ihr stinkenden Ratten, daß eure Strafe eine doppelt harte sein wird, wenn es sich herausstellt, daß ihr ihm helfen wolltet, andere zu verderben!«
Die Diebe waren klug genug, einzusehen, daß er recht hatte, und welche Aussage er von ihnen hören wollte. Darum antwortete der ältere, welcher auch bisher gesprochen hatte:
»Er verlangte sie, um sie in seinem Hause anzubeten. Wir haben sie geholt; aber wir haben sie unterwegs tausendmal um Verzeihung gebeten und ihnen versprochen, sie später ganz gewiß wieder zurückzubringen.«
»Hättet ihr das gethan?«
»Ja. Wir wollten sie schon morgen wieder holen.«
»So ist es euer Glück, daß ihr sie mit Ehrfurcht behandelt habt, denn das wird eure Strafe mildern. Ihr habt sie also keinem andern und nur ihm gebracht?«
»Nur ihm.«
»Und sie ihm also über seine Mauer hereingegeben?«
»Ja.«
»Dann seid ihr nachgestiegen, um sie in seine Wohnung zu tragen?«
»Genau so ist es, Urahne der Ehrwürdigen.«
»Wie aber ist es gekommen, daß sie nun vergraben waren und wir euch dabei in Fesseln gefunden haben?«
»Das wissen wir nicht, denn kaum waren wir über die Mauer, so faßten uns die Götter bei den Kehlen und raubten uns das Bewußtsein. Als wir dann erwachten, waren wir hier angebunden.«
»So haben die beleidigten Gottheiten euch selbst überwältigt, um euch der Strafe zu überliefern. Ihr mögt daraus erkennen, wie stark und mächtig sie sind. Da ihr aber ein so offenes Geständnis ablegt, werde ich, aber nur wenn ihr bei demselben bleibt, dafür sorgen, daß euch eine möglichst milde Strafe treffe.«
Wing-kan hatte sich bemüht, dieses kurze Verhör zu unterbrechen, um der Aussage seiner Mitschuldigen zu widersprechen. Er war aber von dem Mandarinen zum Schweigen verwiesen worden und sah schließlich auch ein, daß es die ihn erwartende Strafe verschärfen werde, wenn er sage, daß er das Verbrechen begangen habe, um einen andern zu verderben. Daran dachte er jetzt im Augenblicke freilich nicht, daß er diese Absicht dadurch deutlich zu erkennen gegeben habe, daß er vorhin die That auf Hu-tsin hatte schieben wollen. Der Tong-tschi wendete sich jetzt an ihn:
»Auch du kannst deine Lage nur durch ein offenes Geständnis verbessern. Gibst du zu, daß du diese Leute veranlaßt hast, die Götter zu stehlen?«
»Ja, hoher Herr, ich gestehe es ein!« antwortete der Gefragte, indem er sich vor dem Mandarin niederwarf.
»So will ich vergessen, was du vorhin in meinem Hause zu mir gesagt hast. Weshalb wolltest du die Segenspendenden bei dir haben?«
»Sie sollten mir Glück bringen, da jetzt niemand mehr bei mir kauft. Dann aber wollte ich sie wieder in den Tempel tragen lassen.«
»Du hast sie direkt hier in deinem Garten empfangen?«
»Ich nicht. Ich war nicht dabei. Ich glaubte nicht, daß sie so früh kommen würden. Als ich dann ausrufen hörte, daß Götter gestohlen worden seien, dachte ich nicht, daß es die von mir begehrten seien; ich glaubte vielmehr, ein anderer sei auf denselben Gedanken wie ich gekommen. Dann aber kam Ihre Herrlichkeit und führte mich hierher, wo ich zu meinem Schreck diese beiden Männer fand. Wie die Gottheiten in die Erde gekommen sind, kann ich nicht sagen.«
»Die Priester werden es zu erklären wissen. Bleibe bei deiner jetzigen Aufrichtigkeit; dann wirst du vielleicht dem schrecklichen Tode entgehen, welcher dich gewiß erwartet, wenn es dir einfallen sollte, im Sing-pu eine andere Aussage zu thun!«
»Ich habe die Wahrheit gesagt und werde bei diesen meinen Worten bleiben.«
»Das ist sehr wohl gedacht. Übrigens ist es von der größten Bedeutung, zu welcher Lehre ihr euch bekennt. Seid ihr vielleicht Anhänger des Lao-tse?«
»Ja, ja, ja!« riefen alle drei fast einstimmig.
Sie sagten da die Unwahrheit, aber sie begriffen sofort, daß er ihnen mit dieser Frage einen Rettungsanker hinwarf.
»Also nicht Buddha verehrt ihr? So seid ihr ja gar nicht im stande, zu begreifen, welch ein großes Verbrechen ihr begangen habt. Ihr wißt nicht, was es heißt, Gottheiten aus ihren Tempeln zu entfernen. Vielleicht wird euch mit Rücksicht hierauf nur die Strafe der Verbannung treffen. Weiter habe ich euch jetzt nichts zu sagen. Ihr werdet mit samt den Göttern jetzt nach dem Sing-pu transportiert. Verhaltet euch hochachtungsvoll gegen die Obrigkeit und bleibt bei der bisherigen Aussage. Da ihr mir ein so offenes Geständnis abgelegt habt, werde ich euch der Gnade des Richters, dem ich alles zu melden habe, empfehlen. Und damit auf unserer Gasse kein Aufsehen erregt werde, sollt ihr mit den Polizisten hier über die Mauer steigen und euch mit ihnen hinter den Gärten entfernen.«
Er hatte, ganz gegen das Erwarten der Anwesenden, in ziemlich mildem Tone gesprochen. Nur der Methusalem wußte, daß dazu ein sehr triftiger Grund vorhanden sei.
Die Götter und Spitzbuben mußten über die Mauer hinüber. Die ersteren wurden in die Sänfte gesetzt, in welcher sie gebracht worden waren, und die letzteren von den Soldaten und Polizisten in die Mitte genommen. Dann verschwanden sie im Dunkel der Nacht.
Als die Schritte verklungen waren, fragte der Tong-tschi den nun von der Schuld befreiten Juwelier:
»Deine Ehrlichkeit ist bestätigt worden. Bist du nun zufrieden?«
»Ja, mächtiger Beschützer. Aber ich verlange, daß Wing-kan auf das Strengste bestraft werde!«
»Er wird seiner Strafe nicht entgehen.«
»Aber Ihre gebietende Stimme hat nur von Verbannung gesprochen!«
»Ja, dann bist du den Feind los. Oder ist dir das noch nicht genug?«
»Ich glaubte, der Tod sei auf dieses Verbrechen gesetzt!«
Er hatte das in unzufriedenem Tone gesprochen. Da trat der Mandarin näher zu ihm heran und sagte mit gedämpfter Stimme:
»Wünschest du seine Hinrichtung, gut! Aber dann wird der Richter auch erfahren, daß die Götter erst in deinem Garten gewesen sind, und er wird fragen, wer sie von da herübergeschafft hat. Wird dir das willkommen sein?«
»Nein, nein!« antwortete Hu-tsin schnell.
»So schweige und gönne dem Feinde nicht mehr, als er bekommt! Du hast dich in einer sehr großen Gefahr befunden. Ich will nicht wissen, wie alles geschehen ist; aber dieser fremde Kuan-fu hat dir das Leben gerettet, dir und allen den Deinen. Ein Bewohner dieses Landes hätte nicht gewagt zu thun, was er gethan hat. Beuge dich vor seiner Güte und denke an ihn mit der Dankbarkeit, welche er von dir erwarten kann! Dazu aber überlege dir, wie viele Personen du verderben würdest, wenn es dir in den Sinn käme, die Geschichte von den gestohlenen Göttern so zu erzählen, wie sie sich eigentlich ereignet hat!«
Er drehte sich um und schritt durch den Garten dem Hause zu. Die andern folgten ihm. Dabei ergriff Hu-tsin die Hand des Methusalem und fragte ihn:
»Wird mein geehrter und bejahrter Freund Wort halten und mich morgen besuchen, wie er es mir versprochen hat?«
»Ja, ich komme,« antwortete der Blaurote.
»Wann?«
»Am Vormittage, noch ehe ich mir die Stadt ansehe.«
»Ich weiß nicht, weshalb Sie nach Kuang-tschéu-fu gekommen sind; aber vielleicht ist es mir dennoch möglich, Ihnen nützlicher zu sein, als Sie es jetzt für möglich halten. Der mächtige Tong-tschi hat recht. Sie haben mich und meine Familie vom Verderben errettet. Ich werde Ihnen ein Geschenk geben, dessen Wert Ihnen vielleicht von großem Nutzen sein wird.«
Draußen stieg der Mandarin wieder in die Sänfte, und seine Gäste thaten desgleichen. Auf der Straße standen die Leute noch in einzelnen Gruppen beisammen und blickten neugierig auf die Palankins. Sie sagten sich, daß etwas Ungewöhnliches geschehen sein müsse, um den Tong-tschi zu so später Stunde zum Besuch seiner beiden Nachbarn zu bewegen, doch ließen sie kein lautes Wort vernehmen.
Daheim angekommen, forderte der Mandarin den Methusalem auf, ihn zu begleiten. Er führte ihn in eine Stube, welche das Studier- und Arbeitszimmer des Beamten zu sein schien. Dort forderte er ihn auf, sich ihm gegenüber zu setzen. Seine Miene war eine ernste, ja sogar feierliche.
»Bevor wir uns zum Tsau-fan begeben,« sagte er, »muß ich Ihnen eine Mitteilung machen. Sie haben mich genötigt, Ihnen dankbar zu sein, aber Sie haben mich beinahe um Amt, Eigentum und Leben gebracht. Seien Sie nie wieder so unvorsichtig wie heute!«
»Verzeihen Sie!« bat der Student. »Ich glaubte gerade, sehr vorsichtig gehandelt zu haben.«
»Im Gegenteile! Sie hätten mir alles aufrichtig erzählen sollen.«
»Das wollte ich auch.«
»Haben es aber nicht gethan!«
»Weil Sie nicht daheim waren und ich doch handeln mußte. Hätte ich auf Ihre Rückkehr gewartet, so wäre inzwischen der Anschlag Wing-kans gelungen.«
»Ich hätte dennoch Mittel gefunden, ihn zu überführen und Hu-tsin zu retten. Doch, Geschehenes kann man nicht ändern. Ich hoffe, daß die drei Verbrecher bei ihrer Aussage bleiben. In diesem Falle kann Ihnen und mir nichts geschehen. Fällt es ihnen aber ein, die Wahrheit zu erzählen, so werden Sie mit in diese Angelegenheit verwickelt, und auch mir droht große Gefahr, da Sie mein Gast sind und ich für Sie verantwortlich bin, sogar mit meinem Leben. Sollte das letztere geschehen, so ist Ihre schleunige Flucht notwendig, und für diesen Fall will ich Ihnen einen Kuan geben, welcher von der höchsten Behörde unterzeichnet ist, nach dem Gesetze nur hohen Mandarinen und sehr vornehmen Fremden ausgestellt wird und hoffentlich die Wirkung besitzt, Sie aus jeder Gefahr zu retten, so wie Sie mich gerettet haben. Ich verdanke Ihnen nicht nur mein Leben, sondern weit mehr. Erführe man, daß ich in einer Piratendschunke gefangen gewesen bin, so wäre es um mich geschehen. Darum will ich auch für Sie etwas thun, was ich an keinem Zweiten jemals wieder thun werde.«
»Darf ich mich bei dieser Gelegenheit erkundigen, was mit den Piraten geschehen wird?«
»Sie werden an uns ausgeliefert und dann hingerichtet.«
»Und glauben Sie, daß Wing-kan und seine Mitschuldigen mit dem Leben davonkommen?«
»Ja. Mein Einfluß reicht so weit, daß sie nur in die Verbannung geschickt werden. Doch jetzt zu Ihrem Paß, den Sie stets bei sich tragen müssen und nie von sich legen dürfen.«
Er öffnete einen mit mehreren Schlössern verwahrten Kasten und nahm ein großes, mit Charakteren bedrucktes Papier hervor, welches mit mehreren Siegeln versehen war. Auf die unbeschriebenen Zeilen trug er die Namen des Methusalem und dessen Gefährten ein, die dieser ihm nennen mußte. Dann las er ihm das Dokument vor. Der Inhalt war in deutscher Übersetzung folgender:
»Im Namen und Auftrage
Kuang-su,
des allmächtigen Herrschers im Reiche der Mitte, des Lichtes der Weisheit, des Brunnens der Gerechtigkeit, des Quells der Gnade und Barmherzigkeit wird hiermit allen Unsern Ländern, Völkern und Beamten zu wissen gethan, daßMe-thu-sa-le-me De-ge-ne-fe-le-de
der große, berühmte und machtvolle Abgesandte aus dem Reiche der Tao-tse-kue die Erlaubnis besitzt, in allen Unseren Provinzen zu reisen, wie und so lange es ihm beliebt. Seine erlauchten Begleiter sind
Tu-lu-ne-re-si-ti-ki,
Go-do-fo-ri-di,
A-ra-da-pe-le-ne-bo-scho,
Sei-dei-nei und
Liang-ssi,
lauter Herren und Männer, welche die höchsten litterarischen Grade besitzen und alle Prüfungen mit Ehren bestanden haben.
Es ist Unser Wille, daß sie in ihrer Heimat mit Stolz und Genugthuung von der Bildung und den Vorzügen Unserer Nationen berichten können, und darum ergeht an alle Behörden und Beamten der strenge Befehl, sie Unseren außerordentlichen Gesandten gleich zu achten, ihren Befehlen ohne Widerrede zu gehorchen und ihnen in allen ihren Angelegenheiten förderlich zu sein.
Besonders wird denjenigen, die dem
Me-thu-sa-le-me die schuldige Achtung verweigern, die schnellste Strafe angedroht, und er wird, um sofortige Anzeige erstatten zu können, hiermit mit dem Range eines Schun-tschi-schu-tse bekleidet, ohne indessen gezwungen zu sein, die Kleidung seines Landes abzulegen und die Abzeichen dieses Ranges zu tragen.«
Unterzeichnet war der Paß von dem Nei-ko, dem großen Sekretariat in Peking. Unter einem Schun-tschi-schu-tse versteht man einen allerhöchsten Beamten, welcher als Vertrauensmann des Kaisers die Erlasse und Entscheidungen des Monarchen zu redigieren hat.
Eine bessere Legitimation konnte der Methusalem sich gar nicht wünschen. Nur zweifelte er, ob man derselben auch Folge leisten werden. Darum fragte er:
»Wird man diesen Kuan auch wirklich so achten, als ob er von einem hohen Mandarin vorgezeigt wird?«
»Ganz gewiß. Ein Schun-tschi-schu-tse steht über dem höchsten Mandarin. Daß Sie ein Fremder sind, ändert nichts an der Achtung, welche diesem Kuan entgegengebracht werden muß. Man wird alle ihre Befehle sofort ausführen.«
»Und wenn ich aber etwas verlange, was gegen die Gesetze dieses Landes ist?«
»Selbst dann wird man Ihnen gehorchen. Wenn Sie einmal in Gefahr sind, können Sie nicht durch, sondern gegen das Gesetz gerettet werden. Darum muß ich Sie mit einer Macht ausrüsten, welche über den Regeln unseres Landes steht.«
»Aber die Verantwortung wird und muß dann später Sie treffen, der Sie mich mit diesem Kuan ausgerüstet haben!«
Der Chinese zog ein unbeschreiblich verschmitztes Gesicht. Er blickte eine Weile still vor sich nieder und antwortete dann:
»Kommt es in Ihrem Lande nicht auch vor, daß ein Beamter in die Gefahr gerät, alles, sein ganzes Eigentum und auch das Leben zu verlieren?«
»Sein Eigentum, wenn er es unrechter Weise erworben hat, sein Leben, wenn er eines Mordes überführt wurde und infolgedessen zum Tode verurteilt wird.«
»Nur dann? Glückliches Land und glückliche Mandarinen, die in demselben wohnen! Hier trachtet jeder nach Reichtum und nimmt denselben von seinem Untergebenen. Habe ich mir ein Vermögen erworben, so bin ich keinen Tag sicher, daß mein nächster Vorgesetzter mich eines schweren Verbrechens, mag ich dasselbe nun begangen haben oder nicht, überführt, mich enthaupten läßt und mein Vermögen konfisziert. Für diesen Fall ist es gut, einen solchen Kuan zu besitzen. Nur mit seiner Hilfe kann man Rettung durch die schleunigste Flucht finden.«
»Und solche Kuans bekommen Sie vom Nei-ko in Peking?«
»Ja, aber nicht offiziell. Sie sind klug genug, mich zu verstehen!«
Der Methusalem verstand ihn wohl. Das Blankett war entwendet, war gestohlen. Jedenfalls befand der Mandarin sich im Besitze noch mehrerer solcher Pässe. Hätte er nur diesen einen besessen, so wäre es ihm gar nicht eingefallen, einen Fremden mit demselben zu unterstützen.
»Sie sehen also,« fuhr der Chinese fort, »daß mich keine Verantwortung treffen kann. Sie werden nicht verraten, daß ich Ihnen diesen Kuan ausgestellt habe. Nur das Nei-ko hat das Recht, eine solche Legitimation zu verfassen. Man hat derselben auf alle Fälle zu gehorchen. Zweifelt eine Behörde an der Echtheit derselben oder daran, daß Sie sie rechtmäßiger Weise besitzen, so fragt sie in Peking an, und ehe von dort die Antwort kommt, sind Sie längst von dannen.«
»Aber in meinem Vaterlande ist es nicht erlaubt, sich falscher Pässe zu bedienen!«
»Hier auch nicht. Aber dieser Paß ist nicht falsch. Es stehen Ihre Namen darin. Sie haben ihn von mir erhalten. Ob Sie sich seiner bedienen wollen oder nicht, das ist nun Ihre Sache. Ich wiederhole, daß er Ihnen alle möglichen Vorteile bringen wird. Er öffnet Ihnen selbst des Nachts alle Thüren und Straßenpforten, nur nicht diejenigen eines Gefängnisses.«
»Dazu bedarf es anderer Legitimationen?«
»Ja, dieser hier.«
Er deutete nach der Wand, an welcher mehrere große, gelbe Münzen hingen, auf denen der Methusalem die erhabene Figur eines Drachen und darunter einige kleine Schriftzeichen bemerkte.
»Wer das vorzeigt,« fuhr er fort, »hat zu jeder Tageszeit und beim schlimmsten Verbrecher Zutritt. Mit Hilfe einer solchen Münze werde ich unseren heutigen drei Gefangenen zur Verbannung verhelfen.«
Auch jetzt verstand der Student ihn ganz genau. Er wollte des Nachts in das Gefängnis gehen und die drei Personen entfliehen lassen. In diesen Münzen also bestand der »Einfluß«, von welchem er vorher gesprochen hatte.
Jetzt erhob der Mandarin sich von seinem Stuhle und verabschiedete seinen Gast:
»Sie haben nun den Paß. Mag kommen, was da will, so kann ich wegen Ihnen unbesorgt sein. Jetzt gehen Sie! Man wird mit dem Essen auf Sie warten. Ich selbst kann Sie nicht begleiten, da ich noch zu arbeiten habe.«
Als Methusalem sein Zimmer erreichte, stand dort ein Diener seiner wartend, um ihn in das Speisezimmer zu führen.
Dort waren seine Gefährten außer Liang-ssi, welcher fehlte, versammelt.
Das Essen bestand in Gerichten, welche den europäischen ähnelten. Auch Messer und Gabeln waren vorhanden. Es schien, daß der Mandarin doch zuweilen einen Europäer bei sich zum Essen sah.
Nach beendigter Tafel erhielten die Gäste Tabakspfeifen. Sie blieben noch ein Stündchen beisammen, und da fand sich endlich auch Liang-ssi wieder ein. Befragt, wo er gewesen sei, antwortete er:
»Im Garten. Es gab da Interessantes zu beobachten.«
»Was?« erkundigte sich Methusalem.
Man konnte da sehen, auf welche Art und Weise die Mandarinen reich werden. Sie wissen vielleicht, daß das Vermögen jedes Verurteilten dem Staate verfällt?«
»Ja.«
»Nun, der Tong-tschi scheint den Juwelier Wing-kan bereits als verurteilt zu betrachten. Er hat auch dessen Gehülfen und Diener arretieren lassen. Nun befindet sich kein Mensch mehr im Nachbarhause, und er räumt den Laden aus.«
»Selbst?«
»Nein. Das würde sich nicht mit seiner hohen Stellung vertragen. Seine Diener steigen draußen im Garten herüber und hinüber und schleppen alles Wertvolle herbei. Wenn dann morgen früh der Kriminal-Kuan kommt, um die Konfiskation vorzunehmen, ist nur noch das Minderwertige vorhanden.«
»Aber Wing-kan muß doch wissen, was er besessen hat!«
»O, Herr, den wird niemand fragen. Und was er sagt, das gilt als Lüge. Vielleicht lebt er morgen gar nicht mehr, damit durch seine Aussage nicht verraten werden kann, daß unser Mandarin schon heute zugegriffen hat.«
»Hm! Der will ihn entfliehen lassen!«
»Sagte er das? Ich glaube es. Der Gefangene kann nur entfliehen, indem er alle seine Habe im Stiche läßt. Und wenn er fort ist, so ist es unmöglich, dem Tong-tschi zu beweisen, daß er heut abend den Laden des Gefangenen halb ausgeräumt hat. 01 diese Mandarinen stehlen alle!«
»Schöne Jeschichte!« lachte Gottfried von Bouillon. »Dat könnte in Deutschland nicht die Möglichkeit sind. Wie ist es denn in Holland, Miinheer?«
»Daar muisen de Mandarins ook niet – da mausen die Mandarinen auch nicht,« antwortete. der Dicke.
»Und jedenfalls werden dort auch keine Jötter jestohlen. Solche Tollheiten können doch nur hier vorkommen. Übrigens möchte ich mir doch jern mal in so einen Jötzentempel umsehen. Ist dat möglich oder nicht?«
»Warum nicht?« antwortete der Blaurote. »Die Chinesen sind nicht wie die Muhammedaner, welche ihre Moscheen von keinem Andersgläubigen betreten lassen. Es kommt sogar sehr häufig vor, daß hier die Tempel als Herbergen benutzt werden. Vielleicht haben auch wir noch das Vergnügen, einmal in einem solchen zu übernachten.«
»Und jrad den möchte ich mich betrachten, aus welchem die Jötzen jestohlen worden sind. Welchen Namen hatte er?«
»Pek-thian-tschu-fan, das heißt Haus der hundert Himmelsherren.«
»So sind wohl hundert Jötter drin?«
»Mit solchen Zahlen darf man es hier nicht genau nehmen. Doch gibt es Tempel, in denen sich mehrere hundert Bilder oder Figuren befinden.«
»Pek – pek – pek – – wie war der Name?« fragte Turnerstick.
»Pek-thian-tschu-fan.«
»Armseliges Chinesisch! Es ist da nicht eine einzige Endung dabei. Habe mich vorhin schrecklich geärgert. Stand mit im Garten und habe das ganze Verhör mit angehört, aber kein einziges Wort verstehen können. Finde überhaupt, daß man hier in der Stadt ungeheuer undeutlich spricht. Die Leute machen es sich viel zu schwer. Sollten von mir Unterricht nehmen. Wollte ihnen schon die richtigen Endungen beibringen!«
»Ich möchte Sie als Lehrer sehen,« lachte der Student.
»Meinen Sie etwa, daß ich nichts fertig brächte?«
»O doch! In Beziehung auf die Endungen würden Sie sogar Großartiges leisten.«
»Das wollte ich meinen!«
»Aber die Stammworte, die Stammworte! So ein Wort hat oft eine gar vielfältige Bedeutung. So heißt zum Beispiel das Wort Tschu soviel wie Herr, Pfeiler, Stock, Küche, Stütze, Schwein, alte Frau, zubereiten, verrichten, brechen, spalten, reparieren, freigebig, wenig, geneigt, naß machen, Gefangener, Sklave etc., je nachdem es weicher oder härter, gedehnter oder rascher, leiser oder schärfer ausgesprochen wird. Und jede dieser verschiedenen Bedeutungen hat dann wieder ihre figürliche Anwendung, so daß es die allerfeinste Modulation erfordert, um wissen zu können, was gemeint ist. So hat das Grußwort sching noch weit über fünfzig andere Bedeutungen, unter denen Dinge, Eigenschaften und Thätigkeiten vorkommen, welche einander ganz und gar entgegengesetzt sind.«
»Und das soll man an der Aussprache hören?«
»Eigentlich sollte man es. Da aber selbst die Sprechwerkzeuge eines Chinesen oft nicht dazu ausreichen, so fügt man im Falle des Zweifels ein erklärendes Wort dazu. Fu heißt Vater, hat aber noch mehrere andere Bedeutungen. Soll es nun als Vater gebraucht werden, so fügt man das Wort Tschin, Verwandtschaft, hinzu; dann heißt es Fu-tschin, Fu, der Verwandte, der Vater.«
»Bleiben Sie mir mit allen Ihren Fu-tschins vom Leibe! Ich lobe mir meine Endungen. Wenn ich sage, ›meining geliebtang Freundeng(, so weiß jedes Kind, was ich meine, ohne daß ich meine Zunge übermäßig anzugreifen brauche. Hoffentlich finde ich bald einen wirklich gut sprechenden Chinesen, mit dem ich mich gut unterhalten und Ihnen beweisen kann, daß meine Grammatik die richtige ist. Für heut aber stimme ich unserm Gottfried bei, daß wir morgen den Tempel besuchen wollen. Auch ich bin begierig, ein solches Haus zu sehen.«
»Wir werden uns überhaupt die Stadt besehen und da an manchem Tempel vorüberkommen. Es wird wohl ein bewegter Tag werden, und so schlage ich vor, uns jetzt zur Ruhe zu begeben.«
Dieser Vorschlag fand allgemeinen Beifall und wurde sofort befolgt.
Das Bett, welches für den Methusalem bereitstand, war niedrig, fein lackiert und mit Blumen sehr kunstvoll bemalt. Die Matratze war mit einem seidenen Tuche überdeckt; als Kopfkissen diente eine gestickte, mit wohlriechenden Kräutern gefüllte Rolle, und die Decke bestand aus gesteppter Seide mit weicher Ziegenhaareinlage. Von Seide waren auch die Vorhänge, welche das Bett von drei Seiten außer der Wand einfaßten, und in einem kostbaren Bronzeleuchter brannte eine Nachtkerze, vor welcher ein durchscheinender Schirm stand, dessen Malerei eine Landschaft vorstellte, über welche der Mond sein magisches Licht ergoß. Der Mond aber bestand in der Kerzenflamme hinter dem Gemälde.
Ähnlich waren auch die Betten der anderen eingerichtet und ausstaffiert. Über Gottfrieds Lager hing eine Laterne herab, welche ihn heimatlich anmutete, denn sie besaß fast genau die Gestalt jenes Drachen, welcher daheim in der Wohnung des Methusalem hing und dem er vor der Abreise die bekannte Standrede gehalten hatte.
Als er sich jetzt lang auf das Lager streckte und seinen Blick zu dieser Laterne erhob, nickte er derselben zu und sagte:
»Juten Abend, oller Drache! Tsching, tsching, tsching! Da hängst du jrad so über mich, wie jenseits des Ozeans dein Freund, Ebenbild und Jevatter. Auch deine Physiognomie ist so triste wie die seinige. Ich werde dir wohl von ihm jrüßen. Mach mich nur keine Dummheiten, wenn ich schlafe, denn ich bin dat nicht jewohnt! Komme mich ja nicht im Traume vor, und laß mir bis morjen früh in Ruh. Glotze mir auch nich so an; ich lasse mir nicht fixieren. Jedenke deiner Erziehung und tropfe mich nicht dat Öl ins Jesicht. Wenn du dat allens befolgst, so werden wir jute Freunde bleiben bis zur Scheidestunde um Mitternacht. Tsching, tsching! Schlaf wohl; ich nicke ein!«
Er ahnte nicht, daß diese »Scheidestunde um Mitternacht« ein prophetisches Wort gewesen war.
Die Gäste schliefen gut und lange. Als sie erwachten, bekamen sie den Thee im Garten serviert und erfuhren, daß der Mandarin bereits in Amtsgeschäften fort sei. Er hatte dem Hausmeister Auftrag gegeben, seine Stelle bei ihnen zu vertreten. Da sie hörten, daß er am Vormittage nicht heimkehren werde, beschlossen sie, sich inzwischen die Stadt anzusehen, und baten den Hausmeister, die Sänften bereit zu halten.
Bevor sie aufbrachen, machte der Methusalem dem Juwelier den versprochenen Besuch. Gottfried begleitete ihn, in der gewöhnlichen Weise hinter ihm herschreitend, während der Hund voranging.
Hu-tsin empfing sie mit großer Herzlichkeit und lud sie ein, in sein Familienzimmer zu treten, was gewiß eine Auszeichnung für sie war, da ein Chinese nicht so leicht einem Fremden einen Einblick in seine Familie gestattet.
Von einem eigentlichen Zimmer nach unserem Sinne war keine Rede. Es war ein großer Raum, welcher durch verschiebbare Kulissenwände beliebig abgeteilt werden konnte. Hinter einer dieser Wände trat die Frau hervor, weiche sie schon gestern abend, aber bei der Laternenbeleuchtung nicht so deutlich wie jetzt, gesehen hatten. Sie besaß mongolische, aber sehr sanfte und ansprechende Gesichtszüge. Sie reichte den beiden ihre Hände und bat sie, eine Tasse Thee mit ihnen zu trinken, was auch gern geschah.
Der Tisch, an dem man Platz nahm, war weit niedriger als bei uns, und die Stühle hatten dem angemessen auch eine geringere Höhe. Es gehörte Übung und Gewohnheit dazu, sich da bequem zu fühlen.
Natürlich war das Ereignis des gestrigen Abends der Hauptgegenstand des Gespräches. Degenfeld schärfte dem Chinesen ein, ja nicht verlauten zu lassen, wie die Sache sich in Wahrheit zugetragen habe.
Während sie sich unterhielten, hörten sie unterdrückte Kinderstimmen hinter einer der Wände. Auf das Befragen Degenfelds sagte Hu-tsin, daß dort seine Kinder säßen und sich mit Lesen beschäftigten.
Kinder und lesen, in China! Das war dem Methusalem höchst interessant. Er bat, die Kleinen sehen zu dürfen, worauf der Juwelier die Wand zur Seite schob. Da saßen zwei Knaben und ein Mädchen, der älteste wohl nicht über elf Jahre, an einem kleinen Tische und hatten eine Schrift vor sich auf demselben liegen. Sie standen sofort auf, kamen herbei und verbeugten sich so tief, daß ihnen die kleinen dünnen Zöpfchen nach vorn fielen. Die ernsten, zeremoniellen Gesichter, welche sie dabei machten, gaben ihnen ein außerordentlich drolliges Aussehen.
Methusalem bat sich das Buch aus und warf, als er es erhalten hatte, einen Blick auf den Titel und einen zweiten längeren auf den Inhalt.
»Hältst du das für möglich, Gottfried,« rief er aus; »eine Jugendschrift!«
»Wat? Eine Jugendschrift? Ist es die Möglichkeit? In China eine Jugendschrift? Wohl gar á la Spemanns Universum?«
»Ähnlich, mit Bildern, doch in richtigen Reimen geschrieben.«
»Dat ist mich neu! Dat habe ich diesen Chinesigen nicht zujetraut!«
»O, da hast du dich in einem großen Irrtum befunden. In China kann ein bedeutend größerer Prozentsatz der Bevölkerung lesen als zum Beispiel in Frankreich.«
»Aberst unsere deutschen Jungens sind den hiesigen doch jewiß noch über?«
»Natürlich!«
»Schade, daß ich nichts lesen kann! Sprechen thue ich zwar manches Wort, verstehen auch, aberst mit das Lesen, da hapert es jewaltig. Wat steht denn eijentlich drin? Wat wird die Jugend hier jelehrt?«
»Nur Gutes. Hier steht zum Beispiel:
›Tszö pu hio,
Feï so i;
Yeu pu hio
Lao ho weï?‹«
»Und wat heißt dat?«
»Das heißt:
›Kind nicht lernen,
Nichts wozu taugen;
Knabe nichts lernen,
Greis was thun?‹
oder weniger wörtlich: Wer als Kind nicht lernt, der wird ein Taugenichts; wer als Knabe nicht lernt, was soll der im Alter treiben? Das Buch hat den Titel ›Santszö-king‹, das Dreiwörterbuch, weil jede Zeile nur aus drei Wörtern besteht.«
»Bitte, noch einen solchen Reim!«
»Gern; hier ist einer:
Phi pu pian,
Sio tschu kian
Phi wu schu,
Zie tschi mian.
Das heißt: Der auf Binsenmatten schrieb, der Bambusrinde als Papier nahm, diese Leute waren ohne Bücher, und dennoch studierten sie eifrig. Es werden hier den kleinen Lesern Beispiele aus der Geschichte zur Nachahmung vorgeführt. Ganz denselben Zweck hat auch der nachfolgende Reim:
Ju nang ing,
Ju ing siue,
Kia sui phin
Hio po tschue.
Das ist zu deutsch: Der beim Scheine der Leuchtfliegen und der bei der Helle des Schnees studierte, obwohl sie von Hause aus arm waren, versäumten sie das Lernen nicht. Die beigegebenen Bilder illustrieren die angeführten Beispiele. Ich selbst habe nicht gewußt, daß es hier so vortreffliche Schriften für die Jugend gibt.«
»Dat wäre interessant für unsern juten Turnerstick. Er könnte für die chinesische Jugend Reime auf seine Endungen dichten, wofür man ihn hier jewiß unter die berühmten Sterne des jelehrten Horizontes versetzen würde. Schade, daß er nicht hier ist.«
Die Leute freuten sich sehr, daß die beiden so lebhaftes Vergnügen über die Beschäftigung der Kinder empfanden.
Darum, und vor allen Dingen aus Dankbarkeit für den gestern geleisteten großen Dienst, holte der Mann aus dem Laden einen mit allerlei Kostbarkeiten angefüllten Kasten und bat sie, sich einige Gegenstände als Andenken auszuwählen. Der Methusalem weigerte sich entschieden, etwas anzunehmen, kränkte aber damit die guten Leute so sehr, daß er sich endlich bereit erklärte, sich zu einer Kleinigkeit zu verstehen, welche von keinem zu hohen Werte sei.
Er erhielt eine jener Elfenbeinschnitzereien, welche nur von der unendlichen Geduld eines Chinesen hergestellt werden können. Es war ein winzig kleines Häuschen, nicht einen Zoll lang und hoch und kaum halb so breit, und doch stellte diese kleine Schnitzerei ein Haus dar, welches aus dem Parterre und einer vielgeschnörkelten Etage bestand. Im Parterre gab es vier Fenster, durch welche man in der ersten Stube einen Chinesen essen, in der zweiten einen Mann lesen, in der dritten einen Mandarin schreiben und in der vierten einen Bauer rauchen sah. Das Stockwerk bestand aus zwei Zimmern; im ersten saßen Mann und Frau bei der Arbeit, und im zweiten schliefen die Kinder dieses Paares in vier Betten. Und alle diese Personen und Gegenstände waren trotz ihrer fast mikroskopischen Kleinheit so fein, deutlich und kunstvoll gearbeitet, daß der Verfertiger gewiß ein Meister seines Faches gewesen war und jahrelang zugebracht hatte, um dieses allerliebste Kunstwerk zu vollenden.
Gottfried empfing eine fein durchlöcherte Pfeifenspitze, aus welcher man mittels des Rauches allerlei sonderbare Figuren blasen konnte, ein Geschenk, welches ihm, wie er versicherte, als heimlichem Mitraucher der Hukah von großem Werte war.
Aber noch ein Geschenk gab es, viel, viel kostbarer als die beiden andern, obwohl man es demselben nicht ansehen konnte. Der Juwelier brachte nämlich ein kleines Büchelchen, nur drei Zoll lang und breit. Der Einband war von gepreßtem Leder, und der Inhalt bestand aus nur einem einzigen Blatte, welches auf beiden Seiten mit fremdartigen Charakteren beschrieben war. Der Methusalem konnte dieselben nicht enträtseln und fragte, was das Miniaturbuch zu bedeuten habe.
»Es ist ein sehr wertvoller Besitz für denjenigen, der es gebrauchen kann, nämlich ein T'eu-kuan,« antwortete Hutsin.
»Ein T'eu-kuan, also ein Paß des Bettlerkönigs?«
»Ja, ein Paß meines Schwiegervaters. Meinen Sie nicht, daß er Ihnen von Nutzen sein könne?«
»Wie sollte er mir von Vorteil sein? Ich bin nicht Unterthan des T'eu.«
»Dieser Paß ist auch nicht für seine Leute, sondern für Fremde. Sie haben doch bereits Legitimation?«
»Ja, und der Tong-tschi hat mir auch einen ganz vortrefflichen Paß gegeben.«
»Des können Sie sich freuen, denn dieser Mann hat die Fremden zu beaufsichtigen, und wen er beschützt, dem kann nicht leicht ein Unfall widerfahren. Aber diese Pässe sind doch nichts gegen den Kuan meines Schwiegervaters.«
»Wieso?«
»Weil – – nun, ich habe Ihnen bereits gestern erklärt, was ein Bettlerkönig ist und was er zu bedeuten hat. Er besitzt wirklich mehr Macht als der höchste Mandarin. Der Paß der Behörde wird respektiert, ja, aber der Kuan des T'eu hat noch eine ganz andere Wirkung. Er ist von einer Gewalt ausgestellt, welche einen jeden unsichtbar umgibt und einen jeden fassen kann dann und da, wo er es am allerwenigsten denkt. Der Befehl eines Mandarinen flößt Achtung ein, derjenige des Bettlerkönigs aber flößt Schrecken ein. Sie werden nicht hier bleiben, sondern noch weiter in das Reich gehen?«
»Das ist allerdings meine Absicht.«
»Nun, da werden Sie Leute finden, welche des Gebotes der Behörde lachen, einen Befehl des T'eu aber so achten, als ob er ihnen von dem Sohne des Himmels selbst erteilt worden sei.«
»Ist dieser Kuan das Schriftstück, von welchem Sie gestern sprachen, welches man gegen Bezahlung von dem T'eu empfängt, um es als Abwehr gegen die Bettler an die Thüre zu kleben?«
»O nein. Der Zettel, von welchem Sie sprechen, ist nur eine Weisung an die Bettler, an der betreffenden Thüre vorüberzugehen. Dieser Kuan aber ist ein Schutz- und Geleitbrief für seinen Besitzer. Er wird nur höchst selten ausgestellt und zwar nur an Personen, denen der T'eu im höchsten Grade verpflichtet ist. Derjenige, welcher diesen Paß nicht achtet, setzt sich der größten Gefahr aus. Zeigen Sie dem T'eu an, daß ein Vizekönig Sie nicht beschützt hat, nachdem Sie ihm den Kuan vorgezeigt haben, und mein Schwiegervater wird diesem hohen Beamten eine Schar seiner zudringlichsten Unterthanen auf den Hals senden, die ihn so lange peinigen, bis er Abbitte gethan hat. Ich habe diesen Paß von dem T'eu für mich selbst erhalten, aber ich bitte Sie, ihn von mir anzunehmen, und es sollte mich herzlich freuen, einmal erfahren zu können, daß er Ihnen Nutzen gebracht habe.«
»Dürfen Sie ihn denn verschenken?«
»Nur an eine Person, welche mir einen sehr großen Dienst geleistet hat. Auch habe ich es sofort durch einen Boten dem T'eu zu melden, da er genau wissen muß, in welchen Händen sich diese wichtigen und seltenen Kuans befinden. Er wird mir dann einen andern für mich senden. Hoffentlich schlagen Sie mir meine Bitte nicht ab. Ich fühle mich dadurch doch wenigstens um einen kleinen Teil der Schuld erleichert, welche ich an Sie abzutragen habe.«
War dieser Paß eines Bettlerfürsten schon an sich ein höchst interessanter Gegenstand, so daß man wohl wünschen konnte, in den Besitz eines solchen zu kommen, so lag es außerdem gar wohl im Bereiche der Möglichkeit, daß diese Legitimation dem Methusalem und seinen Gefährten von Nutzen sein werde. Darum ging der Student auf die Bitte des Juweliers ein und steckte den T'eu-kuan zu sich, bat sich aber dafür die Erlaubnis aus, ihm später aus Deutschland ein Gegengeschenk senden zu dürfen, irgend einen Gegenstand, welcher hier selten und also auch von großem Interesse sei.
Dann schieden die beiden Deutschen von den dankbaren Leuten, welche sich noch bis zum letzten Tsching tsching in Höflichkeiten ergingen. Als sie aus dem Laden traten, sahen sie eine Anzahl Polizisten vor dem Hause Wing-kans stehen, aus welchem hoch bepackte Kulis kamen. Die Behörde war dabei, sich den Besitz des Gefangenen anzueignen, dessen wertvollsten Teil der Tong-tschi freilich schon gestern abend heimlich auf die Seite gebracht hatte.
Und eben als sie in das Haus des letzteren traten, ertönten am Eingange der Straße die durchdringenden Klänge des Gong. Der Wächter machte abermals die Runde, heut aber um zu verkündigen, daß die gestohlenen Götter sich selbst befreit hätten und noch im Laufe des Tages in ihren Tempel zurückkehren würden. Er fügte hinzu, daß die Missethäter ergriffen worden seien und ihrer gerechten Bestrafung entgegengingen.
Indessen hatte der Hausmeister den wegen der Sänften an ihn gerichteten Wunsch erfüllt. Die Reisenden stiegen ein und brachen auf, zwei Läufer an der Spitze und zwei Diener hinterher. Die Wasserpfeife, welche unbequem war, und den Neufundländer, von welchem man nicht wußte, ob er überall mit hingenommen werden durfte, hatte der Methusalem zurückgelassen. Auch die Fagottoboe war zurückgeblieben, was dem Gottfried nicht wenig Überwindung kostete. Er hatte die wunderbaren Töne derselben hier in China noch gar nicht an den Mann bringen können, während er daheim im »Geldbriefträger von Ninive« die Genugthuung gehabt hatte, täglich die Biersignale zu geben und die zahlreichen »Hochs« mit dem geliebten Instrumente zu begleiten.
Der Wunsch, einen Tempel zu besuchen, wurde bald erfüllt. Die Träger hielten vor einem Bauwerke, welches sie als das »Heiligtum der fünfhundert Geister« bezeichneten. Die Reisenden stiegen aus den Palankins, um es sich zu besehen.
Sie traten in einen überdachten Thorweg, an dessen Seiten zwei steinerne Ungetüme standen. Ein wohlgenährter Bonze trat ihnen entgegen, um sie mit einem freundlichen Tsching tsching zu begrüßen, welches ihm in herablassender Weise zurückgegeben wurde. Er bot sich als Führer an und geleitete sie in eine lange Doppelhalle, an deren Wänden fünfhundert vergoldete Menschenbilder saßen, welche die berühmtesten Schüler und Jünger Buddhas vorstellen sollten.
Für den ersten Augenblick machten diese vielen starren Gestalten einen fast beklemmenden Eindruck. Bei näherer Betrachtung aber konnte man sich mit dieser stummen Gesellschaft wohl befreunden, da die Idole keineswegs das Aussehen grimmiger oder gar blutgieriger Götzen hatten.
Da in China der Begriff der Schönheit mit demjenigen der Wohlbeleibtheit unzertrennlich ist und die »erhabenen Heiligen« doch unbedingt schön sein müssen, so besaßen alle diese Bilder einen Leibesumfang, welcher sich mehr oder weniger dem des Mijnheer van Aardappelenbosch näherte, ja denselben zuweilen noch übertraf. Die Gesichter hatten ohne alle Ausnahme höchst gutmütige Züge; die meisten lachten sogar, viele davon in einer Weise, daß die dicken Mäuler weit aufgerissen und die schiefen Augen ganz verzerrt waren und man hätte erwarten können, die heitere Gesellschaft im nächsten Augenblicke in einen allgemeinen Lachkrampf verfallen zu sehen,
Nur eine einzige Figur machte ein sehr ernsthaftes Gesicht; auch war sie durch verschiedene Tracht vor den andern ausgezeichnet. Auf die Frage des Methusalem, wen diese Figur vorstelle, antwortete der Bonze:
»Das ist der größte und berühmteste, auch der mächtigste und heiligste Gott dieses Tempels. Er wird Ma-ra-ca-pa-la genannt, aber außerdem noch unter vielen anderen Ehrennamen angebetet.«
Das war also das Bild des berühmten Venetiers und mittelalterlichen Reisenden Marco Polo, durch welchen die übrige Welt so wichtige und ausführliche Kunde über China und Ostasien überhaupt bekam und dessen Namen sich, wenn auch in chinesischer Verzerrung, bis zum heutigen Tage dort erhalten hat. Es ist ihm die Ehre geschehen, unter die Götter versetzt zu werden und sogar unter ihnen einen hohen Rang einzunehmen.
Die kleine Gesellschaft hatte sich erst sehr ernsthaft in der Halle umgeschaut. Bei näherer Betrachtung der lachenden Götter verloren die Gesichter mehr und mehr ihren Ernst. Die Züge des Gottfried von Bouillon begannen ins Heitere hinüberzuspielen; der Mijnheer biß sich in die Lippen; Turnerstick kratzte sich bedenklich neben seinem falschen Zopfe; er vermochte es fast nicht mehr, seine Heiterkeit zurückzuhalten, und wußte doch nicht, ob hier an dieser heiligen Stätte das Lachen erlaubt sei. Der Bonze sah das und wurde angesteckt. Er kniff die Äuglein halb zu und zog den Mund breiter, indem er auf einen Gott deutete, welcher der lustigste von allen zu sein schien, denn er lachte, wenn auch unhörbar, so, daß man glauben konnte, die Thränen aus seinen Augen rinnen zu sehen. Das brachte die befürchtete Wirkung hervor: Gottfried platzte los und rief aus vollem Halse lachend:
»Nichts für unjut, meine Herren Jötter, aberst ich kann mich nicht helfen; ich fühle mir in Ihre jeehrte Jesellschaft so kannibalisch wohl, daß ich unmöglich weinen kann. Sie sind die prächtigsten Jeburtstagsonkels, die mich jemals vorjekommen sind. Tsching, tsching, tsching!«
Der Mijnheer stimmte in das Gelächter ein; Turnerstick folgte nach; Methusalem und Richard accompagnierten; Liang-ssi lachte herzlich, und als die heiteren Besucher nach dem Bonzen blickten um zu sehen, wie er sich zu ihrer so wenig ehrerbietigen Lustigkeit verhalte, sahen und hörten sie, daß er sich aus vollem Herzen ganz derselben Sünde befleißigte, – er lachte nicht weniger als sie.
Rings um die Doppelhalle zogen sich die Wohnungen der Bonzen. Der Führer geleitete die Fremden in einige derselben, um ihnen zu zeigen, wie die Hüter der fünfhundert Geister sich eingerichtet hatten. Überall wurden ihnen Räucherstäbchen und beschriebene bunte Zettel, auf denen Gebete standen, angeboten, denn die Bonzen handeln mit derlei Gegenständen. Der Methusalem verteilte eine Handvoll Li unter diese Leute, gab dem Führer ein Com-tscha und wurde infolgedessen von der ganzen Schar unter einem vielstimmigen »Tsching tsching tsching« bis vor den Tempel geleitet, wo die noch immer sehr heiteren Besucher in ihre Sänften stiegen.
Von da aus ging es durch mehrere Gassen, in einen finstern, tunnelartigen Bau, dann eine Stufenreihe hinan, und nun befanden sich die Reisenden auf der Mauer, welche die Stadt umzieht. An alten, verrosteten Kanonen vorüber ging es nach der roten Pagode, einem wegen seiner Aussicht viel besuchten Riesenbau. Sie ist vierseitig und hat fünf Stockwerke mit weit vorspringenden Simsen, aber keine schlanke, wohlgefällige, sondern eine gedrungene, schwerfällige Gestalt. Die Simse und Schnörkel sind keineswegs nach der Art, wie man sich bei uns eine Pagode vorzustellen pflegt, mit Glocken und Glöckchen behängt.
Die Gesellschaft stieg auf hölzernen Treppen zum oberen Stockwerke empor und genoß dort einen Ausblick, welcher weit über das Weichbild der Stadt hinausreichte.
Im Süden dehnte sich das gewaltige Häusermeer der Stadt aus. Auf den Dächern der Gebäude sah man gefüllte Wasserkrüge stehen, ein von der Behörde gebotenes Mittel gegen Feuersgefahr. Darüber ragten Pagoden und die Dächer zahlreicher Tempel, auch hohe Holzgerüste, welche als Warten und Ausluge dienen.
Im Osten stiegen die Berge des Tian-wang-ling empor und im Südwesten die Höhen des Sai-chiu. Im Norden lag eine weite, wohlbewässerte und dörferreiche Ebene, welche nahe der Stadt in jene Sandhügel überging, in denen Kanton schon seit Jahrtausenden seine Toten begräbt.
Von dieser Pagode aus wurden die Reisenden nach dem Sing-gu, dem Kriminalgebäude getragen. Sie stiegen vor einer offenen Pforte aus, an welcher spießtragende Soldaten Wache hielten, schritten durch einen engen Hof und gelangten dann in eine weite Halle, deren Dach von Säulen getragen wurde.
Es waren viele Menschen da, welche die fremden Ankömmlinge mit erstaunten Blicken betrachteten. Diese aber kehrten sich nicht an die Aufmerksamkeit, welche sie erregten, und drängten sich so weit vor, als es möglich war.
Da saß an einem Tisch ein alter Mandarin, welcher eine riesige Brille auf dem Näschen trug; sein Zopf hing hinter dem Stuhle bis zur Erde herab. Von Akten und Schreibrequisiten war nichts zu sehen. Der Beamte schien von solchen Überflüssigkeiten nicht viel zu halten, sondern die anhängigen Fälle gleich aus dem Stegreife zu behandeln.
Sechs Personen standen vor seinem Tische, zwei als Kläger und vier als Beklagte. Das außerordentlich kurze Verhör ergab, daß die ersteren Compagnons eines Schuhwarengeschäftes waren und die letzteren als säumige Kunden geladen hatten. Die Schuldner gaben zu, geborgt zu haben, behaupteten aber, arm zu sein und nicht bezahlen zu können. Nach kurzem Nachdenken erklärte der Mandarin alle für schuldig, sogar die Kläger, da diese wegen leichtsinnigen Kreditgebens und zweckloser Belästigung der hohen Behörde zu bestrafen seien. Er warf einigen hinter ihm stehenden Vollzugsorganen, welche mit Bambusstöcken versehen waren, einen halblauten Befehl zu, worauf sie sich der sechs Personen bemächtigten, um ihnen gleich am Platze die für sie bestimmte Züchtigung zu erteilen.
Die Helden des Prozesses mußten sich nebeneinander, mit dem Rücken nach oben, lang auf die Erde legen. Zur Verabreichung der Strafe waren drei Polizisten nötig. Der erste hielt den Kopf des Delinquenten nieder, der zweite kniete ihm auf die Beine, und der dritte führte mit dem Bambus jene gefühlvolle Prozedur aus, welche auch manchem nichtchinesischen und sonst braven Manne aus seinen Jugendjahren her noch in gutem Gedächtnisse steht. Jeder erhielt fünfzehn Hiebe und zwar aus voller Kraft. Keiner schrie; vielleicht waren dergleichen Vorkommnisse bei ihnen zu herkömmlichen geworden. Dann standen sie auf, verbeugten sich vor dem Mandarin 'und trollten von dannen. Als die beiden Kläger an den Deutschen vorüberkamen, sagte eben der eine zum andern:
»Put-ko tschu-san tai, put yit-tschi – nur die ersten drei thun wehe, die andern nicht.«
Jedenfalls besaß der Mann in diesem Fache eine Erfahrung, welcher mancher europäische Kenner desselben Genres vielleicht widersprechen würde.
Sie waren noch nicht verschwunden, so begann bereits die Verhandlung einer neuen Sache. Es traten zwei Männer auf, von denen der eine eine dunkel gefärbte Beule seines Gesichtes unter der Behauptung vorzeigte, daß sie ihm von dem andern geschlagen worden sei. Der Angeklagte stellte das ganz entschieden in Abrede. Es zeigte sich sofort, daß es für beide besser gewesen wäre, wenn sie sich den vorher verhandelten Fall zur Warnung hätten dienen lassen. Sie wurden von ganz demselben Schicksale, natürlich in Gestalt der Polizisten, ergriffen und erhielten vierzig Hiebe zu ganz gleichen Hälften, worauf sie ihre Verbeugungen machten und mit sehr befriedigten Mienen, aber die Hände zärtlich auf die in Mitleidenschaft gezogene Gegend gelegt, hinter dem Kreise der Zuschauer verschwanden.
»Wollen jehen!« meinte Gottfried. »Mich wird angst und bange, denn dieser Mandarin bestreicht alles aus einem Topfe. Dat is mich zu jefährlich. Ich will mir nicht der Jefahr aussetzen, auch mir als Partei betrachten und behandeln zu lassen. Tsching tsching!«
Sie entfernten sich, um sich nach dem Hing-miao, dem Tempel des »Schreckens und der Bestrafungen«, tragen zu lassen.
Dieser ist der besuchteste Tempel der Stadt und sein Idol der Schutzgeist von Kanton. Man gelangt durch ein verschnörkeltes Thor in einen Hof, in welchem Hunderte von Bettlern stehen, um die Besucher mit wildem Heulen anzufallen. Die ganze Schar stürzte sich förmlich auf die Sänften, so daß die Insassen kaum auszusteigen vermochten.
Da kam dem Methusalem der Gedanke, die Wirkung seines T'eu-kuan zu erproben. Er zog das winzige Büchelchen aus der Tasche, öffnete es und hielt es, ohne ein Wort zu sagen, den ihm am nächsten stehenden zerlumpten Gestalten vor die schmutzigen Gesichter. Der Erfolg war ein augenblicklicher.
»T'eu-kuan-kiün – der Besitzer eines T'eu-kuan!« rief ein starker Kerl, dem ein Arm fehlte.
»T'eu-kuan-kiün!« schrieen andere ihm nach.
Der Ruf pflanzte sich fort, und die Leute zogen sich ehrerbietig bis an die Mauern zurück. Auf das wüste Geschrei vorher war eine tiefe Stille eingetreten.
Degenfeld sah, welche erstaunliche Wirkung der Paß ausübte; aber er hatte nicht die Absicht gehabt, die Bittenden von sich zu weisen. Jedenfalls war es geraten, den Armen zu beweisen, daß auch der Besitzer eines Passes des Bettlerkönigs sich ihnen nicht entziehe. Er winkte einen Mann herbei und fragte ihn, ob es ein »Haupt« unter ihnen gebe, dem die andern zu gehorchen hätten. Die Frage wurde bejaht, und als der Methusalem den betreffenden zu sich wünschte, wurde eben jener Einarmige herbeigerufen. Er gab diesem einen Silberdollar, eine Münze, welche in Kanton gerne gewechselt wird, und bat ihn, diese Gabe unter die Leute zu verteilen. Der Mann bedankte sich mit einer Ehrfurcht, als ob er einen König vor sich habe, und entfernte sich, indem er als Zeichen seiner Hochachtung rückwärts ging.
Außer diesen Bettlern gab es noch andere Leute in dem Hofe, Quacksalber, Taschenspieler, Zahnkünstler, Zauberer, bei denen man einen Blick in die Zukunft thun konnte, Kuchenbäcker, Garköche und andere Händler. Der Tempel ist sehr stark besucht und also ein Ort, an welchem diese Leute auf guten Absatz rechnen können.
Seinen Namen hat der Tempel von den da zu sehenden bildlichen Darstellungen der Schrecken, welche den Sünder nach seinem Tode erwarten. Man sah da alle Strafen, welche sich die Phantasie des Menschen zu denken vermag.
Da wurde ein Sünder, welcher als Klöppel in einer Glocke hing, zu Tode geläutet; der Leib eines andern wurde wie ein Korkzieher aufgeschraubt; ein dritter lag zwischen zwei Brettern, von denen er zu Teig gepreßt wurde. Man sah Seelen, welche in Öl gesotten, durch Messer zerstückelt, durch angespannte Ochsen zerrissen, in Mörtel erstickt, auf Pfählen gespießt, auf Rosten gebraten, verkehrt aufgehängt und von Rädern zermalmt wurden. Der Anblick war so grauenhaft, daß der Methusalem dem begleitenden Priester sehr bald das Com-tscha reichte und die Gefährten aufforderte, mit ihm diesen Ort des Schreckens zu verlassen.
»Aber wohin nun?« fragte Turnerstick. »Ich denke, wir wollen nach dem ›Hause der hundert HimmeIsherren‹, in welchem gestern abend der Diebstahl ausgeführt worden ist?«
»Das wollen wir allerdings,« antwortete Degenfeld. »Ich werde die Träger instruieren.«
Begleitet von dem dankbaren Tsching tsching der Bettler durchschritten sie den Hof, um sich nun nach dem Pek-thiantschu-fan bringen zu lassen.
Der Weg führt bis in den Stadtteil, in welchem der Tongtschi wohnte, woraus zu ersehen war, daß die Diebe gestern gar nicht weit von dem Orte ihrer That bis nach dem Garten des Juweliers zu gehen gehabt hatten. Im andern Falle wäre ihnen die Ausführung des Raubes, wenn nicht unmöglich, so doch viel schwerer geworden.
Auch hier mußte man vor dem Thore aussteigen. Als sie die Sänften verlassen hatten, machte der Methusalem den Vorschlag, nur noch diesen Tempel zu besichtigen und dann das Mittagsmahl entweder in einem Speisehause oder daheim bei dem Mandarinen einzunehmen, da es nun Zeit dazu geworden sei. Der Vormittag war längst vorüber.
Der Vorhof, durch welchen sie mußten, war leer von Menschen. Ein einziger Bonze stand da. Er begrüßte sie und fragte, ob sie auch gekommen seien, die Stätte zu sehen, an welcher gestern eine so grausige That begangen worden sei.
»Der Tempel ist heut nicht leer geworden,« fuhr er fort. »Nun aber sind alle Menschen gegangen, um die Götter zurück zu begleiten, welche unsere Priester feierlichst einholen. Das wird ein großer Triumphzug werden. Nur der große Tong-tschi ist da, dem wir das Ergreifen der Diebe verdanken. Er will sehen, welche Vorbereitung wir zum Empfange des Zuges getroffen haben.«
Der Tempel besteht aus zwei Teilen, der größere war nach rückwärts gelegen und enthielt die bedeutendere Anzahl der Götterbilder. Die Deutschen traten in den kleineren, nach vorn gelegenen ein. Da standen achtzehn Figuren; zwei Postamente, auf denen die Geraubten gethront hatten, waren leer. In der Nähe derselben sahen sie den Tong-tschi stehen, welcher, als er sie erblickte, ihnen rasch und erfreut entgegenkam.
»Sie sind da!« sagte er, sie begrüßend. »Haben Sie eine Tour durch die Stadt gemacht?«
»Durch einen Teil derselben,« antwortete der Methusalem. »Dieser Tempel soll vor Tische der letzte Ort sein, den wir besuchen.«
»Das ist recht. Aber leider kann ich Sie nicht begleiten, da ich noch in der Götterangelegenheit beschäftigt bin. Man wird sie baldigst bringen und Sie können Zeuge der Feier sein, unter welcher sie ihre Plätze wieder erhalten. Es sind gestern um die Zeit des Raubes gar keine Besucher hier gewesen, der einzige Grund, daß die That gelingen konnte. Kommen Sie weiter! Ich will Ihnen den Haupttempel zeigen.«
Bei den beiden hatten nur der Wichsier, Richard und Liang-ssi gestanden. Sie folgten ihnen in den Hauptteil des Tempels, und der Bonze ging ihnen langsam nach.
Turnerstick und der Mijnheer waren gewöhnt, die letzten im Zuge zu sein. Sie hatten sich, als sie über den Hof schritten, nicht allzu sehr beeilt. Sie schauten sich da sehr gemächlich um und traten infolgedessen in den vorderen Tempel ein, als die andern denselben bereits verließen.
Sie hatten auch die Rede des Bonzen nicht verstanden und wußten also nicht, daß der Zug der Priester mit den zurückkehrenden Göttern erwartet wurde.
Nun blickten sie sich im Vortempel um. Als sie die beiden leeren Plätze sahen, sagte Turnerstick:
»Ach Mijnheer, da haben die beiden gestohlenen Gottheiten gesessen. Meinen Sie nicht auch?«
»Wat ik zeg?« antwortete der Dicke. »Ja, daar hebben zij gestaan.«
Sie traten näher und betrachteten sich die Plätze. Die Fläche derselben war so groß, daß ein Mann ganz behaglich da sitzen konnte. Turnerstick legte unternehmend den Kopf zur Seite und meinte:
»Gar kein übler Sitz. Habe schon öfters schlechter gesessen. Bin aber auch kein Gott. Möchte wissen, wie es so einem Götzenbilde zu Mute ist. Muß gar nicht so übel sein, angebetet zu werden und Räucherstäbchen unter die Nase zu bekommen! Nicht?«
»Ja, het moet zeer heerlijk zijn – ja, es muß sehr vortrefflich sein.«
»Nun, man kann hier ja sehen, wie es ist. Die Gelegenheit ist vortrefflich. Ich werde mich mal auf diesem Postamente niederlassen und mir einbilden, daß ich ein chinesischer Götze sei. Bin neugierig, ob die anderen Gottheiten etwas dazu sagen.«
So schnell ihm dieser Gedanke gekommen war, so schnell wurde er auch ausgeführt. Der Kapitän setzte sich nieder, rückte sich zurecht, nahm eine bequeme Haltung an, kreuzte die Beine übereinander, wie die anderen Götter es thaten, und fragte dann:
»Nun, Mijnheer, wie nehme ich mich aus?«
»Zeer goed.«
»Und nun den Fächer dazu! Jammerschade, daß wir allein sind! Ich wollte, es käme ein Chinese. Möchte wissen, ob er mich für Buddha oder für Heimdall Turnerstick hielt. Ich glaube, für Buddha. Schade, daß keiner da ist. Und der Schreck, wenn ich ihn dann mit meinem prachtvollen Chinesisch anreden würde! Diese Verbeugungen!«
»Ik word u eene maken – ich werde Ihnen eine machen!«
Turnerstick hatte den Riesenfächer ausgespannt und hielt ihn graziös in der Rechten, während er durch die Linke seinen Zopf gleiten ließ. Auf seiner Vorlukennase saß der Klemmer. Der Dicke stellte sich vor ihn hin, verbeugte sich und sagte:
»Mijne komplimenten, Mijnheer Buddha! Hoe staat het met uwe gezondheid?«
»Wie es mit meiner Gesundheit steht? Ganz vortrefflich, besonders seitdem ich einer von den hundert Himmelsherren bin. Aber, Mijnheer, es sitzt sich hier als Gott wirklich ganz ausgezeichnet. Wollen Sie es nicht auch einmal versuchen?«
Der Dicke streichelte sich bedenklich das Kinn und antwortete:
»Wordt men want mogen – wird man denn dürfen?«
»Dürfen? Warum denn nicht? Was fragen Sie noch! Sie sehen ja, daß ich darf, daß ich hier sitze! Oder fürchten Sie sich etwa?«
»Neen!«
»Nun, so folgen Sie meinem Beispiele! Ich möchte auch Sie einmal als Gott sehen.«
»Als god? Mij? Goed, ik word het verzoeken – als Gott? Mich? Gut, ich werde es versuchen.«
Die beiden hatten in ihrem Eifer gar nicht auf ein erst sehr entferntes Geräusch geachtet, welches aber schnell näher kam. Man konnte jetzt deutlich die Töne von Gongs, Pfeifen, Klingeln, Glocken und anderen chinesischen Musikinstrumenten hören.
Der Dicke ließ sich krächzend auf das andere Postament nieder, schob sich richtig in Positur und fragte dann:
»Ziet zij mij, Miinheer Turnerstick – sehen Sie mich, Herr Turnerstick?«
»Ja, natürlich! Sie sitzen ja gleich neben mir.«
»Ben ik even zoo hoe een god – sehe ich ebenso aus wie ein Gott?«
»Ganz genau so. Nur würden Sie einen noch viel göttlicheren Eindruck machen, wenn Sie den Regenschirm aufspannten.«
»Dat kan ik maken. Derhalve heb ik het regenscherm en parasol ja metgenommen.«
Er spannte das Familiendach auf und blickte stolz umher. Dabei gab er sich die größte Mühe, die Stellung Turnersticks nachzuahmen, brachte aber die kurzen, dicken Beinchen nur mit großer Anstrengung übereinander.
Nun war die Musik und der Lärm so stark geworden, daß die beiden darauf achten mußten.
»Wat is dat voor een fluitenspel?« fragte der Mijnheer.
»Für ein Flötenspiel? Hm! Es wird irgend ein Aufzug sein, die Feuerwehr vielleicht, oder die Kommunalgarde, die Bürgerschützen, welche Vogelschießen haben,« antwortete Turnerstick sehr unbesorgt.
»Vogelschießen? In China?«
»Ja? Warum denn nicht? Sie scheinen vorüber zu ziehen. Schade darum! Wie hübsch wäre es, wenn einer hereinkäme und wir könnten sehen, ob er uns für Götter hält! Sie bringen einen Tusch. Jedenfalls müssen sie das vor jedem Tempel thun. Wir wollen annehmen, daß es uns zur Ehre geschieht. Nicht?«
»Ja, wij willen zoo denken.«
»Horchen Sie! jetzt ziehen sie weiter.«
Draußen vor dem Thore war der erwartete Zug angelangt. Er bestand aus Bonzen mit ihren Oberpriestern, zahlreichen behördlichen Personen und einem nach Hunderten zählenden Gefolge von Civilisten. Die mit Blumen geschmückten Götter wurden auf mit Teppichen behangenen Bahren von Oberpriestern getragen. Die Musiker, welche an der Spitze marschiert waren, blieben draußen stehen, schmetterten eine tuschartige Fanfare und begannen dann ein neues Getöse, welches einen Marsch vorstellen sollte, um den Zug an sich vorüber und in den Tempel gehen zu lassen.
Da sich die Musik nicht näherte, so hatte der unglückselige Kapitän geglaubt, daß die »Kommunalgarde« weiter ziehe.
Einer chinesischen Musikantentruppe darf man keine europäische Kammermusik zumuten. Da gibt es Gongs, Schellen, Glocken und Klingeln, auch Triangeln, Metallplatten, Musikurnen, Faßtrommeln, hölzerne Totenköpfe zur Tempelmusik, Flöten, Castagnetten, zweisaitige Geigen, drei- und viersaitige Guitarren, kreischende Trompeten, welche weder im Kammer- noch im Kabinettstone stehen, und sonderbar geformte, mit kleinen Schellen behangene Bambusgestelle, deren einheimischer Name in das Deutsche mit »Musikgeklimper« zu übertragen ist. Jeder bearbeitet sein Instrument aus Leibeskräften, ohne Noten und ohne Takt. Von einer Harmonie ist keine Rede. Die Melodie, wenn es je eine gäbe, würde in dem allgemeinen Lärm verschwinden, denn derjenige, welcher das größte Getöse hervorbringt, gilt als der beste Musikant.
Darum war es kein Wunder, daß bei dem Heidenskandale, welchen die Musiker verübten, die Schritte des nahenden Zuges nicht zu hören waren, und daß die Spitze desselben am Eingange des Tempels erschien, während die beiden falschen Idole sich noch vollständig sicher fühlten und der Kapitän sogar noch immer den Wunsch hegte, es möge jemand kommen, mit dem er sich einen Spaß machen könne.
Indessen hatte der Tong-tschi den andern die größere Abteilung des Tempels gezeigt und war dann mit ihnen durch ein Hinterthor nach einem Hofe gegangen, um welchen die Wohnungen der Bonzen standen. Dort nahm er den Methusalem beiseite und fragte ihn:
»Wissen Ihre Gefährten alles, was am gestrigen Abende geschehen ist?«
»Ja.«
»Das ist sehr unrecht. Sie hätten es ihnen nicht erzählen sollen!«
»Es ging nicht anders; sie mußten es auf alle Fälle erfahren, um sich danach richten zu können.«
»So erwarte ich wenigstens, daß sie nichts verraten?«
»Das darf Ihnen keine Sorge machen. Diese Leute sind verschwiegen. Ich wünsche, daß die Ihrigen es nicht weniger sind.«
»O, diese wagen nicht, ein Wort zu sagen. Und Hu-tsin werde ich nochmals auf das strengste zum Schweigen ermahnen.«
»Ich war am Morgen bei ihm und er hat mir versprochen, gegen niemand ein Wort zu äußern. Man wird also die Götter bringen. Wie aber steht es mit den drei Missethätern?«
»Die sollten eigentlich mitgenommen werden, um den Triumphzug zu verherrlichen. In diesem 'Falle wären sie wahrscheinlich vom Publikum zerrissen worden.«
»So haben Sie es verhütet?«
»Nein, denn ich hätte nicht die Macht dazu gehabt. Die Priester verlangten es, und der Sing-kuan hätte es ihnen nicht verweigern können.«
»Und dennoch kommen sie nicht mit? Das hat also einen besonderen Grund?«
»Ja. Sie konnten nicht mitgenommen werden, weil sie nicht mehr da sind.«
»Nicht mehr da? Also fort?«
»Fort!« nickte der Mandarin, indem er ein sehr pfiffiges Gesicht machte.
»Ich verstehe,« lächelte der Methusalem. »Sie sind in die Verbannung, welche Sie ihnen gestern versprochen haben?«
»So ist es; sie sind entflohen.«
»Wann?«
»Während der Nacht.«
»Jedenfalls mit fremder Hilfe?«
»Sehr wahrscheinlich, da sie fest eingesperrt waren.«
»Diese Hilfe sollte ich kennen. Ich habe gestern gewisse Münzen gesehen, denen sich die Gefängnisse öffnen.«
Der Tong-tschi sah sich um, und als er keinen Lauscher bemerkte, sagte er:
»Sie werden verschwiegen sein, und ich denke, daß ich Ihnen trauen darf. Die drei Verbrecher konnten Sie, auch ohne daß sie es beabsichtigten, beim Verhören mit in die Sache verwickeln. In diesem Falle wäre auch ich mit gefaßt worden, weil Sie mein Gast sind und ich für alles, was Sie thun, verantwortlich bin. Das zu verhüten, standen mir nur zwei Wege frei: Entweder mußte ich sie töten, und das wollte ich nicht thun, oder ich mußte ihnen gar zur Flucht verhelfen, und das habe ich gethan. Ich selbst habe sie aus dem Gefängnisse geholt und bis an die Grenze der Stadt geleitet. Dafür wird nun freilich das ›Haupt‹ des Gefängnisses bestraft werden› aber an das Leben wird es ihm nicht gehen.«
»Weiß man denn nicht, daß Sie es sind, der die Leute befreit hat?«
»Nein, denn ich hatte meine Maßregeln so getroffen, daß man mich nicht erkennen konnte.«
»Aber man mußte Sie doch kennen, um Sie in das Gefängnis zu lassen!«
»Nein. Die Münze öffnet einem jeden die Thür, auch einem Unbekannten. Nun ist die Sache vorüber, und wir wollen nicht mehr von ihr sprechen. Aber ich bitte Sie, solange Sie noch mein Gast sind, nichts mehr ohne mich zu thun, damit ich nicht wieder in eine solche Verlegenheit komme! Morgen wird der Ho-po-so Sie besuchen, den Sie mit mir errettet haben. Er wußte noch nicht, daß Sie sich hier befinden. Er hat heute den Fluß bis hinauf zur Insel Lu-tsin zu inspizieren. Wird er eher fertig, als er glaubt, so wird er seinen Besuch noch heute machen. Wenn Sie Kuang-tschéu-fu auf dem Wasserweg verlassen wollen, so kann er Ihnen jedenfalls von Nutzen sein. Doch, hören Sie die Musik? Der Zug kommt. Sie werden Gelegenheit haben, Interessantes zu sehen.«
Er hatte mehr als recht, denn es war auch mehr als Interessantes, was sie zu sehen bekamen.
Sie winkten die andern herbei und kehrten in den Tempel zurück. Die Hauptabteilung war noch leer; aber aus dem kleinen Vortempel tönte ihnen ein vielstimmiges, verworrenes Geschrei entgegen.
»Mein Himmel!« sagte der Student. »Der Zug ist da, und Turnerstick und der Mijnheer sind noch nicht bei uns. Sie sind zurückgeblieben. Wer weiß, was geschehen ist, was sie für Dummheiten begangen haben!«
Er wollte vorwärts eilen, aber der Mandarin hielt ihn am Arme zurück und warnte –
»Halt! Wenn sie einen Fehler begangen haben, so ist es besser, man erfährt nicht, daß wir zu ihnen gehören. Nicht durch die Thür. Sehen wir an der Seite hinein!«
Degenfeld sah ein, daß der Chinese recht hatte, und ließ sich von ihm seitwärts führen. Nämlich rechts und links der Thüre waren enge Bambusgitter angebracht, durch welche man, ohne selbst leicht bemerkt zu werden, aus der einen Abteilung in die andere blicken konnte. Dorthin gingen sie und sahen hinaus. Was sie da bemerkten, war keineswegs geeignet, sie zu beruhigen. Dem Methusalem wollte sich vielmehr das Haar auf dem Kopfe sträuben.
Als die beiden unvorsichtigen Männer die Leute erblickten, welche durch die Thüre kamen, war Turnerstick in die hastigen, aber leisen Worte ausgebrochen:
»Hallo! Da kommen welche!«
»Ja, zij komen,« nickte der Dicke.
»Still! Kein Wort! Halten Sie sich ganz steif und ruhig wie eine Bildsäule! Wollen sehen, ob sie so gescheit sind, zu entdecken, daß wir keine Buddhas sind.«
Er saß bewegungslos, hielt den Riesenfächer vor sich hin und blickte starr in eine Richtung. Der Dicke that ganz dasselbe. Keiner von ihnen hatte einen richtigen Begriff von der Gefahr, in welche sie sich begeben hatten.
Voran kamen acht Polizisten, hinter ihnen die Oberpriester mit den beiden Tragbahren. Jetzt begriff Turnerstick, daß er sich in Beziehung des »Feuerwehraufzuges« oder »Vogelschießens« gewaltig geirrt habe. Er erriet, was hier vorgehen solle, und es wurde ihm außerordentlich schwül unter der Mandarinenmütze.
»Alle Teufel!« flüsterte er seinem Mitgotte zu. »Sie bringen die Götzen zurück und wollen sie auf die Dinger stellen, auf denen wir sitzen! Was ist da zu thun?«
Man konnte die Bewegung seiner Lippen nicht sehen, da er den Fächer vorhielt.
Auch dem Dicken wurde himmelangst. Er begriff, daß die Götter auch Augenblicke haben können, in denen sie lieber gewöhnliche Menschen und weit fort vom Tempel sein möchten.
»Ja,« antwortete er möglichst leise. »Wat zullen wij maken?«
»Es gibt nur eine einzige Rettung. Bleiben wir sitzen, ohne uns zu rühren. Vielleicht sind unsere Plätze doch nicht diejenigen, auf welche die beiden Götzenbilder gehören.«
Starr vor sich hinblickend, steif wie von Holz, aber innerlich bebend warteten sie auf das, was nun geschehen werde.
Die Polizisten waren vorgeschritten, ohne zu bemerken, daß zwei Götter zu viel vorhanden seien. Sie wußten nicht, wohin die beiden Geraubten gehörten. Die Oberpriester aber hatten ihre Blicke unwillkürlich dorthin gerichtet, wo die Feierlichkeit vor sich gehen sollte. Sie sahen die Plätze besetzt und blieben vor Erstaunen halten. Und als sie von den nachfolgenden Bonzen weiter vorgedrängt wurden, setzten sie die Bahren nieder und deuteten auf die inzwischen angekommenen Götter.
War das möglich! Hatten sich Himmlische herbeigelassen, herniederzusteigen, um das Kloster für den Raub dadurch zu entschädigen, daß sie nun sich an die verwaisten Plätze setzten? Es überlief die frommen Buddhisten ein kalter Schauder. Sie getrauten sich nicht vorwärts und wurden doch von den Nachdrängenden immer weiter vorgeschoben, so daß sie in die nächste Nähe der beiden Wundergestalten kamen.
Die im Innern des Vortempels Stehenden flüsterten den draußen Befindlichen die Kunde des Wunders zu. Jeder wollte dasselbe sehen, und so begann ein Schieben und Stoßen, welchem die Bonzen, die in den Tempel gehörten, dadurch ein Ende machten, daß sie die Thür verschlossen, was allerdings nur unter Anwendung von Gewalt geschehen konnte.
Nun befanden sich nur die Polizisten, die Oberpriester, die Bonzen und mehrere Mandarinen, welche sich unmittelbar hinter den Tragbahren im Zuge befunden hatten, in dem Tempel. Draußen schwieg die Musik; unterdrücktes Gemurmel drang wie ein leises Brausen herein; im Innern aber herrschte noch feierliche Stille.
Dann flüsterten die Priester einander leise Bemerkungen zu. Sie hielten einen Rat, was zu thun sei. Dann trat der Ta-sse des Tempels vor die beiden Götter, verbeugte sich tief vor ihnen und fragte:
»Schui ni-men, thian-tse – wer seid ihr, Himmelssöhne?«
Es erfolgte keine Antwort.
»Hi-wei iü-tsi – warum seid ihr hier?« fuhr er fort.
Die Göttlichen geruhten nicht, zu antworten. Keine Bewegung von ihnen zeigte an, daß sie sich eines sehr irdischen Daseins erfreuten. Nur von der Schläfe des Dicken rollte ein schwerer Angstschweißtropfen, welcher aber von niemand bemerkt wurde.
Da wendete sich der Ta-sse zu den Priestern zurück und sagte:
»Schu-tschi-ho, schok-tschi-ho – was soll man davon denken, wie soll man sich dazu verhalten?«
Turnerstick brachte es fertig, ganz ruhig zu bleiben. Der Mijnheer aber hatte keine solche Gewalt über sich. Es war ihm glühend heiß im ganzen Körper. Auf seinem kahlen Kopfe, welchen die schottische Mütze nicht ganz bedeckte, sammelte sich der Schweiß und begann in großen Tropfen herabzuperlen. Seine Hand zitterte, so daß der Schirm wankte, nicht allzusehr zwar, aber einer hatte es doch bemerkt. Dieser eine war ein junger Mann von vielleicht einundzwanzig Jahren, der jüngste unter den Anwesenden. Er hatte unter den Mandarinen gestanden. Jetzt trat er vor, schob den Ta-sse beiseite und sagte zu ihm:
»Ngo yen huo t'a-men – ich werde mit ihnen sprechen.«
Er schritt zu den beiden heran und betrachtete sie. Dann ging er nach der Ecke, in welcher auf einer Art Altar Räucherstäbchen glimmten, ergriff eins derselben, kehrte zurück und hielt es dem Dicken unter die Nase.
Der Mijnheer gab sich alle Mühe, dem scharfen, wenn auch angenehmen Geruche zu widerstehen, doch vergeblich. Der Rauch drang ihm in die Nase, und – – – »Ha – ha – ha – -zieeh!« drang es aus seiner Brust, wie aus einem Vulkane.
»Thian-na, nguot-tik – o Himmel, o Wunder!« erklang es rundum.
Der junge Mandarin versuchte sein Experiment nun auch an Turnerstick. Dieser biß die Zähne zusammen und nahm sich vor, auf keinen Fall zu niesen. Aber auch er konnte nicht widerstehen. Es erfolgte bei ihm eine ebenso gewaltige Explosion wie bei dem Dicken.
»Thian-na! Nguot-tik!« riefen die Umstehenden wieder.
Da Turnerstick chinesische Kleidung trug, hielt man ihn für einen heimischen Gott, den Mijnheer aber für einen Gott aus einem fremden, bisher noch unbekannten Himmel. Daß beide geniest hatten, war ein ebenso großes Wunder wie auch ein sicheres Zeichen, daß ihnen das Räucheropfer wohlgefallen habe. Schon dachte der Ta-sse an die Berühmtheit, welche sein Tempel durch diese beiden unbegreiflichen Wesen erlangen werde, und an die Einnahmen, welche eine natürliche Folge davon sein mußten. Da aber riß ihn der Mandarin durch die Worte aus seiner Täuschung:
»T'a-men put tschian-tse, t'a-men ti-jin – es sind nicht Himmelssöhne, sondern irdische Menschen!«
Bei diesen Worten nahm er dem Dicken den Schirm aus der Hand und stieß ihm die Spitze desselben an den Leib.
»Oei, seldrement – o weh, potztausend!« rief der Mijnheer, indem er mit beiden Händen nach der getroffenen Stelle griff.
Auch der Kapitän erhielt einen kräftigen Stoß, so daß er zornig ausrief:
»Alle Wetter! Nimm dich doch in acht, Kerl!«
Auf diese beiden Interjektionen erhob sich in dem Tempel ein Lärm, welcher ganz unbeschreiblich war. Man erkannte, daß man ganz gewöhnliche Menschen vor sich habe und daß das Heiligtum geschändet worden sei. Man drang auf die beiden ein.
»Rechtvaardige Hemel! Dat God verhoede – gerechter Himmel! Gott mag's verhüten!« schrie der Mijnheer, indem er sich von dem Postamente herabwälzte, um hinter dem Kapitän Schutz zu suchen. Dieser aber, als er nun die wirkliche Gefahr vor sich sah, ließ alle Angst schwinden. Er sprang auf, streckte den Andrängern die geballten Fäuste entgegen und schrie:
»Zurück, ihr Chineseng! Ich werde mich nicht anrühreng lassing! Könnt ihr boxeng? Wollt ihr meine Fäustung fühlang?«
Sie prallten wirklich zurück, und das war der Augenblick, an welchem der Methusalem jenseits an das Gitter getreten war, um durch dasselbe herüberzublicken. Er sah den Kapitän, welchem der Klemmer von der Nase gerutscht war, in drohender Stellung vor seinen vielen Angreifern auf dem Postamente stehen. Er erriet, was geschehen war, und erkannte die Gefahr, in welcher die beiden schwebten; aber wie war da Hilfe zu bringen!
Turnerstick benutzte das momentane Zurückweichen seiner Gegner zu einer donnernden Rede, in welcher er ihnen die Gefahr auseinandersetzte, welche ihnen drohte, wenn sie sich seiner friedlichen Entfernung widersetzen sollten.
»Welche Unvorsichtigkeit!« sagte der Methusalem. »Sie werden kaum zu retten sein. Ich muß hinein!«
»Nein, nein!« entgegnete der Tong-tschi. »Die Unvorsichtigen haben die Stelle der Götter eingenommen gehabt und sind dabei überrascht worden. Wenn Sie ihnen zu Hilfe eilen, sind auch Sie verloren, wir alle! Wir können sie nur aus der Ferne retten.«
»Ich rette sie!« sagte Liang-ssi. »Ich bringe es wenigstens so weit, daß ihnen jetzt kein Leid geschieht. Man wird sie in das Gefängnis stecken, aber ich hoffe, daß wir sie aus demselben befreien können.«
Er wollte fort. Der Methusalem hielt ihn zurück und fragte:
»Was wollen Sie thun?«
»Lassen Sie mich! Sie sind Lamas aus Lhassa.«
»Das glaubt niemand!«
»Mag man es bezweifeln! Man muß sie doch einstweilen als solche behandeln.«
Er riß sich los und trat in die vordere Halle, nicht eilig, sondern ganz so, als ob er sich in der hinteren Abteilung befunden habe und von dem Lärm herbeigelockt worden sei.
Noch stand Turnerstick da und sprach. Er wollte die Anwesenden durch die Gewalt seiner Rede niederschmettern, natürlich aber wurde kein Wort verstanden.
Der junge Mandarin erblickte den Eintretenden; er trat auf ihn zu, ergriff ihn am Gewande und fragte:
»Gehörst du zu diesen beiden?«
»Nein,« antwortete Liang-ssi, allerdings nicht der Wahrheit gemäß.
»Was willst du hier?«
»Den Tempel besuchen.«
»Das ist jetzt nicht erlaubt! Kein Fremder darf herein!«
»Diese beiden sind ja auch fremd!«
»So kennst du sie also doch!«
»Nein. Ich verstehe aber ihre Sprache und hörte diesen Lama sprechen.«
»Welche Sprache ist es?«
»Tibetanisch.«
»Das verstehest du?«
»Ja. Ich war zweimal in Tibet.«
»So bleib! Du wirst den Dolmetscher machen.«
Jetzt hatte Turnerstick seine Rede beendet, ohne Liang-ssi bemerkt zu haben. Dieser letztere befürchtete, daß der Kapitän, wenn er ihn erblickte, durch ein Zeichen verraten werde, daß er ihn kenne, und hielt es infolgedessen für geraten, ihn gleich selbst anzureden. Darum rief er ihm in deutscher Sprache zu:
»Wenn Sie gerettet sein wollen, so thun Sie so, als ob Sie mich nicht kennen, sonst sind Sie verloren.«
Der Kapitän drehte sich nach ihm um und antwortete:
»Ich fürchte mich nicht vor diesen Kerls. Ich habe meine Pistolen mit, vor denen sie alle ausreißen.«
»Diese Berechnung ist falsch. Sie haben eine großes Verbrechen begangen, und wenn Sie auch hier entkämen, würde man Sie doch verfolgen und wir alle müßten die Folgen Ihres Fehlers miterleiden.«
»Alle Wetter, das ist dumm!«
»Ja, dumm von Ihnen. Ich werde aber versuchen, Sie herauszureißen. Ich gebe Sie für einen heiligen Lama aus Lhassa aus. Setzen Sie sich getrost nieder, als ob Sie ein Recht hätten, auf diesem Postamente zu sitzen, und auch Sie, Mijnheer, müssen ganz dasselbe thun.«
»Sonst gibt es keinen Ausweg?«
»Nein.«
»Gut! Aber wenn so ein Schlingel mir abermals unter die Nase räuchert, so gebe ich ihm eine Ohrfeige, an die er längere Zeit denken soll. Steigen Sie wieder auf Ihren Thron, Mijnheer!«
»Weder opstijgen?« fragte der Dicke kleinlaut.
»Ja. Sie hören doch, daß es uns sonst schlimm ergehen kann.«
Er setzte sich wieder nieder uns spannte seinen Fächer auf. Der Dicke kletterte auf das Postament und nahm seine alte Stellung ein. Liang-ssi nahm ganz unbefangen dem Mandarin den Schirm aus der Hand und gab ihn an den Holländer zurück, wobei er sagte.
»Nun bewegen Sie sich nicht, und starren Sie immer vor sich hin, gerade wie leblose Gestalten.«
Sie folgten, indem der Mijnheer seinen Schirm wieder aufspannte, diesem Gebote.
Die Anwesenden hatten dem Gebahren Liang-ssi's zugesehen, ohne ihn zu hindern; aber auf ihren Gesichtern war das größte Erstaunen zu lesen.
Es befanden sich Mandarinen da, welche bedeutend älter waren und auch im Range höher standen als der junge Beamte, welcher das Wort geführt hatte; aber sie schienen ihn zu kennen und zu wissen, daß die Angelegenheit bei ihm in guten Händen sei. Er seinerseits that, als ob es ganz selbstverständlich sei, daß er die Sache weiterführe. Er sagte in zornigem Tone zu Liang-ssi.
»Wie kannst du es wagen, mir den Schirm zu nehmen?«
»Weil er dir nicht gehört.«
»Und,« fuhr der Mandarin in noch stärkerem Tone fort, »wie darfst du dich unterstehen, mich ›du‹ zu nennen?«
»Weil du mich ebenso nennst.«
»Ich bin Kuan-fu und Moa-sse!«
»Kannst du behaupten, daß ich nicht dasselbe bin?«
»Wie willst du ein Kuan-fu sein, da du nicht die Kleidung eines solchen trägst!«
»Wer ein Gelübde gethan hat, soll alle Zeichen seiner Würde ablegen, bis es von ihm erfüllt worden ist.«
Liang-ssi spielte ein gewagtes Spiel; aber er hatte es nun einmal begonnen und mußte es nun auch zu Ende führen. Der Mandarin musterte ihn mit mißtrauischem Blicke und sagte dann in milderem Tone:
»Ein Gelübde? Welches denn?«
»Bist du ein Priester, dem ich es anvertrauen kann?«
»Nein. Behalte es für dich. Wo kommst du her?«
»Aus Tsching-tu in der Provinz Sze-tschuen.«
»Das ist weit von hier!«
»Mein Gelübde gebietet mir, nach Kuang-tschéu-fu zu gehen und da täglich dreimal dieses Haus der hundert Himmelsherren zu besuchen. Meine Heimat liegt hoch oben an der Grenze der Wüste, und so bin ich nach Tibet gekommen und habe die Sprache dieses Landes gelernt. Als ich mich jetzt hier im Tempel befand, hörte ich viele Leute sprechen und sodann eine Stimme, welche tibetanisch redete. Ich kam herbei, um zu sehen, wer das sei. Ich habe nichts Unrechtes gethan, und du redest zu mir, als ob ich ein Verbrecher wäre.«
»Was hast du soeben mit diesen Menschen verhandelt?«
»Ich habe sie gefragt, auf welche Weise und warum sie hierher gekommen sind. Da hörte ich, daß sie Lama's seien, die man in ihrer heiligen Ruhe gestört hat. Sogar den Schirm hast du dem Ehrwürdigen entrissen. Ich habe ihm denselben wiedergegeben.«
»Sagst du die Wahrheit?«
»Erkundige dich! Es wird wohl jemand hier sein, welcher die Sprache von Tibet auch versteht.«
Das war viel gewagt. Dennoch blickte Liang-ssi in einer Weise umher, als ob er sehr wünsche, daß ein solcher Mann anwesend sei.
Glücklicherweise meldete sich niemand. Darum fuhr der Mandarin fort:
»Weißt du, was gestern Abend hier geschehen ist?«
»Ja.«
»Wer hat es dir gesagt?«
»Ich erfuhr es auf der Straße.«
»Man hat die Götter gestohlen. Und nun wir sie zurückbringen, wird der Sitz derselben zum zweitenmal entweiht.«
»Entweiht?« fragte Liang-ssi im Tone des größten Erstaunens. »Wer hat das gethan?«
»Diese beiden fremden Männer.«
»Diese? Nimm es mir nicht übel, aber ich muß dich fragen, ob du weißt, was ein Lama ist?«
»Ja, ich weiß es. Ein Lama ist ein Priester, ein Mönch, welcher in einem Kloster, in einem Tempel lebt.«
»Das sagst du und willst ein Doktor der Feder sein? Hast du noch nichts vom Dalaï Lama, vom Tsong Kaba, vom Hobil-gan, vom Pantscham Ramputschi gehört? Sind das nicht Götter, deren Seelen auf die Auserwählten übergehen? Heißt nicht Lhassa die Stadt der hunderttausend Heiligen? Sind nicht im großen Ku-ren dreimal hunderttausend Lamas versammelt, welche niemals sterben können, weil ihre Seelen von einem Leibe in den andern übergehen?«
Er hatte das in einem sehr überlegenen und zugleich vorwurfsvollen Tone gesagt. Der Methusalem stand hinter dem Gitter und bewunderte ihn. Er hatte dem jungen Chinesen, der nur Kaufmann war, diese Kenntnisse, diese Energie und diesen Mut nicht zugetraut. Liang-ssi schien plötzlich ein ganz anderer geworden zu sein.
Freilich kam ihm zu statten, daß die Chinesen sehr schlechte Geographen sind; ihr Nationalstolz verbietet ihnen, sich allzusehr mit anderen Ländern und Völkern zu beschäftigen.
Der junge Mandarin schien verlegen zu werden. Er antwortete in hörbar höflicherem Tone:
»Ich habe diese Namen alle längst gehört.«
»Die Namen, ja, aber die Verhältnisse scheinen dir unbekannt zu sein. Der Dalaï Lama ist nicht der Unterthan des chinesischen Himmelsherrn, denn letzterer sendet ihm jährlich kostbare Geschenke, um ihm seine Ehrfurcht zu erweisen. Jeder Lama ist ein Gott und hat alle Rechte eines solchen. Ein Lama kann einen Tempel errichten, um sich verehren zu lassen, und es gibt jenseits der großen Mauer berühmte Lamas, welche so heilig sind, daß Hunderttausende zu ihnen wandern, um sich ihre Sünden vergeben zu lassen und von ihnen die Unsterblichkeit zu erlangen. Zu diesen berühmten Wesen gehören die beiden, welche ihr da vor euch erblickt. Der eine ist sogar ein Lama des Krieges und hat die Feinde der Chinesen, die Oros, in vielen Schlachten besiegt. Sie sind nach Kuang-tschéu-fu gekommen, warum, das weiß ich nicht, denn ich konnte sie noch nicht fragen, aber sie werden sich hier nicht verweilen, weil sie die Ehrerbietung nicht gefunden haben, welche man ihnen widmen muß.«
»Sie haben sich auf den Thron unserer Götter gesetzt!«
»Wer will ihnen das verbieten, da sie ja selbst Götter sind? Erkundige dich, so wirst du erfahren, daß ich die Wahrheit sage. Ein Lama darf mit keinem Menschen speisen; kein anderer darf es sehen, wenn er sich wäscht. Wen er mit seiner Hand berührt, der ist geheiligt für die ganze Lebenszeit. Selbst ein Vizekönig muß, wenn ein Lama bei ihm eintritt, seinen Sitz verlassen, um denselben ihm anzubieten.«
»Davon steht nichts im Buche der Ceremonien zu lesen.«
»Weil sich hier im Lande keine Lamas befinden. Aber schlage nur nach im Buche der Gebräuche der Völker jenseits der großen Mauer! Da wirst du es sogleich finden.«
»Ich werde nachschlagen. Aber wie kommt es, daß diese Lamas so verschieden gekleidet sind?«
»Weil es verschiedene Tempel gibt, deren Bewohner sich durch die Kleidung unterscheiden. Und zweifelst du daran, daß diese Heiligen den Göttern gleich zu achten sind, so blicke sie an! Sind sie nicht ganz in das All versunken? Schau diesen Lama des Krieges an! Ist ihm nicht die Unsterblichkeit auf die Stirne geschrieben?«
Turnerstick saß allerdings da, als ob ihm diese Erde ganz und gar gleichgültig sei.
»Ja,« gab der Mandarin zu. »Seine Seele scheint nicht in ihm zu sein.«
»Sie ist tief im Weltenall versunken. Und sieh den andern an! Ist er nicht ein Gott der Schönheit und des Glückes zu nennen?«
Dem Mijnheer war es gar nicht göttlich zu Mute, und glücklich fühlte er sich auch nicht übermäßig: aber er machte ein möglichst sorgloses Gesicht, und da er wohlbeleibt war, so befriedigte er ganz wohl die Ansprüche, welche der Chinese an das Bild eines Gottes macht.
»Ja, er ist schön,« antwortete der Mandarin. »Aber frage sie doch einmal, ob wir erfahren dürfen, weshalb sie nach Kuang-tschéu-fu gekommen sind!«
»Du stellst mir da eine Aufgabe, welche mich zwingt, unhöflich gegen die Götter zu sein. Wenn sie in die Tiefe der Weisheit versunken sind, ist es eine Sünde, sie aus derselben zurückzurufen. Ich begebe mich in die Gefahr, ihren Zorn auf mich zu laden, so wie ihr ihn euch vorhin zugezogen habt.«
»Der Kriegslama war zornig, ja, aber der andere nicht. Er sprang vom Sitze herab, um sich zu verstecken.«
»Das geschah nicht aus Furcht, denn es kommt nur auf seinen Willen an, so kann er euch alle verderben. Aber es versteht sich ganz von selbst, daß ein Lama des Friedens, wenn er zornig ist, sich an den Lama des Krieges wendet.«
»So willst du sie also nicht stören? Dann müssen wir es thun!«
»Nein, nein! Ihr würdet es nicht mit der gebührenden Ehrfurcht thun. Also will ich es wagen. Vielleicht gefällt es ihnen doch, uns Auskunft zu erteilen.«
Er näherte sich den beiden Götzen, verbeugte sich tief vor ihnen und sagte, aber in deutscher Sprache:
»Antworten Sie mir nicht sogleich, sondern starren Sie immerfort in die Ecke. Erst später thun Sie dann, als ob Sie langsam aus tiefem Nachdenken erwachen. Dann müssen Sie zunächst in zornigem Tone zu mir reden.«
Die beiden bewegten sich nicht. Liang-ssi wendete sich zu dem Mandarin:
»Du siehst, wieweit sie von hier abwesend sind. Sie hören meine Stimme nicht. Ich muß weiter zu ihnen sprechen.«
Nun erzählte er den beiden, was er mit dem Mandarin gesprochen habe, und daß er hoffe, man werde sie unbehelligt fortgehen lassen. Dann holte er ein Räucherstäbchen und erklärte den Chinesen:
»Ich bin noch immer nicht gehört worden. Vielleicht gelingt es mir, sie durch Wohlgerüche zurückzurufen.«
Er schwang das Stäbchen vor den Göttern hin und her. Turnerstick holte tief Atem, klappte seinen Fächer zu, sah im Kreise umher und fragte zornig:
»Ist die Komödie nicht bald zu Ende? Es fällt mir gar nicht ein, länger hier sitzen zu bleiben. Heut nur zwei Tassen Thee! Ich habe einen gewaltigen Hunger. Sie nicht auch, Mijnheer?«
Der Dicke that, als ob er zu sich komme, verdrehte die Augen und antwortete:
»Ja, het is tijd dat wij an tafel gaan – ja, es ist Zeit, daß wir zu Tische gehen.«
»Hören Sie es? Nun machen Sie also, daß wir fortkommen! Wo ist unser Methusalem?«
»Er steht am Gitter hinter Ihnen.«
»So hört er also, was wir reden?«,
»Ja.«
»Nun, so will ich ihm sagen, daß es sehr unrecht von ihm ist, sich da draußen hinzustellen, ohne hereinzukommen und uns in Schutz zu nehmen.«
»Das kann er nicht. Die Klugheit verbietet es ihm. Käme er herein, so würde er an allem, was Ihnen geschieht, teilnehmen müssen. Hält er sich aber entfernt, so kann er später alles zu Ihrer Rettung thun.«
»Rettung? Steht es so schlimm?«
»Hoffentlich nicht. Doch weiß man nicht, was die Priester und Mandarinen beschließen werden.«
»Was haben Sie denn jetzt wieder mit ihnen verhandelt?«
»Ich soll Sie fragen, warum Sie als Lama hierher gekommen sind.«
»Weiß ich es? Das müssen Sie doch wissen, der Sie uns zu Lamas gemacht haben.«
»Ich weiß wirklich nicht, was ich antworten soll.«
»So sagen Sie ihnen meinetwegen, daß wir hier Nilpferde suchen, denen wir Filet stricken lehren wollen. Nicht wahr, Mijnheer?«
»Ja, ongelukkige nijlpaarden.«
»Oder sagen Sie, daß wir ungeheuer reich sind und mit unserem Gelde so wenig wissen, wohin, daß wir auf den Gedanken geraten sind, ihnen eine Pagode zu bauen, an welcher wir sie alle aufhängen lassen werden.«
»Das Aufhängen werde ich verschweigen; aber eine Pagode? Der Gedanke ist sehr gut. Warten Sie!«
Sich an den Mandarin wendend, berichtete er demselben:
»Die heiligen Lamas waren zornig, daß sie abermals gestört worden sind; aber sie haben sich dennoch herbeigelassen, mir Auskunft zu erteilen. Sie sind gekommen, um hier einen großen Tempel der Wohlthaten zu erbauen, in welchem tausend Arme aufgenommen werden können.«
»Wer soll ihnen das Geld dazu geben?«
»Niemand. Sie selbst haben es; sie sind reich genug dazu.«
»Thian! So reich bin ich nicht. Aber können Sie auch beweisen, daß sie das wirklich wollen?«
»Wodurch kann man den Willen beweisen, als durch die That? Sie werden, da sie abermals gestört worden sind, jetzt von hier aufbrechen, um sich einen andern Ort zu suchen, an welchem niemand sie aus ihrer seligen Versunkenheit erwecken kann.«
»Sie wollen gehen?« fragte der Mandarin, indem ein eigentümliches Lächeln um seine Lippen zuckte. »Wenn sie wirklich so berühmte und heilige Lamas sind, wie du uns gesagt hast, so thut es uns sehr leid, sie von uns lassen zu müssen. Willst du sie nicht fragen, ob und wann und wo wir sie wiedersehen können?«
Diese Worte waren sehr freundlich ausgesprochen worden. Liang-ssi glaubte, gewonnenes Spiel zu haben. Aber es gab einen, dem sie nicht gefielen, und dieser eine war der Methusalem.
Er hatte jedes Wort der Verhandlung vernommen, und, da er alles sehr gut überblicken konnte, die Gesichter genau beobachtet. Da war ihm zunächst aufgefallen, daß die Züge des jungen Mandarins mit denen Liang-ssis eine fast auffallende Ähnlichkeit besaßen. Man hätte sie für nahe Verwandte halten können. Doch das war ein Zufall, welcher gar keine Bedeutung hatte. Wichtiger war das Benehmen dieses jugendlichen Beamten, welcher bereits den viel begehrten Titel eines Moa-sse führte, obgleich er nur sehr wenig über zwanzig Jahre zählen konnte.
Dieser letztere Umstand war ein Beweis, daß er ein sehr unterrichteter, begabter und kluger Mann sei. Das schienen die höheren Mandarinen anzuerkennen, da sie ihm die Untersuchung dieses so außergewöhnlichen Falles überließen.
Er sah nicht aus wie einer, der sich so leicht einer groben Täuschung unterwerfen läßt. Es war trotz seiner nachherigen Freundlichkeit etwas Überlegenes, Zuwartendes an ihm zu bemerken, was er nicht ganz zu verbergen vermochte. Degenfeld hatte das Gefühl, daß dieser Mann eine unsichtbare Schlinge in der Hand habe, welche er plötzlich zuziehen werde, um Liang-ssi zu fangen. Und welcher Art diese Schlinge sei, das ahnte der Student.
So geschickt Liang-ssi sich verhalten hatte, war doch eine große Unvorsichtigkeit von ihm begangen worden. Er hatte den Dicken mehreremal Miinheer genannt, und auch Turnerstick hatte sich dieses Wortes bedient. Es gab in Macao, Hongkong und Kanton Holländer genug, mit denen die Bewohner dieser letzteren Stadt in Berührung kamen, und bei solchen Berührungen gibt es stets gewisse Worte, welche im Gedächtnisse hängen bleiben und sich weiter sprechen. Hört der Deutsche das Wort Monsieur, so wird er den Betreffenden gewiß für einen Franzosen halten. Wird eine Dame Lady oder Miß genannt, so ist sie sehr wahrscheinlich eine Engländerin oder Amerikanerin. Es stand zu erwarten, daß das Wort Mijnheer ein in Kanton nicht unbekanntes sei; wenigstens war anzunehmen, daß ein Mann von den Eigenschaften des Mandarins die Bedeutung desselben kenne. War dies der Fall, so mußte er wissen, daß ein Fremder, welcher Mijnheer genannt wurde, unmöglich ein Lama aus Lhassa sein könne.
Liang-ssi gehorchte der Aufforderung des Beamten. Er wendete sich an Turnerstick und sagte:
»Die Angelegenheit steht sehr gut für Sie und wird sogleich zum Abschlusse kommen. Man glaubt mir, daß Sie heilige Lamas sind und das Recht besitzen, den Platz von Göttern einzunehmen. Ich habe gesagt, daß Sie zum Besten der hiesigen Armen von Ihrem eigenen Gelde einen Tempel bauen wollen, und das hat Ihnen Respekt verschafft.«
»Na, allzu groß wird er nicht werden!« meinte der Kapitän. »Es sind mir keine Kapitalien zur Feueresse hereingefallen, so daß ich sie hier zum Nutzen dieser Leute verpulvern könnte, Ihnen doch auch nicht, Mijnheer?«
»Neen, mii ook niet, voornaamelijk daartoe niet – nein, mir auch nicht, zumal dazu nicht.«
»Sie glauben es aber,« fuhr Liang-ssi fort. »Man wird Sie jetzt ungehindert gehen lassen. Vorher aber will man wissen, wann und wo man Sie sehen und treffen kann.«
»Am Monde, sagen Sie ihnen das,« antwortete Turnerstick. »Nicht wahr, Mijnheer?«
»Ja, in den maan, en indien wij buiten zijn, in der maansverduistering – ja, in dem Monde, und wenn wir fort sind, in der Mondfinsternis,« antwortete der Dicke, indem er den Mund breit zog und vergnügt über seinen Witz lachte.
»Da haben Sie recht, Mijnheer. Es ist für uns alle am besten, uns schnell zu verdüstern, sobald wir hier fortgekommen sind. Wenn ich Ihnen sage, daß Sie gehen können, so steigen Sie möglichst gravitätisch herab und gehen hinaus, ohne, wie es Göttern geziemt, die Anwesenden eines Blickes zu würdigen.«
»Und draußen setzen wir uns in die Sänften?« fragte Turnerstick.
»Nein, das ja nicht! Man würde dadurch erfahren, daß wir zusammengehören, denn es versteht sich ganz von selbst, daß man Sie beobachten wird. Sie gehen vom Tempel aus rechts ab, dann links in die erste Gasse hinein, biegen abermals rechts ab, so daß man Sie von hier aus unmöglich sehen kann, und warten dort auf uns. Wir werden schnell nachfolgen oder, wenn wir das für vorteilhafter halten, Ihnen zwei Sänften nachsenden, in welche Sie rasch steigen, um heimgebracht zu werden.«
Der Mao-sse war dieser Unterredung mit gespannter Aufmerksamkeit gefolgt. Es spielte ein leises Lächeln um seine Lippen, als er sich jetzt an Liang-ssi wandte:
»Nun, haben die Lamas meine Frage beantwortet?«
»Ja.«
»Und wo können wir sie wiedersehen?«
»Sie wissen augenblicklich nicht, wohin sie sich von hier aus wenden werden. Aber sie werden täglich hierher kommen und bei dieser Gelegenheit dem Ta-sse sagen, wo sie ihre Wohnung aufgeschlagen haben. Von ihm kannst du es erfahren.«
Der Mandarin nickte ihm freundlich-listig zu und sagte:
»Vielleicht werden die heiligen Lamas mir erlauben, ihnen eine Wohnung anzuweisen, welche ihrer hohen Stellung würdig ist?«
»Sie werden dein Anerbieten mit Dank hören, aber keinen Gebrauch von demselben machen.«
»Warum sollten sie das nicht?«
»Weil sie dir nicht beschwerlich fallen wollen.«
»Davon kann keine Rede sein. Mein Haus ist ein sehr gastliches und hat Platz für viele Leute. Es wohnen in demselben oft über hundert Gäste verschiedenen Ranges. Und sollten die Lamas denken, daß mein Rang zu niedrig sei, als daß sie bei mir einkehren könnten, so will ich dir sagen, wie ich heiße und was ich bin. Mein Dienstname ist Ling; mein Haus wird Huok-tschu-fang genannt, und ich bin in demselben als Pang-tschok-kuan angestellt.«
Liang-ssi trat einen Schritt zurück und betrachtete den Sprechenden mit unsicherem Blicke. Da dessen Gesicht aber ebenso freundlich wie vorher war, beruhigte er sich wieder und antwortete:
»Da bekleidest du ein sehr wichtiges Amt, welches deine Zeit so sehr in Anspruch nimmt, daß Privatgäste dich nicht behelligen dürfen.«
»O, mein Haus steht einem jeden offen, dem es anderswo nicht gefallen will; aber wenn die Lamas mich wirklich nicht begleiten wollen, so lasse ich sie bitten, sich in die Gebräuche dieses Landes zu fügen, wenn sie sich nicht wieder der Gefahr aussetzen wollen, für andere Wesen gehalten zu werden, als sie sind. Aber wie es scheint, sind diese Gebräuche ihnen unbekannt?«
»Das weiß ich nicht, da ich sie hier zum erstenmal gesehen habe und sie also nicht kenne.«
»Mache sie ganz besonders darauf aufmerksam, daß jemand, welcher so weit her, aus Tibet nach Kuang-tschéu-fu kommt, einen Paß haben muß, welcher von dem chinesischen Wang in Lhassa ausgestellt und unterzeichnet sein muß. Haben sie einen solchen?«
»Ich weiß es nicht.«
»So frage sie! Ich möchte denselben gern sehen.«
»Wo denkst du hin! Ich soll zwei heilige Lamas, welche den Göttern gleichgeachtet werden, nach ihren Pässen fragen? Das ist unmöglich!«
»Ich halte es gar nicht für unmöglich sondern vielmehr für ganz selbstverständlich. Aber du bist in Lhassa gewesen und mußt das also besser verstehen als ich. Ich will es also dahingestellt sein lassen, ob sie Pässe haben oder nicht, denn ich werde mich sehr hüten, Männer zu beleidigen, welche wirkliche Lamas sind. Aber du selbst bist doch nicht etwa auch ein Lama?«
»Nein.«
»Du sagtest, daß Sze-tschuen deine Heimat sei. Kommst du direkt von dort?"
»Ja.«
»Diese Provinz liegt sehr weit von hier entfernt, und wenn man eine solche Reise unternimmt, so versieht man sich mit allem, was dazu erforderlich ist. Das hat du doch gethan?«
»Ja.«
»Das allernötigste ist da ein Paß. Es ist vorgeschrieben, daß jeder, welcher aus einer Provinz in die andere geht, einen Paß haben muß, damit er zeigen und beweisen kann, wer er ist. Du wirst dieses Gesetz kennen, da du mich erraten ließest, daß du auch ein Mandarin bist und dich im Besitze eines litterarischen Titels befindest. Ich denke also, daß du entweder bei dem Tsung-tu oder beim Fu-juen von Sze-tschuen gewesen bist, um dir eine solche Legitimation ausstellen zu lassen. Hast du das gethan?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil mein Gelübde mich daran verhinderte.«
»So hast du ein sehr gefährliches Gelübde gethan, welches dir außerordentlich lästig fallen kann. Oder hast du vielleicht gelobt, legitimationslos aus einem Gefängnisse in das andere zu wandern?«
Jetzt erschrak Liang-ssi. Er begann sich weniger sicher als vorhin zu fühlen, und antwortete:
»Das ist nicht meine Absicht gewesen. Wenn ich dir mein Gelübde mitteilen könnte, so würdest du begreifen, daß ich keinen Paß bei mir tragen darf.«
»So thut es mir leid um dich, denn ich will dir wohl. Ich erkenne deinen Rang an, ohne daß du mir beweisen kannst, daß du ihn besitzest. Ich bin dir auch dankbar für die Gefälligkeit, jetzt unser Dolmetscher zu sein, und werde dich nicht weiter belästigen. Aber andere Mandarinen werden anders denken und sich nicht an dein Gelübde kehren. Sei also von jetzt an vorsichtig, und halte dich besonders von Leuten fern, welche vorgeben, heilige Lamas zu sein! Du könntest sonst leicht in den Verdacht kommen, als Genosse von Männern behandelt zu werden, von denen du behauptest, daß sie dir fremd seien. Jetzt kannst du gehen; sage aber vorher diesen Heiligen aus Lhassa, daß ich auch ihnen die Erlaubnis erteile, diesen Tempel zu verlassen!«
Als er das gesagt hatte, erhob sich hinter ihm unter den Priestern, Bonzen und anderen Mandarinen ein unwilliges Gemurmel. Diese Leute waren mit der Entfernung der Lamas nicht einverstanden. Der Ta-sse trat herbei und sagte:
»Ihre junge Würde vergißt, daß ich als Oberer dieses Tempels auch ein Wort mit den Fremden zu sprechen habe. Ich muß mich genau überzeugen, daß sie wirklich heilig sind.
Wäre dies nicht der Fall, so hätten sie die Sitze der Götter entweiht, so daß diese nicht wieder darauf Platz nehmen könnten. Ich verlange also, daß die Lamas hier bleiben.«
Der Mandarin gab ihm mit den Augen einen heimlichen Wink, der ihn beruhigen sollte, und antwortete:
»Ich bitte Ihre fromme Würde, ihnen doch das Thor öffnen zu lassen! Wir können ihnen nicht beweisen, daß sie keine Lamas sind, und dürfen sie also nicht belästigen. Übrigens werden sie täglich nach hier zurückkehren, wobei vollauf Gelegenheit vorhanden ist, mit ihnen zu sprechen.«
Liang-ssi hatte den Einwand des Ta-sse gehört und war stehen geblieben, um die Antwort des Mandarins abzuwarten. Nun, da dieselbe so vorteilhaft ausfiel, wendete er sich an Turnerstick:
»Sie können gehen. Man wird Ihnen sogleich das Thor öffnen. Aber entfernen Sie sich ja so würdevoll wie möglich!«
»Soll nicht an Würde fehlen! Ich werde diesen Leuten mein stolzestes Gesicht schneiden. Kommen Sie, Mijnheer; stehen Sie auf! Ich habe die Komödie satt!«
»Ik ook. Ik wil ook met opstaan en voortgaan; ik heb Honger!«
Er arbeitete sich aus seiner sitzenden Stellung empor und stieg vom Postamente, um hinter Turnerstick nach der Thür zu schreiten.
Jetzt war der entscheidende Augenblick gekommen. Der Methusalem stand hinter dem Gitter, um, vor Erwartung fast zitternd, zu sehen, ob man sie wirklich gehen lassen werde.
Langsam und gemessenen Schrittes, die Häupter hoch erhoben und weder nach rechts noch nach links blickend, bewegten sich die beiden nach der Thür. Der junge Mandarin ließ Turnerstick an sich vorüber, dann aber legte er seine Hand schnell auf den Arm des Dicken und fragte:
»Mijnheer, gij zijt en Nederlander, niet?«
Der Dicke ließ sich übertölpeln. Er blieb stehen und antwortete, freundlich nickend:
»Gewisseglijk, ik ben een Hollander.«
Da stieß der Mandarin ihn zurück, ergriff den Kapitän schnell beim Zopfe, um ihn festzuhalten, und rief den Polizisten zu:
»Laßt niemand fort; sie sind Betrüger! Sie sind Fu-len und haben diese heilige Stätte entweiht. Ich arretiere sie!«
Diesem Befehle folgte eine außerordentlich lebhafte Scene. Turnerstick hatte zwar die chinesischen Worte nicht verstanden, aber doch begriffen, was gemeint war. Er wollte nach der Thür springen, welche noch gar nicht geöffnet worden war; dabei wurde ihm ganz selbstverständlich die Mandarinenmütze vom Kopfe gerissen, weil sein Zopf in der Hand des Gefängnisbeamten hängen blieb. Die Bonzen warfen sich ihm schreiend entgegen; er wehrte sie mit wütenden Faustschlägen von sich ab, warf ihrer mehrere nach rechts und links, kam aber nicht hindurch, da ihrer zu viele waren. Er wurde überwältigt und von zehn, zwölf, sechzehn Händen festgehalten. Sein Widerstand war so kräftig, so wütend gewesen, daß er dabei sogar die chinesischen Schuhe verloren hatte.
Was den Mijnheer betrifft, so war er keineswegs ein Feigling. Er hatte sich vorhin nicht aus wirklicher Mutlosigkeit hinter Turnerstick versteckt, sondern dieser schnelle Rückzug war aus reiner Überraschung geschehen und infolge der außerordentlichen Seltsamkeit der Lage, in welcher er sich befand. Er verstand kein Wort chinesisch und fühlte sich in dieser Beziehung auf Turnerstick angewiesen, welcher ja stets behauptet hatte, dieser Sprache mächtig zu sein. Aber jetzt, als er von dem Mandarin zurückgeschleudert wurde und zugleich sah, daß die Bonzen sich feindselig auf Turnerstick warfen, sagte er sich, daß die Rettung nicht mehr durch List zu erzielen, sondern nur durch Gewalt zu erzwingen sei. Er warf den Regenschirm, der ihm nur hinderlich sein konnte, weg und stieß die beiden geballten Fäuste dem Oberpriester, welcher ihm am nächsten stand, mit solcher Gewalt an die Magengegend, daß der Getroffene an eine der Bahren flog und, den darauf befindlichen Gott herunterreißend, über dieselbe hinwegstürzte. Dann fuhr er mitten unter die Mandarinen und Priester hinein und schlug in solcher Weise um sich, daß sie nach allen Seiten auseinander stürzten.
»Tapper, maar gedurig tapper, Mijnheer Turnerstick!« rief er dabei dem Kapitän zu. »Wij willen dezen Heidenhoofden onze vuisten an de neusen wrijven – tapfer, nur immer fort tapfer, Herr Turnerstick! Wir wollen diesen Heidenköpfen unsere Fäuste unter die Nasen reiben!«
Liang-ssi war aufs heftigste erschrocken, als er die holländische Frage des Mandarin und darauf die unvorsichtige Antwort des Mijnheer hörte. Er mußte nun das gefährliche Spiel verloren geben und vor allen Dingen für seine eigene Sicherheit sorgen. Dies erkennend, eilte er dem Eingange der großen Halle zu, um sich da hinaus nach dem Hofe und von da aus weiter zu retten. Er berücksichtigte dabei nicht, daß man ihn verfolgen und seine noch hinter dem Gitter stehenden Gefährten entdecken werde.
Aber mit derselben Schnelligkeit hatte der junge Mandarin seinen Befehl, niemand fort zu lassen, ausgerufen. Infolgedessen sprangen die Polizisten Liang-ssi entgegen, um ihn fest zu halten. Er konnte sich nicht einer großen Körperstärke rühmen, wehrte sich aber doch aus Leibeskräften, so daß es den acht Männern nicht allzu leicht wurde, ihn zu überwältigen. Dann hielten drei ihn fest, während die andern fünf zum Mijnheer sprangen, welcher noch immer mit einer wahren Berserkerwut um sich schlug und stampfte. Sie überfielen ihn von hinten und rissen ihn nieder.
»Brand, brand!« schrie er auf. »Zij hebben mij! Help, help, Mijnheer Turnerstick – Feuer, Feuer! Sie haben mich! Zu Hilfe, zu Hilfe, Herr Turnerstick!«
»Unmöglich, denn sie haben mich auch,« antwortete der Kapitän, vor Anstrengung noch atemlos. »Das hat man davon, wenn man Götze spielt!«
Der Regenschirm und die schottische Mütze des Dicken, der Fächer, die Schuhe, die Perücke mit dem Zopfe und die Kopfbedeckung Turnersticks lagen auf dem Boden. Ein Glück war es, daß dem Kapitän nicht der Gedanke gekommen war, sich seiner Waffen zu bedienen!
Der Methusalem hatte Zeuge dieser aufregenden Scene sein müssen, ohne den Bedrängten zu Hilfe eilen zu können. Als sie jetzt überwältigt waren, ergriff der Tong-tschi ihn bei der Hand und raunte ihm hastig zu:
»Jetzt fort, schnell fort, denn nun werden sie auch hier herein kommen!«
»Aber wohin?«
»Ich weiß es, denn ich kenne diesen Tempel. Zunächst hinaus in den Hof.«
Sie eilten fort, gefolgt von Gottfried und Richard. Im Hofe war niemand zu sehen, auch der Bonze nicht, welcher sie vorhin begleitet hatte. Zwischen den Wohnungszellen, welche ihnen vorhin gezeigt worden waren, führte ein Gang in einen kleinen Gemüsegarten, welcher an denjenigen eines Häuschens stieß, in dem ein Vertreter des Tempels Räucherstäbchen verkaufte. Die beiden kleinen Gärten waren durch eine Pforte verbunden, und das Häuschen gehörte zu einer engen Hintergasse, welche mit derjenigen Straße, in welcher der Tempel lag, parallel führte. In diese Gasse gelangten die Vier, indem sie durch die Pforte und den Laden gingen.
Eine unmittelbare Gefahr drohte ihnen nun nicht mehr. Aber nun galt es, ohne Aufsehen zu erregen, zu den Sänften zu gelangen. Der Tong-tschi führte seine Begleiter durch eine Quergasse, durch welche sie auf die Tempelstraße gelangten. Von der Ecke aus sahen sie die Musikanten am Eingange des Pek-thian-tschu-fan stehen. Die Sänftenträger hatten dem Zuge Platz gemacht und standen auf der anderen Seite der Straße. Einer derselben blickte zufälligerweise her und sah den Mandarin stehen, der ihm sofort einen Wink gab. Er teilte das seinen Genossen mit, welche infolgedessen mit ihren Sänften herbeigetrabt kamen.
»Gehen wir nach Hause?« fragte der Methusalem.
»Sie, ja, aber ich nicht,« antwortete der Mandarin. »Ich werde einsteigen, aber mich nur eine kurze Strecke forttragen lassen und dann halten, um den Polizisten nachzufolgen, welche Ihre Gefährten nach dem Gefängnisse bringen. Ich will wissen, was man mit ihnen thut und werde Ihnen dann Nachricht bringen. Ich habe Sie wiederholt gebeten, nichts zu unternehmen, was Sie und also mich mit in Schaden bringen kann. Was jetzt geschehen ist, das ist noch viel schlimmer und gefährlicher als das gestrige. Ihre Genossen haben nicht nur die weltlichen, sondern auch die religiösen Gesetze beleidigt und übertreten, und die Vorsicht würde mir gebieten, Ihnen von jetzt an mein Haus zu verschließen. Ich achte aber die Gastfreundschaft und bin meinen Lebensrettern zu sehr zu Dank verpflichtet, als daß ich Sie jetzt in der Gefahr verlassen möchte. Sie werden sich also jetzt unverweilt nach Hause begeben und mir versprechen, die Wohnung nicht eher zu verlassen, als bis ich zurückgekehrt bin und Sie benachrichtigt habe, wie es mit Ihren Gefährten steht.«
»Ist die Gefahr, in welcher sie sich befinden, wirklich so groß?«
»Sehr groß, denn sie haben nicht nur das Gesetz, sondern auch die Aufregung der Priester und des Volkes gegen sich. Ein Glück wird es noch sein, wenn man sie in den Gewahrsam bringt, ohne daß sich das Publikum an ihnen vergreift.«
»Dann erscheint es mir als Feigheit, sie jetzt zu verlassen. Ich kann nicht nach Hause; ich muß sofort zu ihnen, um teil an ihrem Schicksale zu nehmen.«
»Nein, denn Sie würden dadurch sich selbst und auch mich mit verderben. Wir können sie nur dadurch retten, daß wir nicht merken lassen, daß sie zu uns gehören. Verlassen Sie sich nicht auf sich, sondern auf mich! Ich will Ihnen zu Gefallen es wagen, in den Tempel zurückzukehren. Das wird nicht auffallen, denn ich habe ein Recht, bei der Rückkehr der Götter zugegen zu sein, da ich die Diebe ergriffen habe. Ich hoffe dabei aber, Ihre Gefährten werden so klug sein, nicht zu verraten, daß sie mich kennen.«
»ich denke, daß sie vorsichtig sein werden. Liang-ssi hat es doch den beiden anderen gesagt, daß das unbekannt bleiben muß.«
»So lassen Sie sich also ruhig nach Hause tragen! Ich werde zunächst versuchen, sie vor Gewaltthätigkeiten zu bewahren. Gewinnen wir Zeit, so ist es wahrscheinlich, daß wir sie retten werden.«
Er hatte das in einem so energischen Tone gesagt, daß der Student nicht zu widersprechen wagte. Der letztere stieg mit Gottfried und Richard in die Sänften, worauf die Träger derselben davonrannten. Der Tong-tschi aber ließ sich nach dem Tempel tragen. Glücklicherweise hatten die vor dem Thore desselben stehenden Musikanten und sonstigen Leute nicht auf das, was an der Straßenecke vorgegangen war, geachtet. Darum glaubten sie, als der Mandarin jetzt ausstieg, er komme von fern her. Sie wichen aus Ehrfurcht vor seinem Range zurück und machten ihm die Passage frei. Auch diejenigen Teilnehmer am Festzuge, welche sich im Hofe befanden, gaben ihm Platz.
Er sah zu seiner Beruhigung, daß die Thür des Tempels noch von innen verschlossen war. Das war ein gutes Zeichen, da sich daraus vermuten ließ, daß die Menge noch nicht wisse, was im Heiligtume geschehen sei. Um ganz gewiß zu gehen, fragte er diejenigen, welche in der Nähe der Thür standen:
»Warum ist der Eingang nicht offen? Warum dürft ihr nicht hinein?«
Sie verneigten sich tief vor ihm und einer antwortete:
»Ihre Großmut möge erfahren, daß fremde, hohe Götter angekommen sind.«
»Woher?«
»Wir wissen es nicht. Wahrscheinlich wollen sie die bisherigen Götter nicht auf ihre Sitze lassen, denn wir hörten großes Geräusch und laute Stimmen, welche nicht freundlich klangen.«
Der Mandarin horchte und vernahm eine laute Stimme, in welcher er diejenige des jungen Beamten erkannte. Er klopfte laut an und mußte das wiederholen, bevor drin eine Stimme fragte:
»Schui kin – wer ist da?«
»Kuan-fu Tong-tschi – der Mandarin Tong-tschi,« antwortete er.
Die Thür wurde augenblicklich geöffnet, hinter ihm aber sofort wieder verschlossen, damit kein anderer außer ihm hereintreten könne. Mit einem schnellen Blicke überschaute er die Lage. Die Gefangenen standen, von den Polizisten festgehalten, nebeneinander, vor ihnen der Gefängnisbeamte, welcher sie, wie zu erraten war, soeben einem scharfen Verhör unterworfen hatte. Man hatte ihnen die im Kampfe verlorenen Gegenstände wiedergegeben.
Da der Tong-tschi ein höheres Amt bekleidete als die anwesenden Mandarinen, so verbeugten sie sich alle vor ihm, und der junge Beamte trat zurück, um ihm bescheiden seinen Platz zu überlassen.
Als Turnerstick den, Gastfreund erblickte, rief er erfreut aus:
»Gott sei Dank, da ist der Tong-tschi! Nun sind wir gerettet. Ich werde ihm die Sache ausführlich erzählen.«
Er wollte auf den Genannten zutreten, um ihm eine seiner berühmten Reden zu halten, aber Liang-ssi zog ihn zurück und sagte:
»Bleiben Sie! Was fällt Ihnen ein! Er kommt, uns zu retten. Das kann ihm aber nur dann gelingen, wenn niemand ahnt, daß wir seine Gäste sind.«
»So! Dann werde ich ihn freilich nicht kennen. Aber übersetzen Sie uns schnell alles, was gesprochen wird. Ich muß doch wissen, was die Kerls verhandeln, und sie sprechen leider ein Chinesisch, welches für einen guten Linguisten ganz und gar unverständlich ist.«
Der Tong-tschi musterte die Gruppe mit einem Blicke des Erstaunens, ganz wie einer, welcher keine Ahnung hat von dem, was da geschehen ist. Dann fragte er:
»Warum ist der Tempel verschlossen? Was ist geschehen? ich hörte draußen, daß fremde Götter angekommen seien.«
»Sie gaben sich dafür aus,« antwortete der junge Mandarin, »und wir glaubten ihnen anfänglich. Aber Ihre hohe Würde wird bald erkennen, daß sie Betrüger sind.«
»Wie? Können Götter Betrüger sein?«
»Nein; aber diese Leute sind eben keine Götter, sondern Menschen, fremde Fu-len, welche die Sitze unserer Gottheiten eingenommen und den Tempel geschändet haben.«
»Dann müssen sie aufs strengste bestraft werden. Mein jüngerer Bruder mag mir erzählen, was geschehen ist.«
Der Gefängnisbeamte gab ihm einen eingehenden Bericht. Der Tong-tschi hörte ihm sehr aufmerksam zu, musterte dann die Gefangenen mit strengem Blicke und sagte:
»Also diese Männer geben sich für heilige Lamas aus und sprechen doch die Sprache der Fu-len? Hat sich da mein Kollege nicht geirrt?«
»Nein. Ich hatte amtlich sehr oft mit solchen Fu-len zu thun und habe mir viele ihrer barbarischen Redensarten gemerkt. Dieser eine Fremde aber ist doppelt strafbar, da er sich ohne alles Recht die Kleidung der Mandarinen angeeignet hat.«
»Vielleicht ist er ein Mandarin seines Volkes!«
»Gibt ihm das ein Recht, sich wie einer unserer Kuan-fu zu kleiden?«
»Sollten sich seine Beamten nicht ebenso kleiden wie die unsrigen?«
»Nein, ich weiß das gewiß. Übrigens kann ich leicht beweisen, daß er ein Betrüger ist. Er gibt sich für einen Ta-fu-tsiang aus und trägt doch den Knopf eines anderen Offiziers. Man sehe seine Mütze! Hier ist sie!«
Er nahm dem Kapitän die Mütze vom Kopfe und hielt sie dem Tong-tschi vor die Augen. Dann riß er ihm auch die Perücke mit dem Zopfe vom Kopfe, schwenkte diese »falsche Behauptung« hin und her und sagte:
»Und ist dieses Haar sein Eigentum? Hat er sich den Kopf scheren lassen, wie es einem Chinesen und ganz besonders einem Mandarin geziemt? Nein, er trägt die Schande eines vollen Haares, ganz wie ein Barbar, und darüber einen Zopf, welcher nicht auf seinem Kopfe gewachsen ist. Er ist also kein Chinese und noch viel weniger ein Gott, welcher das Recht hat, sich hier zwischen den Anbetungswürdigen niederzulassen!«
»Aber,« meinte der Tong-tschi diplomatisch, »ich habe oft gehört, daß die Lamas falsche Zöpfe tragen. Vielleicht ist er dennoch einer!«
Turnerstick ärgerte sich darüber, daß der junge Mann so unehrerbietig mit dem Zopfe umging. Er fragte Liang-ssi leise:
»Was will er? Was hat er mit meiner Perücke? Was sagt er?«
Liang-ssi erklärte es ihm ebenso leise wie schnell.
»Alle Wetter! Ich werde ihm sagen, daß mein Kopf mir gehört und ich mit demselben thun oder lassen kann, was mir beliebt. Dieser Zopf kostet zwei Dollar; ich habe sie bezahlt und lasse ihn nun nicht wie einen Eselsschwanz behandeln!«
Er trat zwei Schritte vor und fuhr den Jüngling erbost an:
»Her mit der Perücking! Her!« Dabei riß er sie ihm aus der Hand. »Sie ist mein Eigentum und du kannst die Hand davong lasseng! Ich kann tragung, was ich will, falsche Perückong und sogar falsche Augeng, ganz nach meinem Behebang. Da, schau her, junger Frosch! Was wirst du dazu saging? Willst du mir auch das verbieteng?«
Er hatte bekanntlich ein falsches Auge. Indem er den Daumen an den Augenwinkel setzte, bohrte er es aus der Höhle, nahm es zwischen zwei Finger und zeigte es vor, indem er sein Gesicht in höhnisch grinsende Falten legte.
Die Leute fuhren zurück. Die beiden Polizisten, welche ihn gepackt hielten, ließen ihn los und traten erschrocken von ihm weg.
»Nun?« fragte er lachend, »wer kann mir das nachmacheng? Wer vong euch kann so wie ich seine Auging herausnehmung?«
Keiner von ihnen hatte jemals so etwas gesehen. Sie alle standen starr und wortlos da. Der Oberpriester bekam zuerst die Sprache wieder; er schrie:
»T'ien-ti-jin – o Himmel, Erde und Menschen. Miao-ya, miao-ya – Wunder über Wunder! Er kann seine Augen herausnehmen!«
»Miao-ya mu, miao-ya mu – wunderbare Augen, wunderbare Augen!« fielen die Erschrockenen ringsum ein.
»Jip-mo t'a yuet, jip-mo t'a yuet – was hat er gesagt, was hat er gesagt?« fragte der junge Mandarin, welcher ebenso wie die andern erschrocken war, Liang-ssi.
Dieser letztere war vier Jahre lang bei Onkel Daniel gewesen und hatte von ihm viel gelernt. Er wußte auch, daß in Europa die Kunst soweit vorgeschritten ist, falsche Augen, welche den echten zum Verwechseln ähnlich sind, hervorzubringen. Um den allgemeinen Schreck zu benutzen, antwortete er:
»Er will beweisen, daß er wirklich ein heiliger und wunderthätiger Lama ist. So wie er sich sein eigenes Auge aus dem Gesicht genommen hat, will er auch den anderen Anwesenden die Augen und die Nasen entfernen. Er ist sogar erbötig, ihnen die Arme und Beine aus dem Leibe zu ziehen und dann wieder anzusetzen. Wer will es versuchen, sich von seiner wunderbaren Macht zu überzeugen?«
»Ngo put, ngo put – ich nicht, ich nicht,« rief es rundum, indem die Bonzen und Mandarinen sich noch weiter von Turnerstick zurückzogen.
»Niemand? Es braucht sich aber keiner zu fürchten, denn er setzt jedes Glied, welches er ausreißt, wieder an seine Stelle.« Und deutsch fügte er hinzu: »Stecken Sie das Auge wieder hinein und thun Sie dann so, als ob Sie dort dem Oberpriester das Bein herausreißen wollen.«
Turnerstick folgte dieser Aufforderung.
»I, miao-ya – seltsam, wunderbar!« riefen die Leute, als sie das Auge wieder an seiner Stelle erblickten und auch sahen, daß es sich bewegte.
Als sich aber nun der Kapitän dem Oberpriester näherte, sich vor demselben niederbeugte und nach seinem Fuße griff, retirierte derselbe erschrocken und fragte:
»Was will er? Was hat er vor?«
»Er will Ihrer Heiligkeit beweisen, daß er das alles kann, was ich sagte. Er will Ihnen die beiden Beine herausziehen.«
Da drängte der Bedrohte sich in die fernste Ecke hinter die Götterbilder und schrie:
»Vu, vu! Ngo put yuk ngo; put kam; ngo kiao – nein, nein! Ich will das nicht; ich mag das nicht; ich schrei'!«
Als Turnerstick ihm dennoch bis in den Winkel nachging, rannte der Priester nach der gegenüberliegenden Ecke und brüllte, als ob es ihm an das Leben gehe.
Selbst der Tong-tschi wußte nicht, was er zu dem Wunder sagen solle. Er wußte es sich nicht zu erklären, war aber überzeugt, daß die Sache ganz natürlich zugehe. Der Schreck, welcher alle ergriffen hatte, war ihm sehr willkommen. Er bat Liang-ssi:
»Sage ihm, daß wir sein Wunder nicht versuchen wollen. Wir glauben es, denn wir haben es gesehen; aber es ist doch gefährlich, es an anderen probieren zu lassen.«
Liang-ssi winkte den Kapitän wieder zu sich und erklärte dem Mandarin:
»Ein Glück für den Ta, daß er geflohen ist! Der Lama ist von diesen Herren unehrerbietig behandelt worden. Zur Strafe dafür hätte er dem Ta die Beine falsch und verkehrt wieder eingesetzt, das rechte links, das linke rechts und beide mit den Zehen nach hinten.«
»Vu, vu!« schrie der Ta aus seiner Ecke. »Ngo put yuk, ngo put yuk – nein, nein! Ich will nicht, ich mag nicht!«
Der Tong-tschi wendete sich mit sehr ernster Miene an den Gefängnisbeamten:
»Mein kleiner Verwandter hat da jedenfalls zu schnell gehandelt. Sind Sie schon einmal in Tibet gewesen?«
»Nein,« antwortete der Gefragte ein wenig kleinlaut.
»Oder haben Sie schon einmal einen Lama gesehen?«
»Nein.«
»Oder kennen Sie die Gesetze, nach denen die Lamas leben, und die Lehren, nach denen sie handeln?«
»Ich habe die betreffenden Bücher noch nicht gelesen. Ich brauchte das auch nicht zu kennen, da ich diese Leute nicht für Lamas, sondern für Fu-len hielt.«
»So! Und dennoch haben Sie sich falsch verhalten. Ich muß Ihnen eine Rüge erteilen, werde aber von einer wirklichen Strafe absehen, da Sie noch jung sind und in amtlichem Eifer gehandelt haben. Es sind zwei Fälle möglich. Entweder sind diese Herren wirklich heilige Lamas, welche man wie Götter zu verehren hat. In diesem Falle wußten Sie nicht, wie Sie sich gegen sie verhalten sollten, und mußten sich also den Rat eines höheren Kuan-fu erbitten, welcher in dieser Beziehung erfahrener war als Sie. Das haben Sie aber unterlassen. Ist es denn keinem der anwesenden höheren Kuan-fu eingefallen, Sie zu warnen?«
»Nein.«
»So kann ich Ihnen leichter verzeihen, weil die andern die Schuld auch mit zu tragen haben.«
»Aber Ihre berühmte und erleuchtete Weisheit mag gnädigst bedenken, daß. ich diese fremden Wesen für Fu-len halten mußte, da der eine von ihnen die Sprache der Fu-len redete!«
»Das ist sehr leicht zu erklären. Während er vertieft auf seinem Platze saß und sich in das All versenkte, ist sein Geist durch fremde Länder geeilt und hat da die Sprache der Fu-len vernommen. In diesem Augenblicke haben Sie seine Seele gezwungen, zurückzukehren und sie hat diese Sprache noch in den Ohren und im Munde gehabt. Aber auch angenommen, daß diese verehrungswürdigen Herren Fu-len seien, so will ich meinen jungen Bruder fragen, ob Sie das Recht besitzen, sie ins Verhör zu nehmen?«
Der Gefragte bückte verlegen vor sich nieder und antwortete nicht.
»Sie sind zwar noch jung, aber als Kuan-fu und Moa-sse müssen Sie die Grenzen der verschiedenen Amtsgewalten genau kennen. Jeder Fu-len ist für uns ein Y-jin, ein fremder Mann. Hoffentlich wissen Sie, in wessen Amtsbereich die Fremden gehören?«
An denjenigen des Tong-tschi.«
»Kennen Sie diesen Beamten?«
»Ja, Ihre Hoheit ist es.«
»Warum haben Sie da nicht sofort nach mir gesandt? Sie sind Pang-tschok-kuan, eine Würde, welche für Ihr Alter so groß ist, daß ich Ihnen ungewöhnliche Kenntnisse zutrauen muß. Darum wundert es mich sehr, daß Sie nicht gewußt haben, daß Sie vor allen Dingen einen Boten zu mir senden mußten. Es gibt zwar auch Unterbeamte, denen ich einen kleinen Teil meiner Gewalt anvertraut habe, doch kommen ,diese hier nicht in Betracht, da es sich um einen so außerordentlichen Fall handelte.«
Sein Ton war sehr streng geworden. Es herrschte die Stille größter Verlegenheit in dem Raume. Der Pang-tschok-kuan stand da wie niedergeschmettert, und auch die andern Mandarinen wagten kaum, ihre Augen zu erheben. Mochten sie dem Tong-tschi recht geben oder nicht, sie hatten keine Erlaubnis, ihm zu widersprechen. Er fuhr in dem bisherigen strengen Tone fort:
»Was beabsichtigten Sie denn eigentlich in diesem schwierigen Falle zu thun?«
Das gab dem jungen Beamten Gelegenheit, sich einigermaßen herauszubeißen. Er antwortete:
»Eben als Ihre Hoheit kam, war ich entschlossen, einen Boten zu senden, um Ihre große Erfahrenheit zu bitten, sich hierher zu bemühen. Vorher aber war ich jedenfalls gezwungen, die Fremden zu verhören, um die erleuchteten Fragen Ihrer Überlegenheit beantworten zu können.«
»Aber Sie haben sich an ihnen vergriffen; das durfte nicht geschehen. Sie wissen doch, daß wir keinen Fremden bestrafen dürfen. Wenn ein Ausländer gegen unsere Gesetze handelt, so haben wir ihn seinem Gesandten zur Bestrafung auszuliefern. Selbst wenn diese Leute nur Fu-len sind, so werden sie sich bei dem Vertreter ihres Herrschers über Sie beschweren, und wir sind dann gezwungen, alle, welche eine Klage trifft, auf das strengste zu bestrafen. Wie leicht können Sie dann nicht nur Ihren Rang als Beamter, sondern sogar die Würde Ihres litterarischen Grades verlieren! Aber ich will aus besonderer Rücksicht gegen Ihre Jugend diese Herren bitten, von einer solchen Beschwerde abzusehen, und hoffe, daß Sie ihnen von jetzt an höflich und rücksichtsvoll entgegenkommen, da sie einstweilen unter Ihrer Obhut bleiben müssen.«
Und als der andere ihn fragend anblickte, fuhr er in belehrendem Tone fort:
»Mein junger Kollege hat die Schuld dieser Herren für größer gehalten, als sie ist. Sind sie Lamas, so trifft sie überhaupt keine Schuld, da ihre Heiligkeit sie berechtigt, sich in jedem Tempel niederzulassen. Und sind sie Fu-len, so ist ihre Schuld nur gering, da sie nicht wissen konnten, daß das, was sie thaten, bei uns verboten ist und sehr streng bestraft wird. Ich werde diesen Fall selbst und sehr genau untersuchen und vertraue Ihnen bis dahin diese Leute an. Geben Sie ihnen eine gute Wohnung im Gefängnisse, und sorgen Sie für alle ihre Bedürfnisse! Wir müssen uns allerdings, bis wir ein gerechtes Urteil fällen können, ihrer Personen versichern, aber wir müssen uns hüten, sie jetzt schon als Schuldige und Sünder zu behandeln. Lassen Sie Sänften für sie kommen, auch für diesen jungen Mann, welcher ihren Dolmetscher macht und den wir nötig haben, weil wir ihre Sprache nicht verstehen. Aber das muß heimlich geschehen, damit sie nicht von der draußen stehenden Menge belästigt werden. Ich selbst werde voraneilen, um sie im Houk-tschu-fang zu erwarten und mich zu überzeugen, daß sie uns sicher sind, ohne sich über uns beklagen zu müssen.«
Er entfernte sich, wobei sich alle wieder tief vor ihm verneigten. Die Thür wurde hinter ihm schnell wieder verschlossen.
Turnerstick stand noch frei da. Keiner der Polizisten war so kühn gewesen, die Hand wieder an ihn zu legen. Der Oberpriester hielt noch immer vorsichtig in seiner Ecke und sagte jetzt, den Blick ängstlich auf den Kapitän gerichtet:
»Haben Sie es gehört, was geschehen soll? Fort sollen sie. Führt sie in den Hof und schickt nach Palankins. Sie können durch die Hintergasse fort, wo niemand ihnen Beachtung schenkt. Ich aber werde den Tempel verschlossen halten müssen, um abzuwarten, was diese Leute sind. Sind sie Fu-len, so dürfen unsere Götter erst dann wieder auf ihre Sitze, wenn dieselben gereinigt und wieder geweiht worden sind. Führt sie hinaus! Fort mit ihnen!«
Es war ihm nur darum zu thun, Turnerstick nicht mehr zu sehen. Die beiden Beine ausgerissen und verkehrt wieder eingesetzt zu bekommen, das schien ihm das denkbar größte Unglück zu sein.
Jetzt trat der junge Mandarin zu den Gefangenen, machte ihnen eine Reverenz und sagte:
»Die hohen Herren haben gehört, was der mächtige Tong-tschi befohlen hat. Wollen Sie die Güte haben, mir zu folgen?«
»Was meint er?« fragte der Kapitän.
»Er will uns fortführen.«
»Wohin?«
»In das Gefängnis.«
»Fällt mir nicht ein! Wenn er sich selbst einschließen will, so habe ich nichts dagegen, mich aber lasse ich nicht hinter Schloß und Riegel sperren. Nicht wahr, Mijnheer?«
»Neen, ik ook niet. Ich heb Honger; ik wil eten!«
»Das sollen Sie ja,« drängte Liang-ssi. »Sie werden es im Gefängnis nicht schlecht haben. Wir bekommen gute Zimmer und auch Essen.«
»Aber was für welches!«
»Gutes! Der Tong-tschi hat befohlen, daß man gut für uns sorgen soll. Widerstand würde vergebens sein. Nur wenn wir uns fügen, können wir gerettet werden. Sie können sich darauf verlassen, daß Herr Degenfeld uns nicht stecken lassen wird.«
»Ja, das ist freilich sicher. Wollen wir mitgehen, Mijnheer?«
»Ja,« antwortete der Dicke, welcher überhaupt nur stets das wollte, was seine Freunde wollten. »Wij willen met gaan.«
»Nun gut! Aber vorher will ich diesem Oberpriester noch eine Angst einjagen. Er sieht mich an wie das Karnickel den Eisbär. Der Mann muß einen großartigen Respekt vor mir haben. Was heißt in diesem unverständlichen Dialekt: Ich verlange Ihre Augen?«
»Ngo yao fing-yen,« antwortete Liang-ssi leise.
»Ngo yao ling-yen. Das kann ich mir für diesen Augenblick merken.«
Er schritt langsam nach der Ecke, aber so, daß der Oberbonze weder rechts noch links ausweichen konnte, nahm sein Auge heraus, brachte es wieder in die Höhle zurück und sagte dann, die beiden Hände nach dem Gesichte des Angsterfüllten ausstreckend:
»Ngo yao ling-yen!«
»Pen yen! T'ien-na, Tieu schin – meine Augen! O Himmel, zu Hilfe!« schrie der Bedrängte auf.
Er stieß, da es keinen andern Ausweg gab, den Kapitän zur Seite und flüchtete sich hinter die Bonzen.
»Schafft ihn fort, schnell, schnell!« gebot er dort. »Wir kommen sonst alle um unsere Augen und um unsere Glieder! Er nimmt uns die Augen und setzt sie verkehrt wieder ein!«
Der Gefängnisbeamte bat den Kapitän in höflichster Weise, ihm nun zu folgen und sich nicht weiter zu bemühen, ein Wunsch, dem nun auch Folge geleistet wurde. Einige Polizisten wurden nach Sänften geschickt, in welchen die Gefangenen unter Bedeckung nach dem Gefängnisse gebracht wurden, wo der Tong-tschi sie bereits erwartete.
Dieser letztere sorgte dafür, daß sie gute Wohnung erhielten, welche eigentlich für höhere Staatsgefangene bestimmt war, und wies dann den Pang-tschok-kuan an, ihnen eine gute Mahlzeit und alles Erlaubte, was sie verlangen würden, zu verabreichen. Daran fügte er die Bemerkung, daß er zwar heut verhindert sei, morgen aber mit hohen Mandarinen kommen werde, um den Stand und das Herkommen der Gefangenen festzustellen. Bis dahin sollten dieselben gut bewacht werden.
»Ich werde sie nicht aus den Augen lassen,« versicherte der Beamte. »Es soll mir nicht so gehen, wie dem Teu dieses Gefängnisses, welcher nun heut selbst Gefangener ist, weil er gestern die drei Götterdiebe entwischen ließ.«
»Er hat seine Strafe verdient,« sagte der Tong-tschi streng. »Er ist nicht aufmerksam genug gewesen.«
»Aber zu mir sagte er, daß ihn keine Schuld treffe. Er weiß nicht, wie es möglich gewesen ist, daß sie entkommen konnten. Ich habe mich heut erkundigt und weiß nun, auf welche Weise sie ihre Freiheit erlangt haben.«
»Nun, wie?«
»Gestern spät am Abend ist einer hier gewesen, welcher von den Wachen eingelassen wurde, weil er das hohe Zeichen besaß –«
»Der muß also ein vornehmer Kuan-fu gewesen sein,« fiel der Tong-tschi ein.
»Nein, ein Betrüger ist er gewesen, denn er hat die Gefangenen befreit, was ein Kuan-fu nicht thun würde.«
»Dieser Mann? Unmöglich! Wer das hohe Zeichen besitzt, der ist ein hoher Mandarin.«
»Eigentlich, ja. Aber es ist auch möglich, daß das Zeichen ein falsches, ein nachgemachtes war. Man kann das des Abends wohl nicht genau erkennen. Der Teu hat diesen Mann nicht zu beaufsichtigen gewagt, da er ihn für einen hohen Beamten hielt. Heut nun erfuhr ich von den Wachen, daß derselbe mit den drei Gefangenen durch zwei Mauerpforten hinaus ist.«
»So trifft den Teu doch immer die Schuld. Wenn er auch den Kuang-fu nicht beaufsichtigen durfte, so mußte er doch die Gefangenen bewachen. Wenn es so ist, wie mein junger Kollege sagt, so war dieser Mann allerdings ein Betrüger, dem wir nachforschen werden, und wehe ihm, wenn wir ihn entdecken!«
»Mir würde das nicht geschehen können. Nun ich die Aufsicht über dieses Gefängnis führe, werde ich mir, wenn ein solcher Fall eintritt, das Zeichen sehr genau betrachten. Man muß sehr vorsichtig sein, zumal wenn man solche Gefangene hat wie diejenigen, welche ich jetzt herbegleitet habe.«
Der Tong-tschi gab ihm sehr ernsthaft den Rat, diesen Vorsatz ja auszuführen, und entfernte sich dann, um nach Hause zu gehen, wo er von dem Methusalem mit Ungeduld erwartet wurde.
Dieser hatte indessen mit Gottfried und Richard sehr gut zu Mittag gespeist, aber mit wenig Appetit, da er sich in großer Sorge um die Freunde befand. Der Tong-tschi gab sich Mühe, ihn zu beruhigen, doch vergebens.
»Morgen werden sie verhört,« sagte der Mandarin. »Bis dahin ist eine lange Zeit, und es wird uns wohl ein guter Gedanke kommen.«
»Wenn wir auf die Gedanken warten wollen, so sind meine Gefährten verloren. Wir müssen zwar denken, vor allen Dingen aber auch handeln. Wer wird das Verhör führen?«
»Ich und der Fu-yuen.«
»Der höchste Beamte der Stadt, welcher zugleich der Stellvertreter des Generalgouverneurs der ganzen Provinz ist? Da sind meine Freunde verloren. Wird er es glauben, daß sie Lamas sind?«
»Nein; er ist in Lhassa und auch im Lande der Mongolen gewesen. Auch hat er so viel mit Ausländern verkehrt, daß er sofort erkennen wird, wen er vor sich hat.«
»So dürfen wir es unmöglich bis zu diesem Verhör kommen lassen. Meine Gefährten müssen schon morgen früh frei sein. Ich muß sie schon heut nacht aus dem Gefängnisse holen!«
Der Mandarin sah nachdenklich vor sich nieder, dann sagte er:
»Das beste, was ich Ihnen raten kann, ist, daß Sie die Sache ruhig abwarten. Man darf ihnen ja nichts thun. Man muß sie dem Vertreter ihres Landes ausliefern.«
»Aber wie man sie dabei behandeln wird! Und ohne Strafe kommen sie nicht davon.«
»Die Strafe wird keine schwere sein; aber mit Ihrer Reise ist es dann aus. Und wer sagt mir, daß ich trotz aller Vorsicht nicht doch auch selbst in die Angelegenheit verwickelt werde!«
»Das haben Sie freilich zu befürchten, denn ich muß leider offen gestehen, daß diese Leute nicht allzu vorsichtig sind, wie sie bewiesen haben.«
»Nicht nur unvorsichtig sind sie, sondern auch übermütig trotz aller Gefahr. Sie hätten diesen Tu-lu-ne-re-si-ti-ki sehen sollen, als er die Augen herausnahm.«
»Doch nur das eine!«
»Ja. Dann verlangte er das Bein des Oberpriesters. Welcher andere wagt das, wenn er sich in einer solchen Gefahr befindet! Ich habe noch nie einen Menschen gesehen, weicher seine Augen entfernen und sie wieder hineinthun kann, ohne das Gesicht zu verlieren.«
Der Student erklärte ihm die Sache und fuhr dann fort:
»Sie müssen frei werden, schon um Ihretwillen! Darf ich auf ihre Hilfe rechnen?«
»Hm! Ich bin Beamter.«
»Sie sind Kuan-fu, sogar Tong-tschi, aber Sie haben trotzdem in der letzten Nacht drei Gefangenen die Freiheit gegeben.«
»Eben deshalb kann ich nun heut nichts thun. Dieser junge Pang-tschok-kuan ist trotz seiner Jugend ein tüchtiger Mann. Er wird sich nicht betrügen lassen.«
»Und es muß doch versucht werden!«
»Wollen Sie es wagen, so begeben Sie sich in eine große Gefahr. Ich will Ihnen weder zu- noch abreden. Ich werde Sie nicht hindern, denn Sie sind verschwiegen und werden mich nicht verraten. Vielleicht gebe ich Ihnen sogar einen guten Rat. Aber verlangen Sie nicht, daß ich mich Persönlich beteilige, und führen Sie die Sache so aus, daß ich dabei gar nicht in Betracht komme! Ich werde jetzt in mein Zimmer gehen, um zu überlegen. Denken auch Sie nach! Selbst wenn Sie etwas wagen wollen, ist vor der Nacht nichts zu thun. Bis dahin wird wohl ein Entschluß kommen.«
Auch der Methusalem suchte seine Stube auf. Er ging in derselben ruhelos hin und her. Sie wurde ihm zu eng, und er begab sich in den Garten, wo er den \Wichsier und Richard fand, welche sich sehr angelegentlich mit demselben Thema beschäftigten.
Sie setzten sich an einer Stelle nieder, wo sie nicht belauscht werden konnten, und schmiedeten Pläne, ohne aber einen zu finden, welcher Erfolg verhieß.
»Sie müssen heraus und sollte ich sie mit Kanonen herausschießen!« rief endlich Degenfeld ungeduldig aus. »Es handelt sich nicht nur um Turnerstick und den Mijnheer. Diesen beiden könnte ein kleiner Denkzettel gar nichts schaden; sie haben ihn reichlich verdient; aber daß Liang-ssi nun mit in diese Tinte geraten soll!«
»Es weiß doch niemand, daß er zu ihnen gehört,« meinte Richard.
»Jetzt noch nicht, aber sie werden es erfahren. Wenn sie morgen vor den Fu-yuen kommen, so werden alle Ausreden hinfällig; das sehe ich voraus. Diesem Beamten machen sie nichts weiß!«
»Dat glaube auch ich,« stimmte Gottfried bei. »Am allerbesten wäre es, man schickte mir hin, sie zu verhören. Mein Urteil würde lauten: Jebt jedem einen jehörigen Nasenstüber und laßt sie dann laufen, soweit sie wollen! Hier in China Jötters zu spielen! So etwas ist noch aus keine Dachtraufe jefallen! Wie sie nur auf diesen unvernünftigen Jedanken jekommen sind?«
»Jedenfalls hat Turnerstick ihn gehabt und der gute Dicke ist mit in die Patsche getrollt. Ich wette, daß beide noch gar nicht glauben, daß es ihnen unter Umständen recht schlimm ergehen kann. Hätte sich Liang-ssi nicht so mutig ihrer angenommen, und wäre der Mandarin nicht noch einmal zu ihnen zurückgekehrt, so hätten sie in der Gefahr geschwebt, vom Pöbel gelyncht zu werden. Kommt es nun morgen heraus, daß Liang-ssi zu ihnen gehört, so ist es um ihn geschehen. Er ist ein Chinese; ihn kann kein Konsul und kein Resident retten. Über ihm und auf ihn wird sich das ganze Gewitter entladen. Ich war so froh, ihn gefunden zu haben. Jetzt befindet er sich in der Gefahr, uns wieder entrissen zu werden. Das darf nicht geschehen, ich habe unserm Ye-kin-fi mein Kong-kheou gegeben und werde unter Umständen mein Leben daran setzen, es halten zu können. Liang-ssi muß unbedingt befreit werden; er muß heraus!«
»Ja, und sollte er mit Ketten an dat Firmament jebunden sein, wie Wallenstein jeschworen hat. Sollte uns denn keine jute Idee beikommen! Mein Kopf ist doch sonst kein Kohlenkasten!«
»Aber ich wüßte wohl etwas; aber es geht nicht.«
»Er weiß etwas, doch jeht es nicht! Nun, da wissen Sie eben nichts, mein oller Methusalem. Wat ist es denn, wat Sie wissen?«
»Wenn der Tong-tschi wollte, so wäre uns geholfen.«
»Ja, dat weiß ich auch. Hat er jestern die drei herausjeholt, warum sollte er es heut nicht fertig bringen!«
»Weil man nun klug geworden ist, und weil heut eine andere und schärfere Beaufsichtigung da ist.«
»Er hat doch die Medalljen, die ihm dat Thor und alle Thüren öffnen, wie Sie erzählten.«
»Ja, aber ich kann es ihm nicht verdenken, wenn er sich nicht persönlich in Gefahr begeben will. Bei ihm steht eben mehr auf dem Spiele als bei jedem andern, und wir können von ihm nicht verlangen, daß er für uns alles, geradezu alles wagt, während es eigentlich seine Pflicht wäre, das gerade Gegenteil zu thun.«
»Richtig! Aberst wat er nicht kann oder nicht will, dat können doch wir!«
»Was?«
»Als Mandarinen ins Jefängnis jehen und dann mit die Jefangenen wieder herausspazieren.«
»Daran habe auch ich schon gedacht. Aber das ist leichter gedacht als gethan!«
»Dat weiß ich sehr wohl. Es läßt sich ja überhaupt alles leichter denken als thun. Denke ich mich zum Beispiel, daß ich Ihre Hukah rauche, da haben Sie dat Mundstück zwischen die Zähne, und ich kann mich den Rauch inschnuppern. Ich weiß auch ebenso jenau, daß die Sache mit eine jewisse Jefahr verbunden ist, aber ich kann den Jedanken nicht los werden, daß wir unsern Jeldbriefträger von Ninive‹ noch mal wiedersehen, und da ist mich sonne chinesische Jefährlichkeit ziemlich schnuppe. Wollen Sie hinein in dat Huok-tschu-fang, so bin ich augenblicklich mit dabei.«
»Ich auch,« sagte Richard.
»Das glaube ich,« antwortete Degenfeld dem letzteren. »Dich aber könnte ich nicht gebrauchen. Du treibst chinesisch erst seit unserer Reise; Gottfried aber hat sich schon vorher so oft und eingehend mit seinem guten Freunde Ye-kin-li herumgeärgert, daß, um mit Turnerstick zu sprechen, genug Endungen an ihm hangen geblieben sind, um ihm hier und da einmal über die Lippen zu laufen. Er kann leichter als du für einen Chinesen gehalten werden, ganz abgesehen davon, daß du zu jung und zu klein bist, an so einer Gefahr teilzunehmen.«
»Schön!« meinte Gottfried. »Also mein Jedanke jefällt Ihnen?«
»Er ist nicht allein der deinige. Ich sagte ja bereits, daß ich ihn selbst auch schon gehabt habe. Wenn ich mir die Sache recht überlege, so wird uns wohl nichts anderes übrig bleiben.«
»Jut! Ich jehe also mit?«
»Ja. Allein kann ich es nicht wägen. Ich muß einen Soutien haben, auf den ich mich zurückziehen kann.«
»Jottfried und Soutien! Ich avanciere immer höher! Wollen diese Anjelegenheit weiter betrachten. Wenn wir diesen Plan ausführen wollen, so müssen wir chinesische Kleider haben.«
»Mandarinenanzüge sogar!«
»Doch woher nehmen?«
»Freilich hier ist es nicht wie daheim, wo man nur zum Maskenverleiher zu gehen braucht, um alles zu finden, was nötig ist.«
»Werden es auch hier finden!«
»Wo?«
»Davon später. Ferner brauchen wir den Hauptschlüssel in Jestalt von eine Medaille.«
»Den hat der Tong-tschi.«
»Und jiebt ihn nicht her?«
»Ich zweifle.«
»Ferner brauchen wir Sänften, nicht?«
»Ja. Gehen können die drei nicht, wenn es uns gelingen sollte, sie bis vor das Thor des Gefängnisses zu bringen. Die Kleidung des Mijnheer würde auffallen und alles verraten.«
»So müssen wir Sänftenträger bestechen, und dat kostet Jeld.«
»Das Geld würde ich nicht sparen; aber welcher Fremde findet gleich Kulis, denen man trauen darf. Wir wären gezwungen, diesen Leuten unsern Plan mitzuteilen, und müßten gewärtig sein, daß die Kerls zum Pang-tschok-kuan liefen, um ihm alles zu sagen.«
»Wie viele brauchen wir ihrer dann?«
»Zwölf.«
»Zwölf? Warum so viele?«
»Weil wir sechs Personen sind. Es versteht sich ja ganz von selbst, daß wir nicht nach hier zurückkehren könnten. Wir müßten sofort die Stadt verlassen.«
»O weh! Und die Straßen und Jassen sind alle verschlossen!«
»Das würde uns wenig hindern, da ich den Paß habe, welcher alle Thore öffnet, leider aber nicht Gefängnisthüren.«
»Hm! je länger ich mich die Sache betrachte, desto freundlicher lächelt sie mir an. Ich werde mal einige Augenblicke auf und nieder steigen; dann sollen Sie hören, wat der Jottfried für kein Aujust ist!«
Er stand von seinem Sitze auf und stieg einigemal im Garten hin und her. Dabei warf er die langen Arme um sich und zog allerlei wunderliche Gesichter, lachte dabei laut auf, brummte wieder sehr ernst vor sich hin und kehrte endlich mit einem höchst pfiffigen Gesicht wieder zurück.
»Ich habe es!« sagte er. »Die janze Jeschichte liegt hell und klar vor meine jeistige Fähigkeiten; nur mit die Sänftenträger weiß ich noch nicht, woher sie nehmen.«
»Nun, schieß los!«
»Soll jeschehen. Sie wissen wohl, daß ich länger bin als Sie?«
»Natürlich! Was soll diese Frage?«
»Stören Sie mir nicht in meinem Zirkel! Auch werden Sie bemerkt haben, daß Sie dicker sind als ich?«
»Zu meiner Kenntnis ist auch das gekommen, ja.«
»Und wat sagen Sie nun von die Jestalt unseres heutigen Wirtes?«
»Wieso? In welcher Beziehung meinst du das?«
»In Beziehung der seinigen Jestalt auf die unserige Figur.«
»Nun, er ist nicht ganz so beleibt wie ich und auch nicht ganz so lang wie du.«
»Janz recht! Er steht so mitten inne. Darum jebe ich mir der Überzeugung hin, daß seine Anzüge uns beiden so leidlich passen würden, wenigstens für des Nachts.«
»Möglich, sogar wahrscheinlich. Aber denkst du etwa, daß er sie uns leihen würde?«
»Warum nicht?«
»Nein. Er mag von der Sache persönlich nichts wissen.«
»Aberst fragen können Sie ihn doch! Und sollte er sie nicht herjeben wollen, nun, so schafft unser Jottfried Rat.«
»Wieso?«
»Ich mause sie, oder ›ek muise zij‹, wie der Mijnheer sagen würde.«
»Gottfried, wie lautet das siebente Gebot?«
»Weiß schon: Du sollst nicht stehlen! Doch will ich dat auch jar nicht. Er soll seine Habitussens zurück erhalten. Und diese Medailljens, welche wir brauchen, werden ›ook gemuist‹, wenn wir sie nicht anders bekommen können.«
»Gottfried, Gottfried!«
»Methusalem, Methusalem! Wenn Sie wat bessers wissen, so sagen Sie es! Sie können nur als Mandarin und mit einem Zeichen versehen sich Eingang verschaffen. Überlejen Sie sich den Schlafrock; ich werde Ihnen nicht dabei stören.«
Er ging fort, um seinen Spaziergang wieder aufzunehmen, und kehrte erst nach längerer Zeit zurück, um zu fragen:
»Nun, haben Sie einen andern Weg entdeckt?«
»Nein.«
»So muß es bei dem meinigen bleiben.«
»Das fällt mir schwer. Sollen wir das Vertrauen des Tong-tschi in dieser Weise täuschen? Denn was wir ihm heimlich nehmen, können wir ihm dann nicht wieder zustellen.«
»Warum denn nicht?«
»Weil wir keine Zeit dazu haben und die Sachen auch keinem Boten anvertrauen dürfen.«
»Hm! Dann wären sie allerdings jestohlen, und ein Spitzbube ist der Jottfried nie jewesen. Hier, grad hier sitzt der Hase, über den ich nicht jern stolpern möchte. Denken wir also weiter nach!«
Aber das Grübeln war umsonst. Degenfeld sah ein, daß er vor allen Dingen hören müsse, welchen Vorschlag ihm der Tong-tschi machen werde. Dieser hatte ihm ja einen guten Rat versprochen.
Aber der Nachmittag verging, ohne daß der Mandarin sich sehen ließ. Es wurde Abend und man rief die drei zum Mahle in das Haus. Es war für sie allein gedeckt. Degenfeld fragte den servierenden Diener nach seinem Herrn und hörte, daß derselbe Besuch empfangen habe.
»Es ist der Ho-po-so, welcher mit ihm in seinem Zimmer speist,« fügte der redselige Mann hinzu.
»Der Ho-po-so? Wann ist er gekommen?«
»Vor einer halben Zeit.«
Eine halbe Zeit ist gerade eine Stunde. Also schon so lange war er da! Er aß mit dem Tong-tschi, ohne sich vor den Gästen sehen zu lassen, welche zu begrüßen er gekommen war! Das war sonderbar.
Später hörte Degenfeld die Schritte mehrerer Leute, welche draußen am Speisezimmer vorübergingen. Dann erfuhr er, daß der Ho-po-so sich entfernt habe.
»Das ist beleidigend,« sagte er zu Gottfried. »Wir haben ihn von der Piratendschunke geholt; er verdankt uns nicht nur das Leben, sondern auch die Ehre und Reputation; er hat auch dem Tong-tschi gesagt, daß er morgen oder sogar schon heut kommen wolle, um uns zu sehen, und nun er da ist, sucht er uns nicht auf und entfernt sich wieder, ohne uns sein mongolisches Angesicht gezeigt zu haben. Was soll man davon denken!«
»Wat ich denken soll, dat weiß ich.«
»Nun, was?«
»Der Tong-tschi wird erzählt haben, wat jeschehen ist, und nun mag dieser liebe Hafen- und Flußmeister nichts von uns wissen. Als er sich in Jefahr befand, waren wir ihm willkommen; nun aber wir uns in Jefahr befinden, beeilt er sich, heiler Haut nach Hause zu gehen. Dat ist so der Lauf der Welt und die Jepflogenheit des Menschenjeschlechtes.«
»Aber feig und undankbar!«
»Wat mir betrifft, so bin ich nicht zu den Chinesigen jekommen, um Mut und Dankbarkeit bei sie zu suchen. Meinetwegen mag dieser Ho-po-so sich – – –«
Er hielt inne, denn der Tong-tschi trat ein, grüßte sehr freundlich und erkundigte sich, wie sie bedient worden seien. Der Methusalem antwortete anerkennend und war dann ziemlich erstaunt, als der Wirt ihm sagte, daß der Ho-po-so dagewesen und soeben fortgegangen sei. Er hatte erwartet, daß er diesen Besuch verheimlichen werde, um seine Gäste nicht zu kränken.
»War er nicht gekommen, uns zu begrüßen?« konnte der Student sich doch nicht enthalten, zu fragen.
»Ja,« antwortete der Mandarin ganz unbefangen. »Er hatte sich sehr darauf gefreut, Sie zu sehen.«
»So kommt er wieder?«
»Nein.«
»Dann ist es mir unbegreiflich, daß er gegangen ist, ohne sich sehen zu lassen!«
»Es fiel ihm plötzlich ein, daß er etwas sehr Wichtiges vergessen hatte; darum mußte er sich beeilen und hat mich gebeten, ihn zu entschuldigen.«
»Dessen bedarf es nicht. Wir dürfen ja nicht so unbescheiden sein, ihn von wichtigen Dingen abzuhalten.«
Über das Gesicht des Tong-tschi glitt ein feines Lächeln. Er wußte gar wohl, wie Degenfeld seine Worte meinte, that aber gar nicht so, als ob er ihn verstehe. Er setzte sich zu den dreien an den Tisch, verlangte Pfeifen und gab, als diese brannten, dem Diener den Befehl, sich zurückzuziehen und jede Störung fern zu halten.
Nach dieser Einleitung wollte der Methusalem vermuten, daß der Mandarin nun von den Gefangenen sprechen und vielleicht einen guten Rat zum Vorschein bringen werde. Dem war aber nicht so, denn der Chinese begann wieder von dem Ho-po-so zu sprechen. Er sagte:
»Dieser Mandarin hat über den Hafen von Kuang-tschiu-fu und alle Flüsse des Landes zu gebieten. Es darf ohne seine Erlaubnis kein Schiff kommen oder gehen. Vorhin nun besann er sich darauf, daß der Kapitän eines Ts'ien-kiok um die Genehmigung nachgesucht habe, abzusegeln. Der Ho-po-so hatte das vergessen, und da das Schiff morgen schon weit von hier sein muß, so eilte er fort, um das Versäumte nachzuholen.«
Ts'ien-kiok heißt wörtlich: Tausendfuß. So werden die leicht gebauten Kriegsdschunken genannt, welche besonders die Flüsse des Binnenlandes und Kanäle befahren. Sie werden außer von den Segeln auch durch eine Menge von langen Rudern fortgetrieben, welche zu beiden Seiten des Fahrzeuges in das Wasser greifen. Die schnelle Bewegung und große Anzahl dieser Ruder ist der Grund, daß man diese Fahrzeuge oft Tausendfüße nennen hört.
Was aber hatte so ein Schiff heute abend für eine Wichtigkeit? Warum sprach der Tong-tschi von demselben, wo man von ihm ganz anderes erwartet hatte?
»Haben Sie schon einmal so einen Ts'ien-kiok rudern sehen?« fragte er in einem Tone, als ob dieser Gesprächsgegenstand der vorzüglichste sei, den es nur geben könne.
»Nein,« antwortete der Methusalem kurz.
»Sie werden es noch sehen und sich über die Schnelligkeit wundem, mit welcher es in kurzer Zeit große Strecken zurücklegt.«
»Später! Heut aber habe ich an ganz anderes zu denken!«
»O1 warum wollen Sie nicht auch einmal von einem Tausendfuße sprechen oder hören? Er wird zwei Stunden nach Mitternacht abgehen, kann aber auch vorher bereit dazu sein.«
»So!« dehnte Degenfeld.
»Er muß nämlich noch in dieser Nacht fort, um einen Yao-tschang-ti nach Schü-juan zu bringen.«
»Wohnen dort viele Leute, welche die Steuern schlecht bezahlen?« fragte der Student, um nur etwas zu sagen.
»Ja. Aber wissen Sie, wo Schü-juan liegt?«
»Nein.«
»Es liegt jenseits hoch oben am Pe-kiang, wenn man nach Schao-tschéu fährt.«
Jetzt wurde der Methusalem aufmerksam, denn die letztgenannte Stadt lag auf der Route, welche er einschlagen wollte. Warum erwähnte der Mandarin sie? Hatte er doch einen Grund, von dem Tausendfuße zu sprechen?
»Dieses Schiff,« fuhr er fort, indem er mit den kleinen Augen blinzelte, »ist das schnellste, welches ich kenne. Wenn es heute zwei Stunden nach Mitternacht fortfährt, wird es übermorgen noch vor Mittag den Pe-kiang erreichen, wozu ein anderes Schiff zwei volle Tage braucht. Es legt bis dorthin nicht am Ufer an und würde für denjenigen, welcher sehr schnell und rasch weit von hier entfernt sein will, eine vortreffliche Gelegenheit bieten.«
Es war klar, er sagte das nicht ohne eine gewisse Absicht. Sollte das etwa der Rat sein, den er hatte geben wollen? Wollte er als Beamter ihn nicht direkt erteilen, sondern ihn erraten lassen? Dies war immerhin anzunehmen, und darum fragte der Methusalem:
»Nimmt denn ein Kriegsschiff auch Passagiere mit?«
»Ja, wenn sie dem Kapitän empfohlen sind.«
»Auch Fremde?«
»Jeden, der eine Empfehlung besitzt.«
»Und muß dieselbe eine schriftliche sein?«
»Ja. Noch besser aber ist es, wenn derselben eine mündliche vorangegangen ist. Aber wer einen Paß besitzt, wie zum Beispiel ich Ihnen ausgestellt habe, bedarf dessen gar nicht. Besitzt er aber außer demselben auch noch eine schriftliche und mündliche Empfehlung, so kann er auf dem Tausendfuße schalten und walten, als ob derselbe sein Eigentum sei.«
»Das würde der Kapitän sich nicht gefallen lassen!«
»Oh, was ist der Kapitän einer Flußdschunke! Nichts, gar nichts! Sie wissen ja, daß China gar keine Seeoffiziere besitzt. Sie existieren nur dem Namen nach. Ein Soldat wird zu Lande oder zu Wasser verwendet, ganz wie es seinem Vorgesetzten beliebt. Landoffiziere kommandieren auf Dschunken, und Seeoffiziere befehligen Landabteilungen, und dabei verstehen sie keins von beiden. Ich bin Chinese, aber ich kenne unsere Mängel und weiß recht gut, weshalb wir in jedem Kriege, den wir mit den Fremden führen, geschlagen werden und geschlagen werden müssen. Der Kapitän dieses Tausendfußes ist ein gewöhnlicher Scheu-yü-tsiang-tsung, auch Scheu-pi genannt, dem kaum seine Soldaten gehorchen. Die eigentliche Führung des Schiffes fällt, wie auch bei den Handelsdschunken, dem Ho-tschang zu.«
»Und hat der Yao-tschang-ti etwas zu befehlen?«
»Der Steuereintreiber? Diese Leute treten überall befehlend auf und gebärden sich, als ob sie hohe Mandarinen seien; aber sie haben nur Macht über die säumigen Steuerzahler, sonst über keinen Menschen. Sie brüllen einen jeden an, kriechen aber in dem Staube, wenn er sie noch lauter anschreit.«
»Dann muß eine Segel- und Ruderfahrt mit solchen Leuten sehr interessant sein.«
»Das ist sie gewiß. Vielleicht haben Sie bald Gelegenheit, eine solche Fahrt zu unternehmen, da Sie ja auch den Pe-kiang hinauf wollen.«
»Woher wissen Sie das? Ich erinnere mich nicht, es Ihnen gesagt zu haben.«
»Ihr Liang-ssi sprach davon, als ich ihn heute früh zufällig im Garten traf.«
»So hat er Ihnen auch gesagt, weshalb ich diese Richtung einschlage?«
»Nein. Er teilte mir nur mit, daß Sie hinauf nach Schao-tschéu wollen.«
»Ist Ihnen der Kapitän des Tausendfußes bekannt?«
»Ja. Der Ho-po-so hat mir seinen Namen genannt.«
»Und wohl auch der Steuereintreiber?«
»Auch dieser. Ihn kenne ich persönlich. Er ist ein kleiner, dürrer Mann, dünkt sich aber ein Riese von Verstand und Würde zu sein. Er wird von allen ausgelacht, die keine Steuern schuldig sind. Es befinden sich auf diesem Tausendfuße einige Waren, welche ich holen lassen will.«
»Wann?«
»Nach Mitternacht.«
»Warum so spät und wenn alle Thore der Gassen verschlossen sind?«
Er blinzelte wieder sehr listig mit den Augen und antwortete:
»Weil – – nun, Ihnen kann ich es anvertrauen, weil es Waren sind, von denen niemand etwas wissen darf.«
»Dürfen die Träger denn durch die Gassen? Wird man ihnen die Thore öffnen?«
»Ganz gewiß, denn ich denke, es wird einer dabei sein, welcher einen guten Paß besitzt.«
»Und dieser Mann muß mit ihnen gehen?«
»Gehen? O nein! Ein Mann, welcher einen solchen Paß besitzt, darf nicht gehen. Er ist zu vornehm dazu. Auch muß ich die Waren in Sänften holen lassen, damit sie nicht von den Wächtern gesehen werden.«
Jetzt begann der Methusalem, zu begreifen. Um sich völlig zu überzeugen, ob er recht vermute, erkundigte er sich noch weiter:
»Wie viele Sänften werden Sie senden?«
»Eigentlich nur sechs. Aber es kommt noch eine Doppelsänfte dazu, um die Gewehre und Kleider aufzunehmen.«
»Welche Gewehre?«
»Diejenigen, welche ich von hier nach dem Tausendfuße sende. Für sie wäre eine einfache Sänfte nicht räumlich genug. Und dann bekomme ich von dem Schiffe aus Kleider zugeschickt. Es ist ein kleines, heimliches Geschäft, von welchem ich sehr wünsche, daß es gelingen möge.«
Jetzt wußte Degenfeld ganz genau, woran er war. Der Mandarin wollte ihm Kleider leihen, um sich unkenntlich machen zu können. In diesen Kleidern sollte er die Gefangenen befreien. Dann sollte er sich mit seinen Genossen nach dem Schiffe tragen lassen und die Kleider zurücksenden.
»Aber wird man nicht die Sänften und ihre Träger erkennen?« fragte der Student, um sich genau zu unterrichten.
»Nein, denn die Leute sind wie ganz gewöhnliche Kulis gekleidet, und ich habe auch dafür gesorgt, daß ganz einfache Palankins vorhanden sind.«
»Das ist ja ganz ausgezeichnet. Aber werden die Träger auch so klug sein, ohne anzuhalten nach dem Schiffe zu laufen?«
»Sie brauchen nur ein einzigesmal auszuruhen. Wo das geschehen soll, das hat der Mann mit dem Passe zu bestimmen. Auch habe ich es ihnen schon gesagt. Es ist nicht allzuweit von hier.«
»Sind es viele Kleider?«
»Nur zwei Mandarinenanzüge. Wollen Sie dieselben sehen?«
»Ich bitte, es zu dürfen.«
»So kommen Sie!«
Der Tong-tschi führte Degenfeld in eine Stube, welche für den letzteren nicht bequemer liegen konnte, denn sie stieß an die seinige. Da hingen zwei vollständige Anzüge nebst Mützen mit Knöpfen und Pfauenfedern, welche letztere ein Zeichen großer kaiserlicher Gewogenheit und Anerkennung sind. Nicht das Geringste fehlte. Selbst die Gegenstände, welche trotz ihrer Kleinheit eine so große Wichtigkeit besaßen, waren vorhanden, denn der Mandarin griff in die Ärmel, welche in China bekanntlich als Taschen benutzt werden, und zog zwei Medaillen hervor, welche er dem Methusalem zeigte, um sie dann wieder zurückzustecken. Dabei sagte er lächelnd:
»Diese Kleider und Münzen sind nämlich für zwei gute Freunde bestimmt, welche einmal versuchen wollen, wie man sich als Mandarin fühlt. Es ist nur ein Scherz, und sie werden mir diese Gegenstände alle sofort zurücksenden, damit mir später nichts davon fehle, denn über diese Münzen habe ich Rechenschaft abzulegen.«
»Wann werden sich diese Freunde ankleiden?«
»Kurz bevor sie gehen. Sie nehmen ihre eigenen Anzüge in der Doppelsänfte mit, um sie dann, bevor sie das Schiff erreichen, wieder zu vertauschen.«
Das war alles genau so arrangiert, als ob der Gottfried dem Mandarin seine Gedanken und Pläne mitgeteilt hätte. Nur handelte es sich darum, die Gefährten glücklich aus dem Gefängnisse und in die Sänften zu bringen. Das war freilich die Hauptsache, zu deren Gelingen aber der Tong-tschi nichts beitragen konnte, wenigstens nicht direkt.
Indirekt aber that er sein möglichstes. Denn als er nun mit Degenfeld in das Speisezimmer zurückgekehrt war, brachte er das Gespräch auf die Gefangenen und beschrieb bei dieser Gelegenheit das Gefängnis so genau und eingehend, daß der Methusalem schließlich auf das allerbeste orientiert war.
Ungefähr eine Stunde vor Mitternacht brach er auf. Er sagte, daß er heute noch einige Stunden zu arbeiten habe und auch auf die Rücksendung der Kleider und Münzen warten müsse. Er schüttelte den dreien die Hände auf das herzlichste, that ganz so, als ob er nur für diese Nacht Abschied von ihnen nehme, drehte sich aber unter der Thür noch einmal um und sagte in gerührtem Tone:
»I lu fu sing!«
Als er dann fort war, schüttelte Gottfried den Kopf und sagte:
»Jetzt weiß ich nicht, ob ich ihn recht verstanden habe. Es ist mich janz so, als ob er jelauscht hätte, als wir unten im Garten miteinander sprachen.«
»Das kann nicht geschehen sein, weil der Ho-po-so bei ihm war.«
»Dann ist mich diese Jeschichte ein noch viel jrößeres Rätsel. Was hatten denn seine letzten Worte zu bedeuten?«
»Möge euch das Glück auf eurer Reise begleiten!«
»So hat er gesagt? Donner und Doria, dann ist es richtig! Dann habe ich ihm verstanden! Wir sollen auf das Schiff. Oder nicht?«
»Ja.«
»Und wat war's mit die Kleidage?«
»Kommt! Ich will es euch zeigen.«
Er führte die beiden in die erwähnte Stube. Als Gottfried die Anzüge erblickte, sagte er:
»Da ist ja jeder Wunsch erfüllt. Dieser Tong-tschi muß heut mal allwissend jewesen sein. Ich könnte ihn küssen oder ihm ein Morjenständchen off meine Oboe bringen. Nur die Zöpfe fehlen.«
»Brauchen wir nicht, denn wir haben da nicht gewöhnliche Mützen, sondern Regenhüte mit Kaputzen. Er hat eben alles überlegt.«
»Wie soll denn dat allens werden?«
»Das wirst du nachher erfahren. Jetzt will ich einmal sehen, wie es im Hause steht, wer noch wach und munter ist und wo sich die Sänften befinden.«
Im Stockwerke brannte nur eine einzige einsame Lampe. Unten hing zwischen Vorder- und Hinterthür auch eine solche. Die erstere Thür war verschlossen; die zweite stand offen. Als Degenfeld hinaustrat, sah er die Sänften stehen. Ein Mann erhob sich vom Boden, trat nahe zu ihm heran, verbeugte sich und fragte:
»Wann befiehlt Ihre hohe Würde, daß wir aufbrechen?«
Der Sprecher war ganz einfach, wie ein Kuli gekleidet.
»Weißt du, wen ihr zu tragen habt?« fragte der Methusalem.
»Ja.«
»Auch wohin?«
»Auch das.«
»Nun, wohin?«
»Nach dem Schiffe.«
»Direkt?«
»Nein. Wir halten einmal. Zwei hohe Herren steigen aus; der jüngere Gebieter bleibt in seinem Palankin. Dann kommen die beiden Ehrwürdigen mit drei andern Achtungsgebietenden zurück; sie steigen ein, und der Weg wird fortgesetzt, bis wir in der Nähe des Schiffes halten, um die Umkleidung abzuwarten und sie dann auf das Deck des Tausendfußes zu bringen.«
»Du hast sehr genaue Befehle erhalten. Aber wo ist die Stelle, an welcher ihr zu halten habt?«
»In der Nähe des Gefängnisses steht die Thür eines Hauses offen, in dessen Hof wir warten werden.«
»Wem gehört dieses Haus?«
»Einem sehr ergebenen Diener unseres mächtigen Tong-tschi.«
»Gut! In kurzer Zeit werden wir aufbrechen. Haltet euch bereit!«
Degenfeld ging in seine Stube zurück, in welcher er den Gottfried instruierte. Als er mit seiner Weisung zu Ende war, kratzte sich der Wichsier hinter den Ohren und schmunzelte:
»Allens ist jut, allens, aberst ob es jelingen wird, dat müssen wir abwarten. Leicht ist es nicht. Es scheint mich vielmehr, als ob wir noch niemals ein so jroßes Wagnis unternommen hätten. Wenn es auch nicht den Kopf kostet, so kann doch der Kragen verloren jehen. Doch, frisch jewagt, ist halb ertrunken! Ein tapferer Ritter zaudert nicht. Machen wir uns also in die Jewänder und dann auf die Beine!«
Sie vertauschten ihre Kleider mit den beiden Anzügen, wobei Richard ihnen behilflich war. Dann mußte der letztere die Habseligkeiten der gefangenen Gefährten aus deren Stuben holen. Der Hund bekam seinen Tornister aufgeschnallt, und dann begaben sie sich hinab zu den Sänften.
Dort standen jetzt vierzehn Kulis, welche ihrer warteten. Degenfeld befahl ihnen, die Effekten herabzuholen und in die Doppelsänfte zu thun. Als dies geschehen war, stiegen die drei ein.
Es schien im ganzen Hause außer den Genannten kein Mensch anwesend oder wach zu sein, eine so tiefe Stille herrschte überall. Der Zug setzte sich in Bewegung. Die Thür wurde leise geöffnet und wieder verschlossen; dann ging es im Trabe die Gasse hinab.
Es war dem Methusalem keineswegs allzu behaglich zu Mute. Er stand vor einem Wagnisse, von welchem hundert gegen zehn zu wetten war, daß es übel ablaufen werde; er vertraute aber auf sein gutes Glück und sagte sich, daß sein Vorhaben zwar ein ziemlich leichtsinniges, aber doch nicht unbegründetes sei.
Die Straße war dunkel. Nur ganz vorn, wo sie durch einen Gitterbogen von der nächsten Gasse getrennt war, gab es eine Papierlaterne, bei welcher ein Wächter stand.
»Schui ni-meo – wer seid ihr?« fragte er, als die Träger Degenfelds, welcher in der vordersten Sänfte saß, bei der Pforte anhielten.
Der Student hatte seinen Paß bereit gehalten und zeigte ihn vor. Der Wächter leuchtete mit der Laterne auf die Schrift; als er die ersten Charaktere und dann das Siegel erblickte, riß er die Pforte auf und warf sich, ohne ein weiteres Wort zu sagen oder zu fragen, platt auf den Boden nieder. Sie konnten passieren.
Ebenso ging es am Ende von noch vier andern Straßen. Überall ertönte das Schui-ni-men, und sobald die Wächter den Paß erblickten, öffneten sie schleunigst und warfen sich dann auf die Erde.
Dann bogen die Träger in ein Haus ein, dessen Thür offen stand, und setzten die Sänften draußen im Hofe ab. Degenfeld, Gottfried und Richard stiegen aus. Es war hier so finster und still wie in einer Kirche um Mitternacht.
»Ich wollte, ich könnte mit euch gehen,« sagte Richard. »Mir ist so bange um euch, Onkel Methusalem.«
»Pah, bange!« antwortete der Blaurote. »Wer wird da ängstlich sein.«
»Aber es ist so gefährlich. Was thue ich, wenn man euch festhält?«
»Da läßt du dich zurück zum Tong-tschi tragen. Aber das kann gar nicht geschehen. Als Mandarinen haben wir das Recht, das Gefängnis zu jeder Stunde auch des Nachts zu besuchen. Da kann uns niemand etwas thun. Und sind wir drin, so werden wir ja sehen, ob die Sache leicht oder schwer ist. Ist sie unmöglich, so gehen wir unverrichteter Dinge fort. Kopflos werde ich gar nicht handeln. Also den Kopf in die Höhe, junge! In einer Viertelstunde sehen wir uns wieder.«
Richard schlang den Arm um ihn, drückte ihn an sich und trat dann still zurück. Degenfeld ging mit dem Gottfried durch das Haus zurück auf die Straße. Diese war vollständig dunkel. Nur gerade ihnen gegenüber schimmerten einige geölte Papierfenster.
»Das ist im Gefängnisse,« sagte Degenfeld. »Dort muß es liegen.«
»Ja, nach der Beschreibung des Tong-tschi liegt es dort. Doch sagen Sie mich erst mal, welches Jefühl Sie in der Magengejend empfinden?«
»Ungefähr so, als ob ich saures Bier getrunken hätte.«
»Mich ist es ebenso. Und oben im Halse habe ich die Empfindung, als ob ich zur Hälfte einen Schangdarm verschlungen hätte. Ist es dat Jewissen, nämlich dat böse, oder die Angst?«
»Wohl beides. Einen Schritt, wie wir ihn vorhaben, kann man unmöglich ohne Sorge und Beklemmung thun. Wer das leugnet, der lügt einfach. Doch je schneller man ins Wasser springt, desto eher ist man naß. Komm, alter Gottfried!«
»Jottfried? Dat verbitte ich mich. Ich bin jetzt der Kuan-fu Ziegenkopf. Verstanden? Ich werde versuchen, mein Chinesisch an den Mann zu bringen.«
»Ja nicht! Sprich so wenig wie möglich; am besten ist's, du schweigst ganz.«
»Jut, so schweige ich chinesisch. Auch dat habe ich jelernt.«
Sie schritten über die Straße hinüber und standen vor einem Thore, welches durch eine hohe und dicke Mauer führte. Über dem Thore hing ein Gong, an welches der Methusalem schlug.
»Schui-tsi – wer da?« fragte es von innen.
»Ri kuan fu – zwei Mandarinen,« antwortete Degenfeld.
Ein Riegel wurde zurückgeschoben und das Thor ein wenig geöffnet. In der Lücke erschien zuerst ein Spieß und dann die Gestalt eines Soldaten, welcher ein kleines Laternchen in der Hand hielt.
»Lao-ye put tek lai – die alten Herren dürfen nicht herein,« sagte er.
Da zogen die beiden ihre Münzen vor und zeigten sie ihm. Sofort trat er zur Seite, um sie eintreten zu lassen, und verbeugte sich fast bis zur Erde herab.
Aus der Beschreibung, welche der Tong-tschi ihm geliefert hatte, kannte Degenfeld die Örtlichkeiten des Gefängnisses. Sie schritten über einen schmalen Hof und standen nun vor der Thür des eigentlichen Gebäudes, welches sich lang und nur ein Stockwerk hoch in der Dunkelheit verlor.
Auch hier mußte an ein Gong geschlagen werden, worauf hinter der Thür dasselbe Schui-tsi ertönte. Der Posten öffnete, als er die schon erwähnte Antwort bekam, und ließ sie nach Vorzeigen der Münze eintreten. Jetzt befanden sie sich in einem schmalen Gang, welcher von zwei Laternen erleuchtet wurde.
»Dummes Zeug!« brummte Gottfried.
»Was? Die Angst?«
»Nein, der Anzug. Dat schleppt bis auf die Füße, gerade wie bei sonne Promenadendame mit oblijate Schleppe. Ich bringe die Beine nicht vorwärts.«
In der Mitte des Ganges gab es rechts und links eine Thür. Degenfeld wußte vom Tong-tschi, wo die Gefangenen sich befanden. Er klopfte links.
»Schui-tsi?« rief es dahinter.
Die beschriebene Scene wiederholte sich abermals. Auch hier stand ein Soldat, welcher auf Brust und Rücken das Wort Ping zur Schau trug, welches eben »Soldat« bedeutet.
Als die Thür hinter ihnen wieder verriegelt worden war, befanden sie sich in einem breiteren Gang, in welchem zu beiden Seiten niedrige Thüren mündeten. Da lagen die besseren Gefängnisse.
Hinten am Ende des Ganges wurde jetzt eine Thür geöffnet. Der Schein eines hellen Lichtes fiel heraus und beleuchtete die Person, welche erschienen war, um zu erfahren, wer in so später Stunde komme. Es war der junge Mandarin. Das Bewußtsein seiner Verantwortlichkeit hatte ihm den Schlaf verboten. Er wartete, bis die beiden in den Kreis seines Lichtes traten, betrachtete sie mit mißtrauischem Blicke, verbeugte sich nur wenig und fragte:
»Schui-tsün, wer sind Sie?«
Die beiden zeigten, ohne mit einem Worte zu antworten, ihre Münzen vor.
»Kommen Sie herein!«
Er führte sie in eine kleine Stube, in welcher sich ein Tisch, ein Stuhl und eine niedrige Lagerstätte befand. Auf dem Tische brannten zwei Talgkerzen, bei denen ein aufgeschlagenes Buch lag. Der Mandarin betrachtete die Münzen längere Zeit und sehr genau; dann hatte er sich überzeugt, daß dieselben echt seien. Nun verbeugte er sich tiefer, also höflicher, und fragte:
»Welcher Veranlassung habe ich es zu verdanken, daß meine höheren Brüder mich besuchen?«
Das war noch immer nicht diejenige Höflichkeit, welche der Methusalem erwartet hatte. Darum antwortete er in ziemlich barschem Tone:
»Sind Sie der Pang-tschok-kuan dieses Hauses?«
»Ja.«
»Gibt es in dieser Stunde noch andere Oberbeamten hier, welche anwesend sind?«
»Nein.«
»Es sind heut zwei Lamas mit einem Dolmetscher eingeliefert worden?«
»Nein.«
»Ich glaube, Sie sprechen die Unwahrheit!«
»Ich sage keine Lüge. Diese Leute sind nicht das, wofür sie sich ausgeben. Der eine ist ein Holländer und der andere ein Deutscher.«
»Wie können Sie das wissen?«
»Ich habe mich überzeugt. Ich habe von Scha-mien einen Dolmetscher kommen lassen, welcher mir genaue Auskunft gab.«
»Hat er mit ihnen gesprochen?«
»Nein, denn in diesem Falle hätten sie sich in acht genommen, sich nicht zu verraten. Er hat an ihrer Thür gehorcht, und da sie laut sprachen, verstand er alle ihre Worte. Der dritte ist ein Chinese, weicher auch deutsch spricht.«
»Wer hat Ihnen denn die Erlaubnis erteilt, einen Dolmetscher kommen zu lassen?«
»Niemand. Ich bedarf dazu keiner besonderen Genehmigung.«
»Da dürften Sie sich irren, besonders da Ihnen schon der Tong-tschi eine ernste Verwarnung erteilt und Ihnen gesagt hat, daß er in dieser Angelegenheit allein zuständig sei.«
»Das habe ich auch geachtet. Ich habe die Gefangenen nicht belästigt und nur wissen wollen, wer sie sind.«
»Die allergrößte Belästigung für einen Menschen aber ist es, wenn er sich belauschen lassen muß. Die drei Männer wohnen hier?«
Er zeigte auf eine verschlossene Thür, welche nach der Seite hin aus dem Zimmer führte.
»Ja,« bestätigte der Mandarin.
»Öffnen Sie! Ich wünsche mit ihnen zu sprechen.«
Anstatt zu gehorchen, musterte ihn der Pang-tschok-kuan abermals genau und antwortete:
»Diesem Wunsche kann ich nicht Folge leisten.«
»Wunsch? Von einem Wunsche ist keine Rede; es handelt sich vielmehr um einen Befehl, den ich Ihnen erteile.«
»Dem muß ich widersprechen. Ich kann eine Willensäußerung von Ihnen beiden nicht als Befehl gelten lassen.«
»Warum nicht?«
»Weil ich Sie nicht kenne.«
»Sie sehen es unserer Kleidung an, daß wir Ihnen vorgesetzt sind. Ihr geblümter goldener Mützenknopf und unsere blauen Kugeln müssen Ihnen sagen, daß wir in die dritte, Sie aber in die siebente Rangklasse gehören. Wir fordern also von Ihnen denjenigen Gehorsam, welchen Sie uns schuldig sind!«
Der junge Mann ließ kein Zeichen von Furcht blicken. Er sah dem Methusalem fest in die Augen und antwortete in ebenso festem Tone.
»Dieser Gehorsam soll Ihnen werden, sobald Sie mir beweisen, daß Sie berechtigt sind, diesen blauen Knopf zu tragen.«
»Was! Zweifeln Sie etwa daran?«
»Ich zweifle weder noch glaube ich daran; aber ich verlange Beweise. Gestern um dieselbe Zeit ist auch ein Mandarin desselben Knopfes hier gewesen und hat drei Gefangene entführt. Mir soll das nicht auch passieren.«
Der Methusalem hätte diesem braven und furchtlosen Manne am liebsten die Hand drücken mögen, obgleich ihm diese Festigkeit sehr ungelegen kam. Darum zog er seinen Paß heraus und zeigte ihn dem Mandarin, doch so, daß er ihn nicht lesen konnte, da er sonst aus dem Inhalte ersehen hätte, daß der Vorzeiger ein Fremder sei.
»Kennen Sie dieses Siegel?«
»Ja; es ist dasjenige des Himmelssohnes,« antwortete der junge Mann, indem er zwar sich nicht auf die Erde warf, aber doch niederkniete. »Sie sind also ein Schün-tschi-schu-tse, ein Vertrauter der höchsten Majestät; ich beuge mich vor Ihnen.«
»Stehen Sie auf und öffnen Sie die Gefängnisthür!«
Jetzt gehorchte der Mandarin. Die Stube, in welche der Methusalem jetzt bücken konnte, war allerdings keines der gewöhnlichen chinesischen Gefängnislöcher. Sie bot für drei Personen Raum genug und hatte einen Tisch, drei Stühle und ebenso viele Lagerstätten. Eine Laterne beleuchtete die Reste eines wohl nicht gefängnismäßigen Abendessens.
Die Gefangenen standen erwartungsvoll inmitten des Raumes; sie hatten die Sprechenden durch die Thür gehört und den Blauroten an der Stimme erkannt. Als sie ihn nun sahen, stutzten sie. Er bot in seiner chinesischen Tracht einen sonderbaren Anblick. Zwar kleidete dieselbe sein Bierbäuchlein gar nicht so übel, aber sein dichter, dunkler Vollbart paßte nicht zu ihr, und eine solche Nase hatte man wohl auch niemals bei einem Mandarin gesehen.
Noch anders, fast komisch, wirkte das Aussehen Gottfrieds. Die weite Tracht hing an seinem langen, hageren Körper wie ein Reisemantel um einen Gartenpfahl, und sein bartloses, vielfaltiges Gesicht nahm sich unter der Mandarinenmütze höchst sonderbar aus.
»Gott sei Dank, da sind sie endlich!« rief Turnerstick. »Und zwar in Maskerade! Aber, bester Methusalem, wie kommen Sie denn auf den Gedanken, Ihren Studentenanzug mit dieser Tracht zu vertauschen? Sie sehen so lächerlich aus, daß – – –«
»Still!« fuhr ihn der Blaurote an. »Ich glaube gar, Sie wollen lachen! Damit würden Sie alles verderben. Dieser junge Mann darf nicht ahnen, daß wir uns kennen. Er hält uns für sehr hohe Beamte. Kommen Sie aber mit Vertraulichkeiten, so ist es aus damit.«
»Aber – er versteht uns ja nicht,« stotterte der Kapitän verlegen.
»Ihr Gesicht und Ihr Ton sprechen deutlicher als alle Worte. Sie scheinen überhaupt keinen Begriff von der Gefahr zu haben, in welcher Sie schwebten und noch schweben. Sie sind geradezu leichtsinnig gewesen und haben gar keine Veranlassung, lustig zu sein. Doch habe ich zu Vorwürfen keine Zeit. Wir müssen handeln. Kommen Sie heraus in die Stube des Mandarins! Läßt er Sie nicht fort, so müssen wir ihn überwältigen.«
Indem er das sagte, trat er schnell an die vordere Thür, welche nach dem Gefängnisgange führte, um dem Mandarin diese Richtung abzuschneiden. Ebenso rasch kamen die Gefangenen herein in das Zimmer. Das ging so plötzlich vor sich, daß der Pang-tschok-kuan keine Zeit fand, es zu verhindern. Er stand neben Gottfried, hinter sich die drei Gefangenen und vor sich den Methusalem. Die Situation überschauend, fragte er in betroffenem Tone:
»Was soll das? Warum dürfen diese Leute herein?«
»Weil sie mit mir gehen werden,« antwortete Degenfeld. »Ich bin gekommen, sie abzuholen.«
»Das gebe ich nicht zu!«
»Wollen Sie mir, dem Schün-tschi-schu-tse, ungehorsam sein?«
»Ihnen und jedem andern, und wenn sein Rang noch so hoch wäre! Diese Leute sind mir von dem Tong-tschi anvertraut worden, und nur ihm allein werde ich sie übergeben. Ich rufe sofort die Wache!«
Er trat an das neben der Thür hängende Gong, um ein Alarmzeichen zu geben, doch der Methusalem schleuderte ihn zurück. Da richtete der furchtlose junge Mann sich stolz auf und rief: –
»Jetzt weiß ich, woran ich bin. Sie sind kein Mandarin. Sie reden die Sprache dieser Gefangenen. Sie sind ein Bekannter von ihnen und wollen sie befreien. Gestehen Sie das?«
Diesem achtunggebietenden Wesen gegenüber konnte der Methusalem sich nicht zu einer Lüge entschließen; er hätte sich dann ihrer schämen müssen. Darum antwortete er:
»Sie haben es erraten, können aber die Ausführung unserer Absicht nicht verhindern. Sie sind einer gegen fünf.«
»Sie irren. Ich brauche nur um Hilfe. zu rufen, so kommt die Wache!«
»Ja, der eine Mann, welcher draußen im Gange steht; von anderen können Sie nicht gehört werden. Und ob wir den mürben Spieß dieses Mannes fürchten, mögen Sie hiernach beurteilen!«
Er zog seine zwei Revolver aus der Tasche, zeigte sie ihm und spannte sie; Gottfried that desgleichen. Der Mandarin erbleichte, denn er wußte wohl, daß er nur von dem nächsten Posten gehört werden könne. Ein Widerstand seinerseits hatte nicht die geringste Aussicht auf Erfolg. Ja, selbst wenn alle wachehaltenden Soldaten hätten herbeikommen können, wären dieselben diesen vier Drehpistolen gegenüber ohnmächtig gewesen. Sie wären wohl schon vor dem selbstbewußten, furchtlosen Auftreten des Methusalem in alle Winkel gekrochen. Die Hauptsache aber war, daß dieser letztere sich in dem Besitze eines Passes befand, welchen jeder Soldat, bis hinauf zum General, zu respektieren gezwungen war. Er brauchte ihn nur vorzuzeigen, so gehorchte man seinen Befehlen, nicht aber denjenigen eines Gefängnisbeamten. Aus diesen Gründen konnte gar kein Zweifel darüber gehegt werden, daß die Gefangenen aus dem Huok-tschu-fang entkommen würden.
Wenn infolgedessen der Student der Ansicht gewesen war, daß der junge Mandarin sich fügen werde, so hatte er sich dennoch geirrt. Der Beamte zeigte eine sehr ernste, ja entschlossene Miene und sagte:
»Herr, Sie sind sehr gut vorbereitet. Ich sehe ein, daß ich zu schwach bin, die Ausführung Ihres Vorhabens zu verhindern. Aber Sie haben etwas nicht mit in Betracht gezogen, was Sie mit in Berechnung hätten ziehen sollen, nämlich das Schicksal, welchem ich erliegen werde, wenn Sie Ihren Vorsatz wirklich ausführen.«
»Sie irren. Ich habe daran gedacht.«
»So sind Sie wohl der Ansicht gewesen, daß man mich vielleicht nur meines Amtes entheben werde. Es ist sogar möglich, daß Sie angenommen haben, ich werde ganz ohne Strafe davonkommen. Ihnen kann es ja überhaupt gleichgültig sein, was mit mir geschieht; Ihr Gewissen wird sich nicht davon beschwert fühlen.«
Das klang so eindringlich und wurde in so ernstem, ja traurigem Tone vorgebracht, daß der Methusalem sich davon gerührt fühlte. Er antwortete:
»Ich denke nicht, daß Sie ganz ohne Strafe davonkommen werden; aber die Ahndung wird wohl auch nicht allzu hart sein. Man wird Ihnen einen Verweis erteilen.«
»Sie irren. Es sind gestern zwei Verbrecher entkommen; an ihrer Stelle sitzt nun der betreffende Beamte im Gefängnisse. Ganz ebenso wird es auch mir ergehen, und ich sage Ihnen, daß mir mein Ehrgefühl verbietet, das geschehen zu lassen. Ich sehe ein, daß ich Sie nicht hindern kann, diese Leute hier zu befreien; aber mich dann einsperren und meines Amtes entsetzen zu lassen, das kann ich verhüten. Sobald Sie sich entfernt haben, werde ich mich töten, und ich halte Sie nicht für so gewissenlos, daß Ihnen der Gedanke, der Mörder eines pflichtgetreuen Beamten zu sein, gleichgültig ist.«
Man sah ihm an, daß es ihm mit diesen Worten vollständig ernst sei. Degenfeld erkannte, daß er es hier mit einem festen Charakter zu thun habe. Er war vollständig überzeugt, daß der Mandarin sich wirklich das Leben nehmen werde, Das brachte ihn natürlich in große Verlegenheit. Die Gefährten sollten und mußten befreit werden; aber sollte ihre Freiheit mit dem Tode eines so braven Mannes bezahlt werden? Das mußte man vermeiden. Aber wie? Er versuchte, ihn durch freundliche und eindringliche Vorstellungen von seinem Vorhaben abzubringen, doch vergebens. Der Mandarin hörte ihn ruhig an und antwortete dann, indem er langsam den Kopf schüttelte:
»Ihre Bemühung, mich davon abzubringen, ist vollständig überflüssig. Das Amt, welches ich bekleide, steht so hoch über meinem Alter, daß tausend Mandarinen mich um dasselbe beneiden. Ich habe es durch ernste Anstrengung und treue Pflichterfüllung errungen und weiß, daß mir die höchsten Würden offen stehen. Aber keine einzige dieser Hoffnungen wird sich erfüllen, wenn ich morgen melden muß, daß meine Gefangenen entkommen seien. Man wird mich selbst in den Kerker stecken; dann gehöre ich zur untersten Klasse des Volkes, zu den Unehrlichen, und kann niemals wieder eine Anstellung finden. Lieber will ich sterben. Sie besitzen einen Paß, den selbst die höchsten Mandarinen respektieren müssen; aber keiner von ihnen darf sich durch denselben zu einer direkten Pflichtwidrigkeit verleiten lassen; bringen Sie mir einen Befehl, dem ich unbedingt zu gehorchen habe, so will ich diese Männer gern frei geben und den Folgen ruhig entgegensehen.«
»Das kann ich nicht, denn ich bin nicht im Besitze eines solchen schriftlichen Befehles.«
»So thun Sie, was Sie vor Ihrem Gewissen verantworten können. Ich weiche der Gewalt, wiederhole Ihnen aber, daß das Thor, durch welches Sie Ihre Freunde aus dem Gefängnisse führen, sich morgen früh auch meiner Leiche öffnen wird.«
»Entsagen Sie diesem Gedanken, und denken Sie an Ihre Verwandten, denen Sie damit den größten Schmerz bereiten würden,« bat der Student.
»Ehrlosigkeit ist schlimmer als der Tod. Übrigens habe ich keine Verwandten. Ich weiß nicht, wo meine Eltern und Geschwistern sich befinden, ob sie überhaupt noch leben. Kein Auge wird weinen, wenn das meinige sich geschlossen hat.«
Der Chinese hält die Familienbande außerordentlich heilig. Die Verehrung der Ahnen ist bei ihm ein Gegenstand des Kultus, und er hält es für ein großes Unglück, über seine Vorfahren nicht Rechenschaft geben zu können. Die letzten Worte des Mandarinen enthielten also nicht nur ein außerordentliches aufrichtiges Geständnis, sondern sie waren auch ganz geeignet, das Mitgefühl, welches die Anwesenden für ihn empfanden, noch zu erhöhen.
Gottfried von Bouillon verstand Chinesisch genug, um das erraten zu können, was er nicht geradezu wörtlich verstand. Er sagte zu dem Blauroten:
»Dieser jute Mensch kann mich leid thun. Er macht mit seine Drohung janz jewißlich Ernst. Haben wir keinen Befehl für ihn, so wollen wir es doch wenigstens einmal mit dem Paß des Bettlerkönigs versuchen, den Sie von Hu-tsin empfangen haben. Denken Sie nicht?«
»Nein. Dieser T'eu-kuan ist kein amtliches Schriftstück.«
»Aber der Juwelier hat jesagt, dat ein jeder ihm respektieren werde.«
»Ja, aber ohne dann den Gehorsam eigentlich verantworten zu können.«
»Dennoch rate ich, es zu probieren. Thun Sie wenigstens mich den Jefallen!«
»Meinetwegen! Wenn es nichts nützt, so wird es jedenfalls auch nichts schaden.«
Er zog die erwähnte Legitimation hervor, reichte dieselbe dem Mandarin hin und sagte:
»Sehen Sie einmal dieses Schriftstück an! Vielleicht hat es die Wirkung, Sie von Ihrem grausigen Entschlusse abzubringen.«
Der Beamte griff nach dem Kuan. Als sein Auge auf die Zeichen fiel, nahm sein Gesicht einen ganz andern Ausdruck an.
»Ein T'eu-kuan!« rief er aus. »Und zwar ein derartiger, wie ihn nur ganz bevorzugte Personen bekommen! Herr, Sie sind ein vornehmer Schützling des T'eu. Ich darf mich nicht weigern; ich muß thun, was Sie wollen.«
»Das mußten Sie schon vorher, da wir die Macht hatten, Sie zu zwingen. Es handelt sich jetzt darum, ob Sie auch jetzt noch entschlossen sind, sich das Leben zu nehmen?«
»Jetzt nicht mehr, da die Befürchtungen, welche ich hegte, nun nicht mehr zutreffend sind. Welch ein Glück, daß Sie einen solchen T'eu-kuan besitzen! Er entbindet mich ja jeder Verantwortung.«
»Wirklich?«
»Ja, Herr. Wehe dem, welcher mich wegen einer That bestrafen wollte, welche ich auf Vorzeigen dieses Kuan vorgenommen habe!«
»Aber Sie müssen Ihren Vorgesetzten beweisen können, daß Ihnen derselbe gezeigt worden ist?«
»Allerdings.«
»Wie aber wollen Sie das thun?«
»Können Sie mir den Kuan nicht zurücklassen?«
»Nein, Sie sehen ein, daß ich mich von so einem wichtigen Schriftstücke unmöglich trennen kann. Es ist wahrscheinlich, daß ich seiner noch sehr oft bedarf.«
»Aber Sie wissen, wo der T'eu sich jetzt befindet?«
»Nein. Derjenige, von welchem ich den Kuan empfing, konnte es mir nicht sagen. Der T'eu hat ja keinen festen, bleibenden Aufenthaltsort.«
»Das ist wahr. Aber es ist zu erfahren, wo man ihn treffen kann. Wer einen solchen Kuan besitzt, dem muß jeder Unterthan des T'eu genaue Auskunft erteilen. Wohin wollen Sie die Gefangenen bringen?«
»Sie sehen ein, daß Sie der allerletzte sind, dem ich das verraten darf.«
»O nein. Ich bin der allererste, dem Sie es sagen können, denn ich werde mit Ihnen gehen. Ich selbst werde diese Herren aus dem Gefängnisse führen.«
»Darf ich diesen Worten Glauben schenken?«
»Gewiß! Ich muß dem Teu gehorchen. Aber um meine Ehre zu retten, muß ich nachweisen können, daß er es ist, dem ich zu Willen gewesen bin. Infolge dessen muß ich ihn aufsuchen, ihn oder einen seiner Offiziere, um mir das Zeugnis zu holen, dessen ich bedarf, wenn ich nicht allen meinen Hoffnungen auf die Zukunft entsagen will.«
»Sie wollen also sogleich mit uns fort? Jetzt?«
»Ja, denn wenn ich eingesperrt werde, kann ich den erwähnten Beweis nicht liefern. Und da Sie den Kuan besitzen und nicht aus der Hand geben wollen, ist es mir nur mit Ihrer Hilfe möglich, das Zeugnis zu erlangen.«
»Können Sie es denn verantworten, das Gefängnis ohne Aufsicht zu lassen?«
»Das beabsichtige ich ja gar nicht. Ich werde, bevor ich gehe, die Aufsicht einem Unterbeamten übergeben und ihm zugleich sagen, daß ich auf höhern Befehl die Gefangenen entlassen und persönlich begleiten muß.«
Der Mandarin sprach mit dem Ausdrucke der Wahrheit und zeigte dabei eine so aufrichtige Miene, daß es dem Methusalem schwer wurde, an ihm zu zweifeln. Aber es galt, vorsichtig zu sein. Der so schnelle Entschluß des Mandarinen konnte eine Kriegslist sein. Darum erkundigte sich der Student:
»Wenn Sie mit uns gehen wollen, so müssen Sie sich vorher auf eine längere Abwesenheit vorbereiten?«
»Ja.«
»Wir sollen Ihnen also erlauben, dieses Zimmer zu verlassen?«
»Ich muß Sie freilich darum bitten.«
»Und da haben Sie Gelegenheit, alle Ihre Leute gegen uns zusammen zu rufen! Nein, das kann ich nicht genehmigen.«
Der Mandarin antwortete in bescheidenem Tone.
»Ich kann es Ihnen nicht verdenken, daß Sie Mißtrauen hegen; aber ich will dasselbe zerstreuen, indem ich Sie bitte, mich nach meiner Wohnung zu begleiten. Sie liegt hier in diesem Gange. Ich werde zwischen Ihnen gehen, und Sie können mich sofort töten, wenn ich das Geringste thue, was Ihren Verdacht rechtfertigt.«
»Damit bin ich einverstanden, vorausgesetzt, daß Sie mir erlauben, die bisherigen Gefangenen vorher aus diesem Hause zu bringen.«
»Wohin?«
»Ganz in die Nähe, wo unsere Tragsessel halten.«
»Wollen Sie mich zurück lassen?«
»Nein. Ich meine es ehrlich mit Ihnen. Hier dieser Mann wird bei Ihnen bleiben, teils um Sie bis zu meiner Rückkehr hier zu beaufsichtigen, wie ich Ihnen ganz offen gestehe, teils aber auch um Ihnen die Sicherheit zu geben, daß ich wiederkehre, um Sie abzuholen.«
»Gut, ich werde Ihnen mehr Vertrauen schenken als Sie mir. Ich bleibe in diesem Zimmer, bis Sie wiederkommen. Gehen Sie; aber lassen Sie mich nicht allzulange warten!«
Als der Blaurote von dem Manne sprach, welcher bei dem Mandarin bleiben sollte, hatte er auf Gottfried gezeigt. Dieser sagte jetzt:
»Ja, gehen Sie! Ich werde mir jetzt hierher setzen und kein Auge von dem Chinesigen verwenden. Zieht er mich ein falsches Jesicht, so steche ich ihm eine Revolverkugel in den Leib. Ich lasse keinen Spaß mit mich machen.«
Er setzte sich nieder, so daß er sich zwischen dem Beamten und der Thür befand. Die andern entfernten sich. Der Methusalem führte sie auf demselben Wege hinaus, auf welchem er in das Gefängnis gekommen war. Keiner der Wächter wagte es, Widerspruch zu erheben. Als sie vor dem offenen Thore standen, trug der Student Richard Stein auf, die Befreiten nach dem Hause zu führen, in dessen Hofe die Palankinträger warteten. Er selbst kehrte zu dem Mandarin zurück, indem er die Thüren hinter sich wieder verschließen ließ.
Der Beamte stand gerade noch so wie vorhin mitten in dem Zimmer, und der Gottfried saß mit einer wahren Cerberusmiene auf seinem Stuhle.
»Dat ist schnell jegangen,« sagte der letztere. »Es war mich nicht sehr wohl zu Mute, mir so allein in dieses Prison zu wissen. Nun Sie aber wieder da sind, befinde ich mir von neuem bei die jewöhnliche Jeistesjegenwart und Todesverachtung.«
Die beiden nahmen den Mandarin zwischen sich und begaben sich mit ihm hinaus auf den Gang. Er führte sie in seine Wohnung, welche sich an der anderen Seite befand und aus drei kleinen Stuben bestand. Der Raum, in welchem sie bisher gewesen waren, schien nur eine Art Expeditionszimmer zu sein.
Er suchte Kleider, Geld und andere Gegenstände, welche er zur Reise gebrauchte, zusammen und schrieb dann einen Zettel, welcher auf dem Tische liegen bleiben sollte. Derselbe enthielt die nötige Instruktion für den erwähnten Unterbeamten. Dann bat er um die Erlaubnis, zwei Sänftenträger rufen zu dürfen, welche am Gefängnisse angestellt waren.
»Das ist nicht nötig,« antwortete der Methusalem. »Es wäre sogar sehr unvorsichtig, diese Leute zu wecken und ihnen wissen zu lassen, wohin wir gehen. Man würde uns vielleicht verfolgen. Wir haben eine Doppelsänfte, in welcher sich unsere Gewehre befinden. Da ist wohl noch Platz für Sie. Auf welche Weise aber können Sie mich sicher stellen, daß Sie, während wir durch die Stadt kommen, nicht Lärm schlagen und uns festhalten lassen?«
»Herr, ich bin kein Lügner. Ich versprach Ihnen, mit Ihnen zu gehen, und ich werde mein Wort halten. Doch habe ich Räucherstäbchen hier und kann Ihnen mein Kong-kheou geben, wenn Sie nicht damit zufrieden sind, daß ich Ihnen meinen Namen verpfände.«
»Wie heißen Sie?«
»Mein Schulname lautet Jin-tsian.«
»Und Ihr Geschlechtsname?«
»Pang.«
»Pang?« wiederholte der Methusalem überrascht. »Ist das möglich!«
»Warum sollte es nicht möglich sein?«
»Weil ich einen kenne, welcher denselben Namen hat.«
»Herr, das ist ja gar kein Wunder, da es nur vierhundertachtunddreißig Geschlechts- oder Familiennamen gibt. Es sind also viele Tausende, deren Namen ganz derselbe ist.«
»Aber Sie sehen dem Betreffenden sehr ähnlich. Darf ich Sie nach Ihrem Stamme fragen?«
»Er heißt Seng-ho.«
»Wirklich? Seng-ho? Dann hätte meine Ahnung mich nicht getäuscht. Sie sagten, daß Sie nicht wissen, wo Ihre Eltern sich befinden. Vielleicht kann ich Ihnen Aufschluß geben. Stammen Sie aus der Provinz Kwéi-tschou?«
»Ja, diese Provinz ist meine Heimat,« antwortete der Chinese schnell. »Herr, warum diese Frage? Sie sprechen von einem Aufschlusse. Kennen Sie meinen Stamm, meine Familie, meine Eltern?«
»Sagen Sie mir erst, ob Ihr Vater vielleicht Ye-kin-li geheißen hat!«
»Ja, ja, Herr! Ye-kin-li war sein Titelname. Sie kennen denselben! O Himmel, o Geist der Welten! Sie sind als Feind zu mir gekommen; Sie haben mich gezwungen, gegen meine Pflicht zu handeln, und nun sprechen Sie von meinem Vater. Vielleicht hat gerade das Glück Sie zu mir geführt. Vielleicht war es der Wille der Allweisheit, daß ich mein Amt verlassen und mit Ihnen gehen soll. Sprechen Sie schnell! Kennen Sie meinen Vater? Haben Sie von ihm gehört, wohl gar ihn gesehen? Lebt er noch? Wo befindet er sich, und warum hat er nicht nach seinen Kindern geforscht?«
Er hatte die beiden Hände des Methusalem ergriffen und seine Fragen mit großer Hast ausgesprochen. Degenfeld antwortete, indem seine Stimme vor Rührung zitterte:
»Er lebt noch, fern von seinem Vaterlande, in welches er nicht zurückkehren darf, weil man ihn da für einen Empörer hält. Mich aber hat er ausgesandt, um nach seinem Weibe und seinen Kindern zu forschen.«
»Und wo, wo lebt er? O sagen Sie es mir!«
An Deutschland, welches meine Heimat ist.«
»Herr, Sie sind wie ein Stern, der mir in dunkler Nacht erscheint. Sie geben mir meine Ehre zurück. Ich darf sagen, daß ich einen Vater habe. Ich bin nicht mehr ein Mensch, welcher sich schämen muß, wenn man ihn nach seinen Ahnen fragt. Mein Vater lebt. Er kann nicht kommen; aber ich werde zu ihm gehen. Ich werde China verlassen und allen Ehren, welche mich erwarten, entsagen, um bei dem zu sein, dem ich mein Leben, mein Dasein verdanke.«
Er hatte die Hände des Methusalem losgelassen und war langsam in die Kniee gesunken. Er legte sein Gesicht in seine Hände und schluchzte laut vor Freude und Seligkeit.
Dem Studenten standen Thränen der Rührung im Auge. Der Gottfried stand da, zog allerlei Gesichter, um seiner Bewegung Herr zu werden, und platzte, als ihm das nicht gelingen wollte, in zornigem Tone los.
»Und dieser juten Seele habe ich eine Kugel in den Leib schießen wollen! O Jottfried, Jottfried, wat für dumme Augen hast du jehabt! Wie konntest du dir in diese Weise an dem Sohn deines juten Ye-kin-li verjehen!«
Degenfeld legte dem Chinesen die Hand auf die Schulter und sagte:
»Fassen Sie sich jetzt, mein Lieber! Die Zeit ist uns kurz zugemessen. Warten Sie noch eine Stunde; dann sollen Sie alles erfahren.«
»Sie haben recht,« antwortete der Mandarin, indem er sich erhob. »Wir müssen fort. Ich darf nicht hier bleiben. Erst wollte ich gezwungen mit Ihnen gehen; nun aber bitte ich Sie, mich zu führen, wohin es Ihnen gefällt. Aber sagen Sie mir vorher nur noch, ob Sie etwas von meinen Geschwistern wissen!«
»Ich kenne ihre Namen,« antwortete Degenfeld. »Ihr Bruder führt den Namen Liang-ssi; Ihre Mutter wurde Hao-keu genannt, und Ihre beiden Schwestern heißen Méi-pao und Sim-ming. Ist das richtig?«
»Ja, ja, es ist richtig. So heißen sie. Sie kennen die Namen ganz genau. Vielleicht wissen Sie auch, ob sie noch leben und wo sie sich befinden?«
»Von dem Bruder weiß ich es, von den andern noch nicht, doch hoffe ich, es auch noch zu erfahren.«
»Dann sagen Sie schnell, schnell, wo ich den Bruder zu suchen habe.«
»Hier in der Stadt.«
»Die ich so schnell verlassen soll! Herr, ich gehe nicht fort; ich bleibe hier, bis ich ihn gesehen habe!«
»Das ist nicht nötig. Sie können getrost mit uns abreisen, da Ihr Bruder dieselbe Reise auf dem Tausendfuße mit uns machen wird.«
»Ist das wahr? Wirklich? Was ist er und wohin will er? Haben Sie ihn schon gesehen, mit ihm gesprochen?«
»Ja. Er will auch den Fluß aufwärts fahren, da er sich hier nur vorübergehend aufgehalten hat und in der Provinz Hunan wohnt. Er hat keine Ahnung, daß sich sein verlorener Bruder hier befindet. Ich bin sogar überzeugt, daß Sie sich bereits gesehen haben, doch ohne sich zu erkennen. Man hat mir gesagt, daß Sie sich in Gefangenschaft befunden haben. Darf ich erfahren, wie Sie entkommen sind?«
»Mit Hilfe eines Freundes meines Vaters, welcher ein hoher Beamter war. Leider waren wir im Gefängnisse getrennt worden, so daß es ihm unmöglich war, uns zu gleicher Zeit zu befreien. Als er mir das Thor öffnete, versprach er mir, die Mutter mit den Geschwistern nachzusenden. Den Bruder hatte er bereits gerettet; er gab mir den Ort an, wo ich denselben treffen würde; aber als ich hinkam, fand ich ihn nicht mehr. Ich wartete auf seine Rückkehr ebenso vergeblich wie auf die Ankunft der Mutter und der Geschwister. Da ich nicht in Kwéi-tschou bleiben durfte, weil man dort nach mir forschte, ging ich nach der Provinz Kuang-tung, wo ich sicherer war. Ich zählte damals vierzehn Jahre und mußte mein Leben durch Betteln fristen. Glücklicherweise fand ich immer mitleidige Menschen und dann einen Beschützer, welcher mich lieb gewann und, da er keine Kinder hatte, mich als Sohn bei sich aufnahm. Ihm habe ich alles zu verdanken. Lebte er noch, so würde es mir schwer werden, das Vaterland zu verlassen, um mit Ihnen nach Deutschland zu gehen. Aber wenn es wirklich so ist, daß ich meinen Bruder Liang-ssi auf dem Tausendfuße treffen werde, so lassen Sie uns nicht länger zögern sondern aufbrechen. Jeder Augenblick, den wir zögern, ist für mich verloren.«
Seine Habe war nicht groß, und da er nur das Notwendigste mit sich nehmen konnte, so hatte er nur ein kleines Packet zu tragen, welches den Wachen nicht auffiel. Die drei Männer gelangten glücklich aus dem Gefängnisse und hinüber in den Hof, wo die Gefährten ihrer warteten.
Dort fiel es keinem ein, viele Worte zu machen; es handelte sich darum, nun schnell die Stadt zu verlassen. Man brach sofort auf, nachdem ein jeder seine Sänfte bestiegen und der junge Mandarin in derjenigen Platz gefunden hatte, in welcher sich die Gewehre befanden.
So oft der Zug an ein verschlossenes Straßenthor kam, wurde er von dem betreffenden Wächter angehalten; dann zeigte der Methusalem seinen Paß vor, und die Pforte wurde geöffnet. So wurden alle Hindernisse glücklich passiert, und man gelangte in die Nähe des Flusses.
Da hielten die Sänftenträger an und baten, auszusteigen. Der Anführer derselben deutete nach dem in der Dunkelheit verborgenem Ufer und sagte:
»Die würdigen Herren mögen nun noch zweihundert Schritte geradeaus gehen. Da gelangen sie zu dem Ts'ien-kiok, welchen sie daran erkennen werden, daß auf der Mitte seines Verdeckes drei blaue Papierlaternen dicht nebeneinander brennen. Der Ho-tschang wartet bereits, da er von ihrer Ankunft unterrichtet ist.«
Degenfeld gab ihm eine gute Belohnung und schritt dann mit seinen Gefährten in der angegebenen Richtung vorwärts.
Als sie das Ufer erreichten, sahen sie eine Menge von Dschunken hegen; auf jeder derselben brannte eine Laterne. Auf derjenigen aber, welche gerade vor ihnen lag, brannten deren drei von blauer Farbe. Das mußte also die richtige sein.
Im Lichtkreise dieser Laternen saßen zwei Männer. Ein dritter lehnte an der Bordbrüstung. Als er die Ankömmlinge bemerkte, bog er sich vor und rief ihnen zu:
»Ho-ja, ho-ja! Hing ni-men lai?«
Ho-ja ist der chinesische Schifferruf, etwa wie bei uns das bekannte Ahoi der Seeleute. Die dann folgende Frage heißt: »Wollt ihr zu uns?«
»Tsche – ja,« antwortete der Methusalem.
»Lai schang – kommt herauf!«
Er ließ eine Bambusleiter herab, an welcher die sieben Personen an Deck stiegen. Turnerstick hatte sich vorgedrängt um der Erste zu sein. Oben angekommen, wandte er sich sofort mit einer Verbeugung an den Mann, welcher der Ho-tschang der Dschunke war:
»Tsching tsching, Mongsieu! Singt Sie etwa der Kapitaing vong dieseng Schiffe?«
Der Gefragte antwortete nicht, da er ihn nicht verstand. Darum fuhr Turnerstick fort:
»Sie scheineng mich nicht verstandung zu habang. Wir kommeng, um mit Ihning zu fahrong. Lassing Sie sofort die Anker lichteng! Wir müssing beim Anbruch des Morgengs die Stadt weit hinter uns habing.«
Jetzt schob Degenfeld ihn ohne Umstände zur Seite und fragte den Ho-tschang in besserem Chinesisch:
»Ich sehe, daß Sie uns erwartet haben. Wir sind von dem erlauchten Ho-po-so gesandt. Hoffentlich befinden wir uns an dem richtigen Orte?«
»Die hohen Gönner sind von diesem Augenblicke an die Herren und Gebieter meines Tausendfußes und aller, die sich auf demselben befinden,« antwortete der Gefragte. »Ich habe sie erwartet, und es wurde mir der Befehl, Ihnen mitzuteilen, daß ich Ihnen das Schiff für die ganze Länge des Flusses zur Verfügung zu stellen habe. Ich soll mich allein nur nach Ihren Wünschen richten.«
Das war weit mehr, als der Methusalem erwartet hatte. Einer der beiden Männer, welche auf einem Teppiche am Boden saßen, stand auf, kam herbei und sagte, indem er sich tief verbeugte:
»Ich bin der Scheu-pi dieses Schiffes und bitte, mir Ihren Namen zu sagen, damit ich Sie dem hochmächtigen Yaotschang-ti vorstellen kann!«
Er war also der Hauptmann oder Kapitän, welcher von der Schiffahrt nichts verstand, und der andre, welcher stolz sitzen blieb, war der Steuereintreiber, von welchem der Tong-tschi gesagt hatte, daß auf sein Bramarbasieren nichts zu geben sei.
Der Methusalem hielt es für geraten, diesen beiden Männern gleich jetzt zu zeigen, daß er nicht die Absicht hege, sich von ihnen abhängig zu machen. Darum antwortete er:
»Wie meinen Sie? Wir sollen ihm vorgestellt werden? Wer ist der Höhere, er oder ich?«
»Ich natürlich, ich!« rief der Steuerbeamte, welcher alles gehört hatte, indem er aufsprang: »Ich bin der hochgeehrte Yao-tschang-ti des Lichtes aller Könige. Wer kann behaupten, mehr zu sein als ich?«
Er kam säbelrasselnd herbei und richtete seine kleine, dürre Gestalt möglichst hoch vor dem Methusalem auf. Seine Kleidung war diejenige eines chinesischen Beamten, doch trug er auf seiner Mütze eine einfache vergoldete Kugel, das Zeichen des niedrigsten Mandarinenranges. Dafür aber hatte er, um Ehrfurcht zu erwecken, zwei lange Säbel umgeschnallt; der eine hing ihm an der rechten und der andere an der linken Seite. Ein Bart war ihm nicht gewachsen, um so länger aber war sein Zopf, welcher ihm fast bis zu den Füßen reichte und jedenfalls eine tüchtige Portion falschen Haares gekostet hatte. Während er sprach, ergriff er die Säbel und stampfte mit denselben den Boden, daß es klirrte.
Da trat Jin-tsian zu ihm heran und fuhr ihn an:
»Schweig! Was bist du gegen uns? Eine Mücke, welche ich mit dem Finger zerdrücken kann! Siehst du nicht, daß ich die blaue Kugel trage? Und dieser hochgeborene Herr, an welchen du deine albernen Worte gerichtet hast, zeigt nur aus Gnade nicht den kostbaren roten Stein, welchen zu tragen er berechtigt ist. Laß dir zeigen, daß er den Kuan des Himmelssohnes besitzt, und sinke auf die Knie vor ihm!«
Der Steuereintreiber knickte zusammen, als ob er von jemanden niedergedrückt würde. Er kniete wirklich vor Degenfeld hin, senkte das Gesicht fast auf den Boden nieder und bat:
»Verzeihen Sie, erlauchter Gebieter, daß ich nicht wußte, welch eines Ranges Zeichen Ihre mir unbekannte ehrwürdige Kleidung ist. Ich bin der geringste Ihrer Sklaven und halte mich bereit, alle Ihre Befehle augenblicklich zu erfüllen!«
Degenfeld ließ ihn knien, ohne ihn weiter zu beachten, und wendete sich an den Ho-tschang, um diesem die Weisung zu geben, die Fahrt so bald wie möglich zu beginnen. Man hatte alles schon dazu vorbereitet; der Anker war bereits aufgezogen, und die Dschunke hing nur noch mit einem Tau am Ufer. Dieses wurde eingenommen, und sofort strebte das Fahrzeug unter dem Geräusch der Ruderschläge der Mitte des Stromes zu. Dort wurden die Segel gehißt, und der günstige Wind richtete den Schnabel des Schiffes gegen den Fluß.
Die dazu nötigen Befehle hatte der Ho-tschang erteilt. Von dem Scheu-pi war nichts zu sehen, und auch der mächtige Steuereintreiber schien verschwunden zu sein.
Nun wies der Ho-tschang seinen Passagieren die für sie bestimmten Räume an. Dieselben waren prächtig eingerichtet und nur für diejenigen Kriegsmandarinen bestimmt, welche den Tausendfuß gelegentlich zu ihren Dienstreisen benutzten.
Unter dem Verdeck lag der Raum für die Ruderer, von denen je vierzig an einer Seite saßen. Zwei Personen gehörten zu einem Ruder, welche eine sehr bedeutende Länge hatten und das Schiff ziemlich schnell gegen den Strom bewegten, wobei sie von dem Winde, wenn derselbe günstig war, unterstützt wurden.
Nun wurde der Methusalem gefragt, ob er das Festmahl in seiner Kajüte oder auf dem Decke aufgetragen wünsche. Er zog das letztere vor, da die Nacht sehr mild war. Als er den andern mitteilte, daß man im Begriffe stehe, sie durch ein Nachtessen zu ehren, rief der Dicke:
»Dat is goed; dat is hemelsch! Ik heb honger; ik moet eten. Gij ook, Mijnheer Turnerstick – das ist gut; das ist himmlisch! Ich habe Hunger; ich muß essen. Sie auch, Herr Turnerstick?«
»Ja,« antwortete der Gefragte. »Essen muß der Mensch zu jeder Zeit können, und nach den Strapazen, welche wir hinter uns haben, ist eine Stärkung ganz besonders notwendig.«
»Na, wenn Sie es eine Strapaze nennen, sich im Gefängnisse auszuruhen, so nehmen Sie, obgleich Sie es nicht verdienen, mein Beileid entgegen,« sagte Gottfried.
»Was, nicht verdienen?« rief der Kapitän.
»Natürlich! Wer ist denn Schuld an die janze Weltjeschichte? Doch nur Sie selbst! Warum kommen Sie auf den horriblen Jedanken, Ihnen als Jötzen Dschaggernats in den Tempel zu postamentieren! Wat hat Ihnen denn eijentlich unter die Haut jekrabbelt, dat Sie auf so eine Assotiation der Jedanken und Mißbegriffe jeraten konnten?«
»Nichts hat uns gekrabbelt. Verstanden!« rief der Kapitän zornig. »Mich krabbelt überhaupt niemals etwas; das mögen Sie sich merken, Sie Gottfried von der traurigen Gestalt! Wie können Sie von Mißbegriffen sprechen! Heimdall Turnerstick und Mißbegriff! Das ist geradezu eine Majestätsbeleidigung!«
»Ja. Wenigstens war dat Ihrige Aussehen ein höchst majestätisches, als Sie sich mit die Chinesigen herumbalgten. Kommen Ihnen noch mehr solche bunte Raupen in dat Jehirn, so können wir nur gleich umkehren und nach Hause pilgern.«
Turnerstick wollte, wie ihm anzusehen war, eine nicht allzu höfliche Antwort geben, doch der Methusalem kam ihm in sehr ernstem Tone zuvor:
»Unser Gottfried hat ganz recht! Sie haben sich und uns in die größte Verlegenheit gebracht, und wir können Gott danken, daß die Sache ein so gutes Ende genommen hat. Ich muß Sie wirklich ersuchen, sich nicht wieder solchen augenblicklichen und gefährlichen Einfällen hinzugeben. Ich hatte mir vorgenommen, Ihnen eine tüchtige Strafrede zu halten; da ich aber mit derselben das Geschehene nicht ungeschehen machen kann und Ihr Abenteuer uns ein sehr freudiges Ereignis in Aussicht gestellt hat, so will ich schweigen.«
»Ein freudiges Ereignis? Welches?« fragte der Kapitän, bemüht, schnell auf ein anderes Thema zu kommen.
»Wir haben die Bekanntschaft eines Mannes gemacht, von welchem ich vermute, daß er mit unserm guten Liang-ssi verwandt ist.«
»Mit mir?« fiel schnell der Chinese ein.
»Ja, mit Ihnen.«
»Wer ist das?«
»Hier unser wackerer Mandarin, welcher nicht nur in Ihre Befreiung gewilligt, sondern sich auch entschlossen hat, uns bis nach Deutschland zu begleiten.«
»Nach – Deutsch – land?« fragte Liang-ssi erstaunt und gedehnt. »Wa – – rum?«
Sein Blick ging forschend zwischen dem Methusalem und dem Mandarin hin und her.
»Fragen Sie ihn selbst,« antwortete der erstere. »Fragen Sie ihn vor allen Dingen und zuerst nach seinen Namen!«
Der Mandarin hatte die deutschen Worte nicht verstanden, doch ahnte er, da aller Augen auf ihn gerichtet waren, daß die Rede von ihm sei. Er nannte, als er von Liang-ssi gefragt wurde, seinen Namen. Als der Fragende denselben hörte, fuhr er einen, zwei, drei Schritte zurück und rief:
»Jin-tsian! Und ich heiße Liang-ssi.«
»Liang-ssi!« stieß der Mandarin hervor. »So hieß mein Bruder, welchen ich verloren habe.«
Einige Sekunden lang waren ihre forschenden Blicke gegenseitig aufeinander gerichtet; dann eilten sie aufeinander zu und lagen sich in den Armen.
»Was ist das?« fragte Turnerstick. »Warum umarmen sie sich?«
»Sie sind Brüder,« antwortete Degenfeld. »Ich habe entdeckt, daß der Mandarin der zweite Sohn unseres Ye-kin-li ist.«
Diese Worte riefen die freudigste Überraschung hervor. Alle drängten sich an die Brüder, welche vor Freude weinten und sich nicht aus den Armen lassen wollten. Es ertönten ihnen in deutscher, niederländischer und chinesischer Sprache die herzlichsten Gratulationen entgegen. Die Freunde waren fast in demselben Grade entzückt wie die Brüder selbst. Gottfried schlang seine langen Arme um die letzteren, zog sie kräftig an sich und rief:
»Kommt an meine jefühlsreiche Brust, ihr Söhne der jehebten Mitte. Ich bin jerührt. Ich fühle mir als eure liebevolle Erzieherin und muß teilnehmen an eurer Seligkeit. Kommen Sie, Mijnheer, und nehmen Sie die Jungens von die andere Seite! Wat glücklich sich jefunden hat, dat muß umärmelt werden.«
»Ja,« antwortete der Dicke, indem er jenseits seine Arme um die Brüder schlang, was ihm aber wegen seiner Wohlbeleibtheit nicht recht gelingen wollte, »ook ik ben gelukkig; ook mij zwellt de borst; ook ik moet mijne armen om zij wringen. Ik moet mij nagenoeg snuiten, zoo oneindelijk ben ik gevoelig – auch ich bin glücklich; auch mir schwillt die Brust; auch ich muß meine Arme um sie schlingen. Ich muß mich beinahe schneuzen, so unendlich bin ich gerührt!«
Dabei liefen ihm die Thränen des freudigsten Mitgefühls in hellen Tropfen über die dicken Backen herab. Selbst die kleine Nase wurde in Mitleidenschaft gezogen, so daß endlich das geschah, was er so außerordentlich zart angedeutet hatte: er retirierte in eine Ecke, setzte sich dort auf einen Stuhl, zog sein »Zakdoek«, hervor und »snuizte« sich so anhaltend und kräftig, daß die harmonischen Töne, welche er dabei hervorbrachte, alle anderen Laute verschlangen.
Der Methusalem als der eigentliche Schöpfer dieses Glückes stand mit Richard von ferne und schaute still der Scene zu, bis die Brüder zu ihm traten, um ihm Dank zu sagen. Beide waren begierig, ihre gegenseitigen Erlebnisse voneinander zu erfahren, doch gab es zu einer solchen Unterhaltung keine Zeit, da der Ho-tschang eben jetzt melden ließ, daß das Mahl aufgetragen sei. Es wurde als Feier des Wiedersehens ein wahres Freudenmahl.
Das Verdeck wurde von zahlreichen Laternen geradezu festlich erleuchtet. Es gab an der improvisierten Tafel nur acht Plätze. Der Ho-tschang bat um die Erlaubnis, mit Platz nehmen zu dürfen, um die Bedienung seiner hohen Gäste besser leiten zu können. Der Kommandant des Schiffes und der Steuereintreiber ließen sich beide nicht sehen. Es war ihnen unheimlich geworden.
Am Himmel glänzten tausend Sterne, und der Mond stieg soeben über dem Horizonte empor. Die Nacht war lau und würzig und die Ruhe derselben wurde nur durch den taktmäßigen Schlag der Ruder und das rauschende Sog unterbrochen. Das Essen bestand aus lauter »Meeresfrüchten«, wie der Italiener sagen würde, alle nach chinesischer Art in verschiedener Weise zubereitet. Es war ein Mahl, eines hohen Mandarinen würdig. Keiner aber ließ es sich so schmecken wie der Dicke. Er hatte seine Rührung vergessen und seine Ihränen gestillt. In seinen angestrengt arbeitenden Mund ging alles, aus demselben aber kam nichts als höchstens hie und da einmal ein kurzer Ausruf des Behagens und der höchsten Befriedigung. Als das Mahl beendet war, schnalzte er mit der Zunge und sagte:
»Dat was goed; dat was buitengewoon goed! Worden wij hier op den scheepe altiid zoo eten, ook morgen ochtend – das war gut; das war außerordentlich gut! Werden wir auf dem Schiffe stets so essen, auch morgen früh?«
Der Tausendfuß war indessen schnell vorwärts gekommen. Er fuhr jetzt an der Insel vorüber, welche von den Chinesen Lu-tsin und von den in Kanton wohnenden Europäern »das Paradies« genannt wird und in der Mythe des Landes eine bedeutende Rolle spielt.
Während des Essens waren die Kajüten zum Schlafen eingerichtet worden. Die Gäste bedurften der Ruhe. Bald drang das Schnarchen des Mijnheer wie das Ächzen und Stöhnen einer ganzen Schar Sterbender auf das Deck. Nur zwei blieben munter, die beiden Brüder, welche in einer kleinen, separaten Kabine saßen und einander ihre Erlebnisse erzählten.
Am Morgen waren der Methusalem und Richard Stein zuerst munter. Als sie auf das Deck traten, wurden sie von dem Ho-tschang mit großer Ehrfurcht begrüßt. Er führte sie zu einem Tische, auf welchem ihnen der Thee serviert wurde.
Der Tausendfuß hatte während der Nacht den Hauptfluß verlassen und war in den Pe-kiang eingebogen, zu deutsch Nordfluß, weil sein Lauf im allgemeinen fast schnurgerade von Norden nach Süden gerichtet ist.
Noch während des Frühstücks erschien der Steuereinnehmer. Er hatte ursprünglich nach Ing-te und weiter gewollt, erklärte aber, hier aussteigen zu müssen, um nach Se-hoei zu gehen. Der eigentliche Grund aber war jedenfalls der , daß er sich nicht mehr wohl auf dem Schiffe fühlte und nun lieber trachtete, eine andere Reisegelegenheit zu finden. Das Schiff legte seinetwegen an einem kleinen Orte an, wo er sich unter tiefen Verbeugungen empfahl.
Was den Scheu-pi betrifft, welcher der eigentliche Kommandant des Tausendfußes hätte sein sollen, so ließ er sich während der ganzen Fahrt nur dann einmal auf dem Verdecke sehen, wenn keiner von den Passagieren sich auf demselben befand. Es war, als ob er Angst vor ihnen habe, und der Methusalem erfuhr von dem Ho-tschang, daß der Offizier ein Opiumraucher sei und dem zehrenden Gifte seine Gesundheit und alle seine Energie geopfert habe.
Die Reisenden befanden sich am Tage fast stets auf dem Verdecke, um die Scenerie des Flusses zu betrachten, welche anfangs allerdings keine große Abwechslung bot. Das Land war eben, und der Pe-kiang floß zwischen ausgedehnten Reis- und anderen Feldern dahin, welche durch zahlreiche Kanäle bewässert wurden. Hie und da sah man die Hütten eines Dorfes am Ufer liegen oder man erblickte die Pagode einer fernen Ortschaft. Das war die einzige Abwechslung.
Erst später, als der Fluß die Sohle eines Thales füllte, an dessen Seiten sich Berge erhoben, bot die Gegend mehr Interesse. Man sah ganze Örter und einzelne Häuschen an den Berglehnen liegen, welche sehr gut angebaut waren, da der Chinese es versteht, jedes Stück fruchtbaren Landes möglichst auszunutzen. Man hätte sich an die Elbe oder an den Rhein versetzt denken können. Nur die Schlösser und Burgruinen, auch die Weinpflanzungen fehlten.
Die Passagiere vermochten nicht zu begreifen, wie die Ruderer bei ihrer schweren Arbeit auszuhalten vermochten. Diese Leute waren bei ihrer schmalen Reiskost fast ohne Unterbrechung Tag und Nacht thätig. Nur in Ing-te gab es einen halbtägigen Aufenthalt, den die Reisenden dazu benützten, sich in der Stadt umzusehen. Sie kehrten aber sehr bald wieder nach dem Schiffe zurück, da die Belästigung durch die Bewohner eine ganz ungewöhnliche war. Man hatte hier noch niemals fremd gekleidete Leute gesehen und kaum waren die Passagiere an das Land gestiegen, so sahen sie sich von einer Menschenmenge umgeben, welche sich von Minute zu Minute in der Weise vergrößerte, daß schließlich anzunehmen war, es sei im ganzen Orte kein Mensch daheim geblieben.
Diese Leute verhielten sich nicht etwa feindselig, o nein; die Fremden wurden von ihnen mit außerordentlicher Hochachtung behandelt. Alle Köpfe und Rücken beugten sich vor ihnen; aber das Gedränge wurde schließlich so arg, daß an ein Fortkommen gar nicht zu denken war; man blieb geradezu stecken und die Rückkehr konnte nur Schritt um Schritt in höchster Langsamkeit bewerkstelligt werden.
Am fünften Tage gegen Abend wurde Schao-tscheu, eine Stadt zweiten Ranges, erreicht, welche am Südfuße des Nanling-Gebirges liegt, da, wo dasselbe in den Ta-yü-Iing übergeht. Von da aus war der Fluß für den Tausendfuß nicht mehr schiffbar, und es mußte also von der Dschunke Abstand genommen werden.
Die Behandlung war eine sehr ehrfurchtsvolle und die Beköstigung eine ausgezeichnete gewesen. Die Reisenden wollten darum dankbar sein und boten dem Ho-tschang ein entsprechendes Geldgeschenk an. Er wies es aber zurück, indem er sich auf den strengen Befehl des Ho-po-so, kein Geschenk anzunehmen, berief. Er versicherte, daß dieser ihn bereits im voraus reichlich belohnt habe, und so verteilte der Methusalem die Summe unter die Matrosen, Soldaten und Ruderer. Obgleich jeder nach unseren Begriffen nur eine Kleinigkeit erhielt, waren diese anspruchslosen Leute über dieses unerwartete Kom-tscha so erfreut, daß sie sich an den Spender drängten, um ihm den Saum seines Studentenrockes zu küssen.
Der Methusalem erkundigte sich nach dem höchsten Beamten der Stadt. Dieser war ein Mandarin der fünften Klasse, in welche die Bürgermeister der Städte zweiten Ranges, die kaiserlichen Leibärzte, kaiserlichen Astronomen und alle Beamten gehören, welche zum Tragen der kristallenen Kugel auf der Mütze berechtigt sind. Er wollte sich direkt zu diesem tragen lassen und mietete zu diesem Zwecke die nötige Anzahl von Sänften.
Die Stadt war ein kleines Abbild von Kanton, nur daß der Fluß hier kleiner und die Umgegend eine bergige war. Es gab da ganz dieselbe Straßeneinrichtung, dieselben Häuser und Läden und – dieselbe neugierige Bevölkerung.
Die Träger hielten vor einem palastähnlichen Gebäude, doch stiegen die Reisenden nicht aus. Da der Methusalem sich in dem Besitze eines besonderen kaiserlichen Kuan befand, so wäre es gegen seine Würde gewesen, den Mandarin aufzusuchen. Liang-ssi wurde beordert, sich zu demselben zu begeben, um ihm die Ankunft so hoher Gäste zu melden. Er nahm den Kuan mit, um ihn dem Beamten vorzuzeigen.
Glücklicherweise befand sich derselbe zu Hause. Er kam herbeigeeilt, um die Angemeldeten mit unterwürfiger Höflichkeit zu begrüßen und ihnen sich und sein Haus zur Verfügung zu stellen.
Wie aber erstaunte er, als sie aus den Palankins stiegen! Ein so wie der Methusalem gekleideter Mensch schien ihm ein wahres Weltwunder zu sein. Er zog die Brauen so hoch, daß sie unter dem Rande seiner Mütze völlig verschwanden, und seine Züge kamen in eine geradezu unbeschreibliche Bewegung. Man sah es ihm an, daß er vor Erstaunen laut aufgeschrieen hätte, wenn dies mit der gebotenen Hochachtung vereinbar gewesen wäre.
Ebenso erging es den zahlreichen Bediensteten, welche mit ihm erschienen waren, jetzt hinter ihm standen und, die Köpfe tief zur Erde geneigt, sich leise Bemerkungen zuflüsterten.
»Na,« meinte der Gottfried in deutscher Sprache, »die sind mal janz paff über uns. Soll ich vielleicht die Pipe anbrennen, jeehrtester Methusalem? Jestopft ist sie schon.«
»Ja, brenne sie an,« antwortete der Gefragte. »Es ist zwar gegen die hiesige Sitte, aber gerade das dürfte die Hochachtung vergrößern, welche wir uns wünschen müssen.«
Der Gottfried machte Feuer, und der Methusalem nahm die Schlauchspitze in den Mund und sog aus Leibeskräften. Dann erst, als die Pfeife sich in »Schuß« befand, antwortete er in, würdevoller Weise auf die Bewillkommnungsrede des Mandarinen.
Dieser verbeugte sich noch tiefer und lud die erlauchten Herrschaften ein, sich in das Haus zu bemühen. Der Neufundländer verstand die Armbewegung des Beamten sofort und wendete sich dem Thore zu, um langsamen Schrittes und in selbstbewußter Haltung voran zu schreiten. Hinter ihm kam der Methusalem, gefolgt von seinem Gottfried, welcher wie gewöhnlich die Pfeife und die Oboe trug. Beide verschmähten es, einen Blick auf die Bediensteten zu werfen, unter denen sich mehrere Mandarinen niederen Grades befanden. Turnerstick entfaltete seinen Fächer und der Mijnheer seinen Regenschirm; dann reichten sie sich die Hände und schritten, gefolgt von den beiden Brüdern, hinter Richard Stein her, welcher sich auch ein Ansehen gab, als ob er direkt aus der kaiserlichen Residenz Pe-king komme. Die Gewehre und anderen Effekten wurden nicht berührt, da diese Gegenstände von der Dienerschaft nachgebracht werden mußten.
Ein solches Verhalten war hier so ungewöhnlich oder vielmehr so einzig, daß der Mandarin gar nicht wußte, wie er sich dazu verhalten sollte. Hinter den Gästen herzuschreiten, das verbot ihm seine Würde. Vor ihnen, also vor dem Hunde herzugeben und dessen Führer zu sein, das vertrug sich ebensowenig mit seiner hohen Stellung. Daher versuchte er, hinter dem Tiere und vor dem Methusalem Platz zu finden. Da aber hielt der Neufundländer an, richtete sich auf und fletschte knurrend die Zähne. Der Mandarin erschrak und wich zurück, um nun doch hinter seinen Gästen herzugeben. Er schüttelte den Kopf und suchte voller Angst in seinem Gedächtnisse nach, ob in der chinesischen Litteratur der Sitten und Gebräuche ein Paragraph zu finden sei, welcher davon handle, wie man sich gegen eine Dschi-ngan, zu deutsch Hunde-Exzellenz zu verhalten habe.
Es ging durch einen breiten Flur und dann eine ebenso breite Treppe hinan. Da der Hund nicht wußte, ob er sich nach rechts oder nach links zu wenden habe, so blieb er stehen, und die Herren mit ihm. So erhielt der Mandarin Raum, vorzutreten und nach links zu zeigen, wo ein Diener soeben eine Thür öffnete und sich dann hinter derselben zur Erde warf.
Der Neufundländer verstand den Mandarinen abermals. Er wandte sich nach der angegebenen Richtung, schritt durch die Thür in das große Zimmer, welches als Empfangssaal zu dienen schien, sah sich dort kurz um und legte sich dann lang auf ein sophaähnliches Polstermöbel, welches mit gelber Seide überzogen war. Wäre das daheim geschehen, so würde er jedenfalls mit einigen Hieben bedacht worden sein. Hier aber that Degenfeld gar nicht, als ob er es bemerke. Er schritt vielmehr auf ein ähnliches Polster zu, deren mehrere rundum standen, und ließ sich gravitätisch auf dasselbe nieder, während der Gottfried sich als getreuer Schildknappe und Pfeifenträger hinter ihm aufstellte.
Die andern suchten sich ähnliche Plätze, so daß der Mandarin der einzige war, welcher stehen blieb. Er machte ein so verblüfftes Gesicht, daß seine Gäste Mühe hatten, ernst zu bleiben. Doch überwand er seine Verlegenheit leidlich gut und fragte dann, was zu den Befehlen der erleuchteten Herrschaften stehe.
Degenfeld that einen tüchtigen Zug aus der Pfeife und antwortete dann:
»Wir wollen über die Grenze nach der Provinz Hu-nan gehen und werden, bis wir die dazu nötigen Vorbereitungen getroffen haben, hier bei Ihnen wohnen. Hoffentlich kann ich dann später melden, daß wir Ihnen willkommen gewesen sind!«
Höchst wahrscheinlich war das Gegenteil der Fall, doch antwortete der Beamte in verbindlichstem Tone und unter einer tiefen Verbeugung:
»Meine Unwürdigkeit hat bereits gesagt, daß ich den gebietenden Herren mich und mein ganzes Haus zur Verfügung stelle. Jeder ihrer Befehle wird so schnell ausgeführt werden, als ob er über meine eigenen Lippen gegangen sei.«
»Das erwarte ich allerdings. Sie werden aus meinem Kuan ersehen haben, daß ich hier fremd bin, und mir nur die beste Auskunft erteilen. Auf welche Weise können Männer unseres Ranges nach Hu-nan reisen?«
»So hohe Herren haben die Wahl zwischen Pferden oder Palankins. Ich werde alles Nötige zur Verfügung stellen, gute Führer mitgeben und auch einem tapfern Tsing-wei gebieten, die ehrwürdigen Gönner zu begleiten und zu beschützen, bis sie sich jenseits der Grenze befinden und dort eine andere Bedeckung erhalten.«
»Eine solche militärische Begleitung entspricht allerdings unserem Range, doch möchte ich wissen, ob sie auch, von demselben abgesehen, nötig ist.«
»Wohl nicht. Aber ich habe gestern die Meldung erhalten, daß von Kwéi-tschou die Kuei-tse nach Hu-nan gekommen sind. Obgleich ich nicht glaube, daß sie sich bis an die Grenze unserer Provinz wagen, halte ich es doch für jeden, der nach Hu-nan gehen will, für besser, sich mit Waffen zu versehen.«
»Ich fürchte diese Kuei-tse nicht, doch mögen Ihre Soldaten uns begleiten. Welche Zeit brauchen Sie, uns gute Pferde zur Verfügung zu stellen?«
»Das kann sofort geschehen, wenn die ahnenreichen Herren heute noch aufbrechen wollen. Auch für Proviant und alles andere werde ich augenblicklich sorgen.«
Er sagte das mit einer Hast, aus welcher zu ersehen war, wie außerordentlich gern er den baldigen Abzug der Gäste gesehen hätte. Doch Degenfeld meinte:
»Solche Eile ist nicht nötig. Heute reisen wir nicht ab, doch morgen würde ich gern aufbrechen, wenn bis dahin alles beschafft werden kann.«
»Das soll es sein, hoher Herr. Ich werde den edlen Gebietern schon früh die nötigen Reit- und auch Lastpferde vorführen lassen. Und schon heute soll alles andere Nötige angeschafft werden. Wünschen die Inhaber der langen Stammbäume zusammen zu speisen, oder soll das Essen jedem einzelnen Abkömmling vorgelegt werden?«
»Wir bleiben in unserer Gesellschaft, bis wir uns zur Ruhe legen.«
»So werde ich den Wohlwollenden jetzt ihre Zimmer anweisen lassen. Dann können sie sich im Speisesaale versammeln. Nur muß ich fragen, welche Gerichte ich bereiten lassen soll.«
»Das stelle ich ganz in Ihr Belieben. Doch bitte ich, ein Verzeichnis der Speisen, welche wir erhalten, anfertigen zu lassen, auf daß ich es später vorlegen und damit beweisen kann, daß der Kuan des Himmelssohnes hier in Schao-tscheu geachtet wurde.«
Dies war ein diplomatischer Kniff des Studenten. Er erreichte damit jedenfalls ein sehr gutes Abendessen. Der Mandarin verbeugte sich zustimmend, wendete sich dann gegen das Sofa, auf welchem der Hund lag, verneigte sich auch in dieser Richtung und fragte:
»Soll ich der zwei Paar Füße habenden Excellenz auch ein besonderes Zimmer anweisen lassen?«
»Nein,« antwortete der Methusalem ernst, obgleich er lieber laut aufgelacht hätte. »Diese Excellenz ist mein Freund und wird bei mir wohnen und schlafen.«
»Aber welche Gerichte wird sie zu speisen belieben?«
»Sie wird mit an unserm Tische essen.«
»Vielleicht ist die Seele eines berühmten Ahnen in sie gefahren, denn sie hat eine Größe, wie ich ihresgleichen noch nie gesehen habe. Wahrscheinlich muß man der Excellenz ungewöhnliche Achtung erweisen?«
»Sie ist allerdings an ganz besondere Aufmerksamkeit gewöhnt und vermerkt es sehr übel, wenn man es an derselben mangeln läßt.«
»Sie soll mit mir zufrieden sein, denn ich werde für ihre Bequemlichkeit die größte Sorge tragen.«
Er entfernte sich rückwärts gehend bis zur Thür und verschwand dann durch dieselbe, nachdem er sich vor jedem einzelnen und auch vor dem Hunde verneigt hatte. Nach einigen Augenblicken traten so viele Diener ein, als Personen vorhanden waren; jeder derselben hatte den Auftrag, einem der Gäste sein Zimmer anzuweisen.
Der Methusalem wurde in eine wirklich prächtig eingerichtete Stube geführt, welche wohl nur für sehr vornehme Gäste eingerichtet war. Es befand sich nur ein Bett in derselben, aber bald brachten zwei dienstbare Geister noch ein zweites hereingetragen, in welchem wohl noch kein gewöhnlicher Mann geschlafen hatte. Auf Befragen, für wen dasselbe bestimmt sei, erklärte der eine:
»Der mit dem Schweife wedelnde Urahne soll in demselben schlafen, damit er sich nicht über den Herrn des Hauses zu beklagen habe.«
Die guten Leute waren außerordentlich bemüht, die beleidigenden Worte Dschi und Kiuen, welche Hund bedeuten, zu umschreiben, um dem Besitzer der zwei Paar Beine und des Schweifes ihre Achtung zu erweisen. Degenfeld nahm dies als ganz selbstverständlich hin. Ihm machte es ja keinen Schaden, wenn sein Liebling einmal Gelegenheit fand, in einem guten chinesischen Bette zu schlafen.
Als man ihm dann sein Gewehr brachte, wurde ihm gesagt, wo der Speisesaal zu finden sei. Er hatte bemerkt, daß man ihm und seinen Gefährten eine Reihe nebeneinander liegender Zimmer angewiesen habe. Er ging, um sie aufzusuchen, und fand sie bei dem Kapitän versammelt. Sie hatten es vorgezogen, beisammen zu sein. Jeder von ihnen hatte eine brennende Pfeife im Munde, und auf dem Tische stand eine große Porzellanschale, welche Tabak enthielt. Auf die Frage Methusalems erklärte Turnerstick:
»Meinen Sie etwa, daß Sie hier allein rauchen können? Wir sind gesonnen, uns ganz dasselbe Relief zu geben. Leider wurde ich nicht verstanden, als ich von der dienenden Kreatur Tabak verlangte. Man scheint hier ein schauderhaftes Chinesisch zu sprechen; aber Liang-ssi hat ihr endlich doch zum Verständnisse gebracht, was wir wollten. Wie gefällt es Ihnen in diesem Hause?«
»Ganz gut, obgleich wir nicht sehr willkommen sind, was ich dem Mandarinen allerdings nicht verdenken kann.«
»Pah! Wir zehren hier auf des Kaisers Unkosten, was mir freilich noch nicht passiert ist. Am meisten freue ich mich auf morgen. Ich kann Ihnen sagen, daß ich ein leidenschaftlicher Reiter bin. Darum war ich ganz entzückt, als Sie Pferde bestellten. Auch die andern können reiten; nur unser Mijnheer scheint nicht damit einverstanden zu sein.«
»Warum nicht, Miinheer van Aardappelenbosch?«
Der Dicke faltete die Hände über dem Bauche, warf einen um Erbarmung flehenden Blick gen Himmel und antwortete:
»In gevalle dat ik ruiten moet, zoo sterf ik op het oogenblik – wenn ich reiten muß, so sterbe ich augenblicklich.«
»Warum denn?«
»Omdat ik niet ruiten kann – weil ich nicht reiten kann.«
»Pah! Sie lernen es!«
»Ik? Mijn God een Herr! Ik ben een oongelukkige nijlpaard – ich? Mein Gott und Herr! Ich bin ein unglückliches Nilpferd!«
»Unsinn! Man setzt sich in den Sattel, steckt die Füße in den Bügel und läßt das Pferd laufen.«
»O wee! Indien ik het paard loopen laat, zoo leg ik straks onden op der moeder aarde – o weh! Wenn ich das Pferd laufen lasse, so liege ich sofort unten auf der Mutter Erde!«
»Sie müssen es wenigstens versuchen.«
»Neen! Ik dank zeer! Ik wil niet onden zitten – Nein! Ich danke sehr! Ich will nicht unten sitzen!«
»Ich sage Ihnen aber, daß die hiesigen Pferde keine arabischen Renner sind!«
»En gesteld dat zij nijlpaarden ziin, ik kan niet ruiten, en ik wil niet ruiten, noch te voet noch te paard – und wenn sie Nilpferde sind, ich kann nicht reiten, und ich will nicht reiten, weder zu Fuße noch zu Pferde!«
Dabei blieb er. Als auch die andern in ihn drangen, wenigstens einen Versuch zu machen, rief er ganz erbost aus:
»Houdt den mond! Geen mensch brengt mij op een paard! Ik wil niet mijne armen, mijne beenen en mijn nek breken. Ik ben Mijnheer Willem van Aardappelenbosch en ruit van ambtswege op geenen paard, op geenen appe, op geenen olifant en ook op geenen ooievaar; ik ruit op geenen dier, uitgenomen op mijne muilen of op mijne laarzen – haltet den Mund! Kein Mensch bringt mich auf ein Pferd! Ich will nicht meine Arme, meine Beine und mein Genick brechen. Ich bin Mijnheer Willem van Aardappelenbosch und reite von Amts wegen auf keinem Pferde, auf keinem Affen, auf keinem Elefanten und auch auf keinem Storche; ich reite auf keinem Tiere, ausgenommen auf meinen Pantoffeln und auf meinen Stiefeln!«
Er warf bei dieser Versicherung die Anne so energisch um sich herum, daß man erkennen mußte, es sei ihm heiliger Ernst mit seinen Worten. Dabei standen dicke Schweißtropfen auf seiner Stirn, hervorgebracht von dem bloßen Gedanken, daß er reiten solle.
»Nun gut, so müssen Sie sich tragen lassen,« sagte Degenfeld.
»Ja,« nickte der Dicke befriedigt. »Ik neem twee Kulis, welke mij dragen moeten –- ja, ich nehme zwei Kulis, welche mich tragen müssen.«
»Davon werden Sie absehen, da diese Träger auf die Dauer mit den Pferden nicht gleichen Schritt halten könnten. Wir müssen zu Ihrem Tragsessel zwei Pferde nehmen.«
»Hoe zal dat gemakt worden – wie soll das gemacht werden?«
»Ein Pferd geht hinten und das andere vom, und die Tragstangen der Sänfte werden hüben und drüben an den Sätteln festgeschnallt.«
»Zoo kom ik betwixt de twee paarden? – so komme ich zwischen die zwei Pferde?«
»Ja.«
»Ik dank zeer! Dat vooran slat achten, en dat achten bijt voorn. Ik laat mij noch slaan noch bijten – ich danke sehr! Das voran schlägt nach hinten aus, und das hinten beißt vorn. Ich lasse mich weder schlagen noch beißen!«
»Aber Sie sitzen doch im Tragsessel, und kein Pferd kann Ihnen etwas thun!«
»Zoo! Ik zit in den Dragstoel? Dat is goed; da maak ik met – so? Ich sitze in dem Tragstuhle? Da mache ich mit!«
Da er nun überzeugt, daß weder das eine Pferd ihn schlagen, noch das andere ihn beißen konnte, so war er zufriedengestellt. Er war eben allezeit auf das Heil seines umfangreichen Körpers bedacht.
Noch waren alle beisammen, als ein Diener hereintrat und jedem einen Zettel überreichte, welcher eine halbe Elle breit und zwei Ellen lang war und eine Einladung zum Abendessen enthielt. Diese Zettel waren dann als Servietten oder Mundtücher zu benutzen.
Als sie dann den Speisesaal betraten, wurden sie von dem Mandarin empfangen, welcher sich in großer Gala befand. Er wies einem jeden seinen Platz an. Für die sieben Gäste waren acht Stühle vorhanden. Auf dem achten nahm nicht etwa der Hausherr Platz, sondern dieser letztere postierte sich an die eine Wand des Saales, um die Diener zu dirigieren, von denen jeder Gast seinen besonderen bekam.
Als sich alle gesetzt hatten, deutete der Mandarin auf den Hund und sagte:
»Soll der Urahne sich nicht auch setzen? Es ist ja ein Stuhl für ihn vorhanden.«
Degenfeld bemühte sich, ernst zu bleiben. Er gab dem Neufundländer einen Wink und dieser sprang sofort auf den leeren Stuhl und beschaute die schriftliche Einladung, welche sein Diener vor ihn hinlegte. Das sah so drollig aus, daß Turnerstick lachen wollte, was ihm aber von dem Methusalem mit einigen Worten verwiesen wurde.
Nun wurde der erste Gang aufgetragen, welcher aus einer delikaten Fischsuppe bestand. Der Hund beroch seinen Teller. Die beigefügten Gewürze waren seinem Instinkte, seiner Natur zuwider; darum wendete er sich ab; aber auf einen Wink und ein beigefügtes Wort seines Herrn überwand er sich und leckte gehorsam den Teller leer.
Ganz dasselbe geschah bei den übrigen Gängen. Der Neufundländer war wohlgezogen und hatte früher schon manches genießen müssen, was andere Hunde versagt hätten. Wenn ihm eine Speise nicht behagte, so sah er seinen Herrn an, und sobald dieser den Finger hob, fraß er sie auf.
In dieser Weise machte das Tier das ganze Nachtmahl mit durch und wurde dabei mit einem Eifer und einer Ehrerbietung bedient, als ob es den Rang eines hohen Mandarinen bekleide. Ob der Hausherr dieses Arrangement aus Ironie getroffen hatte, das war dem Methusalem sehr gleichgültig. Es wurde alles in ernster Würde verzehrt, ohne daß dabei jemand ein Wort der Unterhaltung hören ließ, und der Hund zeigte diese Würde in nicht geringerem Grade als seine menschlichen Mitgäste.
Am Schlusse des Mahles überreichte der Mandarin dem Methusalem das gewünschte Verzeichnis der Speisen und fragte dabei, ob er sich der Zufriedenheit seiner hohen Gäste erfreuen dürfe. Er erhielt eine bejahende Antwort, und das mit vollem Rechte. Dann bat er um die Erlaubnis, sich zurückziehen zu dürfen, da er zu gering sei, mit seiner Anwesenheit die Erleuchteten belästigen zu dürfen. Es wurde ihm in gnädigen Worten erlaubt. Natürlich war er froh, von dem Zwange befreit zu sein, welchem er bei ihnen unterworfen war.
Nun gab es noch eine Art Wein, aus gegorenem Reis bereitet, welcher heiß präsentiert wurde. Es war kein wohlschmeckendes, sondern ein sehr fades Getränk, welchem die Gäste dadurch zu entgehen suchten, daß sie baldigst aufbrachen, um sich zur Ruhe zu begeben.
Daß. der Miinheer sich mit dem Essen sehr zufrieden zeigte, verstand sich ganz von selbst. Bald schnarchte er ebenso laut wie auf dem Tausendfuße.
Der Neufundländer hatte noch nie ein solches Lager gehabt wie heute. Er blickte seinen Herrn ganz verwundert an, als dieser ihn in das Bett kommandierte, säumte aber gar nicht, diesem Befehle Gehorsam zu leisten.
»Ja,« sagte der Gottfried, welcher dabei stand, »heut jeht's hoch her bei dich, denn du bist ein urahniger Jebieter mit vier Füße und einem Schweife. Aberst komm nur wieder nach Hause! Da schläfst du wie vorher bei mich auf dem Strohdeckel, und wenn du etwa von China träumst, so jibt es Hetzpeitsche ohne Schmorkartoffel. Jehab dir wohl, und verschlafe dir nicht, denn morjen fliegen wir zeitig aus dem Nest! jute Nacht auch Sie, oller Methusalem! Ich habe noch die Pipe zu reinigen, damit wir morjen hier in Schao-tscheu keinen stänkerigen Eindruck machen.«
Er löschte die an der Decke hängende Laterne aus und ging. Noch war es zeitig am Morgen, als er wieder kam, um seinen Herrn zu wecken. Er meldete, daß sich unten im Hofe wohl ein Dutzend Pferde befänden, welche der Mandarin für seine Gäste requiriert habe, um dieselben sobald als möglich abreisen zu sehen.
Im Speisesaale wurde der Thee getrunken, und dann erschien der Hausherr, um die »Herren mit den langen Stammbäumen« zu ersuchen, sich in den Hof zu bemühen. Degenfeld zählte dort fünfzehn Pferde. Sechs waren zum Reiten und zwei zum Tragen des Palankin für den Mijnheer bestimmt. Den übrigen waren Packsättel aufgeschnallt.
Degenfeld untersuchte die Reitpferde. Es waren kleine, häßliche Tiere, die sich aber später als sehr munter und ausdauernd bewiesen. Das Zaumzeug war leidlich, doch zeigten die Sättel eine unbequeme Gestalt, und die Bügel waren schwer und unbeholfen. Dem konnte aber nicht abgeholfen werden.
Der Methusalem bestieg eins der Tiere, um es zu probieren. Von einem Durchreiten der Schule konnte keine Rede sein, weil es eben keine Schule besaß, doch gehorchte es ziemlich willig dem Zügel und dem Schenkeldrucke.
»Nun, wollen Sie nicht auch einmal probieren?« fragte Turnerstick den Dicken.
»,Ik?« antwortete dieser, indem er alle zehn Finger abwehrend ausspreizte. »Ik niet, waarachtig niet – ich nicht, wahrhaftig nicht!«
Er kehrte, um ganz sicher zu sein, daß ein solches Ansinnen nicht wieder an ihn gestellt werden könne, schleunigst nach seinem Zimmer zurück.
Alles, was mitgenommen werden sollte, war schon verpackt. Das waren Speisen, einige Flaschen Raki und sodann vorzugsweise eine bedeutende Anzahl von Decken aus den verschiedensten Stoffen, mit deren Hilfe die Reisenden es sich in den Einkehrhäusern möglichst bequem machen sollten.
Dann führte der Mandarin seine Gäste vor das Haus, wo der Oberlieutenant mit zwanzig berittenen Soldaten hielt. Er trug auf der Brust einen Tuchfleck, welcher die Gestalt des Kriegstigers zeigte, hatte aber gar nicht etwa ein tigerartiges Aussehen. Von kleiner, dürftiger Gestalt, saß er auf einem ebenso dürftigen Rößlein, welches Lockenhaare wie ein Pudel hatte. Desto gewaltiger war der Sarras, welcher ihm von der Seite hing. Rechts und links blickten ihm zwei riesige Pistolen aus den Taschen, von denen aber zu vermuten war, daß sie die löbliche Eigenschaft besaßen, gerade dann nicht loszugehen, wenn geschossen werden sollte.
Ein ebenso unritterliches Aussehen hatten seine Kavalleristen. Sie waren verschieden gekleidet, und verschieden bewaffnet. Der eine hielt einen langen Spieß und der andere ein Gewehr in der Hand, dessen Lauf wie ein Korkzieher gewunden war. Der dritte hatte eine Mordwaffe, von welcher man nicht wußte, ob sie eine Armbrust oder eine Mausefalle sein solle. Der vierte trug eine Keule, aus welcher verrostete Nagelspitzen naiv schauten. Der fünfte hatte einen Bogen ohne Pfeile und der sechste einen Köcher, zu welchem aber der Bogen fehlte. In ähnlicher Weise waren auch die anderen armiert. Das Kriegerischeste an ihnen waren die martialischen Gesichter, welche sie schnitten und die Schrift, welche sie alle auf dem Rücken trugen. Dort stand nämlich geschrieben »Ping«, das ist »Soldat«.
»Alle Ober- und Unterjötter! Wat sind das für Leute?« fragte der Gottfried.
»Soldaten, Kavalleristen,« antwortete der Methusalem.
»Und die sollen mit uns?«
»Jawohl.«
»Weshalb denn?«
»Um uns zu beschützen.«
»Dat glaube ich nicht.«
»Weshalb denn sonst?«
»Wenn ich sie mich so betrachte, so scheint es mich, dat sie mit uns wollen, damit nicht sie uns, sondern wir ihnen beschützen sollen. Nicht?«
»Das letztere ist freilich wahrscheinlicher als das erstere.«
»Und wat bedeutet die baumwollene Schrift auf ihren Hinterfronten?«
»Soldat.«
»Ah, siehst du, wie du bist! Wat die Chinesigen doch für pfiffige Jungens sind!«
»Inwiefern?«
»Nun, dat ist doch leicht zu erkennen. Diese Soldaten brauchen nicht zu fechten und zu kämpfen. Es ist jar nicht nötig, dat sie ihr edles Leben wagen. Sie brauchen nur auszureißen und dem Feinde den Rücken zuzukehren. Dann liest er dat schreckliche Wort ›Soldat‹ und wendet vor Angst auch um und jeht von dannen. So wird durch eine alljemeine Flucht der glänzendste Sieg jewonnen. Ich werde diese Erfindung mit nach Hause nehmen und sie in einem einjeschriebenen Brief an Moltke senden. Vielleicht blüht mich dafür der schwarze Adler erster Jüte mit Brillanten.«
»Ja, diese Leute werden uns mehr schaden als nützen; aber wir müssen sie mitnehmen. Unser Rang erfordert es.«
»Na, wat würde man in Berlin oder so da in Deutschland herum von unserm Range denken, wenn wir in solcher Jesellschaft anjelangt kämen!«
»Vielleicht würden wir als vagierende Zigeuner per Schub über die Grenze gebracht.«
»Und zwar, ohne dat man sich erst vorher die Mühe jäbe, uns nach unserem Impfschein zu fragen. O China, wie habe ich mich in dich jetäuscht! Wie hast du mir in meine Bejeisterung betrogen! Deine Köche will ich loben, aber deine Soldaten kannst du nur jetrost wieder in die Schachtel thun!«
Ganz entgegen diesem Urteile fragte der Mandarin in selbstbewußtem Tone Degenfeld:
»Hat der erleuchtete Gebieter in seinem Lande auch so tapfere Krieger?«
»Sind diese Leute denn tapfer?« fragte der Student.
»Über alle Maßen. Sie fürchten selbst den Tiger, das einhörnige Rhinoceros und den wild gewordenen Elefanten nicht.«
»Hoffentlich bekomme ich während meiner Reise Gelegenheit, ihren Mut zu erproben.«
»Das würde vielen Gegnern das Leben kosten. Wann wünschen die ehrwürdigen Herren diese Stadt zu verlassen?«
»Sobald die Vorbereitungen getroffen sind.«
»Das ist bereits geschehen, und es ist alles zum Aufbruche bereit; doch vorher mögen die Vielgepriesenen den Morgenreis bei mir verzehren.«
Unter Morgenreis ist Frühstück zu verstehen. Dieses bestand nicht aus so vielen Gängen, wie das gestrige Abendessen. Der Mandarin wünschte nicht, die Anwesenheit seiner Gäste zu verlängern. Als er sah, daß sie von den Speisen nur nippten, machte er ein sehr zufriedenes Gesicht. Dasselbe nahm nur dann einen finstern Ausdruck an, wenn sein Blick auf den Mijnheer fiel. Dieser hatte sich festgesetzt, als ob er heute gar nicht wieder aufstehen wolle, und langte in einer Weise zu, als ob er befürchte, von heut an bis nach Ablauf der Woche nichts Eßbares mehr vor die Augen zu bekommen.
Endlich klappte er sein Messer zu, schob es in die Tasche und sagte:
»Zoo! Heden ochtend word ik niet meer eten; maar vervolgens muet ik een middageten hebben – so! Heut früh werde ich nicht mehr essen; aber nachher muß ich ein Mittagsmahl haben.«
Nun begab man sich in den Hof hinab, um aufzubrechen. Eine Rechnung war nicht zu berichtigen. Auch die Trinkgelder kamen in Wegfall, da es einem hochgestellten Chinesen niemals beikommen kann, Dienste zu belohnen, welche er seinem Range nach zu beanspruchen hat. Der Kuan hatte ja sogar die angenehme Wirkung, daß weder für die Pferde noch für die Begleitung oder den mitgenommenen Proviant etwas zu entrichten war.
Unangenehm war nur die häßliche Ceremonie des Verabschiedens. Der Methusalem suchte sie so viel wie möglich abzukürzen, und der Mandarin unterstützte sehr gern dieses Bestreben. Der erstere sagte Dank für die genossene Gastfreundlichkeit und versprach, an geeigneter Stelle derselben rühmend zu gedenken, und der letztere beklagte, die sehr hochwürdigen Gönner nicht noch länger bei sich zu sehen und bewirten zu können. Dann stieg man zu Pferde.
Außer dem Dicken hatten alle schon früher im Sattel gesessen. Selbst Richard hatte den Onkel Methusalem oft in den Tattersall begleitet und da einen kleinen Ritt gemacht. So war also nicht zu befürchten, daß einer sich vor den Bewohnern von Schao-tscheu blamieren werde.
Die Sänfte war in der von Degenfeld angegebenen Weise an zwei Pferden befestigt worden. Der Dicke stieg ein, und der Gottfried machte Feuer, damit die Wasserpfeife in Brand gesteckt werden könne. Dann setzte sich der Trupp in Bewegung, von dem Mandarinen unter tiefen Bücklingen bis vor das Thor begleitet, wobei ihm seine Untergebenen eifrig sekundierten.
Draußen stand ein ungeheure Menschenmenge. Die Ankunft der Fremdlinge hatte nicht so viel Aufsehen erregt, weil man von derselben nichts gewußt hatte. Mittlerweile aber war es ruchbar geworden, daß vornehme Mandarinen aus einem fernen Erdteile bei dem Vorsteher der Stadt eingekehrt seien und am Vormittage wieder abreisen würden. Diese Kunde hatte sämtliche Einwohner aus ihren Häusern gelockt, und nun standen sie Kopf an Kopf, um ihre Neugierde zu befriedigen.
Dies hatte der Mandarin geahnt und danach seine Vorkehrungen getroffen. Um ein Fortkommen durch die dicht gedrängte Menge zu ermöglichen, schritt eine Anzahl Polizisten voran, welche mit ihren Stäben Platz machten, indem sie die nötigen Hiebe und Püffe austeilten. Damit die so geschaffene Lücke sich nicht wieder schließe, ging rechts und links je eine Reihe derselben Sicherheitsbeamten, welche die Köpfe der Zudringlichen ebenso bearbeiteten. Zwischen ihnen bewegte sich der eigentliche Zug.
Voran ritt der Oberlieutenant, gefolgt von zehn seiner Helden, welche grimmig um sich bückten. Dann folgte der Neufundländer, welcher so stolz und sicher schritt, als ob dergleichen Triumphzüge bei ihm zu den Alltäglichkeiten gehörten. Nun kam der Methusalem zu Pferde, das Gewehr auf dem Rücken und die Pfeifenspitze im Munde, aus welchem er dichte Rauchwolken stieß, hinter ihm natürlich Gottfried mit der Pfeife und dem Fagotte. Diesem folgte Turnerstick mit weit geöffnetem Fächer, neben ihm Richard Stein, der hell und lustig über die gaffende Menge hinblickte. Hierauf war die Sänfte zu sehen. Die beiden Pferde, welche dieselbe trugen, wurden von zwei Polizisten geführt. Rechter Hand des Palankins ging ein dritter Polizist, welcher den ausgespannten Schirm des Dicken als Zeichen der hohen Würde des Besitzers trug, denn je größer in China der Fächer und der Schirm, desto vornehmer ist der Herr desselben. Zur linken Hand sah das fette Gesicht des Mijnheer mit der schottischen Mütze aus der Sänfte. Da er auf den Sattel verzichtet hatte, wollte er wenigstens in dieser Weise die Menge von seinem Dasein überzeugen und die Huldigung derselben entgegennehmen. Seine feisten Wangen und der Umstand, daß er getragen wurde, brachten auch wirklich die Überzeugung hervor, daß er der vornehmste der fremden Mandarinen sei. Darum verbeugte man sich oft vor dem Kopfe, dem einzigen sichtbaren Teile des Herrn mit dem langen Stammbaume, was von dem Mijnheer stets voller Huld mit einem freundlichen Grinsen erwidert wurde. Hinter der Sänfte ritten die beiden Brüder Liang-ssi und Jin-tsian, welche natürlich wenig Aufsehen erregten, und den Schluß des Zuges bildeten die andern zehn Kavalleristen, hinter denen sich die Menge wieder schloß, um den Fremden nachzudrängen.
So ging es langsam durch die Straßen und Gassen der Stadt und endlich, endlich, nach fast einer Stunde, zum östlichen Thore derselben hinaus, wo die Straße immer am Wasser hin nach Schin-hoa, dem Ziele des heutigen Rittes, führte.
Dort, vor dem Thore kehrten die Polizisten um, und der Mijnheer erhielt seinen Schirm wieder zugestellt. Viele Bewohner der Stadt aber folgten noch eine weite Strecke, bis sie sich schließlich doch überzeugt hatten, daß die Fremden genau so wie sie selbst auch gestaltet seien.
Von jetzt an gebärdete sich der Oberlieutenant ganz als Führer und Beschützer der ihm anvertrauten hohen Herrschaften. Er gab eine Menge ganz unnötige Befehle, welche häufig den geradesten Widerspruch enthielten, kommandierte seine Untergebenen bald vor, bald hinter, bald neben die Reisenden, sprengte weit voran, um auszuschauen, ob die Straße sicher sei, und blieb ebenso häufig zurück, um sich zu überzeugen, daß dort keine hinterlistige Gefahr drohe. Er hielt seine Leute und Pferde fortwährend in Atem, und das alles nur, um den »Erleuchteten« zu zeigen, welch einen wichtigen Posten man ihm anvertraut habe, und daß er ganz der Mann sei, denselben auszufüllen.
Die Straße stieg bald am steilen Ufer empor, bald senkte sie sich wieder zum Niveau des Flusses nieder. Sie war gut angelegt und leidlich unterhalten. Die chinesische Regierung schenkt zwar dem System der Kanäle mehr Aufmerksamkeit als demjenigen der festen Wege, aber das Land ist trotzdem keineswegs arm an guten Straßen. Oft sind dieselben sogar mit großer Kühnheit angelegt, und die Hindernisse, welche Flüsse, Thäler und Schluchten bieten, werden von Brücken und Viadukten überschritten, welche Jahrhunderte überdauert haben und die Bewunderung selbst eines berühmten europäischen Architekten erregen würden, zumal diese Bauten zu einer Zeit ausgeführt wurden, in welcher bei uns niemand gewagt hätte, so kühne Wege anzulegen.
Die Reisenden erblickten an der Straße, welcher sie folgten, von zehn zu zehn Li, also nach unserem Längenmaße ungefähr alle fünf Kilometer, Soldatenhäuser, welche mit einem Wachtturme versehen waren. Man hat sie an solchen Stellen errichtet, daß es möglich ist, von einem Turme die beiden nächsten zu erblicken und mit Hilfe von Flaggen, welche an hohen Stangen aufgezogen werden, Signale zu empfangen und weiterzugeben. Diese Warttürme haben ganz besonders den Zweck, die Nachricht von Empörungen, welche in China sehr häufig sind, schnell zu verbreiten.
In ebenso regelmäßigen Abständen waren Ruhehäuser angelegt, welche auf Kosten des Staates unterhalten werden, jedermann zur Aufnahme dienen, besonders aber von den reisenden Beamten benutzt werden.
In der Nähe jedes dieser Gebäude stehen an einer in die Augen fallenden Stelle drei weiße, steinerne Säulen, um den Reisenden schon von weitem auf das Vorhandensein des Ruhehauses aufmerksam zu machen. Diese Steine gleichen unsern Meilenzeigern, doch enthalten sie keine Bestimmungen der Entfernungen; die letztere ist vielmehr auf Brettern angegeben, welche an Pfählen befestigt sind.
Der Oberlieutenant war am ersten Ruhehause vorbeigaloppiert, ohne es zu beachten; beim zweiten aber hielt er an, verbeugte sich vor dem Methusalem und sagte:
»Hier ist ein sehr schönes Sie-kia (Ruhehaus) und ich ersuche die mächtigen Gebieter, abzusteigen.«
Während er das sagte, schwang er sich auch schon aus dem Sattel, und seine Leute folgten diesem Beispiele.
»Wer hat gesagt, daß hier geruht werden soll?« fragte der Student.
»Ich,« antwortete der Offizier dumm-erstaunt.
»Sind Sie so ermüdet?«
»Ja.«
»So reiten Sie vernünftiger, und strengen Sie Ihre Leute und Pferde nicht so an! Ich habe keine Veranlassung, abzusteigen.«
»Aber, erleuchteter Herr, es ist hier Sitte, zwanzig Li zu reiten und dann auszuruhen!«
»Diese Sitte gefällt mir nicht.«
»Wir haben ja Speise und Trank bei uns und können essen und trinken. Auch sind Decken genug vorhanden, um uns in aller Bequemlichkeit niederlassen zu können!«
»Wenn wir das thun und Ihrem Gebrauche folgen, so sind wir in zehn Tagen noch nicht am Ziele.«
»Ist es denn nötig, es so bald zu erreichen? Wir haben ja Zeit!«
»Ihr, aber wir nicht. Wieweit ist es von Schao-tscheu bis Schin-hoa?«
»Hundert Li.«
»So müßten wir viermal einkehren und würden den letzteren Ort wohl erst übermorgen erreichen. Ich aber will heut noch hin.«
»Das ist unmöglich, hoher Vorfahre.«
»Ich werde Ihnen beweisen, daß es sehr wohl möglich ist. Wir kehren nur einmal ein, nämlich wenn wir die Hälfte des Weges, also fünfzig Li zurückgelegt haben.«
»So müssen wir verschmachten, und die Pferde werden vor Müdigkeit stürzen.«
»Das sagen Sie, der Sie Offizier und Kavallerist sind? Ich finde diese Tiere sehr brav und getraue mir, mit ihnen ohne allen Aufenthalt direkt das Ziel zu erreichen.«
»O, sie wanken doch schon!«
»Das scheint Ihnen nur so, weil Sie selbst das Gleichgewicht verloren haben. Kehren Sie hier ein, wenn es Ihnen beliebt, wir aber reiten weiter!«
Er trieb sein Pferd an, daß es in Galopp fiel; die andern folgten, und selbst die Packtiere, welche keine besonderen Führer hatten, rannten hinterdrein. Der Oberlieutenant machte ein Gesicht, wie er es wohl noch nie gezogen hatte. So etwas war ihm noch nie passiert. Er hatte große Lust, seinem Kopfe zu folgen, besann sich aber eines Besseren, stieg wieder auf und ritt, gefolgt von seinen Leuten, den Vorausgeeilten nach.
Von jetzt an ließ er sein Tier ruhig gehen und hielt sich schmollend eine kleine Strecke weit zurück.
Am Mittag wurde die Stelle erreicht, an welcher der eine Arm des Flusses rechts ab nach Schi-hing und der andere links nach Schin-hoa führt. Diesem letzteren folgten die Reisenden, ohne den Offizier zu fragen, ob dies die richtige Richtung sei.
Nun wurde die Gegend immer gebirgiger. Bisher waren die Berge bis zu ihrer Höhe mit Feldern bebaut gewesen; jetzt zeigten sich auch bewaldete Gipfel, ein Zeichen, daß man sich der eigentlichen Masse des Nan-Iing-Gebirges nähere.
Als an einer der erwähnten Tafeln zu ersehen war, daß Schin-hoa nur noch vierzig Li entfernt sei, hielt der Methusalem beim nächsten Einkehrhause an. Der Wirt desselben, ein dicker, schmutzig aussehender Chinese, kam heraus, um die Ankömmlinge zu begrüßen. Sein Gesicht war nicht eben ein freundliches. Jedenfalls hatte er die Erfahrung gemacht, daß chinesische Soldaten nicht solche Gäste sind, an denen viel zu verdienen ist. Als er aber nun die fremd gekleideten Herren sah, erhielten seine Züge einen noch ganz anderen Ausdruck. Er riß den Mund auf, ebenso die kleinen Schlitzaugen, so weit er konnte, und starrte die Männer an, als ob ihm der Verstand abhanden gekommen sei.
Der Gottfried sprang vom Pferde, hielt dem Manne das Fagott ans Ohr und konstruierte einen so schauderhaften Triller, daß der Wirt vor Entsetzen einen lauten Schrei ausstieß und zu gleichen Beinen davonlief, um hinter der Ecke des Hauses zu verschwinden.
»So!« lachte der Wichsier. »Dem habe ich beijebracht, dat es niemals jeraten ist, jeehrte Herrschaften mit dem offnen Maule anzublicken. Nun rennt er wohl zu Bartheln, um sich Most zu holen, womit ich Verstand und Lebensart bezeichnen will. Wir sind ihm glücklich los. Jehen wir nun rin in dat Vergnüjen!«
Das Gebäude enthielt zwei Abteilungen von sehr verschiedener Größe. Die kleinere war jedenfalls für den Wirt, die größere für die Gäste bestimmt. Als der Gottfried einen neugierigen Blick in die erstere warf, fuhr er schnell zurück und rief:
»Pfui Spinne! Von dieser Madame möchte ich essen!«
»Wieso?« fragte Turnerstick.
»Die Familienmutter hat sich neben dem rauchenden Schmertopfe niederjelassen und hält eine junge Lady in ihrem Schoße, mit deren Kopf sie janz datselbige macht, wat die Affen so häufig einander zuliebe thun. Wenden wir uns jrauenhaft auf die andere Seite.«
Dort sah man einen großen, kahlen Raum, in welchem nur ein Tisch und zwei Bänke standen. In kurzer Zeit aber sah es wohnlicher aus. Da es eine Ruhepause galt, waren die Soldaten nicht zurückgeblieben. Sie brachten die Decken und Tücher herein, um sie über den Tisch und die Bänke zu breiten. Einige Matten wurden auf den Boden gelegt, und dann holten die reitunlustigen Kavalleristen die Mundvorräte herein, welche von dem Methusalem verteilt wurden.
Die Herrschaften aßen am Tische und die Soldaten am Boden auf den Matten. Da ein hochgestellter Chinese sich nicht gern von einem tiefer stehenden beim Essen beobachten läßt, so hatten sich die Krieger so gesetzt, daß sie den Reisenden den Rücken zukehrten, was also nicht ein Zeichen eines Mangels an Achtung, sondern gerade das Gegenteil war.
Nach einer halben Stunde hatte man das Mahl beendet, und der Methusalem mahnte zum Aufbruche, welchem Befehle die Soldaten nur sehr langsam Folge leisteten.
Degenfeld wollte, obgleich man von dem Wirte nichts verlangt hatte, diesem doch eine Münze geben. Liang-ssi ging, ihn zu suchen, kehrte aber zurück, ohne ihn gefunden zu haben. Der Mann ließ sich aus Angst vor dem Fagotte zu den Verschollenen zählen, und das Geld mußte seiner Frau ausgehändigt werden.
Nun ging es wieder vorwärts immer tiefer in die Berge hinein. Bald führte die Straße durch tiefe, enge, finstere Klüfte, bald stieg sie in steilen Windungen wieder zur hellen Höhe empor, um eine Aussicht auf neue Tiefen zu eröffnen.
Die Reisenden strengten jetzt die Pferde möglichst an, um noch vor Nacht das Ziel zu erreichen. Die Soldaten waren gezwungen, ihnen ebenso schnell zu folgen. Der Weg. war menschenleer. Kein Wanderer begegnete ihnen. Hier und da gab es einmal ein Haus oder eine einsame Siedelung, deren Bewohner neugierig vor die Thüren gerannt kamen und halb erstaunt, halb erschrocken zurückfuhren, wenn sie die fremdartigen Reiter erblickten.
Der Methusalem ritt voran; er hatte während des ganzen Tages keine Lust gezeigt, sich zu unterhalten. Seine Gefährten hielten zusammen, um sich den Weg durch Gespräch zu verkürzen. Sie bemerkten, daß er der Gegend eine ungewöhnliche Aufmerksamkeit schenkte und bald rechts, bald links blickte, als ob er etwas suche.
So verging der Nachmittag, und der Abend wollte hereinbrechen, als man auf der letzten Höhe anlangte, von welcher aus man die Stadt Schin-hoa am Ufer des hier schmalen Flusses liegen sah. – Degenfeld befahl dem Offizier, voran zu reiten, um dem regierenden Mandarin des Ortes die Ankunft des Inhabers eines kaiserlichen Kuan zu melden, welchem schleunigst Folge geleistet wurde.
Nun ging es langsam bergab. Die Sonne war schon hinter den Bergwänden verschwunden, und die Höhen warfen ihre immer tiefer werdende Schatten in das Thal. Als die Reiter die Sohle desselben erreichten, sahen sie die Wirkung der Botschaft, welche Degenfeld dem Oberlieutenant aufgetragen hatte. Dieser hatte die Neuigkeit wohl laut auf der Straße verkündet, denn es kam ihnen eine dichte Menschenmenge entgegen, welche sich zu beiden Seiten des Weges aufstellte.
Um diesen Gaffern schneller zu entgehen, wurden die Pferde angespornt und im Galopp ging es dem Thore der Stadt entgegen. Dort wartete ihrer der Offizier, um sie nach der Wohnung des Mandarinen zu bringen, bis wohin die Einwohner förmlich Spalier bildeten. Und doch war es bereits so dunkel, daß man kaum einige Schritte weit zu sehen vermochte. Laternen aber durften noch nicht gebrannt werden, da das Zeichen dazu noch nicht gegeben war.
Die Gäste wurden wie gestern von dem Mandarin an der Thür empfangen und dann in das Innere des Hauses geleitet. Der lange Ritt hatte die Reisenden, welche nicht gewohnt waren, einen ganzen Tag lang im Sattel zu sitzen, ungemein angestrengt. Am größten mußte die Ermüdung Richards sein. Er konnte kaum die Beine biegen und hatte einen ungemein steifen Schritt, gab sich aber mannhaft Mühe, es nicht bemerken zu lassen.
Noch schlimmer schien der Mijnheer daran zu sein. Er hatte schon während des Nachmittags geklagt, ohne aber sehr beachtet zu werden. Dann waren seine Seufzer tiefer und seine Ausrufungen lauter geworden, und auf Befragen hatte er erklärt, daß er seine Glieder nicht mehr fühle. Es war allerdings nichts Kleines für einen so starkbeleibten Mann, einen Tag lang in der engen Sänfte bewegungslos sitzen zu müssen und, da dieselbe von zwei Pferden getragen wurde, alle Unebenheiten des Weges zwiefach empfinden zu müssen. Als er nun jetzt aus dem Palankin steigen wollte, war ihm das unmöglich. Zwei Diener des Mandarins zogen und ein dritter auf der anderen Seite schob ihn heraus. Als er die Erde unter sich hatte, wankte er, so daß er gehalten werden mußte. Glücklicherweise lag das Empfangszimmer zur ebenen Erde, so daß es keine unüberwindlichen Schwierigkeiten bot, ihn dorthin zu bringen. Da aber sank er sofort in einen Stuhl, faltete die Hände über den Leib, stieß einen langen, stöhnenden Seufzer aus und schloß die Augen, indem er langsam flüsterte:
»Ik ben dood; ik ben gestorven. Mijne ziel is ginds, en maar mijn ligcham is hier gebleven. Goede nacht, o boose wereld -ich bin tot; ich bin gestorben. Meine Seele ist jenseits, und nur mein Leichnam ist hier geblieben. Gute Nacht, o böse Welt!«
Ganz so wie gestern wurden den Reisenden Zimmer angewiesen. Der Dicke mußte in das seinige getragen werden, wo man ihn auf das Bett legte. Er ließ das mit sich geschehen, ohne auch nur die Augen zu öffnen.
In Rücksicht auf die allgemeine Ermüdung hatte Degenfeld das Abendessen für später als gestern bestellt. Jeder wollte vorher ein wenig ausruhen, und so kam es, daß keiner sich um den Mijnheer kümmerte. Man kannte ihn ja und wußte also, daß es ihm mit dem Sterben keineswegs Ernst sei.
Als dann an alle die Aufforderung zum Nachtmahle erging, fanden sie sich in dem dazu bestimmten Zimmer zusammen. Nur Aardappelenbosch fehlte, und so ging der Gottfried ihn zu holen. Er lag noch wie vorher mit geschlossenen Augen auf dem Bette.
»Mijnheer, schlafen Sie?« fragte der Wichsier.
Keine Antwort.
»Mijnheer, wachen Sie auf!« bat Gottfried, indem er ihn rüttelte.
»Ik ben gestorven,« antwortete der Holländer in klagendem Tone.
»Sind Sie wirklich tot?«
»Ja, op mijn woord!«
»So müssen wir Sie also begraben?«
»Ja, ik moet in de aard geleid worden – ja, ich muß in die Erde gelegt werden.«
»Schade, jammerschade! Gerade jetzt, wo es Leberpastete mit Reispudding gibt!«
»Leverpastei met rijstepudding?« schrie der Dicke, indem er in demselben Augenblicke kerzengerade auf den Beinen und in der Stube stand.
»Ja, das Essen ist serviert.«
»Het avondeten? Ik ga met; ik ga spoedig met – das Abendessen? Ich gehe mit; ich gehe schnell mit!«
Er faßte den Gottfried beim Arme und zog ihn eilig zur Thür hinaus, obgleich seine noch ungelenken Beine sich gegen diese Eile sträubten. So kam es, daß die Seele des Dicken wieder aus dem »Jenseits« zurückkehrte, und dieses Wunder, diese Auferstehung eines Toten war von zwei sehr einfachen, aber höchst delikaten Worten vollbracht worden – Leverpastei und Rijstepudding.
Wie Schin-hoa kleiner ist als Schao-tscheu, so hatte alles hier einen bescheideneren Anstrich. Der Gemeindepalast war ein gewöhnliches, wenn auch geräumiges Haus. Der Bürgermeister trug die einfache Goldkugel auf der Mütze und floß weniger über von unterwürfigen Redensarten. Das Essen bestand aus weniger und nicht so kostbaren Gängen, und es gab nur zwei Personen, um die Gäste zu bedienen. Der Mandarin getraute sich gar nicht, bei dem Essen gegenwärtig zu sein.
Dies alles war den Reisenden nur lieb. Sie sahen sich nicht unter dem Zwange der Etikette und konnten sich nach Herzenslust unterhalten, obgleich sie dies der beiden Diener wegen mit dem gebotenen Ernste thaten. Als diese aber am Schlusse den Raki brachten und sich dann entfernten, konnte der Gottfried es nicht länger zurückhalten, auf welche Weise er den Mijnheer vom sichern Tode errettet hatte. Sein Bericht erregte natürlich die allgemeinste Heiterkeit, in welche der Dicke endlich selbst mit einstimmte. Doch versicherte er im vollen Ernste:
»Ik ben zekerlijk gestorven geweest, op mijne eer – ich bin sicher gestorben gewesen, bei meiner Ehre!«
»So sind Sie unsterblich,« lachte der Gottfried.
»Ik? Werkelijk?«
»Ja, denn wenn Sie einst der richtige Tod beim Schopfe nimmt, so bedarf es nur eines Puterbratens oder einer Sardellensemmel, um Sie ihm zu entreißen. Sie werden der zweite ewige Jude sein und können sich also jetrost morjen wieder in Ihre Sänfte zusammenrütteln lassen.«
»Ik dank zeer! Da fluit ik niet met. Ik will niet gedragen zijn – ich danke sehr! Da pfeife ich nicht mit. Ich will nicht getragen sein.«
»Was denn?«
»Ik word ruiten – ich werde reiten.«
»Sie? Reiten? Und gestern waren Sie so dagegen? Gestern versicherten Sie aus Leibeskräften, daß Sie sterben würden, falls Sie reiten müßten.«
»Dat is ook zoo; maar ruit ik, zo moet ik sterven, en word ik gedragen, zo moet ik ook sterven; alzoo wil ik liever op mijnen paard sterven als in dezen ongelukkigen Dragstoel -das ist auch so; aber reite ich, so muß ich sterben, und werde ich getragen, so muß ich auch sterben; also will ich lieber auf einem Pferd sterben als in diesem unglücklichen Tragstuhle.«
»Da haben Sie recht,« stimmte der Methusalem bei. »Denn dann sterben Sie wenigstens in freier Luft und hauchen Ihre Seele nicht in dem elenden Kasten aus. Wir bekommen hier neue Pferde. Ich werde Ihnen eines auswählen.«
»Ik pflieg maar op de aard, zoo dra ik opgestegen ben – ich fliege aber auf die Erde, sobald ich aufgestiegen bin!«
»Ich suche Ihnen ein sehr geduldiges aus.«
»Ik geloov an geen paard – ich glaube an kein Pferd!«
»So binden wir Sie fest. Dann kann Ihnen nichts geschehen.«
»Dat is goed. Ik word op dat paard gebonden. Da mak ik met; da mak ik zeer geerne met – das ist gut. Ich werde auf das Pferd gebunden. Da mache ich mit; da mache ich sehr gerne mit!«
So war es also beschlossene Sache, daß der Dicke morgen sich als Kavallerist sehen lassen werde. Man war jetzt lustig geworden und hätte sich gerne noch länger unterhalten; aber in Anbetracht der heutigen und der morgen wieder zu erwartenden Anstrengungen hielt man es doch für geraten, zur Ruhe zu gehen. Der Methusalem ließ dem Mandarin, welcher sich nicht wieder sehen lassen wollte, eine gute Nacht von allen wünschen, und dann begab sich jeder in sein Zimmer.
Am andern Morgen weckte Gottfried wieder. Der Oberlieutenant hatte bereits für den Umtausch der gestrigen mit frischen Pferden gesorgt, und Degenfeld suchte für den Mijnheer einen starken Gaul aus, dessen Alter vermuten ließ, daß er keine Jugendstreiche mehr begehen werde. Aardappelenbosch wurde in den Sattel gesetzt, und dann führte man das Pferd einigemal im Hofe herum. Er saß aber so schauderhaft da oben, daß er sich unmöglich vor den Leuten sehen lassen konnte; darum wurde beschlossen, ihn zunächst in einer Sänfte voranzuschicken.
Nachdem dies geschehen war, brach die Gesellschaft auf, begleitet von den Wünschen des Mandarins, welcher froh war, von so vornehmen Gästen befreit und wieder Herr seines Hauses zu sein.
Der Auszug aus der Stadt glich, wenn auch in kleinerem Maßstabe, dem gestrigen. Die Menge begleitete die Reisenden bis vor die Stadt und kehrte dann zurück, ganz befriedigt davon, einmal so sonderbare Fremdlinge gesehen zu haben.
Der Weg stieg kurz hinter der Stadt gleich steil an, und kaum hatte man einige hundert Schritte zurückgelegt, so begegnete man den zurückkehrenden Sänftenträgern, welche wenig weiter oben den Mijnheer nach dem ihnen gewordenen Befehle mitten auf die Straße abgesetzt hatten. Er hatte den Riesenschirm aufgespannt und trug kreuzweise über dem Rücken die Gewehre, an denen die Tasche hing. Diese letztere enthielt längst die verschiedenen Theesorten nicht mehr, und dennoch behandelte er sie mit so ausgesetzter Sorgfalt, als ob sich ganz unersetzliche Kostbarkeiten in derselben befänden.
»Ik heb alreeds langs geroepen en gepepen,« schrie er ihnen schon von weitem zu. »Maakt snelst! Ik will ruiten – ich habe schon längst gerufen und gepfiffen. Macht schnellstens! Ich will reiten.«
»Schon jut, und nur Jeduld!« antwortete der Gottfried. »Sie kommen zeitig jenug in den Sattel und vielleicht noch schneller wieder herunter.«
Man hielt bei dem Dicken an und gab sich Mühe, ihn auf das Pferd zu bringen, was bei seinem Gewichte und seiner Unbehülflichkeit keine leichte Aufgabe war.
Endlich saß er oben, aber wie! Der Methusalem riet ihm, den Regenschirm zu schließen, worauf er aber nicht einging, weil, wie er behauptete, die ihm etwa Begegnenden ihm seinen Rang nicht angesehen hätten. Den Schirm in der Linken und die Zügel in der Rechten, begann er den Ritt, und zwar sehr langsamen Schrittes. Dennoch rutschte er, da er nicht fest in den Bügeln stand und die Schenkel nicht anlegte, bald herüber und bald hinüber, so daß er die Zügel an den Sattelknopf, welcher sehr hoch war, band und sich mit der rechten Hand an demselben anhielt. Hätte man einen Gorilla auf das Pferd gesetzt, so wäre die Haltung desselben wohl keine lächerlichere gewesen. Dennoch meinte er in sehr befriedigtem Tone:
»Zoo is het goed. Ik ben een bijzonder ruiter – so ist es gut. Ich bin ein vorzüglicher Reiter!«
In der Freude über die Gewandtheit, welche er seiner Ansicht nach entwickelte, machte er eine lebhafte Bewegung und verlor die Bügel. Das Pferd protestierte gegen diese Unruhe, indem es vorn in die Höhe stieg, und infolgedessen rutschte der Mijnheer hinten herab. Es gab einen dumpfen Ton, wie wenn ein Wollsack auf die Erde geworfen wird, und der Dicke kam, alle vier Extremitäten samt dem Regenschirm in die Höhe streckend, auf die Straße zu liegen.
Zum Glück besaß der Gaul kein überflüssiges Feuer. Er drehte sich um, den Reiter anzusehen, und blieb so stehen, ohne sich weiter zu bewegen. Die andern standen erschrocken um Roß und Reisigen, und Degenfeld fragte:
»Um Gotteswillen, Mijnheer, haben Sie sich etwa Schaden gethan?«
»Ik? Zeer grooten!« antwortete er stöhnend, indem er Arme und Beine noch immer in die Luft streckte. »Het dome Nijlpaard heeft mij van achteren verloren. Ik been dood; ik ben gestorven; ik ben buiten tegenspraak gestorven – ich? Sehr großen! Das dumme Nilpferd hat mich von hinten herunter verloren. Ich bin tot; ich bin gestorben; ich bin ohne Widerrede gestorben!«
»So legen Sie doch wenigstens die Arme und Beine nieder!«
»Dat kan ik niet. Ik ben dood!«
»So müssen wir versuchen, Ihre Lebensgeister aus dem Grabe zu erwecken. Es befindet sich eine Flasche Raki unter unsern neuen Vorräten. Wir werden Ihren Leichnam mit demselben einreiben.«
Da sprang der Dicke wie elektrisiert auf, machte eine Bewegung des Entsetzens und schrie:
»Raki? Brandewijn? Met den brandewijn zal niet gereven worden. Ik wil hem drinken. Gedronken is hij beter dan gereven. Waar is de flesch – Raki? Branntwein? Mit dem Branntwein soll nicht gerieben werden. Ich will ihn trinken. Getrunken ist er besser als gerieben. Wo ist die Flasche?«
Er erhielt sie und that einen solchen Zug, daß den andern angst und bange wurde. Der Methusalem nahm sie ihm aus der Hand und sagte:
»Das genügt. Ich sehe, daß Ihre Lebensgeister sich wieder eingefunden haben. Wie aber wird es nun mit dem Reiten stehen?«
»Indien ik mag de flesch dragen, zoo rijd ik straks beter dan een offizier van het paardevolk – wenn ich die Flasche tragen darf, so reite ich straks besser als ein Kavallerieoffizier.«
»Gut, wollen es versuchen. Aber ich mache die Bedingung, daß Sie die Bouteille nicht in der Hand, sondern in der Tasche tragen. Und um ganz sicher zu gehen, werden wir, wie schon gestern abend beschlossen wurde, Sie auf das Pferd binden.«
»Ja, ik wil op het paard gebonden zijn, diensvolgens kann ik niet van den diere vallen – ja, ich will auf das Pferd gebunden sein, dann kann ich nicht von dem Tiere fallen.«
Er bekam die Flasche, welche er in die Tasche schob; dann wurde ihm wieder in den Sattel geholfen. Darauf erhielt er an die beiden Füße eine Leine, welche unter dem Bauche des Pferdes straff angezogen wurde. Dadurch bekam er festen Schluß. Er fühlte das mit großer Befriedigung und sagte vergnügt:
»Zoo, nu is het goed. Wij worden rijden als de stormwinden – so, nun ist es gut. Wir werden wie die Sturmwinde reiten.«
So schlimm war es nun freilich nicht; aber es ging doch weit besser als vorher, zumal er jetzt auf den großen Schirm verzichtet hatte. Freilich, hätte er die Gesichter gesehen, mit denen die chinesischen Reiter den Vorgang beobachtet hatten, so wäre es um seine gute Laune geschehen gewesen. Diese letztere verließ ihn auch dann nicht, als er bald mittraben mußte und tüchtig zusammengerüttelt wurde. Er lachte vielmehr im ganzen Gesichte und behauptete, der beste Reiter der Weh zu sein. Von dieser Meinung wurde er selbst davon nicht abgebracht, daß Turnerstick und der Gottfried sich stets zu seinen beiden Seiten hielten, um ihn, was sehr häufig vorkam, zu unterstützen.
Die Sonne schien nicht heiß; vielmehr war es hier oben im Gebirge ziemlich kühl und dennoch liefen dem Mijnheer die dicken Schweißtropfen von der Stirn. Er pustete wie ein Narwal, blieb aber doch bei guter Laune.
»Das wird Ihrer Gesundheit sehr zuträglich sein,« meinte der Methusalem. »Durch das Schwitzen wird das schlechte, dicke Blut ausgeschieden.«
»Het bloed? Wordt mii dat niet zwak maken? Word niet de miltzucht, de tering en de beroerte in mij binnen kruipen – das Blut? Wird mich das nicht schwach machen? Wird nicht die Milzsucht, die Verzehrung und der Schlagfluß in mich hineinkriechen?«
»Im Gegenteile! Sie werden ein helles und gesundes Blut bekommen und sich dann viel wohler fühlen.«
»Zal ik ook dikker worden – werde ich auch dicker werden?«
»Hoffentlich, da gutes Blut gutes Fleisch ansetzt.«
»Goed vleesch! Heiza, voorwarts! Ik rijd al het heelal neder – gutes Fleisch? juchhe, vorwärts! Ich reite das ganze Weltall nieder!«
Er schlug mit seinem Schirm in der Weise auf das Pferd ein, daß es einen weiten Satz machte und dann im Galoppe davonflog. Das hatte er nicht gewollt. Einen schrillen Angstruf ausstoßend, klammerte er sich an der Mähne fest, während er Mütze, Schirm und den Theeranzen verlor. Man hörte ihn schreien:
»Help, help! Voorgezien, voorgezien! Vaarwel, mijn Holland een Nederland! O wee, ik oongelukkige Nijlpaard, ik vlieg in de lucht; ik vlieg in de radijsjes een in de peterselie –Hilfe! Hilfe! Vorgesehen, vorgesehen! Lebe wohl mein Holland und Niederland! O weh, ich unglückliches Nilpferd, ich flieg in die Luft; ich flieg in die Radieschens und in die Petersilie!«
Die andern sprengten hinter ihm her, um die verlorenen Sachen aufzulesen und sein Pferd zum Stehen zu bringen. Als das geglückt war, richtete er sich wieder auf, trocknete sich den Angstschweiß, aus dem hochroten Gesicht, setzte die Mütze wieder auf, nahm den Schirm an sich, ließ sich den Ranzen wieder auf die Gewehre hängen und fragte dann:
»Holla, mijne heeren, was dat niet nederlandsche dapperheid en heldenmoed? Ben ik niet een roemrijken ruiter – holla, meine Herren, war das nicht niederländische Tapferkeit und Heldenmut? Bin ich nicht ein ruhmreicher Reiter?«
»Ja,« antwortete Gottfried lachend. »Ein Glück, dat Sie anjebunden waren, und die Mähne erwischten, sonst wären Sie wirklich in die Petersilie jeflogen. Ik rate Sie, den Heldenmut nicht gleich wieder in Anwendung zu bringen. Galoppieren können Sie noch nicht.«
»O, ik moet zoo rijden; ik wil dik worden – o, ich muß so reiten; ich will dick werden.«
»Da sind Sie auf dem Holzwege. Vom Schnellreiten wird man dürr. Nur das langsame Reiten setzt Fleisch an.«
»Zoo? Werkelijk? Dan zal ik niet meer zoo gaauw rijden. Ik. ben namelijk zoo zwak en laar, dat mijn lichaam slap als en rokzak is – so? wirklich? Dann werde ich nicht mehr so schnell reiten. Ich bin nämlich so schwach und leer, daß mein Körper so schlaff wie eine Rocktasche ist.«
Von jetzt an hütete er sich aus Angst vor dem Magerwerden sehr, wieder das »ganze Weltall niederzureiten«. Er trieb sein Pferd nur so an, als nötig war, mit den Gefährten gleichen Schritt zu halten. Und da zeigte es sich, daß er das Reiten viel besser vertrug als das Sitzen in dem engen Palankin. Nach einer Stunde hatte er es zu einer ganz leidlichen Haltung gebracht, wohl meist infolgedessen, daß sein Gaul einen sehr glatten, ruhigen Gang hatte.
Überhaupt zeigte der Methusalem bei weitem nicht die Eile, die er gestern gehabt hatte. Er ritt immer nur im Schritt voran, schenkte der Gegend aber noch weit größere Aufmerksamkeit als gestern.
Die Gegend war jetzt geradezu hochgebirgig geworden. Man ritt durch düstere Thäler, welche alter Nadelwald füllte; rechts und links folgten dann Grasflächen, über denen die Felsen nackt zum Himmel ragten. War eine solche Schlucht passiert, so stieg die Straße wieder bergan, um sich aus schwindelnder Höhe abermals steil abwärts zu senken.
Auch hier gab es Einkehrhäuser in den bereits angegebenen Abständen voneinander, doch hatte sich der chinesische Offizier die gestern erhaltene Lehre so zu Herzen genommen, daß er nicht wieder zum baldigen Rasten trieb. Erst gegen Mittag hielt der Methusalem vor einem dieser Sië-kia an, um den Pferden und Menschen eine Stunde Ruhe zu gönnen. Es wurde von den mitgenommenen Vorräten ebenso wie gestern ein Mahl genossen. Der Wirt war nicht so menschenscheu wie der gestrige. Er bediente seine Gäste, und Degenfeld erkundigte sich sehr angelegentlich nach dem Wege.
Er erfuhr, daß man nach vier Stunden die Grenze der benachbarten Provinz erreichen werde, nachdem man über eine uralte und weltberühmte Kettenbrücke geritten sei.
Es war so viel Vorrat an Speise mitgenommen worden, daß nicht einmal die Hälfte desselben verzehrt wurde. Weshalb der Blaurote dies beim letzten Gastgeber so angeordnet hatte, das wußte keiner der Gefährten. Doch als die Gesellschaft wieder aufgebrochen war und sich unterwegs befand, fragte Gottfried:
»Hören Sie mal, alter Methusalem, Sie machen ein Jesicht wie ein mexikanischer Joldsucher. Schon jestern hatten Sie die Augen überall am Wege. Wat wollen Sie denn eijentlich entdecken?«
»Etwas sehr Wichtiges.«
»Und wat ist dat? Doch nicht schon Kue jang, die nächste Stadt, oder jar King, wohin wir wollen?«
»Nein. Und doch hättest du zweimal recht gehabt, wenn du nämlich Kin anstatt King gesagt hättest.«
»Wieso? Kin bedeutet ja Jold.«
»Allerdings. Ich suche Gold.«
»Ist's die Möglichkeit! Sollten die Chinesigen uns Dukaten auf die Straße streuen? Oder wollen Sie einen Schatz heben?«
»Das Letztere.«
»So werde ich versuchen, meine Fagottoboe als Wünschelrute zu gebrauchen.«
»Du scherzest, mir aber ist es wirklich Ernst. Nämlich hier oben liegt das Vermögen unseres guten Ye-kin-li vergraben.«
»Hurrjerum! Und dat sagen Sie erst jetzt?«
»Aus welchem Grunde sollte ich es vorher ausposaunen? Richard habe ich es schon gestern gesagt, und nun weißt auch du es. Ich will aber nicht, daß es noch andere erfahren, auch die Söhne nicht, obgleich sie das größte Recht auf das Geld ihres Vaters haben. Man muß hier so vorsichtig wie möglich sein. Wir werden die Stelle noch vor Abend erreichen und im nächsten Ruhehause die Nacht zubringen.«
»Ah, also darum haben Sie für doppelten Proviant jesorgt!«
»Ja, darum. Da Ye-kin-li mir einen sehr genauen Plan mitgegeben hat, so werden wir die Stelle wohl finden, und ich hoffe, daß das Gold noch vorhanden ist.«
»Also ist es wirklich Jold?«
»Gold- und Silberbarren, wie sie heute noch in China kursieren.«
»Wieviel?«
»Eine ganze Menge. Nach deutschem Gelde wohl für über neunzigtausend Mark.«
»Alle juten Jeister! Ist dieser Ye-kin-li so reich gewesen?«
»Ja. Freilich hat er diesen Reichtum geheim gehalten, wie es hier gewöhnlich zu geschehen pflegt, da reiche Privat- oder Geschäftsleute von den Mandarinen so lange angezapft werden, bis sie nichts mehr haben. Kennst du das Gewicht solcher Barren?«
»Nein, denn ich habe noch niemals so viel Jold oder Silber in meine Uhrtasche jehabt, dat es mir zur Erde jezogen hätte. \Wieviel Löwen- oder Spatenbräu bekommt man dafür?«
»Solche Fragen kannst du dir ersparen, da wir uns nicht im ›Geldbriefträger von Ninive‹ befinden. Es wird wohl eine volle Ladung für ein Packpferd sein.«
»So wollte ich, es jinge unterwegs daran zu jrunde und setzte mir als Universalerben ein!«
»Da hätte ich ein Wörtchen mitzureden.«
»Ja, mit Ihnen ist überhaupt seit jestern nicht jut zu sprechen. Die beiden Brüder wollten sich so jern bei Ihnen erkundigen, auf welche Weise ihre Mutter und ihre Jeschwister jefunden werden können; aberst Sie haben sich so abweisend verhalten, dat sie jar nicht jewagt haben, die Rede darauf zu bringen.«
»Weil ich selbst noch keinen bestimmten Plan habe. Ich habe eifrig nachgedacht, ohne einen Weg zu finden. Was nützt da das Reden! Hauptsache ist für uns, den Onkel Daniel aufzusuchen. Haben wir Richard zu diesem gebracht, so können wir uns dann desto mehr der anderen Aufgabe widmen.«
Damit war das Gespräch abgebrochen.
Die Straße bewegte sich jetzt nur noch an der Seite schroffer, unbewachsener Höhen hin und führte dann durch einen engen, felsigen Paß, welcher die Länge von beinahe einer Stunde hatte. Wahrscheinlich begann jenseits desselben das Gebiet des Lai-kiäng, welcher seine Wasser durch den Heng-kiang in den Jang-tse-kiang ergießt.
Dann kam eine kahle Hochebene, auf welcher hie und da ein armer Grashalm zu sehen war, und die sich lang und schmal über einen zweiten Paß niedersenkte. Als dieser durchritten war, hielten sie vor einer Querschlucht von solcher Tiefe, daß man den Grund derselben nicht zu erblicken vermochte.
Die Wände fielen fast senkrecht in den dunklen Schlund. Es gab weder rechts noch links einen Ausweg. Nur geradeaus führte die Straße, quer über den riesigen Spalt hinüber, und zwar auf der Brücke, von welcher der Wirt des Sie-kia gesprochen hatte.
Es war wirklich eine Kettenbrücke im eigentlichsten Sinne des Wortes. Sechs starke, parallel laufende Eisenketten waren hüben und drüben fest in dem Gestein verankert. Sie trugen querliegende, hölzerne Bohlen, weiche die gefährliche Bahn bildeten.
Die Ketten hatten ihrer Schwere wegen nicht straff angezogen werden können. Sie hingen über der Mitte der Schlucht tief hernieder. Die Bohlen waren alt und ausgetreten. Infolge der Fäulnis waren Löcher und sonstige Zwischenräume entstanden, durch welche derjenige, der sich auf diese Brücke wagte, unter Grauen zu seinen Füßen in die Schwindel erregende Tiefe blicken konnte. Und was die Gefahr verdoppelte, das war der Umstand, daß die kühnen Erbauer dieser Brücke es nicht für nötig gehalten hatten, ein Geländer anzubringen.
Als der Methusalem sein Pferd anhielt und sich diese Passage mit besorgtem Blicke betrachtete, sagte Gottfried, indem er die Mütze auf dem Kopfe hin und her schob:
»Sollen wir etwa da hinüber?«
»Natürlich! Wie denn sonst, da ich noch nicht bemerkt habe, daß wir fliegen können!«
»So wollte ich, der Kerl stände da, der diese famose Jasse erfunden hat!«
»Warum?«
»Ich würde ihn auf saure Sahne mit Jurkensalat fordern. Da dies aberst leider nicht stattfinden kann, so will ich ihm nur jerne wünschen, dat seine ruchlose Seele hier mitternächtig spuken und von Zwölf bis Eins in, die Jeisterstunde immer über die Brücke hinüber- und herüberlaufen muß. Hat dieser Kerl etwa jedacht, dat wir Seiltänzer oder sonstige Jongleurs und Possenreißer sind!«
»Um Possen zu reißen, ist die Brücke wohl nicht da. Haben Sie Mut, lieber Turnerstick?«
Der Kapitän schob seinen Klemmer auf der Nase hin und her und antwortete:
»Ich bin auf manchen Mast geklettert, aber über eine solche Brücke noch nicht. Kommt ein halber Wind, so kentert man unbedingt zur Tiefe nieder. Was sagen Sie, Mijnheer?«
Anstatt, wie vermutet war, mit in die Klage einzustimmen, meinte der Gefragte:
»Ik bid, mij aftebinden – ich bitte, mich abzubinden.«
»Weshalb?« fragte Turnerstick, indem er ihm die Leine von den Füßen löste.
»Ik bin Mijnheer van Aardappelenbosch, een dapper Nederlander. Ik kan niet goed rijden, maar ik kan goed loopen. Ik word vooraan gaan – ich bin Mijnheer von Aardappelenbosch, ein tapferer Niederländer. Ich kann nicht gut reiten, aber ich kann gut laufen. Ich werde vorangehen.«
Er nahm, was keiner ihm zugetraut hätte, sein Pferd beim Zügel und führte es auf die Brücke. Die andern wollten folgen, aber der Methusalem verwehrte es ihnen:
»Halt, nicht zu viele! Es steht zu vermuten, daß sich die Brücke wie eine Schaukel bewegen wird. Ich gehe mit dem wackern Mijnheer. Zwei andere mögen uns erst dann folgen, wenn wir uns auf der Mitte befinden.«
Er nahm nicht nur sein Pferd, sondern auch dasjenige Richards mit, um dem ihm anvertrauten Jüngling den schweren Übergang möglichst zu erleichtern.
Die Brücke war ungefähr fünfzehn Fuß breit, was bei gewöhnlichen Verhältnissen gewiß genügt hätte. Aber bei einer Höhe, aus welcher das Auge nicht den Grund der Schlucht zu erreichen vermochte, bei einer Länge von vielleicht über hundertfünfzig Fuß und bei dem schlechten Zustande der Bohlen war diese Breite unbedeutend, zumal die Geländer fehlten.
Dennoch schritt der Mijnheer wacker voran. Sein Pferd folgte mit langsamen, vorsichtigen Schritten. Es schien diese Art der Passage gewohnt zu sein, denn es trat äußerst vorsichtig und – so zu sagen – probierend auf, um ja nicht mit einem Hufe durchzubrechen. Degenfeld ging mit seinen beiden Pferden eng hinterdrein.
So ruhig die Schritte der beiden Männer und der drei Tiere waren, die Brücke geriet doch in eine schaukelnde Bewegung, welche am stärksten wurde, als die Genannten sich gerade auf der Mitte befanden.
»Werden Sie nicht schwindelig, Mijnheer?« fragte der Methusalem um den Dicken besorgt.
»Neen,« antwortete dieser. »Ik weet, hoe men het maken moet – nein. Ich weiß, wie man es machen muß.«
»Nun, wie denn?«
»Ik sluit het eene oog en werp het tweede recht toe voor mij neder. Makt gij het ook zoo – ich mache das eine Auge zu und werfe das zweite gerade vor mich nieder. Machen Sie es auch so!«
Auf diese Weise konnte sein Blick nicht von der Brücke in die Tiefe fallen. Er hatte recht, und der Methusalem folgte seinem Beispiele. Sie kamen trotz des Wankens des schwindelnden Steges glücklich drüben an.
Als sie sich da umdrehten, sahen sie den Gottfried mit Richard in der Mitte. Turnerstick schickte sich soeben mit Jin-tsian an, die Brücke zu betreten. Liang-ssi schien sich mit dem Offiziere im Streite zu befinden. Er berichtete dann, als er jenseits anlangte, daß die Reiter eine ziemlich hohe Summe verlangt hätten, bei deren Verweigerung sie sich nicht auf die Brücke hatten wagen wollen. Er war der sehr begründeten Ansicht gewesen, daß diese für Fremde heikle Passage ihnen gar nichts Ungewöhnliches sei; darum hatte er ihnen ihr Verlangen abgeschlagen und sie auf die Folgen hingewiesen, welche das angedrohte treulose Verhalten für sie haben müsse.
Sie hielten eine ziemlich lange Beratung und kamen dann mit den Packtieren, welche frei folgten, im scharfen Trabe über die Brücke geritten, so daß diese in einer Weise schaukelte, daß man meinen mußte, die Reiter würden in die Tiefe geschleudert werden. Sie hatten diesen Weg gewiß schon viele Male gemacht.
Bei den Reisenden angekommen, machte der Offizier sein Verlangen abermals geltend, wurde aber von dem Methusalem abgewiesen, welcher ihm antwortete:
»Sobald wir am Ziele angelangt sind, werden Sie ein Komtscha erhalten, eher nicht, und auch dann nur in dem Falle, daß wir mit Ihnen zufrieden sind. Vergeßt ja nicht, in welchem Range wir stehen, und daß ihr gegen uns nur wie Mücken seid, welche ich mit einem einzigen Worte vernichten kann!«
Am Ende der Brücke öffnete sich abermals eine Schlucht, welche aber nur sehr kurz war; dann führte die Straße abwärts nach dem Walde, an dessen Eingange ein Ruhehaus stand, welches größer und auch freundlicher zu sein schien als die bisher gesehenen Einkehrstätten. Dort hielt Degenfeld an.
»Unser Tagemarsch ist beendet,« sagte er. »Wir werden hier übernachten.«
Sofort sprangen die Chinesen ab, griffen zu den mitgebrachten Effekten und Vorräten, trieben die Pferde nach dem hinter dem Hause liegenden Grasplatze und eilten in das Innere des Gebäudes.
Eine kurze Strecke jenseits des letzteren führte die Straße über eine kurze Steinbrücke, welche nur einen Bogen hatte, und ein schmales aber tiefes Thälchen überspannte. Dorthin deutend, sagte Degenfeld leise zu Gottfried:
»Nicht weit von jener Brücke, an der Seite der Bodensenkung und nicht ganz auf der Sohle derselben, wo ein kleines Wasser fließt, muß sich die Stelle befinden, an welcher wir zu suchen haben. Es ist jetzt wenig über vier Uhr, und erst nach acht Uhr wird es dunkel. Wir haben also noch vor Abend Zeit, nachzuforschen. Sobald ich mich entferne, kommt ihr einzeln nach; du kannst das Richard sagen. Ihr werdet mich unter dem großen Nadelbaum treffen, dessen Spitze du dort über die andern Wipfel emporragen siehst. Den andern sage ich, daß ich nach Pflanzen suchen will.«
Laute, zornige Rufe der Soldaten und der Klang einer bittenden Stimme veranlaßten ihn, sich in die Stube zu begeben. Dort bildeten die Kavalleristen einen Kreis, in welchem drei von ihnen einen Mann, den sie niedergerissen hatten, am Boden festhielten. Der Offizier hatte seinen Sarras gezogen und schlug mit der flachen Klinge auf den um Gnade Bittenden ein.
»Was geht hier vor?« fragte Degenfeld, indem er sich in den Kreis drängte. »Was hat euch dieser Mann gethan?«
»Sehen Sie nicht, hoher Herr, wer und was er ist?« antwortete der Leutnant. »Hat er nicht einen halben Mond auf seiner Jacke?«
Der Mißhandelte war nicht mehr jung, fast ein Greis. Seine Züge hatten das chinesische Gepräge, und sein Anzug war der gewöhnliche des Landes. Auf dem jackenähnlichen Stücke, welches er über dem langen, einer Toga gleichenden Unterkleide trug, war ein gelbes Stück Tuch, welches die Gestalt eines Halbmondes hatte, aufgenäht. Von Waffen sah man nichts an ihm. Zwei der Soldaten knieten noch immer auf seinen Armen und Beinen, während der dritte ihn am Zopfe niederhielt.
»Ich sehe dieses Zeichen,« antwortete der Methusalem. »Was hat es zu bedeuten?«
»Daß er ein Kuei-tse ist, den wir totschlagen müssen.«
»Was hat er euch gethan?«
»Uns? Nichts. Aber alle Kuei-tse müssen erschlagen werden.«
»Wer hat das befohlen?«
»Der Kaiser, welcher ein Sohn des Himmels und das Licht der Vernunft ist.«
»Könnt ihr das beweisen?«
»Beweisen?« fragte der Offizier sehr verwundert. »Alle Menschen, alle guten Unterthanen wissen es.«
»Nun gut! Hat der Sohn des Himmels die Macht, seinen Befehl zurückzunehmen?«
»Ja; wer soll ihn daran hindern? Er hat alle Macht.«
»Und wo er nicht persönlich sein kann, da erteilt er diese Macht seinen Gesandten. Mein Kuan ist der Beweis, daß ich ein solcher Beauftragter bin. Ich befehle euch, von diesem Manne abzulassen!«
Um diese Scene zu begreifen, muß man wissen, daß die Mohammedaner der Provinz Yun-nan gelegentlich des Aufstandes der Thai-ping den Versuch gemacht hatten, sich das Recht der freien Religionsübung zu erwerben. Sie wurden aber überfallen, wobei man über tausend von ihnen tötete. Infolgedessen traten sie einmütiglich zusammen, eroberten die Hauptstadt Jun-nan-fu und bildeten ein selbständiges Staatswesen, dessen die Regierung selbst heute noch nicht ganz wieder mächtig geworden ist. Sie nennen sich selbst Pan-tse, werden aber von den Gegnern Kuei-tse, Teufelssöhne, genannt.
Von allen Seiten bedrängt und bedrückt, unternehmen sie unter kühnen Anführern zuweilen in größerer oder kleinerer Anzahl Züge in die benachbarten Provinzen, um sich für das Erlittene schadlos zu halten. Eine solche Abteilung war es gewesen, von welcher der Obermandarin von Schao-tscheu zu dem Methusalem gesprochen hatte. Es war die Rede davon gewesen, daß man diese Leute jetzt in der Nachbarprovinz gesehen habe. Ob der hier am Boden liegende Mann zu ihnen gehörte, das war dem Studenten gleich. In seinen Augen war ein Kuei-tse ein ebenso berechtigter Mensch wie der Buddhist, und da der Arme den Soldaten nichts Böses gethan hatte, so nahm er ihn gegen dieselben in Schutz.
Das schien dem Offizier nicht zu passen. Er schüttelte vielmehr den Kopf und sagte:
»Sie sind ein hoher Herr, aber doch ein Fremder. Wir müssen Sie begleiten und beschützen, aber wenn es sich um einen Kuei-tse handelt, dürfen wir Ihnen nicht gehorchen.«
»Ah! Wirklich nicht?« fragte der Blaurote, indem seine Augen aufleuchteten.
»Nein. Dieser Sohn des Teufels ist in unsere Hände gefallen, und wir werden ihn töten.«
»Das verbiete ich,« donnerte Degenfeld ihn an. »Ihr werdet ihn augenblicklich frei lassen!«
»Nein! Wir werden – – –«
Er kam nicht weiter, denn er erhielt bei dem letzten Worte von dem Studenten eine so gewaltige Ohrfeige, daß er zu Boden flog. In demselben Augenblicke riß der Gottfried ihn wieder auf, hob ihn mit seinen langen Armen empor und warf ihn wie einen Ball unter die andern Soldaten hinein, daß diese auseinander flogen.
Ein dritter, nämlich Turnerstick, riß ihn da mit seinen Seemannsfäusten wieder auf, trug ihn in die Ecke, steifte ihn dort nieder und schrie ihn an:
»Hier, Starmatz, bleibst du sitzing! Und wenng du es wageng solltungst, dich zu rührang, so fresse ich dich mit Haut und Haaring auf! Master Methusalem, was heißt Soldat im Chinesischen?«
»Ping,« antwortete der Gefragte.
»Gut,« fuhr der Kapitän fort, indem er sich wieder an den Chinesen wandte. »Denkst du etwang, wir müssang Respekt vor dir habeng, weil du ein Ping bist? Da hast du sehr falsch kalkuliringt. Wenng du nur mit der Wimper zuckst, so reibe ich dich zu Parmesankäse und streue dich auf die Maccaronings, du Ping und Doppelping und Pong-pang-ping!«
Die Soldaten waren auseinander und zur Thür hinausgestoben. Der Mohammedaner hatte sich erhoben. Er näherte sich dem Methusalem, verbeugte sich tief vor demselben und sagte:
»Allah segne die Thaten Ihrer Hände und die Tapfen Ihrer Füße, hoher Gebieter. Sie haben mich errettet. Machen Sie das Maß Ihrer Gnade voll, indem Sie mir erlauben, mich zu entfernen!«
»Sind Sie denn sicher, daß Ihnen nicht unterwegs Ähnliches begegnet?«
»Ja. Ich kehrte in diesem Hause ein, um auszuruhen. Anstatt der Erquickung hätte ich fast den Tod gefunden. Sobald ich es verlassen habe, bin ich vor ferneren Nachstellungen sicher.«
»So gehen Sie und hüten Sie sich vor ähnlichen Begegnungen!«
Der Bekenner des Islam entfernte sich unter tiefen Verbeugungen. Die Soldaten sahen ihn nicht gehen, da sie sich hinter das Haus retiriert hatten, von wo sie erst dann zurückkehrten, nachdem Degenfeld ihnen durch Liang-ssi versichert hatte, daß ihnen nichts geschehen solle.
Der Offizier sah ein, daß er sich eines großen Verbrechens gegen den Kuan des Kaisers schuldig gemacht habe. Er kam förmlich herbeigekrochen, um sich Gnade zu erbitten, die ihm nach einer strengen Mahnung auch zugesagt wurde.
Nun sagte Degenfeld, daß er für kurze Zeit in den Wald gehen wolle, um zu sehen, ob ein botanischer Fund zu machen sei; die Gefährten sollten dafür sorgen, daß das Mahl zubereitet werde, und mit demselben bis zu seiner Rückkehr warten. Kurze Zeit, nachdem er sich entfernt hatte, ging der Gottfried ihm nach, welchem dann Richard folgte. Sie fanden ihn unter dem bezeichneten Baume. Er hielt ein Papier in den Händen, den Plan des Händlers Ye-kin-Ii, und schien mit demselben die Gegend aufmerksam zu vergleichen.
»Gut, daß ihr kommt, und ich also keine Zeit zu verlieren brauche,« sagte er. »Hier habe ich die Zeichnung unseres chinesischen Freundes, welche, wie ich sehe, sehr genau angefertigt worden ist. Sie ist freilich schon acht volle Jahre alt, stimmt aber ganz gut auf diesen Ort. Die kleine Veränderung, welche die Situation erlitten hat, ist auf den Einfluß dieser Zeit zurückzuführen und bezieht sich nur auf das Wachstum der Pflanzen. Als Hauptmarke ist ein großer, über tausend Jahre alter Ging-ko-Baum angegeben, bei dem fünf Keime zu einem einzigen Stamme verwachsen sind. Das ist der riesige Nadelbaum, unter welchem wir hier stehen und dessen Stamm einen Umfang von über neun Metern hat und sichtlich aus fünf einzelnen Stämmen zusammengesetzt ist. Daneben sind, genau im Westen von ihm stehend, zwei andere Bäume verzeichnet, nämlich ein Ti-mu, um welchen sich die Pflanze Lo windet, und ein wilder Sang; das alles ist, wie ihr sehen könnt, vorhanden, der Eisenbaum mit dem Epheu und auch der Maulbeerbaum. In der Richtung, in welcher diese Bäume stehen, also nach Westen, hat man vierzig Schritte zu gehen, um an die sogenannte Hoei-hoei-keu zu kommen, wo eine Ku-tsiang stehen soll, welche wir jetzt zu suchen haben, denn genau von ihr aus müssen wir gerade abwärts in das Thal steigen, um den Lao-hoei-hoei-miao zu finden, um welchen es sich handelt.«
Sie schritten die angegebene Entfernung in der betreffenden Richtung ab und gelangten an den Rand des Thales, über welchem in der Entfernung von vierhundert Schritten rechter Hand von ihnen die bereits erwähnte steinerne Bogenbrücke führte. Da, wo sie die Kante desselben erreichten, sahen sie mehrere halbverwitterte Mauersteine aus dem weichen Humusboden blicken. Das war der Mauerrest, von welchem aus sie abwärts stiegen.
Noch hatten sie die Sohle der Schlucht und den dort fließenden Bach nicht erreicht, so trafen sie auf ein altes, eigentümliches Gemäuer, welches so von Büschen und hohen Farnen umgeben wurde, daß man es von weitem gar nicht bemerken konnte. Die Mauer bildete einen Kreis, dessen Durchmesser nicht mehr als zehn Fuß betrug. Das Dach, welches man mit der Hand erreichen konnte, war, entgegen dem chinesischen Stile, von Steinen rund gewölbt, und der Eingang war so niedrig, daß man ihn nur in sehr gebückter Haltung passieren konnte. Das Gebäude hatte die halbkugelige Form einer Kaffern- oder Hottentottenhütte und konnte unmöglich ein mohammedanischer Tempel, d. h. eine Li-pai-sse, wie die Moscheen in China genannt werden, gewesen sein.
»Wir sind an Ort und Stelle,« sagte der Methusalem, »und wollen zunächst nach dem Tscha-dse suchen, welches Ye-kinfi hier vergraben hat. Ein Tscha-dse ist ein langes, starkes Messer, mit welchem man Häcksel schneidet. Aus einem solchen bestand die einzige Waffe, welche der Händler bei sich trug. Mit ihrer Hilfe konnte er die Grube machen, in welche er seine Barren versteckte, und um dieses Werkzeug später gleich an Ort und Stelle zu haben, verscharrte er es an einer Stelle, welche genau zehn Schritte von dieser Thür aus abwärts fiegt, und wo die Wurzel einer Lieu zu Tage tritt.«
Er schritt die Strecke ab und traf auf den Baum und die Wurzel, unter welcher er mit seinem Messer grub. Schon nach kurzer Zeit brachte er das Tscha-dse hervor, welches zwar stark angerostet, aber noch fest war.
Die beiden anderen hatten ihn bisher still, aber erwartungsvoll angehört und ihm zugesehen. Jetzt fragte Richard:
»Und wo soll denn der Schatz vergraben sein?«
»Dort im Gebäude. Ich vermute, daß dasselbe die Begräbnisstelle eines frommen Mohammedaners gewesen ist, also ein sogenannter Marabu, denn Ye-kin-li hat, um Platz für seine Barren zu finden, menschliche Gebeine, welche fast ganz verwest waren, ausgegraben und da unten in das Wasser geworfen. In dieser Gegend des Landes gibt es viele Bekenner des Islams und hat früher deren noch mehr gegeben. Kommt mit in das Mausoleum!«
Sie krochen hinein. Der Raum war so hoch, daß sie in demselben aufrecht stehen konnten, und der Boden mit dicht schließenden, behauenen Steinen belegt. Der Methusalem sah auf seinem Plane nach und sagte dann:
»Wir müssen die sechs Steine, welche zusammen ein Rechteck bilden, entfernen. Dann wird es sich zeigen, ob das Gold und Silber noch vorhanden ist, woran ich übrigens jetzt nicht mehr zweifle.«
Die Steine waren so genau gefügt, daß es ziemliche Anstrengung kostete, den ersten derselben herauszunehmen; als das dann geschehen war, konnte man die anderen fünf ohne Mühe entfernen. Die Unterlage bestand aus fester Erde, welche der Methusalem aufgrub.
Es war den dreien dabei wirklich wie Schatzgräbern zu Mute. Sie fühlten eine Art fieberhafter Aufregung, welche desto mehr wuchs, je tiefer das Häckselmesser in den Boden drang. Endlich, endlich zeigten sich zwei Gegenstände, welche nicht in die Erde gehörten, nämlich zwei lederne Säcke, welche lackiert waren. Nur diesem letzteren Umstande war es zu verdanken, daß sie sich noch in gutem Zustande befanden.
Der Methusalem hob den einen heraus, was einiger Kraftanstrengung bedurfte, und öffnete ihn. Da glänzten ihnen die kleinen, länglichen Barren goldig entgegen. Sie waren alle mit dem obrigkeitlichen Stempel versehen, als Beweis, daß die Legierung die gesetzlich vorgeschriebene sei.
»Gott sei Dank!« sagte Degenfeld, indem er tief aufatmete. »Dieser Teil unserer Aufgabe wäre also glücklich gelöst.«
»Das freut mich außerordentlich!« fügte Richard hinzu. »Ye-kin-li hat nur ein sehr geringes Anlagekapital gehabt; nun werden ihm die Barren sehr zu gute kommen.«
»Dat glaube ich, dat sie zu jute kommen!« meinte Gottfried. »Mich, wenn ich sie hätte, kämen sie auch zu statten. Ich würde schleunigst meine Oboe und mir selbst verjolden lassen und den Rest sodann in Zacherlbräu und sauren Heringen anlegen. So aber muß ich mir ohne Verjoldung weiter durch mein frugales Dasein schleichen. Wat soll nun jeschehen? Hucken wir die Säcke auf, um sie nach dat Ruhehaus zu bringen?«
»Nein,« antwortete der Methusalem. »Wir lassen sie hier liegen.«
»Liegen lassen? Sind Sie bei Troste? Dat würde nicht 'mal ein Spitzbube thun, ich noch viel weniger!«
»Und doch können wir nicht anders. Wir haben uns überzeugt, daß die Barren da sind. Das genügt. Mitschleppen aber können wir sie nicht, da wir nicht wissen, welchen Wechselfällen wir noch unterworfen werden. Wir verbergen sie hier wieder und richten es später so ein, daß uns der Rückweg hier vorüberführt. Dann nehmen wir die beiden Säcke mit.«
Die beiden andern waren nicht sofort einverstanden, mußten aber doch die Triftigkeit seiner Gründe anerkennen. Der Sack wurde wieder in die Grube gelegt und mit der ausgeworfenen Erde bedeckt, welche man mit den Füßen fest stampfte, um dann die Steine wieder einzufügen. Das geschah so genau, und der kleine Rest übrig gebliebener Erde wurde so sorgfältig entfernt und verwischt, daß kein andrer das Vorhandensein des Verstecks ahnen konnte.
Nun verließen sie das Gebäude, um auch das Häckselmesser wieder zu vergraben. Noch war der Methusalem damit beschäftigt, da ertönte plötzlich hart bei ihnen eine befehlende Stimme aus dem Gebüsch:
»Ta kik hia – schlagt sie nieder!«
Und zu gleicher Zeit drangen wohl gegen zehn bewaffnete Männer auf die drei ein. Ihre Armierung war keine sehr furchterweckende, alte Säbel, einige noch ältere Flinten und Piken; einer schwang eine Keule.
Der Methusalem hatte sich, als der Ruf erscholl, blitzschnell aufgerichtet. Er faßte die Gefährten bei den Armen und riß sie, um Raum zu gewinnen und den dicken Stamm der Weide zwischen sich und die Angreifer zu bringen, mehrere Schritte zurück. Ebenso schnell zog er seine beiden Revolver hervor und richtete sie auf die Feinde, welchem Beispiele Gottfried und Richard augenblicklich folgten. Die Chinesen stutzten und blieben stehen. Einem von ihnen, welcher sein Gewehr zum Schusse anlegte, rief Degenfeld drohend zu:
»Weg mit der Flinte, sonst trifft meine Kugel dich eher, als mich die deine! Was haben wir euch gethan, daß ihr uns in dieser Weise überfallt?«
Der Angeredete, welcher der Anführer zu sein schien, mochte seinem Schießholze kein großes Vertrauen schenken; er senkte den Lauf und antwortete mit finsterer Miene:
»Ihr entheiligt unser Ma-la-bu? Was habt ihr hier zu graben?«
Also war, wie Degenfeld vermutet hatte, das Gebäude wirklich ein Marabu, das Grab eines durch seine Frömmigkeit ausgezeichneten Mohammedaners. Da dem Chinesen das r nicht geläufig war, verwandelte er es in das leichtere 1, also Ma-la-bu.
»Seid ihr Hoei-hoei?« erkundigte sich der Student.
»Ja.«
»So habt ihr keine Veranlassung, uns feindselig zu behandeln. Wir achten euren Glauben und ehren Mohammed als euren Propheten.«
»Und doch grabt ihr diese heilige Erde auf!«
»Nicht um sie zu entweihen. Wir gingen in den Wald, um nach den Vorschriften der Yithung Pflanzen zu suchen. Da sahen wir hier den Griff dieses Messers aus dem Boden ragen. Wir zogen es heraus, um es zu betrachten, und eben stand ich im Begriff, es wieder an seine Stelle zu legen, als ihr erschient. Nun sagt, ob wir eine Sünde begangen haben!«
»Zeige das Messer!«
Er nahm es in Empfang, betrachtete es prüfend, untersuchte dann die aufgegrabene Stelle und sagte, als er nichts fand:
»Das ist ein ganz gewöhnliches Tscha-dse, welches jedenfalls ein Arbeiter hier versteckt hat, um es später, wenn er es braucht, zu finden. Ich dachte, ihr wolltet nach einem Paongan suchen, welcher bei einem armen Ma-la-bu unmöglich vorhanden sein kann. Die Buddha-min sind alberne Menschen, welche unsere Gebräuche und heiligen Orte nicht achten.«
»Wir gehören nicht zu ihnen.«
»Nicht? Was seid ihr denn?«
»Wir sind Tien-schu-kiao-min.«
»Wenn das wahr ist, so sind wir Freunde, denn wir und die Christen verehren einen wirklichen Gott, dessen Propheten Mohammed und I-sus (jesus) waren. Aus eurem Glauben schließe ich und an eurer Kleidung erkenne ich, daß ihr aus einem fernen Lande kommt. Habt ihr denn einen Paß bei euch?«
»Ja, ich habe einen großen, besondern Kuan des erhabenen Herrschers.«
Wie unvorsichtig diese Mitteilung war, sollte Degenfeld sofort erkennen, denn der Chinese sagte:
»So hast du mich betrogen, denn einen solchen Kuan bekommt nur ein Chinese. Ich werde das streng untersuchen, und ihr habt uns jetzt zu folgen.«
»Als Gefangene etwa?«
»Ja. Eine Gegenwehr würde nur zu eurem Schaden sein, denn bückt einmal hinauf nach der Brücke!«
Erst jetzt bemerkten die drei Gefährten, daß oben eine Schar von wohl fünfzig Reitern hielt. Diese konnten von ihrem hohen Standpunkte aus die Scene überblicken. Dennoch antwortete der Student:
»Wir fürchten uns gar nicht vor euch, denn wir haben in diesen kleinen Waffen so viele Kugeln, daß wir euch alle töten können. Aber da wir euch die Wahrheit gesagt haben, so ist für uns nichts zu besorgen. Wir gehen also mit.«
»So kommt zum Einkehrhause! Aber versucht ja nicht, uns zu entfliehen; es würde euch nicht gelingen.«
Er wendete sich nach der Brücke und gab mit dem erhobenen Arme ein Zeichen, auf welches seine Reiter sich nach dem Hause hin in Bewegung setzten. Die drei wurden in die Mitte genommen. Während man an der Seite des Thales emporstieg, sagte der Anführer:
»Es sind Soldaten in dem Hause, welche einen meiner Leute töten wollten. Er ist ihnen entkommen und hat uns, die wir in der Nähe lagen, herbeigeholt, damit sie bestraft werden.«
»Hat er erzählt, auf welche Weise er der Gefahr entrann?« fragte der Methusalem.
»Ja. Ein seltsam gekleideter Mandarin hat ihn in Schutz genommen.«
»Kein Mandarin, ich selbst war es.«
»Du? Wenn es sich zeigt, daß dies wahr ist, so ist es gut für dich.«
Man hatte die Höhe erreicht und konnte nun zwischen den Bäumen hindurch das Einkehrhaus an der Straße liegen sehen. Vor demselben standen einige Soldaten. Sie sahen die Reiter kommen und eilten augenblicklich hinter das Haus, indem sie riefen:
»Kuei-tse lai, kuei-tse lai. Suk tschu-kiü ni-men – Kuei-tse kommen, kuei-tse kommen. Reißt schnell aus!«
Die andern kamen aus dem Hause gerannt und liefen auch in höchster Eile hinter das Haus nach ihren Pferden. Im nächsten Augenblicke sah man sie im Galopp fliehen, und zwar nach der Richtung, aus welcher sie, die tapferen Beschützer, mit ihren Schützlingen vorher gekommen waren.
»Da jeben unsere Helden Fersenjeld,« sagte der Gottfried. »Wer weiß, ob wir ihnen jemals wiedersehen!«
»Wohl schwerlich,« meinte Degenfeld. »Ein Glück, daß sie unsere Pferde und die Packtiere nicht mitgenommen haben!«
»Dazu haben sie sich nicht die Zeit jegönnt. Ich wünsche ihnen Jesundheit und ein langes Leben, uns aberst einen Ausweg aus die Tinte, in welche wir jeraten sind.«
Die Mehrzahl der mohammedanischen Reiter war den Soldaten nachgaloppiert. Die übrigen hielten auf der Straße, um den Anführer zu erwarten. Unter ihnen befand sich derjenige, den Degenfeld in Schutz genommen hatte. Als er den letzteren erkannte, drängte er sein Pferd herbei und sagte:
»Sind diese drei Herren gefangen? Sie sind meine Wohlthäter, denn sie haben mich vom Tode errettet.«
»So haben sie mich also nicht betrogen,« antwortete der Kommandierende. »Es gilt nun, zu untersuchen, ob sie wirklich Christen sind, was ich nicht glaube, da sie einen besonderen Kuan des Kaisers besitzen.«
Die auf der Straße haltenden Reiter waren in gleicher Weise bewaffnet wie ihre Gefährten, deren Pferde sie am Zügel führten. Sie stiegen ab.
Turnerstick, der Mijnheer und die beiden Brüder waren aus dem Hause getreten.
»Was soll das heißen?« rief der erstere dem Studenten entgegen. »Das sieht ja ganz so aus, als ob Sie gefangen seien!«
»Es ist auch so,« antwortete der Genannte.
»So hauen wir Sie heraus!«
»Nein. Die Sache wird sich friedlich lösen. Kommt nur mit herein!«
Man band die Pferde vor dem Hause an und begab sich in die Stube, deren Besitzer sich aus Angst vor den »Teufelssöhnen« nicht sehen ließ. Dort mußte der von Methusalem in Schutz Genommene erzählen, wie er von den Soldaten überfallen worden war, und in welcher Weise sich der Retter seiner angenommen hatte. Das Gesicht des Anführers wurde dabei immer freundlicher. Er musterte die Fremden mit prüfendem Blicke und fragte dann:
»Aus welchem Lande seid ihr denn nach der Mitte der Erde gekommen?«
»Aus dem Lande der Tao-tse-kue,« antwortete Degenfeld.
»Ist das wahr? Ich kenne einen Tao-tse-kue, welcher sehr reich und uns freundlich gesinnt ist. Er hat die Unserigen, welche vertrieben wurden und sich in Not und Gefahr befanden, oft unterstützt.«
»Wie heißt dieser Mann?«
»Er nennt sich hierzulande kurzweg Schi hat aber in seiner Heimat Sei-tei-nel geheißen.«
»Ah! Er ist der Besitzer eines Ho-tsing?«
»O, mehrerer Ho-tsing. Es gehört ihm eine Gegend, in welcher eine Flüssigkeit aus der Erde dringt, welche Schi-yeu genannt wird und in Lampen gebrannt werden kann.«
»Er wohnt in Ho-tsiang-ting?«
»Ja. So hat er den Ort, aus welchem eine Stadt geworden ist, genannt, der Ho-tsing wegen, welche dort zu Tage treten. Kennst du ihn?«
»Jawohl. Dieser mein Gefährte, welcher Liang-ssi heißt, ist bei ihm angestellt.«
»Den Namen Liang-ssi kenne ich, denn er wurde mir von Genossen, welche dort Wohlthat empfingen, rühmend genannt.«
»Und dieser Jüngling ist der Bruderssohn von Sei-tei-nei, der ihm geschrieben hat, daß er zu ihm kommen soll.«
»Das stimmt, denn ich weiß, daß er keinen Sohn hat und in sein Land nach einem Sohn des Bruders geschrieben hat. So wollt ihr zu ihm?«
»Ja.«
»Dann möchten wir euch gern als gute Freunde betrachten, wenn nur der Kuan nicht wäre, von dem du gesprochen hast. Der Kaiser von Tschin ist unser Unterdrücker, und wen er liebt, den müssen wir hassen.«
Degenfeld beeilte sich, den Fehler, welchen er begangen hatte, wieder gut zu machen, indem er erklärte:
»Ich habe mich vielleicht nicht richtig ausgedrückt, da ich der hiesigen Sprache nicht vollständig mächtig bin. Ich wollte nicht Kaiser, sondern König sagen. Hier ist der Kuan.«
Er zog anstatt des kaiserlichen Passes den Kuan des Bettlerkönigs hervor und gab denselben hin. Als der Mohammedaner einen Blick darauf geworfen hatte, rief er überrascht aus:
»Ein T'eu-kuan! Das ist ja etwas ganz anderes! Der Teu ist unser bester Freund und Beschützer, und sein Paß wird bei uns heilig gehalten. Aber, da du« – – – er stockte verlegen und fuhr dann, sich tief verneigend, fort: »Da Sie diesen so seltsamen Kuan von ihm besitzen, so müssen Sie ein sehr hervorragender und hoher Gebieter sein und ihm große Dienste geleistet haben. Betrachten Sie uns als Ihre Sklaven und befehlen Sie, was wir für Sie thun sollen.«
»Ich befehle nichts,« antwortete Degenfeld nun auch in höflicherem Tone als vorher. »Es freut uns, Sie als Freunde von Sei-tei-nei kennen zu lernen, und ich bitte Sie nur um das eine, mir zu sagen, ob ich ihm vielleicht eine Botschaft von Ihnen überbringen kann.«
»Ich danke dem erlauchten Fremdling! Von einem so hohen Erretter kann ich das nicht verlangen. Also sind Sie unser nicht bedürftig?«
»Nein.«
»Sie kennen den Weg von hier nach Ho-tsing-ting?«
»Liang-ssi muß ihn kennen.«
»So gestatten Sie uns, unsern Ritt fortzusetzen, dessen Ziel ich freilich nicht gern sagen würde?«
»Ich habe kein Recht, nach demselben zu fragen. Reiten Sie in Allahs Namen!«
»So werden wir sofort aufbrechen und sagen Ihnen unsern geringfügigen Dank. Ich hatte den, welchen Sie erretteten, vorausgesandt, um zu erfahren, ob der Weg für uns und unsere Zwecke frei sei. Dabei wollte ich dem Ma-la-bu einen ehrfurchtsvollen Besuch abstatten und war so verblendet, Sie dort für Feinde und Schänder des Heiligtums zu halten. Ihre beglückende Gnade wird mir das verzeihen. Die Soldaten, welche Ihre Reise verunzierten, sind entflohen und werden nicht wiederkehren. An ihrer Stelle mag Ihr Erretteter bei Ihnen bleiben und Sie bis an das Ziel begleiten. Seine Anwesenheit wird Ihnen, falls Ihnen streitfertige Genossen von uns begegnen, mehr nützen als ein ganzes Heer von feigen Soldaten.«
Degenfeld nahm dieses Anerbieten natürlich dankbar an, dann entfernten sich die zu Freunden gewordenen Feinde unter wiederholten Verbeugungen und ritten davon. Ob die Kuei-tse, welche übrigens chinesischer Abkunft waren und sich auch chinesisch kleideten, die flüchtigen Soldaten ereilten, das war nun freilich nicht zu erfahren.
Als sie sich entfernt hatten, ließ der Wirt sich sehen, um demütig nach den Befehlen der Herren zu fragen. Es gab für ihn nicht viel zu thun, da der Mohammedaner die Bedienung übernahm, und alles Nötige, was die Soldaten nun allerdings im Stiche gelassen hatten, mitgebracht worden war. Nur für kochendes Theewasser hatte der Wirt zu sorgen.
Während des Essens fragte der Student den neuen Begleiter nach den Verhältnissen der Kuei-tse und seinen eigenen aus. Er erfuhr, daß derselbe vorher ein Bekenner der Lehre des Kung-fu-tse gewesen und später aus Zorn über Bedrückung seiner Familie zu den Hoei-hoei übergetreten sei. Er stammte aus der Provinz Kwei-tschou, war dann nach Hunan gezogen, hatte von dort flüchten müssen und war vor einigen Monaten unter dem Schutze seiner Glaubensgefährten und der gegenwärtigen Verhältnisse wieder zurückgekehrt. Er gab an, in einem Dorfe zwischen Kun-jang und Kue-tong zu wohnen.
»Das ist ja ganz in der Nähe unseres Reisezieles,« sagte Liang-ssi.
»Allerdings. Sie werden durch mein Dorf reiten müssen und dann nach rechts in ein Seitenthal des Lai-kiang biegen, wo die Steinölquellen entspringen und Sei-tei-nei wohnt. Ich war vor kurzer Zeit bei ihm. Steht nicht auch ein Tao-tse-kue in seinem Dienste?«
»Nein. Der, den Sie meinen, stammt aus einem Lande, welches Belgien heißt.«
Der Mijnheer verstand nicht chinesisch; das Wort Belgien aber hörte er sofort heraus. Er fragte gleich, wovon die Rede sei, und als er erfuhr, daß der Onkel Daniel einen Ölingenieur, welcher ein geborener Belgier sei, aus den Vereinigten Staaten habe kommen lassen, um ihm die technische Leitung seines Etablissements anzuvertrauen, rief er aus:
»Dat is goed! Dat verheugd mi bij uitnemendheid! Ik bid, spreekt hij ook nederlandsch – das ist gut! Das freut mich ausnehmend! Ich bitte, spricht er auch niederländisch?«
»Ja, er spricht französisch, deutsch, englisch und auch niederländisch.«
»Heiza, zoo moeten wij maken, dat wij henkomen en dat ik met hem spreken kan – juchhe, so müssen wir machen, daß wir hinkommen, und daß ich mit ihm reden kann!«
Nach dem Essen rauchte man noch ein Viertelstündchen, und dann wurde aus den vorhandenen Decken, Tüchern und dem Heu, welches der Wirt lieferte, das Lager bereitet. Als die Pferde versorgt und angebunden waren, legte man sich zur Ruhe. Liang-ssi meinte, daß es hier in den Bergen wilde Hunde gebe, gegen welche man die Pferde eigentlich schützen müsse, doch der Methusalem beruhigte ihn durch die Versicherung:
»Machen Sie sich keine Sorge! Hören Sie, welchen Lärm der Mijnheer macht? Da wagt sich bis auf tausend Schritte im Umkreise sicherlich kein wildes Tier heran.«
Und er hatte nicht unrecht. Der Dicke schnarchte, daß man meinte, das Dach wackeln zu hören. Was der gute Mann einmal that, das that er ordentlich.
Am andern Morgen wurde zeitig aufgebrochen, nachdem der Wirt eine so reichliche Bezahlung erhalten hatte, daß sein Gesicht vor Entzücken glänzte. Der Mijnheer wurde wieder auf das Roß gebunden, und der Hoei-hoei nahm sich der Packpferde an.
Es ging jenseits des Gebirges hinab, was viel leichter war als der Aufstieg während der beiden letzten Tage. Die Scenerie war, doch nun in umgekehrter Reihenfolge, ganz dieselbe.
Der Methusalem hielt sich vorzugsweise zu dem Mohammedaner. Bei Gelegenheit fragte er ihn, ob er Kinder habe, und erhielt die Antwort:
»Nein, denn ich habe mir kein Weib genommen. Dennoch besitze ich Familie, denn es wohnt eine Verwandte mit ihren beiden Töchtern bei mir, welche mich vergessen lassen, daß ich kinderlos bin. Der Mann dieser Frau mußte fliehen, weil er ganz unschuldigerweise der Teilnahme am Aufruhr angeklagt war.«
»Solche Fälle scheinen in China sehr häufig vorzukommen.«
»Leider, Herr. Wer bei einer solchen Gelegenheit auf der Straße betroffen wird, den ergreift und verurteilt man, ohne die wirkliche Schuld oder Unschuld zu untersuchen. Und die Verwandten nächsten Grades müssen dieselbe Strafe erleiden.«
»Fand dies auch in dem diese drei Frauen betreffenden Falle statt?«
»Ja. Der Mann war gewiß unschuldig; aber nicht nur er, sondern auch sein Weib und seine Kinder wurden gefangen genommen. Es waren zwei Söhne und zwei Töchter.«
Diese letzte Bemerkung erregte die Aufmerksamkeit des Methusalem. Er erkundigte sich:
»Hat eine dieser Personen die Todesstrafe erlitten?«
»Nein. Der Mann hatte einen Freund, einen Mandarin, der sich der Armen heimlich annahm. Dieser ließ erst den Vater entkommen und später im Zwischenraume von einigen Tagen, da es nicht anders möglich war, auch die beiden Söhne. Diese letzteren sollten an einem bestimmten Orte dann auf ihre Mutter und ihre Schwestern warten.«
»Vereinigten sie sich glücklich mit ihnen?«
»Leider nicht. Der Mandarin stieß auf Hindernisse, und die Knaben konnten unmöglich länger warten. Sie sind also fort und spurlos verschollen. Als später die Mutter mit ihren Töchtern befreit wurde und den festbestimmten Ort aufsuchte, kam sie zu spät. Die Söhne waren fort, und sie hat nie wieder etwas von ihnen vernommen.«
»Was hat sie dann begonnen?«
»Sie mußte natürlich die Provinz verlassen, da sie dort gewiß ergriffen worden wäre, und zog als Bittende in der Fremde von Ort zu Ort. So kam sie mit den beiden Mädchen auch zu mir. Ich fragte nach ihrem Namen und Herkommen. Ihr Stamm- und ihr Geschlechtsname stimmte mit denen meiner Familie; ich erkundigte mich weiter und erfuhr, daß ihr Vater ein Vetter des meinigen gewesen sei. Ich hatte weder Weib noch Kind und nahm alle drei bei mir auf. Kurz nach dieser Zeit mußte ich Hu-nan verlassen und zog in die Provinz Yu-nan, von wo ich erst seit kurzem zurückgekehrt bin.«
»Und die drei Personen sind mit zurückgekehrt und wohnen bei Ihnen?«
»Ja.«
»Hat man denn auch von dem Mann nichts vernommen?«
»Nie. Er ist gewiß zu Grunde gegangen.«
Die Spannung des Methusalem war immer höher und höher gestiegen. Jetzt wußte er sich seiner Sache so gewiß, daß er direkt fragte:
»Ihr Stammname ist Seng-ho?«
»Ja.«
»Und Ihr Geschlechtsname Pang?«
Der Chinese sah erstaunt zu ihm auf und antwortete:
»Ja, Herr. Wie kommt es, daß Sie als Fremder diese Namen wissen?«
»Ich glaube, von diesem Falle vernommen zu haben. War der Mann nicht ein Kaufmann Namens Ye-kin-li?«
»So ist es.«
»Seine Frau hieß Hao-keu?«
»So heißt sie noch. Sie hat ihren Namen nicht verändert, obgleich dies die Nachforschung nach ihr, der Flüchtigen, erleichterte.«
»Hießen die Söhne nicht Liang-ssi und Jin-tsian?«
»Herr, Sie wissen ja alles, alles!«
»Und die Töchter Méi-pao und Sim-ming?«
Jetzt machte der Mann ein Gesicht, als ob er das größte Wunder vor sich sehe.
»Hoher Gebieter,« sagte er, »ich weiß wirklich nicht, wie ich es mir erklären soll, daß Sie als Fremdling alle diese Namen so genau kennen!«
»Sie brauchen sich nicht anzustrengen, es zu erraten; ich werde es Ihnen später mitteilen. Indem ich Sie nach diesen Verhältnissen und Namen fragte, hatte ich eine gewisse Absicht, von welcher jetzt noch nichts verlauten soll. Ich ersuche Sie infolgedessen, gegen keinen meiner Gefährten etwas von dem, was wir gesprochen haben, zu erwähnen. Es ist niemals gut, von vergangenen, unangenehmen Dingen zu sprechen.«
Dies schien den Chinesen, welcher wohl eine Erklärung erwartet hatte, nicht zu befriedigen; er wagte aber nicht, dem Gespräche eine Fortsetzung zu geben. Welche Freude aber empfand der brave Methusalem, die Gesuchten nun endlich, und zwar so ganz unerwartet, ohne alle Anstrengung, ohne sein Zuthun gefunden zu haben. Das war auch schon bei den beiden Söhnen des Händlers der Fall gewesen; er mußte es für Gottes Schickung nehmen.
Es stand bei ihm fest, daß der Mohammedaner den eigentlichen Stand der Sache nicht erraten werde, so lange er verhindert wurde, mit den beiden Brüdern über diesen Gegenstand zu sprechen, was ja nicht schwer erreicht werden konnte. Vielleicht wußte er bereits, daß der eine dieser Brüder Liang-ssi hieß, da dieser Name öfters genannt worden war; da aber dieser letztere in China sehr häufig ist, so brauchte nicht gerade gefolgert zu werden, daß der Träger desselben der verschwundene Liang-ssi sei.
Eigentlich trieb es den Methusalem innerlich, den Brüdern schleunigst mitzuteilen, daß ihre Mutter und ihre Schwestern am Leben und gefunden seien; aber er freute sich auf die außerordentlich freudige Überraschung, wenn die Verwandten sich gegenseitig erkannten, ohne vorher etwas davon geahnt zu haben. Daher war er entschlossen, seine Entdeckung einstweilen noch geheim zu halten, da es sich ja nur um höchstens zwei Tage handelte, welche Zeit man bedurfte, um die angegebene Gegend zu erreichen.
Er kannte die Namen der Familienglieder, weil Ye-kin-li sie ihm mitgeteilt hatte. Die Bedeutung derselben war folgende: Die Mutter Hao-keu = lieblicher Mund; die Söhne Liang-ssi = gutes Geschäft, und Jin-tsian = Güte des Himmels; die Schwestern Méi-pao = schöne Gestalt, und Sim-ming = Herzenslicht. Es ergibt sich daraus, in welcher Weise die chinesischen Eltern ihre Kinder benennen.
Kurz nach Mittag wurde die Stadt Kue-jang erreicht, durch welche man ritt, ohne sich aufzuhalten, da man kein Bedürfnis dazu hatte. Zwei Stunden später gelangten die Reisenden an den Fluß Lai-kiang, dessen Lauf sie aufwärts folgten, um dann die Nacht in einem an der am Ufer hinführenden Straße liegenden Einkehrhause zu verbringen. Am andern Morgen wurde die angegebene Richtung weiter verfolgt.
Dieser Fluß kommt von einem schmalen, langgestreckten Höhenzuge, welcher vom Nan-ling-Gebirge ausläuft und sich bis nach der Stadt Kin-gan erstreckt. An seinem rechten Ufer steigt das Land als schiefe Ebene nach diesem Höhenzuge empor, während das linke durch eine Bergkette von einem östlich liegenden weiten und fruchtbaren Becken getrennt wird, in welchem europäische Kenner unbedingt nach Kohle graben würden. Dieses Becken ist mit dem Flusse durch Querthäler verbunden, welche die erwähnte Bergkette durchbrechen. Es wird von dem Flüßchen Dschang durchströmt, an welchem der Wohnort des Onkels Daniel hegen sollte.
Daß in einem kohlenreichen Becken Petroleum gefunden wurde, war leicht erklärlich. Übrigens ist die Meinung, daß man in China dieses Produkt gar nicht kenne, eine irrige, denn schon in einem Jahrhunderte alten chinesischen geographischen Werke, dem unseren Gelehrten noch wenig bekannten Schen-si-king, lautet eine Stelle: »In dieser Provinz liegt die Stadt Yen-gan-fu, wo ein dunkles, übelriechendes Öl aus der Erde fließt, welches man in Lampen und Laternen brennt, da es ein besseres und billigeres Licht als dasjenige der Talgkerzen und gewöhnlichen Öllampen gibt.«
Kurz nach dem Mittage dieses zweiten Tages sah man ein kleines Dörfchen am Ufer des Flusses liegen, und der Hoei-hoei erklärte, daß dieses sein gegenwärtiger Wohnsitz sei, wo sich mit ihm noch mehrere Mohammedaner niedergelassen hätten.
Daß hier der Islam eine Stätte gefunden habe, wenn auch nur eine kleine, konnte man aus dem schlanken, hölzernen Türmchen ersehen, welches die Baumwipfel der Gärten überragte. Es war das Minareh der Li-pai-sse, welche die Bekenner der Lehren Mohammeds sich hier errichtet hatten.
Der Methusalem hatte sich seit gestern früh alle Mühe gegeben, ein längeres Gespräch des Hoei-hoei mit den Brüdern zu verhindern. Diese letzteren hatten also nicht die Spur einer Ahnung, daß sie hier ihre Mutter und Geschwister finden würden.
Links von der Straße lag der Fluß, welcher sich hier seeartig erweiterte. Auf dem Wasser hielten Kähne mit Leuten, welche Fische fingen, wozu sie sich aber nicht der Angeln oder Netze, sondern der bekannten Vögel bedienten, welche Tschu-tsche oder Wasserraben heißen.
Rechts zogen sich die kleinen Häuser und hinter denselben die Gärten längs der Straße hin. Die Fensterhöhlen waren entweder ganz leer, oder sie hatten an Stelle der Glasscheiben jenes starke, sehr durchscheinende Papier, welches in bester Qualität aus Korea bezogen wird. Dennoch hatte das Dorf den Anschein ungewöhnlicher Wohlhabenheit. Die Sauberkeit desselben machte einen sehr guten Eindruck.
Damit stimmte freilich der an Kienöl erinnernde Geruch nicht überein, welcher sich bemerkbar machte. Er kam von mehreren dunklen, fettigen Kähnen, welche am Ufer lagen und mit ebenso dunklen Fässern beladen waren. Das waren Petroleumfässer, welche von hier aus in kleinen Booten nach King-gan oder Tschang-scha gingen, um von dort aus auf größeren Flußdschunken den Jang-tse-kiang hinabtransportiert zu werden. Dieser Petroleumgeruch war das erste Anzeichen, daß man sich dem Ziele der Reise, der Niederlassung des Onkels Daniel, genähert habe.
Der Hoei-hoei entschuldigte sich, daß er die Herrschaften nicht einladen könne, die Nacht bei ihm zu verbringen. Sein Häuschen war für so viele Gäste zu klein. Doch versicherte er ihnen, daß sie in dem hiesigen Einkehrhause sehr gut logieren würden, da es genug Raum besitze und die Familie des Wirtes eine ungemein aufmerksame und reinliche sei.
Aber das Mahl bei ihm einzunehmen, bat er, ihm ja nicht abzuschlagen. Man möge ihm nur ein kleines Stündchen Zeit gewähren, das dazu Nötige vorzubereiten. Es wurde ihm bereitwilligst zugesagt. Er brachte die Reisenden nach dem Sië-kia, worauf er sich nach seiner Wohnung begab.
Sehr erklärlich waren auch hier die Bewohner zusammengelaufen, um die Fremden anzustaunen. Es war fast unerklärlich, daß in so wenigen Augenblicken, welche man brauchte, vom Anfange bis in die Mitte des Dorfes zu kommen, sich so viele Menschen versammeln konnten. Selbst die Fischer kamen an das Ufer gerudert, um sich vor dem Ruhehause aufzustellen.
Dieses letztere war wirklich weit sauberer gehalten als diejenigen, in die man bisher eingekehrt war. Der Wirt kam aus der Thür und hieß die Gäste unter fortgesetzten tiefen Verbeugungen willkommen. Er rief einige Schi-tse herbei, welche die Pferde versorgen sollten, und führte dann die Ankömmlinge in ein Gemach, welches augenscheinlich nur für bessere Gäste bestimmt war. Dann entfernte er sich, um sofort den Tscha des Willkommens zu besorgen. Liang-ssi, den er kannte, begleitete ihn, jedenfalls um ihm zu sagen, was für hohe Leute er bei sich habe, und ihn aufzufordern, dieselben mit größter Hochachtung zu behandeln.
Der Mijnheer ging, anstatt sich müde zu zeigen und zu setzen, in der Stube auf und ab, reckte und streckte sich und fragte:
»Hoe is het, Mijnheer Methusalem? Kan ik niet goed rijden – wie ist es, Herr Methusalem? Kann ich nicht gut reiten?«
»Allerdings,« nickte der Gefragte. »Sie haben sich schneller eingerichtet, als ich dachte.«
»Ja, het rijden is zeer goed voor den lichaam. Ben ik niet dik geworden – ja, das Reiten ist sehr gut für den Körper. Bin ich nicht dick geworden?«
»Es scheint ganz so, als ob Ihr Umfang auf dem Pferde zugenommen habe.«
»Zeer?«
»Ganz beträchtlich!«
Da glänzte das Gesicht des Dicken vor Freude, und er meinte:
»Ben ik niet ook gewassen – bin ich nicht auch gewachsen?«
»Um einige Centimeter, wie es scheint. Die hiesige Luft scheint Ihnen außerordentlich zu bekommen.«
»Ja, de lucht is goed, is zeer weldadig. Ik ben oneindig gezond; ik word gaame hier blijven – ja, die Luft ist gut, ist sehr wohlthätig. Ich bin unendlich gesund; ich möchte gern hier bleiben.«
»Das können Sie. Sie wollen sich ja hier in China ankaufen.«
»Aanhijen? Ja, maar wat en waar – ankaufen? ja, aber was und wo?«
»Kaufen Sie dem Onkel Daniel sein Etablissement ab! Sie können da sich um China verdient machen und ein Millionär, ein Ölfürst werden.«
Der Dicke blieb stehen, öffnete vor Staunen den Mund und antwortete erst nach einer Weile:
»Een olievorst, een olieprins! Seldrement! De Mijnheer van Aardappelenbosch een olieprins! Dat ist goed; dat is zekerlijk goed – ein Ölfürst, ein Ölprinz! Potztausend! Der Mijnheer van Aardappelenbosch ein Ölprinz! Das ist gut; das ist gewißlich gut!«
Er setzte in sehr energischer Weise seinen Spaziergang fort, ohne das Gespräch fortzusetzen, brummte aber zuweilen ein Wort wie »olieprins« oder »zeer goed« vor sich hin. Der Gedanke des Methusalems schien auf einen sehr empfänglichen Boden gefallen zu sein, obgleich er nur im Scherze ausgesprochen worden war.
Die beiden Brüder befanden sich noch immer darüber im Unklaren, welche Pläne der Methusalem in Beziehung der Nachforschung nach ihren Verwandten verfolge. Er hatte sich ihnen seit gestern ganz und gar entzogen, um zu verhüten, daß das Gespräch auf diesen Gegenstand komme. Darum benutzte Liang-ssi die jetzt eingetretene Pause der Unterhaltung zu der Erkundigung:
»Herr, wie lange werden wir hier verweilen, um dann vollends nach Ho-tsing-ting zu gehen?«
»Bis morgen früh nur.«
»Und wie lange bleiben wir dann dort bei dem Onkel Daniel?«
»Das ist unbestimmt.«
»Aber wird es lange dauern?«
»Es ist möglich, daß sich unser dortiger Aufenthalt auf einige Wochen erstrecken wird.«
»So werden wir Sie um einen Urlaub bitten müssen.«
»Warum?«
»Damit wir während dieser Zeit nach unserer Mutter und unseren Schwestern forschen können.«
»Ich kann Sie nicht hindern. Aber wo wollen Sie suchen, und wie wollen Sie es anfangen, um eine Spur von den Verlorenen zu entdecken?«
»Wir werden nach der Provinz Kwéi-tschou, unserer Heimat gehen, wo wir gefangen waren und von wo sie damals entflohen sind. Das ist der einzige Ort, wo wir einen Anhalt finden können.«
»Aber Sie begeben sich dabei in große Gefahr, da auch Sie von dort entwichen sind. Wenn man Sie erkennt, so wird man Sie festhalten.«
»O, es sind seit jener Zeit nun acht Jahre vergangen, und wir waren damals sehr jung. Wir haben uns indessen so sehr verändert, daß es fast unmöglich ist, uns zu erkennen.«
»Das mag sein; aber wie wollen Sie es anfangen, dort eine Spur zu finden? Sie müssen doch forschen und fragen. Dadurch werden Sie die Aufmerksamkeit der Behörde auf sich lenken.«
»Wir werden dabei auf das vorsichtigste verfahren.«
»Das glaube ich sehr wohl; dennoch hege ich keine Hoffnung, daß Sie zum Ziele gelangen werden. Denn, glauben Sie etwa nicht, daß die Polizei damals sehr eifrig nach den Entflohenen geforscht hat?«
»Das ist sicherlich geschehen.«
»Und doch hat man sie nicht entdeckt. Wie wollen nun Sie nach so langer Zeit eine Spur auffinden, besonders, da Sie Ihre Nachforschungen nur heimlich anstellen können und dabei die größte Sorge tragen müssen, daß Sie nicht selbst ergriffen werden?«
»Herr, wollen Sie uns denn alle Hoffnung rauben? Sie haben ja recht, das muß ich zugeben; aber suchen müssen wir doch. Oder wissen Sie eine andere Art und Weise, zum Ziele zu gelangen? Sie hatten uns versprochen, uns behilflich zu sein. Ja, Sie sind ja auch mit zu dem Zwecke, die Familie unseres Vaters aufzusuchen, in das Land gekommen. Und nun bemerken wir, daß Sie sich gar nicht mehr mit dieser für uns so wichtigen Aufgabe beschäftigen.«
»Da irren Sie sich. Ich habe mich bis heute sehr eifrig mit derselben beschäftigt und thue es auch jetzt noch.«
»Ja, nachgedacht haben Sie vielleicht. Oder darf ich annehmen, daß Sie auf einen vorteilhafteren Plan gekommen sind, als der unserige ist?«
»Ja, mein Plan ist besser als der Ihrige. Der Weg, den ich eingeschlagen habe, führt sicher und auch ohne alle Gefahr für Sie zum Ziele.«
»Wirklich? Dann, Herr, teilen Sie uns denselben doch mit! Verharren Sie nicht länger in dem Schweigen, welches uns in Sorge versetzt hat!«
»Nun, mein Plan ist sehr einfach, und dennoch werden Sie ihn nicht verstehen, da er sich darauf gründet, daß – wir werden weiter über diese Angelegenheit sprechen. Jetzt bringt der Wirt den Thee.«
Der Genannte brachte den duftenden Tscha in kleinen, zierlichen Tassen, von denen jeder nur eine leeren durfte, da es der Willkommenstrunk war. Dann bat er die Herren, die für sie bestimmten Schlafstuben in Augenschein zu nehmen, damit er erfahren könne, ob es ihm gelingen werde, ihre Zufriedenheit zu erlangen.
Dabei verging die Zeit, welche sich der Hoei-hoei für die Vorbereitung des Mittagsmahls erbeten hatte. Er kam selbst, um seine Gäste abzuholen. Da er ihnen nicht zumuten wollte, den Weg nach seinem Häuschen, so kurz derselbe war, zu Fuße zurückzulegen, so hatte er alle im Dorfe vorhandenen Sänften in Beschlag genommen, um die Herren zu sich tragen zu lassen. Um Träger brauchte er nicht verlegen zu sein. Jeder Bewohner des Dorfes hielt es für eine Ehre für sich, den »hohen Gebietern« diesen Dienst zu erweisen.
Aber dazu kam es gar nicht, denn der Gottfried sagte, als er die Sänften erblickte:
»Ich habe keine Lust, mir auf den Händen tragen zu lassen. Es jiebt ja keine Reise um die Welt, sondern es jeht nur hübsch von Haus zu Haus. Ich sehe jar nicht ein, warum wir auf unsern jewöhnlichen Festeinzug verzichten sollen. Jehen wir also nicht mit die Beine anderer Leute, sondern mit unseren eigenen! Nicht?«
»Mir ist es sehr recht,« antwortete der Blaurote.
»Soll ich die Pipe anzünden?«
»Ja.«
»Schön! Dat wird mehr Eindruck machen als dat ›Laufen in die Sänfte‹, wie wir es in Hongkong von einem jewissen Jemand jesehen haben.«
»Schweigen Sie!« gebot ihm Turnerstick. »Konnte ich denn dafür, daß der Fußboden unter mir flöten ging?«
»Nein. Aber dafür konnten Sie, dat jerade Sie sich in die Weltjejend befanden, wo die Sänfte flötete. Ich habe allen Respekt vor solchen Kastens. Also jehen wir lieber, als dat wir in den Palankins jegangen werden!«
Das geschah. Der kleine Zug setzte sich vor dem Hause in der schon oft erwähnten Weise und Reihenfolge in Bewegung, was auf die draußen Versammelten einen außerordentlichen Eindruck machte. Sie hatten die Mäuler ebensoweit offen wie die Schlitzaugen und wagten kein lautes Wort zu sprechen. Schweigend und in ehrfurchtsvoller Weise folgten sie den Fremden, um, als dieselben in das Häuschen des Mohammedaners getreten waren, sich vor demselben aufzustellen.
Das kleine Gebäude enthielt ein sehr sauber sich präsentierendes Vordergemach und einen kleineren Hinterraum, welcher zugleich Frauenstube und Küche zu sein schien. Von den weiblichen Bewohnern zeigte sich keine. Dies ist überhaupt chinesische Sitte, an welcher hier um so mehr festgehalten wurde, als der Besitzer des Hauses zum Islam übergetreten war.
Trotz dieses letzteren Umstandes zeigte der Hoei-hoei von den Gebräuchen, welche den Mohammedanern für die Mahlzeiten vorgeschrieben sind, nicht die geringste Spur. Es geschah alles in chinesischer Weise. Er nahm nicht mit an dem Tische Platz, sondern blieb stehen, um seine Gäste zu bedienen.
Es gab das Mahl eines armen Mannes, welcher einmal, wenn er einen Reichen bei sich bewirtet, einen tieferen Griff in seinen Beutel machen muß. Eine große Auswahl hatte das kleine Dorf nicht bieten können, und da die Zeit zur Zubereitung warmer Gerichte zu kurz gewesen war, so waren nur kalte Speisen aufgetragen worden.
Eine lebhafte Unterhaltung würzte das frugale Mahl. Der Wirt sah, daß seine Gäste mit ihm zufrieden seien, und war darüber so entzückt, daß er sich entschloß, den Beutel vollends für sie zu leeren. Er sagte:
»Gern hätte ich die hohen Herren besser bewirtet, aber es war mir nur eine sehr kurze Frist zur Vorbereitung gewährt. Doch wenn die hoch Willkommenen mein Haus heute abend abermals beehren wollen, so werden sie ein Mahl finden, welches ihrer würdiger ist.«
»Ja, wir werden kommen,« antwortete der Methusalem. »Aber ich stelle dabei eine Bedingung, welche Sie zu erfüllen haben.«
»Welche ist es?«
»Daß Sie alles aufbieten, dieses Mahl zu einem wirklichen Fest- und Freudenmahle zu machen.«
Da wurde dem guten Manne angst. Er blickte verlegen vor sich nieder und sagte dann:
»Herr, Sie wissen, daß ich arm bin, und ich weiß nicht, welche Ansprüche in Ihrem Lande an ein solches Festmahl gemacht werden.«
»Unsere Ansprüche werden befriedigt werden, trotzdem Sie arm sind. Wir werden mit dem Wirte des Einkehrhauses sprechen. Er soll alles, was wir essen und trinken werden, bei sich bereiten und zu Ihnen senden. Nur unter dieser Bedingung nehmen wir Ihre Einladung an.«
Man sah dem Hoei-hoei an, daß ihm ein Stein vom Herzen fiel. Er stimmte schleunigst zu. Noch größer aber als diese gehabte Verlegenheit war diejenige, welche ihm nach dem Essen von dem Methusalem bereitet wurde, denn dieser sagte:
»Wir sehen, daß wir Ihnen wirklich willkommen gewesen sind, und sagen Ihnen herzlichen Dank dafür. Bei solchen Gelegenheiten schreibt uns die Sitte unserer Heimat eine Höflichkeit vor, welche wir auch hier befolgen möchten, wenn Sie uns das erlauben.«
»Erlauben? O Herr, Sie haben doch nur zu befehlen, und ich werde gehorchen.«
»Wirklich?«
»Ja, augenblicklich.«
»Gut, ich verlasse mich auf Ihr Wort. Es ist nämlich bei uns Vorschrift, sich nach dem Mahle bei den Frauen und Töchtern des Hauses persönlich zu bedanken. Wollen Sie darum die drei Blumen Ihrer Familie ersuchen, uns durch ihr Erscheinen zu erfreuen, damit wir ihnen sagen können, welche Dankbarkeit und Ehrerbietung wir ihnen widmen!«
Der Schreck zuckte über das Gesicht des Wirtes.
»Herr, das nicht, nur das nicht!« bat er.
»Warum nicht?«
»Es ist gegen die hiesige Sitte.«
»Doch nicht, denn der mächtige Tong-tschi von Kuang-tschéu-fu hat uns auch seine Gemahlin zugeführt.«
»So ist es gegen die Satzung meines Glaubens.«
»Sind Ihre Damen auch mit zum Islam übergetreten?«
»Nein.«
»Nun, so ist auch dieser Grund nicht stichhaltig. Sie haben sich bis jetzt als wirklich gastfreundlich erwiesen. Wollen Sie diesen Ruhm vernichten und uns damit beleidigen, daß Sie uns diese Bitte abschlagen?«
Der Mann antwortete nicht sogleich. Er kämpfte mit sich selbst. Dann sagte er unter einem tiefen Atemzuge:
»Nein, mein Gebietet, beleidigen will ich Sie nicht. Lieber entschließe ich mich, gegen die Vorschriften unseres Landes zu handeln. Ich werde also die Frauen herbeibringen.«
Er entfernte sich in das hintere Gemach.
»Das hätten Sie nicht von ihm verlangen sollen,« sagte Liang-ssi im Tone sanften, bescheidenen Vorwurfs. »Es ist ganz und gar gegen die hiesigen Gewohnheiten.«
»Das weiß ich auch sehr gut,« lächelte der Methusalem.
»Und dennoch thaten Sie es?«
»Ja. Ich habe triftige Gründe dazu, denen Sie später ganz sicher Ihre Zustimmung erteilen werden.«
Diese kurze Wechselrede war in deutscher Sprache geführt und also von den anderen verstanden worden.
»Was soll denn geschehen?« fragte Turnerstick. »Was hätten Sie nicht thun sollen?«
»Ich habe verlangt, die weiblichen Bewohner dieses Hauses zu sehen, damit wir uns bei ihnen bedanken können.«
»Und ist das hier eine Sünde? Will er sie bringen?«
»Ja.«
»Dat is sehr hübsch,« meinte der Gottfried. »Wir werden uns gegen sie natürlich als jewandte Kavaliere benehmen. Nicht wahr, Mijnheer?«
»Ja. Ook ik word haar mijne komplimenten maken. Ik kan dat zeer fraai en bij uitstek maken – Ja. Auch ich werde sie bekomplimentieren. Ich kann das sehr schön und ausgezeichnet machen.«
Es dauerte längere Zeit, bevor der Chinese wiederkehrte. Die Damen mußten ja ihre besten Gewänder anlegen. Endlich trat er mit ihnen ein und stellte sich an die Seite der Thür, um ihnen Platz zu geben.
Ihre Gesichter zeigten den chinesischen Schnitt und waren nach der Sitte der besseren Stände weiß und rot geschminkt. Die Augenbrauen hatten sie mit Hilfe des Pinsels und schwarzer Farbe so verlängert, daß sie über der Nasenwurzel zusammenliefen. Das Haar war durch Kämme und viele Nadeln hoch und fast in Form eines Schmetterlings gesteckt. Das Obergewand schloß eng am Halse an und fiel in weiten Falten bis auf den Boden herab. Die Hände waren tief in den Ärmeln verborgen. Die Füße konnte man nicht sehen, aber verkrüppelt waren sie nicht, wie man aus dem Gange der Damen und ihrer Haltung ersehen konnte, obgleich sie nur wenige Schritte gemacht hatten.
Sie verneigten sich tief vor den Gästen, ohne aber ein Wort dazu zu sagen. Trotz der Schminke erkannte man die jugendlichen Züge der Töchter. Das Gesicht der Mutter zeigte deutliche Spuren des Grams und der Sorgen.
Die Anwesenden waren alle aufgestanden. Noch bevor Degenfeld zu Worte kam, trat Turnerstick vor, verbeugte sich möglichst chevaleresk und sagte:
»Myladies und Mademoiselles, wir fühleng uns außerordangtlich beglückt über Ihr Erscheinung. Wir habeng gegessing und getrunkeng und sagung hiermit – – –«
»Ik ook, ik ook,« unterbrach ihn der Mijnheer eifrig, indem auch er sich verneigte, soweit--seine Körperform dies zuließ. »Ook ik heb gegeten en gedronken.«
»Schweigen Sie und stören Sie mich nicht in meinem besten Chinesisch!« fuhr der Kapitän ihn mißmutig an.
Er wollte fortfahren, doch diesmal war der Methusalem schneller als er, indem er rasch das Wort ergriff, natürlich in chinesischer Sprache:
»Ich weiß, daß ich außerordentlich gegen die Sitte Ihrer Heimat verstoßen habe, als ich Sie zu sehen verlangte. Aber ich wollte Ihnen unsern Dank bringen und unsere Entschuldigung für die Sorgen, welche wir Ihnen bereitet haben. Außerdem aber gibt es noch einen zweiten Grund, welcher mich veranlaßt, persönlich mit Ihnen zu sprechen. Ich habe nämlich einen Brief an Sie abzugeben.«
Diese letzten Worte richtete er direkt an die Mutter, welche verwundert zu ihm aufschaute.
»Sie haben ein Recht, zu zweifeln,« fuhr er fort; »aber ich sage die Wahrheit. Ich habe wirklich einen Brief aus fernem Lande mitgebracht, welcher an Sie gerichtet ist.«
»Einen Brief? Von wem?« fragte sie.
»Von demjenigen, welchen Sie wohl schon längst verloren glaubten.«
Ihre Augen waren einige Zeitlang starr auf ihn gerichtet, dann stützte sie sich mit beiden Händen auf ihre Töchter und hauchte, die Wahrheit ahnend:
»Von meinem – meinem Gemahl und Herrn!«
»Ja,« antwortete der Methusalem. »Sind Sie stark genug, den Inhalt dieses Briefes zu hören? Bitte, setzen Sie sich!«
Er stellte ihr seinen Stuhl hin, auf welchem sie sofort Platz nahm. Diese Höflichkeit fand schnell zwei Nachahmer, welche zeigen wollten, daß auch sie gelernt hätten, zuvorkommend gegen Damen zu sein. Turnerstick schob seinen Stuhl der einen Tochter hin und sagte:
»Bitte, Fräulein, sich auch zu setzing! Lassong Sie sich angenehme Ruhe wünscheng!«
Und der Mijnheer trug den seinigen der andern Tochter hin, indem er mit seinem süßesten Lächeln bat:
»Mejuffrouw, ik bid, dat ook gij op eenen stoel zitten, op mijnen stoel. Ik geef u dezen stoel zeer gaerne. – Fräulein, ich bitte, daß auch Sie auf einem Stuhle sitzen, auf meinem Stuhle. Ich gebe Ihnen diesen Stuhl sehr gern.«
Die beiden Mädchen verstanden kein Wort von dem Gesagten, wußten aber natürlich, wie es gemeint war. Sie setzten sich zu beiden Seiten ihrer Mutter nieder, und die beiden galanten Salonherren traten höchst befriedigt zurück, wobei Turnerstick dem Dicken zuraunte:
»Prächtiges Mädchen, wirklich! Hat mich Wort für Wort verstanden. Es scheint, daß man in diesem Hause ein ausgezeichnetes Chinesisch spricht.«
Degenfeld hatte seine Brieftasche hervorgezogen und aus derselben ein Couvert genommen, welches den erwähnten, von Ye-kin-li geschriebenen Brief enthielt, für den Fall, daß seine Frau gefunden wurde. Auf seinem Gesichte war der Ausdruck freudigster Genugthuung zu lesen. Da in China selbst die Frauen höherer Stände nicht schreiben und lesen können, weil sie keinen Unterricht erhalten, gab er dem Hausherrn den Brief und sagte.
»Bitte, lesen Sie ihn vor!«
Der Mann besah das Couvert, welches unbeschrieben war, und fragte erwartungsvoll:
»Das soll ich öffnen?«
»Ja, bitte!«
»Und es ist wirklich ein Brief darin?«
»Gewiß!«
»An diese Frau?«
»Wie ich bereits sagte!«
»Sie müssen irren, Herr.«
»Nein; ich bin meiner Sache vollständig sicher. Hier ist ein Messer. Schneiden Sie den Umschlag auf!«
Der Mann ergriff das Messer, fragte aber, ehe er der Aufforderung Folge leistete:
»Und der Brief soll in Wahrheit von – von Ye-kin-li sein?«
»Ganz sicher. Ich war dabei, als er ihn in den Umschlag steckte, und habe vorher sogar den Brief lesen dürfen.«
Nun schnitt der Wirt das Couvert auf. Während der dadurch entstehenden Pause flüsterte Jin-tsian seinem Bruder zu:
»Von Ye-kin-li? Das ist doch unser Vater!«
»Wohl nur ein Mann, der denselben Namen trägt.«
»Aber diese Frau kommt mir so bekannt vor! Ich muß sie schon gesehen haben!«
»Mir auch. Es ist mir ganz –«
Er wurde unterbrochen, denn der Hausherr hatte den Brief aufgeschlagen, welcher natürlich in chinesischer Schrift und Sprache verfaßt war, und einen Blick auf die ersten Zeilen geworfen. Er rief mit lauter Stimme:
»O Allmacht der Vorsehung! O Güte des Himmels! O Allah, Allah! Es ist wirklich so; dieser hohe Herr hat die Wahrheit gesagt. Soll ich lesen?«
Er hatte diese Frage an die Frau gerichtet, welche sich in größter Aufregung befand. Sie zitterte am ganzen Körper; sie konnte kein lautes ja hervorbringen; darum gab sie ihm nur durch ein Kopfnicken ihre Zustimmung zu erkennen. Er las:
»An Hao-keu, vom Geschlechte der Pang, aus dem Stamme Seng-ho, dem verschwundenen Weibe meiner Seele und der Mutter meiner verlorenen Söhne und Töchter – – – von Yekin-Ii, dem aus Tschin Entflohenen.«
Das war die Überschrift des Briefes. Der Vorleser kam nicht weiter; vier Schreie erschollen – – von den beiden Söhnen und den zwei Töchtern. Die Mutter hätte wohl auch einen Ruf des Entzückens ausgestoßen, aber sie konnte nicht, denn sie war ohnmächtig geworden.
Der wackere Methusalem hatte nicht daran gedacht, daß man zarten Frauen solche Nachrichten nicht so unvorbereitet geben darf. Die beiden Töchter schlangen ihre Arme um die Mutter und weinten.
»Es kam zu rasch; es ist zu viel für sie. Kommt heraus mit ihr in euer Gemach,« sagte der Hoei-hoei.
Er hob die Ohnmächtige in seinen Armen auf und trug sie hinaus. Die Mädchen folgten ihm. Die Söhne aber stürzten auf den Methusalem zu, und Liang-ssi fragte ihn in stürmischer Weise:
»Herr, der Brief ist von unserm Vater?«
»Ja,« antwortete der Gefragte.
»Und dieses Weib heißt Hao-keu?«
»So ist ihr Name.«
»Dann ist sie unsere Mutter?«
»Sie ist es. Und ihre Töchter sind Mdi-pao und Sim-ming, Ihre Schwestern.«
»O Himmel, o Allmacht! Unsere Mutter und unsere Schwestern! Komm, Bruder, komm hinaus zu ihnen!«
Sie eilten ihren Anverwandten nach. Die anderen wußten nicht, was geschehen war. Degenfeld erklärte es ihnen mit kurzen Worten. Sein Bericht erfüllte sie mit großer Freude und tiefer Rührung, der sie in fröhlichen Worten Ausdruck gaben. Turnerstick meinte, indem er den Klemmer abnahm und sich die Augen wischte:
»Welch ein Wiederfinden! Welch eine Scene! Aber von Ihnen, Methusalem, war es sehr unrecht und hinterlistig, uns zu verschweigen, was Sie wußten. Auch wir waren ganz unvorbereitet; wie leicht konnten wir da aus lauter Rührung auch in Ohnmacht fallen!«
»Wenn auch dat nicht,« sagte der Gottfried, »denn ich bin kein Freund von Ohnmacht; überhaupt von allen Wörtern, welche in die erste Silbe mit ›ohne‹ bejinnen, aberst dennoch bin ich ebenso unzufrieden mit Ihnen, oller Methusalem. Wenn Sie mir bei die Joldjeschichte zu Ihren Vertrauten machten, so konnten Sie mich auch in diese weitere Anjelegenheit einen jeheimnisvollen, vielsagenden Wink jeben. Es ist janz unverantwortlich, einen erwachsenen Menschen so mich nichts, dich nichts aus die eine Empfindung in die andere zu stürzen! Wie leicht kann da ein weiches Jemüt zu Schaden kommen. Man hat doch auch ein Herz! Nicht wahr, Mijnheer?«
»Ja,« antwortete der Dicke, welcher seine schottische Mütze in der Hand hielt und sich mit derselben die Zähren der Teilnahme aus den kleinen Äuglein wischte. »Ik heb ook een hart, een mijn hart is goed, zeer goed. Ik moet snuiven en snuiten, dat deze menschen zich gekregen hebben. Ik ben daardoor zoo zwak geworden, dat ik zitten moet – ja, ich habe auch ein Herz, und mein Herz ist gut, sehr gut. Ich muß schnauben und schneuzen, daß diese Menschen sich bekommen haben. Ich bin dadurch so schwach geworden, daß ich sitzen muß.«
Er wollte sich niederlassen, aber der Methusalem sagte:
»Nicht wieder niedersetzen, Mijnheer! Unsere Gegenwart würde jetzt hier nur belästigen. Überlassen wir diese guten Leute vielmehr sich selbst, indem wir uns leise entfernen. Solche Scenen dürfen keine fremden Zeugen haben.«
»Schön, jehen wir!« stimmte der Gottfried bei. »Dat wird ihnen einen Beweis liefern, dat wir von diejeniger zartsinnige Noblesse sind, welche bei dergleichen Wiedersehen und sonstige Bejegnungen dat Zeichen einer juten Erziehung ist. Aberst die Pipe muß anjesteckt werden. Sie soll dat Freudenfeuer bedeuten, dat wir dem neubejründeten Glücke unserer Nebenmenschen bringen.«
Er that es nicht anders, der Methusalem mußte das Mundstück nehmen. Dann, als der Tabak glimmte, verließen sie das Haus, um sich nach dem Einkehrhause zurückzubegeben.
Noch immer standen viele Leute draußen, welche ihnen ehrerbietig Platz machten und sie so lange begleiteten, bis die Thür sich hinter ihnen geschlossen hatte.
Nun ließ der Methusalem den Wirt kommen, um bei demselben die für das Abendessen nötigen Bestellungen zu machen. Eben als sie beisammen standen und sich berieten, erschollen draußen laute Rufe, und die Menschen, welche vor dem Hause gestanden hatten, eilten davon, die Straße entlang.
»Was ist das? Was ruft man?« fragte Degenfeld den Wirt.
»Ich kann die Worte nicht genau verstehen. Es scheint jemand zu kommen, den die Leute kennen,« lautete die Antwort.
»So muß dieser jemand eine hier beliebte oder gar hervorragende Persönlichkeit sein?«
»Jedenfalls. Ich werde nachschauen.«
Er ging hinaus vor die Thür, kehrte aber sofort zurück und rief in freudigem Tone:
Missen Sie, wer da kommt, hoher Herr?«
»Natürlich nicht. Wer ist es?«
»Der T'eu, der T'eu, kein anderer als der T'eu!«
»Ah! Der Bettlerkönig?«
»Ja, der Bettlerkönig. Da es schon spät am Tage ist, so wird er nicht weiter ziehen, sondern hier bei mir bleiben, was er stets thut, wenn er nach Ho-tsing-ting geht, um Herrn Sei-teinei zu besuchen.«
»Diesen besucht er?«
»Ja, und oft.«
»Was thut er dort?«
»Er kommt aus Liebe und Zuneigung, denn der Bettlerkönig und Herr Sei-tei-nei sind sehr gute Freunde. Aber ich muß hinaus, um ihn zu bewillkommnen!«
Er eilte fort.
Liang-ssi hatte nichts davon erwähnt, daß der Bettlerkönig das Etablissement des Onkels Daniel so oft besuche. Vielleicht war diese Unterlassung ganz ohne Absicht geschehen und nur eine Folge des reinen Zufalls.
Der Methusalem sagte seinen Gefährten, wen man da draußen erwarte, und sie traten mit ihm an das geöffnete Fenster, um diesen ebenso berühmten, wie einflußreichen Mann kommen zu sehen.
Die Stimmen der Nahenden wurden lauter und lauter. Man hörte Pferdegetrappel, und dann erschienen, vom Volke umgeben, zehn sehr gut bewaffnete Reiter, welche nichts weniger als den Eindruck von Bettlern machten. Ihre Pferde waren von einer besseren Rasse als diejenigen, welche der Methusalem während seines Aufenthaltes hier im Lande gesehen hatte, und ihrer Kleidung nach mußte man sie für sehr wohlhabende Leute halten.
Das Gewand des Vornehmsten unter ihnen war ausschließlich aus Seide gefertigt. Er trug einen kostbaren Degen, und das Zaumzeug seines Rosses war mit starkem Silber beschlagen. Er war vielleicht sechzig Jahre alt und hatte ein sehr würdevolles Aussehen, wozu der lange Schnurrbart, welcher ihm rechts und links in starken Flechten bis über die Brust herabreichte, viel beitrug. Er hatte keinen Knopf auf der Mütze, ein sicheres Zeichen, daß er kein Mandarin sei; doch war seine Erscheinung gewiß ebenso ehrfurchtgebietend wie diejenige eines hohen Beamten des Reiches.
Er schwang sich mit jugendlicher Leichtigkeit aus dem Sattel und schritt der Thür des Hauses zu, an welcher ihn der Wirt mit tiefen Verbeugungen empfing. Der T'eu behandelte ihn nicht wie einen tiefer stehenden Mann, sondern in sehr leutseliger Weise, indem er, wie es zwischen Gleichberechtigten geschieht, seine Hände ineinander und dann, nachdem er sich verbeugt hatte, auf die beiden Achseln des Wirtes legte.
Welche Worte dabei gesprochen wurden, das konnte der Student nicht hören. Er war vom Fenster zurückgetreten und hatte mit seinen Gefährten auf einer der für die Gäste bestimmten Bänke Platz genommen. Bald darauf trat der Bettlerkönig mit seinen Begleitern ein.
Der Wirt hatte ihm jedenfalls schon draußen gesagt, daß vornehme und ausländische Gäste anwesend seien. Das war aus dem Blicke zu ersehen, mit dem er die Anwesenden musterte, und aus der tiefen Verneigung, mit welcher er sie begrüßte. Sie erhoben sich und verneigten sich ebenso.
»Ich komme, um diese Nacht bei Ihnen zu bleiben,« sagte er zum Wirt. »Sind die Stuben frei, welche wir gewöhnlich bewohnen?«
»Leider nicht,« antwortete der Gefragte verlegen. »Ich habe sie diesen huldvollen Herren gegeben, da mir Ihre Ankunft nicht bekannt war, hoher Beschützen«
»So werden wir in andern Räumen schlafen.«
Da bemerkte der Methusalem in zuvorkommender Weise:
»Das werden wir nicht zugeben. Der mächtige König der Armen und Notleidenden soll nicht unsertwegen auf die gewohnte Bequemlichkeit verzichten. Wir treten ihm sehr gern die Räume ab, welche er zu bewohnen pflegt.«
»Wissen Sie denn, wer ich bin?« fragte der König.
»Ich vernahm es soeben und habe auch schon längst gehört, welche Ehrerbietung man Ihnen zu zollen hat.«
»Nun, dann werden Sie wohl auch gehört haben, daß der T'eu niemals die Gesetze der Höflichkeit verletzt. Sie kommen aus einem fernen Lande und dürfen erwarten, daß Sie überall auf das gastlichste aufgenommen werden. Es wäre ein Vergehen gegen die gute Sitte, wenn ich Ihr großmütiges Anerbieten mißbrauchte. Darum ersuche ich Sie, die Zimmer, welche für Sie bestimmt sind, zu behalten.«
»Aber gebietet nicht eben diese gute Sitte, daß jeder jüngere vor dem Älteren zurücktritt?«
»Ja, aber auch der Tiefere vor dem Höheren. Und der letztere sind doch Sie von uns beiden.«
»O nein, Sie sind König.«
»König der Armen und Elenden, was soviel wie nichts ist. Darf ich vielleicht Ihren glanzvollen Namen erfahren?«
»Unsere Namen sind auf diesem Kuan des Kaisers verzeichnet.«
Er gab ihm den Paß, welchen er von dem Tong-tschi erhalten hatte. Der T'eu entfaltete denselben und verbeugte sich, als er das Siegel und die Unterschrift gesehen hatte, dreimal bis fast zum Boden herab. Dann las er die Namen. Als er damit zu Ende war, verbeugte er sich abermals, legte den Paß zusammen, gab ihn zurück und sagte:
»Das ist die höchste Empfehlung, welche einem Menschen bei uns werden kann. Dennoch wage ich es, Ihnen auch meine geringen Dienste anzubieten.«
»Diese Huld ist mir hochwillkommen, da ich weiß, daß die Freundlichkeit des mächtigen T'eu oft mehr vermag als so ein Kuan.«
»Es ist wahr; es ist mir zuweilen möglich, jemand nützlich zu sein. Ihre glanzvollen Namen haben einen sehr fremden Klang. Nur ein einziger ist dabei, welcher unserer Sprache angehört, Liang-ssi. Welcher der hohen Herren trägt denselben?«
»Der Betreffende ist augenblicklich nicht hier, wird aber auch noch die Ehre haben, Ihnen seinen ehrfurchtsvollen Gruß zu sagen. Vielleicht kennen Sie ihn. Er steht im Dienste des Herrn Sei-tei-nei in Ho-tsing-ting.«
»Den kenne ich allerdings. Es ist ein sehr tüchtiger junger Mann, welcher sich viel auf Reisen befindet, die er im Interesse des Geschäfts seines Herrn unternimmt. Darum habe ich ihn nur ein einziges Mal bei demselben gesehen. Ich bin oft in Ho-tsing-ting, und der Besitzer der Feuerbrunnen ist mir ein lieber Freund. Er hat sich sehr um meine Untergebenen verdient gemacht, da er nur solche Arbeiter anstellt, welche sonst kein Unterkommen haben und ihm von mir empfohlen werden. Er steht infolgedessen unter meinem ganz besonderen Schutze, und ich werde niemals dulden, daß der Besitzer des Ölwerkes aus dem Grunde, daß er ein Ausländer ist, geschädigt wird. Sie sind also mit Liang-ssi gereist, willkommener Herr?«
»Ja. Wir kommen von Kuang-tschéu-fu und wollen morgen früh zu Sei-tei-nei.«
»Zu meinem Freunde? Verfolgen Sie bei diesem Besuche eine gewisse Absicht?«
»Ja. Ich will ihm den Sohn seines Bruders zuführen, den er eingeladen hat.«
»Wirklich? Ich weiß, daß er nach demselben geschrieben hat. Ist es dieser junge Herr, welcher neben Ihnen sitzt? Ich habe in dem Passe zu meiner Verwunderung den Namen Licha-la-da Sei-tei-nei gelesen.«
Der T'eu konnte das »r« nicht aussprechen; er verwandelte es in ein »l«. Li-cha-la-da oder eigentlich Ri-cha-ra-da ist die chinesische Aussprechung des Namens Richard.
Als der Methusalem die Frage bejahte, begrüßte der Bettlerkönig den Gymnasiasten noch einmal besonders und versicherte ihn seines Schutzes, welcher ihm vielleicht von Vorteil sein könne.
»Daß dieser Schutz ein starker ist, haben wir bereits an uns erfahren,« sagte Degenfeld. »Wir befanden uns in großer Gefahr; unsere Feinde verwandelten sich aber sofort in Freunde, als wir ihnen bewiesen, daß Sie Ihre mächtigen Hände über uns halten.«
Der T'eu machte eine Bewegung des Erstaunens und fragte:
»Wer waren diese Leute?«
»Die Kuei-tse. Sie begegneten uns unterwegs.«
»Das sind allerdings Leute, denen ein Bekenner des Buddha und überhaupt jeder Andersgläubige am besten aus dem Wege geht. Aber wie konnten Sie sich auf mich berufen? Wie konnten Sie, von denen ich nichts gewußt habe, ihnen beweisen, daß ich Ihr Beschützer bin? Mir selbst ist das ja unbekannt!«
»Ich zeigte ihnen diesen zweiten Kuan, welchen ich besitze.«
Er gab ihm den Schutzbrief in die Hand, und es war im höchsten Grade interessant, das Gesicht zu sehen, welches der T'eu machte, als er denselben erblickte.
»Wie? Mein eigener Kuan!« rief er aus. »Und zwar ein Kuan erster Klasse, von denen ich nur sehr wenige ausgegeben habe! Ich ersehe aus dem nur mir kenntlichen Zeichen, daß es der Kuan meines Schwiegersohns in Kuang-tschéu-fu ist!«
»Sie meinen Hu-tsin, den Juwelier. Es gelang uns, ihm einen kleinen Dienst zu erweisen, und da er hörte, daß wir in das Innere des Landes gehen wollten, wo Beschwerden oder gar Gefahren unser warten konnten, so rüstete er uns mit diesem Kuan aus, von dessen Wert wir einen so überzeugenden Beweis erhalten haben.«
»Sie haben meinem Hu-tsin einen Dienst geleistet? Das kann kein gewöhnlicher gewesen sein, denn einer alltäglichen Gefälligkeit wegen würde er sich nicht von diesem Passe getrennt haben. Darf ich erfahren, was geschehen ist, und wie Sie mit ihm bekannt geworden sind? Soeben bringt man den Thee. Ich lade Sie demütig ein, denselben mit uns zu trinken. Dabei können wir von meinem Schwiegersohne sprechen.«
»Ich werde Ihnen gern von ihm erzählen, doch handelt es sich um ein Ereignis, welches wir in der Art zu einem glücklichen Ende führten, daß man nur im Vertrauen von demselben sprechen kann.«
»Das können Sie. Diese Männer sind meine Offiziere, meine Freunde, vor denen ich kein Geheimnis habe; sie können alles hören, was Sie zu sagen haben.«
Der Wirt hatte den schnell bereiteten Thee gebracht. Er hatte auch für jeden der fremden Gäste eine Tasse. Das entsprach der chinesischen Sitte. Es wurden noch Pfeifen bei ihm bestellt; Tabak hatten die Begleiter des T'eu bei sich. Als die kleinen Täßchen geleert, und die Pfeifen in Brand gesteckt worden waren, begann der Methusalem zu erzählen.
Er hielt es für geraten, nicht bloß von der auf den Juwelier bezüglichen Episode zu sprechen, sondern er begann mit dem Auftrage, den er von Ye-kin-li erhalten hatte, und gab einen, wenn auch nur kurzen Bericht alles dessen, was sie bis hierher erlebt hatten.
Die Chinesen waren sehr aufmerksame Zuhörer. Als er geendet hatte, erhob sich der T'eu, machte den Reisenden eine tiefe, ehrfurchtsvolle Verbeugung, welchem Beispiele seine »Offiziere« sogleich folgten, und sagte im Tone der größten Hochachtung:
»Was wir jetzt vernommen haben, ist ein sicheres Zeugnis, daß in dem Vaterlande der aufrichtig bewunderten Herren Leute wohnen, weiche außerordentlich kenntnisreich, kühn und umsichtig sind. Was Sie gethan haben, ist nicht nur des Lobes, sondern auch der Bewunderung wert, und der Scharfsinn, mit welchem Sie meinen Schwiegersohn gerettet haben, verpflichtet uns zur größten Dankbarkeit. Wir werden uns alle Mühe geben, unsre Erkenntlichkeit zu beweisen, und bitten um die huldreiche Genehmigung, den morgenden Ritt nach Ho-tsching-ting in Ihrer erlauchten Gesellschaft machen zu dürfen. Das Wiederfinden der Familienglieder Ihres achtungswürdigen Ye-kin-li hat uns mit großer Teilnahme erfüllt, welcher ich dadurch Ausdruck gebe, daß ich Sie ersuche, das Abendmahl nicht auf Ihre Kosten bereiten zu lassen, sondern bei demselben meine Gäste zu sein. Ich werde sogleich die dazu nötigen Vorbereitungen treffen.«
Der Methusalem erhob Einspruch dagegen, doch vergebens. Der Bettlerkönig begab sich selbst nach der Küche, um dort seine Befehle zu erteilen.
Während dieser Pause erkundigten sich die Gefährten nach dem Inhalte des Gespräches, und Degenfeld teilte ihnen denselben mit. Sie waren natürlich sehr erfreut darüber, sich die Freundschaft dieses Mannes erworben zu haben, und der Dicke sprach die ganz unerwartete Frage aus:
»Mijnheer Methusalem, zal deeze guede koning ook mij in zijne armen nemen – Herr Methusalem, wird dieser gute König auch mich in seine Arme nehmen?«
»Sie meinen, ob er auch Sie beschützen werde? Natürlich!«
»Dat is zeer goed, want hij zal mij helpen – das ist sehr gut, denn er soll mir helfen.«
»Wobei?«
»In gevalle dat ik het steenolie koop – im Falle, daß ich das Steinöl kaufe.«
»Sind Sie denn das gewillt?« fragte der Methusalem überrascht.
»Ik zal al Ho-tsing-ting koopen. De lucht is hier zonder voorbeeld goed. De lucht makt mij dik. Ik ben zoo dor, zoo in het geheel dor, en ik kan hier weder toe mijnen vleesch komen – ich werde ganz Ho-tsing-ting kaufen. Die Luft ist hier unvergleichlich gut. Die Luft macht mich dick. Ich bin so dürr, so ganz und gar dürr, und ich kann hier wieder zu meinem Fleische kommen.«
»Aber der Preis würde, wenn Onkel Daniel überhaupt verkaufen sollte, sehr hoch sein!«
»Dat zeg ik mij ook, maar ik heb Geld – das sage ich mir auch, aber ich habe Geld!«
»Ich glaube, daß Sie reich sind, doch sind die Zahlungsverhältnisse hier sehr unbequem.«
»Denkt gij, dat ik goud- en zilverstukken in mijnen broekzak heb? Zoo dom ben ik niet. Ik heb wissels, zeer goede wissels – denken Sie, daß ich Gold- und Silberstücke in meiner Hosentasche habe? So dumm bin ich nicht. Ich habe Wechsel, sehr gute Wechsel!«
»Auch das glaube ich Ihnen gern. Tragen Sie Ihren Wunsch dem Onkel vor, wenn wir zu ihm kommen!«
Jetzt trat der T'eu wieder herein und machte dem kurzen Zwischengespräch ein Ende. Nach einiger Zeit kamen die beiden Brüder mit dem Hoei-hoei. Sie flossen von Dankesworten über, und es gelang dem Methusalem nicht, dieselben durch die Bemerkung abzuweisen, daß er eigentlich zu ihrem gegenwärtigen Glücke gar nichts beigetragen habe. In der Seligkeit, die Ihrigen gefunden zu haben, dachten sie an nichts anderes, auch nicht an das einstige Vermögen ihres Vaters. Sie hielten es für verloren.
Der T'eu äußerte den Wunsch, daß ihre Mutter und ihre Schwestern auch mit an dem Mahle, welches ein Festessen genannt werden müsse, teilnehmen möchten. Das war eine große Ehrenerweisung, da der Chinese es durchschnittlich verschmäht, mit einer weiblichen Person zu speisen. Zugleich war er sich bewußt, etwas Seltsames und sehr Schwieriges zu verlangen, da es in China als höchst unpassend für eine gebildete Frau oder ein wohlgesittetes Mädchen angesehen wird, sich Fremden zu zeigen oder gar an e i n e m Tische mit ihnen zu essen. Darum wußten die Brüder nicht, was sie antworten sollten. Die Zurückweisung der Einladung wäre eine Unhöflichkeit gegen den Bettlerkönig gewesen, und die Annahme derselben hätte für die Damen eine Anforderung enthalten, der sie nur mit großer Überwindung gerecht werden konnten. Der Methusalem nahm sich des T'eu an, indem er Liang-ssi fragte:
»Ihre Damen werden doch mit uns nach Deutschland gehen?«
»Ja.«
»Und nicht nach China zurückkehren?«
»Nie.«
»So können sie sich ganz gut schon jetzt als Deutsche betrachten. In meiner Heimat ist es eine Ehre für die Gäste, Damen bei sich sehen zu dürfen. Die Damen sind die Blumen im Kranze der Gesellschaft; sie verschönern den Kreis, und ihre Anwesenheit macht, daß die Worte sanfter und lieblicher fließen. Wenn Sie glauben, uns eine kleine Dankbarkeit schuldig zu sein, so bewegen Sie Ihre Mutter und Ihre Schwestern, mitzukommen. Wir werden ja ganz unter uns sein und dem Wirte befehlen, Fremde von diesem Zimmer fern zu halten.«
Da die Einladung auf diese Weise unterstützt wurde, so erklärten die Brüder, daß sie ihre Damen mitbringen würden.
Es war noch nicht Abend, und der Wirt bedurfte einer längeren Frist, das Essen zuzubereiten. Diese Zeit konnte recht wohl durch Unterhaltung ausgefüllt werden. Es gab ja so viel zu fragen, zu erzählen und zu erklären. Das war aber langweilig für diejenigen, welche nicht chinesisch verstanden. Darum suchten sie sich in anderer Weise zu beschäftigen.
Der Dicke war ah das Fenster getreten, von welchem aus man eine Aussicht auf die seeartige Erweiterung des Flusses hatte. Er beobachtete das Treiben auf dem Wasser. Die Eigenartigkeit des Fischfangs erregte seine besondere Aufmerksamkeit. Eben als wieder einmal einer der Wasserraben untergetaucht war und ein Beutestück im Schnabel emporbrachte, rief er aus, indem er in die fetten Hände klatschte:
»Heiza! Daar heeft weder zoo eene gans eenen haring gevangen – juchhe, da hat wieder eine Gans einen Hering gefangen!«
»Einen Hering?« lachte der Gottfried. »Woher sehen Sie denn, dat es ein Hering ist?«
»De haring is doch een visch!«
»Ja, ein Fisch ist er freilich; aber nicht alle Fische sind auch Heringe. Ich habe bisher jeglaubt, dat man Heringe nur auf dem Meere fängt. Hier jiebt es andre Fische.«
»Wat vor welke? Palingen, zardijnen, snoeken, zeelten of karpen – was für welche? Aale, Sardellen, Hechte, Schleien oder Karpfen?«
»Ik habe jehört, dat es bei den Chinesigen fette Karpfen und ausjezeichnete Forellen jiebt,« antwortete der \Vichsier, um dem Mijnheer Appetit zu machen.
»Wat? Karpen en forelen?« rief der Dicke. »Daarvan moet ik eten! Ik ga buiten aan 't water en koop mij vischen. Ik et de vischen zoo gaam, zoowel de hommers als ook de kuiters -was? Karpfen und Forellen? Davon muß ich essen. Ich gehe hinaus an das Wasser und kaufe mir Fische. Ich esse die Fische so gern, die Milchner sowohl als auch die Rogner.«
»Dann würde ich sie mir doch lieber selbst fangen!«
»Vangen? Ik mij zelf? Kan ik dat – fangen? Ich mir selbst? Kann ich das?«
»Warum nicht? Haben Sie denn noch nie gefischt?«
»Neen.«
»Das ist ja sonderbar, da Sie die Fische so sehr jern essen; aber es schadet nichts. Wir jehen hinaus und mieten uns einen Kahn und die zu demselben jehörigen Vögel für eine Stunde.«
Ja, wij zullen gaan. Is het vleesch van de vischen goed? Maakt het spek in den lichaam – ja, wir wollen gehen. Ist das Fleisch von den Fischen gut? Macht es Speck in den Körper?«
»Ja, sehr. Ich habe mich sagen lassen, dat besonders derjenige, welcher einen Walfisch verzehrt, mariniert oder unmariniert, sehr fett werden soll. Also kommen Sie! Der Methusalem ist von die Chinesen zu sehr in Anspruch jenommen. Ihn wollen wir nicht stören.«
»Maar ik kan niet mit de vischers spreken – aber ich kann nicht mit den Fischern sprechen.«
»Das ist auch gar nicht notwendig,« fiel Turnerstick ein, welcher zu den beiden getreten war. »Ich gehe mit und werde den Dolmetscher machen. Da es scheint, daß man hier ein ausgezeichnetes Chinesisch spricht, so werden Sie sehen, wie prachtvoll ich mit diesen Leuten auskomme.«
Er griff nach seinem Fächer, der Mijnheer nach seinem Schirm, seinen Gewehren und sogar nach dem Ranzen. Der Gottfried bemerkte dem letzteren, daß diese Dinge nicht notwendig und im Gegenteil nur hinderlich seien, doch wurden seine Worte nicht beachtet. Der Dicke war von seinen Sachen eben nicht zu trennen.
Die Menschenmenge hatte sich ziemlich verlaufen, so daß die drei unbelästigt das Ufer erreichten. Dort winkten sie einen der Kähne herbei.
»Master,« rief Turnerstick dem in demselben sitzenden Manne zu, »wir wolleng fischang und den Kahn für eine Stunde miethung. Was wird das kosting?«
Als der Fischer den Kopf schüttelte, fuhr er fort:
»Fischang, fischeng, fisching, fischong, fischung wolleng wir! Verstanding?«
Er erhielt als Antwort dasselbe erstaunte Kopfschütteln und meinte zornig:
»In China scheinen nur Taubstumme in die Fischergilde aufgenommen zu werden. Dieser Mensch schaut mich an wie die Kuh das neue Thor. Was ist zu thun?«
»Wollen mal versuchen, wat ich jelernt habe,« schmunzelte der Gottfried.
»Sie? O weh! Da kommen wir auch nicht weiter!«
»Nun, einige Worte und Redensarten habe ich mich doch jemerkt. Wat Fisch und Kahn und Stunde heißt, dat weiß ich. Dat Wörtchen ›mieten(kenne ich auch. Also versuchen wir es!«
Es gelang ihm wirklich, sich verständlich zu machen, und als er dem Manne so viel Geld, als er für erforderlich hielt, in die Hand drückte, lachte derselbe am ganzen Gesichte und lud die glänzenden Herren durch drei tiefe Verneigungen ein, in das Fahrzeug zu steigen. Gottfried hatte zehnmal mehr bezahlt, als hier gebräuchlich war.
Der Kahn hatte für wenigstens acht Personen Platz. Über seine Borde waren Stangen gelegt, auf denen die Wasserraben saßen, welche vor den Fremden nicht im mindesten scheuten. Der Chinese ruderte seine Gäste ziemlich weit hinaus und hielt dann an, um das Fischen zu beginnen. Auf dem Boden des Kahnes standen einige Gefäße, welche die gefangenen Fische enthielten. Ein leeres wurde mit Wasser gefüllt, um die nunmehrige Beute aufzunehmen, welche den Fremden gehörte, da dieselben bezahlt hatten. Auf einen Zuruf ihres Herrn erhoben sich die Raben in die Luft und schossen dann in und unter das Wasser.
Das Wort Rabe ist eigentlich ein falscher Ausdruck für diese zum Fischen gleich vom Ei aus abgerichteten Tschu-tsches. Der richtige Name ist Cormoran oder Scharbe (Phalacrocorax sinensis). Sie tauchen ausgezeichnet und schießen sogar große Strecken unter dem Wasser fort, um ihre Beute zu ergreifen.
Sie werden nicht nur zum Einzelfischen, sondern auch zur gesellschaftlichen Jagd abgerichtet. Bei dieser letzteren fliegen sie in der Luft auseinander, bis sie einen Kreis bilden; dann stürzt sich jeder Vogel senkrecht in das Wasser und treibt die Beute nach der Mitte des Kreises hin, wo sie mit dem Schnabel ergriffen und in das Boot gebracht wird.
So ein Tschu-tsche kann einen ziemlich großen Fisch festhalten. Ist er ihm jedoch zu schwer, so stößt er ein kurzes Krächzen aus, auf welches ein zweiter, ja ein dritter Vogel herbei eilt, um ihm Hilfe zu leisten.
Damit sie die Beute nicht selbst verzehren, wird ihnen ein eiserner Ring oder ein enger Lederkragen um den Hals gelegt. Ist dann der Fang zu Ende, so nimmt der Fischer seinen Cormoranen diese Ringe ab und erteilt ihnen dadurch die Erlaubnis, nun für sich selbst zu sorgen.
Es währte kaum eine Viertelstunde, so war das Gefäß so gefällt, daß kein Fisch mehr in dasselbe ging. Es waren einige Aale dabei; die anderen Fische gehörten zu den Karpfenarten; auch sie hatten eine bedeutende Größe.
»Dat ist ein hübscher Fang,« meinte der Gottfried. »Wir werden ihn dem Wirte bringen, welcher diese Fische mit für dat Abendessen verwenden kann.«
»Ja, deze vischvang is zeer goed,« stimmte der Mijnheer bei. Waren wij aan het land. Ik zelf zal deze vische braden. De vischen moeten in boter en uijen gebraden worden. Ik zelf moet dat maken – ja, dieser Fischfang ist sehr gut. Fahren wir an das Land. Ich selbst werde diese Fische braten. Die Fische müssen in Butter und Zwiebeln gebraten werden. Ich selbst muß das machen.«
Der Gottfried bedeutete dem Fischer, an das Ufer zu rudern. Noch hatten sie dasselbe nicht erreicht, so stand der Kapitän von seinem Sitze auf. Für ihn als Seemann war das nichts Besonderes, vielmehr etwas Selbstverständliches. Auch der Gottfried erhob sich. Er verstand sich darauf, ein Boot zu regieren, und lief also keine Gefahr. Der Mijnheer folgte dem Beispiele der beiden. Die Augen sehnsüchtig auf das Gefäß gerichtet, welches die Fische enthielt, achtete er nicht darauf, daß das Boot im nächsten Augenblicke an das Land stoßen mußte. Er stand vorn am Bug, wo das Fahrzeug am schmalsten war. Jetzt erreichte das Boot das Ufer. Ein Stoß, ein Ruck – der Dicke verlor die Balance. Die Arme weit ausstreckend und einen lauten Schrei ausstoßend, flog er über Bord und in das hier mehr als mannstiefe Wasser.
Der Schiffer warf dem Gottfried sofort den Strick zu, mit welchem der Kahn zu befestigen war, und sprang dem Mijnheer nach. Dieser war für wenige Augenblicke verschwunden; dann aber tauchte der Chinese mit ihm auf und ruderte an das Land, wo er ihn in das Gras legte. Die auf dem Wasser schwimmende schottische Mütze hatte Turnerstick aufgefischt, während Gottfried den Kahn festband.
Der Dicke hatte weder seinen Schirm, seine Flinten, noch den daran hängenden Tornister verloren. Wäre derselbe im Wasser geblieben, so hätte das für den Mijnheer für den Augenblick einen großen Verlust ergeben, da er... seine »Wissels« im Futter desselben verborgen hielt. Dies war der Grund, daß er sich nicht von dem Ranzen zu trennen vermochte.
Jetzt lag er lang ausgestreckt da, mit geschlossenen Augen und triefend vor Wasser. Er hatte keineswegs die Besinnung verloren, denn er hustete und pustete in einem fort, ohne aber ein Glied dabei zu rühren, und füllte jede Pause, welche ihm die Anstrengung seiner Lunge gewährte, indem er rief:
»Ik ben dood; ik ben gestorven; ik ben erdronken en ersoopen – ich bin tot; ich bin gestorben; ich bin ertrunken und ersoffen!«
Alle in der Nähe weilenden Menschen waren herbei geeilt, und aller Hände streckten sich aus, um den Verunglückten nach dem Einkehrhause zu bringen. Als man ihn dort in die Stube getragen brachte, erschrak der Methusalem nicht wenig und die andern ebenso. Er wurde auf eine Bank gelegt, und Turnerstick erzählte, was und wie es geschehen war.
Die kräftigen Interjektionen des Verunglückten ließen keinen Zweifel darüber übrig, daß das ganze Malheur nur in einem kalten Bade bestehe. Das beruhigte den Methusalem vollständig, und er bat den Mijnheer, sich von der Bank zu erheben.
»Ik kan niet; ik ben erdronken!« antwortete dieser, und dabei blieb er.
Da trat der Besitzer des Kahnes herein, um die Fische zu bringen. Seiner Kleidung hatte das Wasser nichts geschadet, da dieselbe nur in einem aus Gras geflochtenen Lendenschurze bestand.
»Da kommen die Fische!« sagte der Gottfried. Mir können den Tod unseres juten Freundes doch unmöglich durch ein Festessen feiern. Also brauchen wir die Karpfen und Aale nicht. Der Mann mag sie wieder in den Fluß werfen und ihnen die Freiheit jeben.«
Im Nu sprang der Dicke auf und schrie:
»De vischen weder in het water werpen? Ik dank zeer daarvoor! Deze vischen moeten in de keuken en in de vleeschschotel; maar gij willen wij in het dolhuis scheppen, want gij hebt het verstand en het vernuft verloren – die Fische wieder in das Wasser werfen? Ich danke sehr dafür! Diese Fische müssen in die Küche und in die Bratenschüssel, aber Sie wollen wir in das Tollhaus schicken, weil Sie den Verstand und die Vernunft verloren haben!«
»Ich denke, Sie sind tot!« lachte der also Angedonnerte.
»Dood? Ik ben niet dood. Ik moet mijne vischen braden, in boter en in uijen – tot? Ich bin nicht tot. Ich muß meine Fische braten, in Butter und in Zwiebeln!«
»So hängen Sie sich bei diese Jelejenheit gleich mit über dem Feuer auf, dat Sie trocken werden! Sie sind ja zur reinen Dachtraufe jeworden!« sagte der Wichsier.
Erst jetzt blickte der Dicke an sich herab und auf die Pfütze, welche sich unter seinen Füßen gebildet hatte.
»Rechtvaardige hemel, wat is dat!« rief er aus. »Ik ben een ongelukkige Nijlpaard. O, mijne kleeren een mijn finnen goed! Mijn rok en mijn broek, mijn vest en mijne fraaie das -gerechter Himmel, was ist das! Ich bin ein unglückliches Nilpferd. O, meine Kleider und meine Wäsche! Mein Rock und meine Hosen, meine Weste und meine schöne Halsbinde!«
»Ja, Sie sehen schön aus! Dat klebt alles nur so an Ihrem dürren Jeknöchel herum. Der leibhaftige Tod kann nicht so zusammenjefallen sein!«
»Zoo dun en dor ben ik?« schrie der Geängstigte auf. »O mijne ledematen, miin ruggegraat en mijne ribben! Mijnheer Methusalem, wat zegt het woordenboek van het erdrinken en ersoppen – so dünn und dürr bin ich? O meine Gliedmaßen, mein Rückgrat und mein Rippen! Herr Methusalem, was sagt das Wörterbuch vom Ertrinken und Ersaufen?«
»Daß man sofort die Kleider wechseln und einige Tassen heißen Thees trinken soll, wenn man nicht eine Entzündung der Eingeweide riskieren oder gar sterben will,« antwortete der Gefragte sehr ernst.
»Ik will niet sterven, en ik will ook geene ontsteking van mijn ingewand. Geeft mij tee en kleeren! Helpt mij! Ik hoop, dat ik niet sterven zal, omdat de lucht hier zoo goed en gezond is – ich will nicht sterben, und ich will auch keine Entzündung meiner Eingeweide. Gebt mir Thee und Kleidungsstücke! Helft mir! Ich hoffe, daß ich nicht sterben werde, weil die Luft so gut und gesund ist!«
Diesem angstvollen und dringenden Wunsche wurde Folge geleistet. Degenfeld brachte den Verunglückten zum Wirte, welcher sich seiner annahm. Dann erhielt der Fischer ein Geschenk für seine rettende That. Es war, nach deutschem Gelde fast nur eine Kleinigkeit, und doch hatte er eine solche Summe noch nie in der Hand gehabt. Seine Dankbarkeit war außerordentlich.
Als dann der Mijnheer wieder in der Stube erschien, bot er einen höchst eigenartigen Anblick. Eine Hose für ihn zu finden oder gar eine Weste und einen Rock, war ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. In China wird zwar die Wohlbeleibtheit mit der Schönheit für identisch gehalten; aber es gab leider im ganzen Dorfe und dessen Umgegend keinen Mann, der sich nach dieser Anschauung in Beziehung auf seine Schönheit mit dem Miinheer hätte messen können. Darum war kein einziges passendes Kleidungsstück aufzutreiben gewesen. Ein Anzug aber hatte doch geschafft werden müssen, und zwar einer, welcher der Würde des »erlauchten« fremden Herrn angemessen war. Darum hatte der Wirt zu dem Bonzen geschickt, welcher über den einzigen gewebten Gegenstand, der hier in Betracht kommen konnte, zu verfügen hatte; das war nämlich der Vorhang im Götzentempelchen des Dorfes. Glücklicherweise pflegen solche Dorfseelsorger nicht allzu streng zu sein, und so hatte der Mann sich bereit finden lassen, die heilige Gardine zu dem erwähnten profanen Zwecke zur Verfügung zu stellen, aber freilich auch erst dann, als er vernommen hatte, daß der Bettlerkönig anwesend und der Fremdling ein Freund desselben sei.
Dieser Vorhang hatte einen schmutzig-gelben Lackfarbengrund, auf welchem allerlei phantastisches Getier, Götterköpfe und ähnliches aufgetragen war, aber so dick, daß das fast brettsteife Gemälde nur sehr schwer in Falten zu bringen war. Es sah vielmehr aus, als ob der Dicke sich mit einer höchst unregelmäßig gefalzten chinesischen Wand umgeben habe, aus welcher nur vorn die Hände und oben der Kopf sich an das Licht des Tages wagen durften.
Und auf diesem Kopfe saß eine hohe, spitze, zuckerhutförmige Soldatenmütze, an deren vorderer Seite das Zerrbild eines Drachen befestigt war. Zu beiden Seiten hingen Schutzklappen hernieder, welche der Mijnheer unter seinem Kinn zusammengebunden hatte.
So kam er, um die steife Malerleinwand nicht zu zerbrechen, langsam herein- und vorsichtig nähergeschritten. Seine Freunde mußten sich die größte Mühe geben, nicht in ein lautes Lachen zu fallen, denn durch diese schauderöse Umhüllung war der sonst schon außergewöhnliche Umfang des Dicken wenigstens verdoppelt worden.
»Hier ben ik weder, Mijnheeren,« sagte er gravitätisch. »Mijne gezondheid is weder zeer goed, en ik heb eenen honger, dat mijn mag bot beneden toe de voeten gat – hier bin ich wieder, meine Herren. Meine Gesundheit ist wieder sehr gut, und ich habe einen Hunger, daß mein Magen bis herab zu den Füßen reicht.«
»Nun, dann sind Sie ja nicht tot!« antwortete der Methusalem.
»Neen, daar denk ik niet daaraan. Waaneer eten wij – nein, da denk' ich nicht daran. Wann essen wir?«
»Jetzt noch nicht. Wollen Sie sich nicht setzen?«
»Nee, dat kan ik niet.«
»Warum nicht?«
»Omdat mijn keizermantel breekt – weil mein Kaisermantel zerbricht.«
»So müssen Sie freilich stehen, bis Ihre Kleidung trocken geworden ist. Übrigens die Mütze steht Ihnen ausgezeichnet!«
»Ja. Zij is van het kanonenvolk. Waar zijn mijne geweeren -ja. Sie ist von der Artillerie. Wo sind meine Gewehre?«
»Die haben wir einstweilen ab- und auch ausgetrocknet. Ihren Ranzen mußten wir geradezu ausgießen.«
»Wat?« fragte er schnell und in besorgtem Tone. »Was zoo vel water daarin – was? War so viel Wasser drin?«
»Ja.«
»O mijn ongelukk! Wat zal ik maken?«
Er rief das in einem so jämmerlichen Tone, als ob es sich wirklich um das größte Unheil handle. Der Ranzen lag auf der Bank, von welcher er ihn wegnehmen wollte; aber das ging nicht, da er sich wegen seines steifen »Kaisermantels« nicht bücken konnte.
»Was ist's?« fragte der Methusalem. »Warum erschrecken Sie so?«
»Wat het geeft? Lieve hemel, ik heb mijne wissels daarin!«
»Ihre Wechsel? Wohl eingenäht?«
»Ja; ik heb zij daarin geschoben. O, wat ben ik geschrokken – ja, ich habe sie darin versteckt. O, was bin ich erschrocken!«
»Dann nur schnell heraus mit ihnen, sonst werden sie zu schanden!«
»Dat God verhoede! Maakt op, maakt op – das wolle Gott verhüten! Macht auf, macht auf!«
Degenfeld trennte das Futter los, welches glücklicherweise aus Wachsleinwand bestand und die Feuchtigkeit leidlich abgehalten hatte, so daß dieselbe nur bis auf das starke Couvert gedrungen war, in welchem die Wertpapiere steckten.
»Steekt zij de wissels voor korte tijd in uwen zak! In mijnem keizermantel is geen zak – stecken Sie die Wechsels für kurze Zeit in Ihre Tasche! In meinem Kaisermantel ist kein Sack.«
So war denn auch in dieser Beziehung der Unglücksfall gut abgelaufen. Selbst der Mütze hatten die elementaren Gewalten nichts anhaben können. Turnerstick hatte sie ausgedrückt und dem dicken Hausgötzen, welcher in einer Ecke des Zimmers thronte, auf das kugelrunde Haupt gesetzt, damit sie auf diesem ehrwürdigen Platze trocknen solle.
Mittlerweile wurde es draußen dunkel, und der Wirt brachte einige Lampen herein – wirkliche Petroleumlampen mit Breitbrenner und Cylinder, ein zweites, sicheres Zeichen, daß man sich in der Nähe des Onkels Daniel befand.
Dann wurden die Tische zum Mahle gerüstet, und Liang-ssi ging, seine Mutter und die Schwestern zu holen. Als sie kamen, wurde der erste Gang aufgetragen, eine dünne Suppe, in welcher geröstete Fischflossen lagen.
Die Damen waren ebenso gekleidet wie am Nachmittage. Sie erhielten die Ehrenplätze, die Mutter obenan und die Töchter ihr zu beiden Seiten, was ihnen bisher jedenfalls noch nie geschehen war. Neben der einen Tochter saß der Bettlerkönig und neben der andern der Methusalem. Beide gaben sich alle Mühe, durch rücksichtsvolle Aufmerksamkeit die Damen von ihrer großen Befangenheit zu befreien, was ihnen aber nicht gelingen wollte. Es wurde ihnen nur sehr selten eine kurze, kaum hörbare Antwort zu teil.
Die Gerichte bestanden aus verschieden zubereiteten Fischen und dem ebenso vielfältig gekochten, gebackenen und gebratenen Fleische jenes Tieres, welches der Mohammedaner ebenso wie der Jude verachtet, während der Chinese es in großen Mengen züchtet; ein österreichischer Dichter hat ihm sogar eine Stotter-Ode gewidmet, deren erste Strophe folgendermaßen lautet:
»Ich kenne ein lie-lie-lie-liebliches Tier;
Dem schenk' ich a-lle A-achtung.
Es lebt auf je-jedem Ba-bauerhof hier
Und auch auf je-jeder Pa-pachtung,
Es stammt aus dem Bako-ko-konyer Wald
Und lebt von dem, wa-was es frißt.
Es schmeckt wa-wa-warm, und es schmeckt ka-ka-kalt,
Wenn's saftig gebraten i-ist.«
Daß der Mijnheer es nicht mit den Mohammedanern hielt, sondern mit denjenigen verständigen Völkern, welche dem betreffenden Rüsseltiere die demselben gebührende Ehre gern und voll angedeihen lassen, das bewies er auf das energischeste. Er langte zu und ließ sich zulangen, solange es etwas gab. Die anderen waren satt, da aß er noch immer. Und als da noch auf einem großen Teller die Krone des Speisezettels hereingetragen wurde, wobei der Wirt mit lauter, triumphierender Stimme rief: »Siao-t'ün!« so verstand der Dicke zwar die chinesische Bezeichnung nicht, aber er erkannte das jugendliche Geschöpf in der knusperig gebratenen Haut und rief entzückt aus *
»Een klein, gebraden varken! Dat is goed! Dat eet ik, dat eet ik op; ja wel, ik eet het varken zekerljk al op – ein kleines Bratferkel! Das ist gut! Das esse ich, das esse ich auf; jawohl, ich esse das Ferkel sicherlich ganz auf!«
Er machte sich mit einem Eifer darüber her, als ob er noch gar nichts gegessen habe. Und das that er stehend, da er nicht sitzen konnte. Der Methusalem bekam wirklich Angst, daß er sich Schaden thun werde, und nur aus diesem Grunde verlangte er auch für sich ein Stück und forderte den Kapitän und den Gottfried mit einem bezeichnenden Blicke auf, ein Gleiches zu thun. Das übrige aber wurde von dem tapfern Dicken wirklich »opgegeten«.
Zuletzt gab es für die Damen Thee und für die Herren Raki und einen Reiswein, welcher besser war als derjenige, den sie früher getrunken hatten.
Die Damen, welche nur äußerst wenig genossen hatten, da es für eine Chinesin unschicklich ist, vor fremden Augen die Hände wiederholt sehen zu lassen, wurden, nachdem sie sich höchst ceremoniell verabschiedet hatten, nach Tische von Liang-ssi und Jin-tsian nach Hause begleitet. Die Zurückbleibenden hatten sich beim Scheiden auf das höflichste für ihr Erscheinen bedankt.
Nun war es Zeit geworden, zur Ruhe zu gehen. Der T'eu hielt Wort; er ließ sich selbst durch die dringendsten Bitten der Fremden nicht bestimmen, die ihnen zugesagten Räume für sich und seine Begleiter zu nehmen. Er schlief mit denselben in der Gaststube, in welcher gegessen worden war.
Die Schlafzimmer bestanden übrigens aus den leeren vier Wänden, in welchen niedrige Rohrgestelle standen, die mit Hilfe der mitgebrachten Decken in Betten verwandelt werden mußten. Sie waren je für zwei Personen eingerichtet. Der Methusalem war mit Richard und der Gottfried mit dem Miinheer beisammen. Letzterer fand seine getrockneten Kleider vor und entledigte sich schleunigst des heidnischen Mantels, indem er brummte:
»Deze gordijne hat mij al mijnen lichaam opgewreven. Ik dank daarvoor en word nimmer weder in 't water vallen! Gesteld dat de lucht niet zoo goed ware geweest, zoo ware ik nook voor de middernacht dood; ik ware gestorven aan de ontsteking van miine long en lever – diese Gardine hat meinen ganzen Leichnam aufgerieben. Ich danke dafür und werde niemals wieder in das Wasser fallen! Angenommen, daß die Luft nicht so gut gewesen wäre, so wäre ich noch vor Mitternacht tot; ich wäre gestorben an der Entzündung meiner Lunge und Leber!«
»Ja, dat ist wahr,« stimmte der Gottfried heimlich lachend bei. »Die hiesige Luft ist ausjezeichnet; sie scheint in hohem Jrade heilsam zu sein.«
»Dat is zij, en daarom zal ik hier blijven – das ist sie, und darum werde ich hier bleiben.«
»Ist's Ihr Ernst? Wollen Sie wirklich dat Jeschäft des Onkels Daniel kaufen?«
»Ja, ik koop al de fabriek – ja, ich kaufe die ganze Fabrik.«
»Notabene, wenn er Lust hat, sie zu verkaufen. Prächtig wäre dat freilich. Er könnte da mit uns nach Deutschland jehen und auf seine chinesischen Lorbeeren dort ausruhen.«
»En ik hier op meinen nederlandischen peper. Doch voor hedendaags leg ik mi op dit bed. Ik wil slapen – und ich hier auf meinem niederländischen Pfeffer. Doch für den heutigen Tag lege ich mich auf dieses Bett. Ich will schlafen!«
»Ja, aber nicht schnarchen!«
»Ik? Dat mak ik niets. Ik slaap zeer stil en mooi; dat kunnt gij geloven – ich? Das thue ich nie. Ich schlafe sehr still und artig; das können Sie glauben!«
Aber bereits nach zehn Minuten schnarchte er in der Weise, daß der Gottfried während der ganzen Nacht von Erdbeben und Kanonendonner träumte und am Morgen herzlich froh war, als er sah, daß ihn weder eine Kugel getötet noch die Erde verschlungen habe.
Als die Reisenden am anderen Morgen in das Gastzimmer traten, fanden sie den T'eu schon in voller Geschäftsthätigkeit. Er hatte gestern bereits Boten nach den umliegenden Orten gesandt, und die Sian-yos derselben waren am frühen Tage gekommen, ihm ihre Abgaben zu bringen, durch welche sie sich von dem Besuche seiner Untergebenen, der Bettler, loskauften.
Das war ein sehr lebhaftes Feilschen und Handeln, bei welchem sich aber nur derjenige seiner Offiziere beteiligte, zu dessen Bezirk diese Ortschaften gehörten. Der T'eu sprach stets nur das letzte, entscheidende Wort dazu, und der Methusalem fand, daß die Beträge, welche gezahlt wurden, äußerst gering waren. Es wurde für die Familie nach unserem Gelde kaum ein Groschen berechnet. Ledige selbständige Personen hatten nur die Hälfte zu geben, und dafür waren diese Orte ein ganzes Vierteljahr lang frei von allen Bettelbesuchen. Ein chinesischer T'eu duldet in seinem Bereiche keinen Armen, welcher auf eigene Rechnung betteln geht.
Nach Beilegung dieser Angelegenheit wurde gefrühstückt, wobei der Mijnheer schon wieder wacker in das Gefecht ging, und dann brach man auf.
Liang-ssi und Jin-tsian ritten natürlich auch mit. Der Dicke bat, ihn heute nicht anzubinden, und hielt sich während des ganzen Rittes auch recht leidlich im Sattel.
Was von der Bevölkerung laufen konnte, begleitete den Trupp bis hinaus vor das Dorf, wo ein Nebenflüßchen ein schmales Seitenthal durch die Bergkette gerissen hatte. Diesem Thale mußte man folgen, um in die erwähnte kohlenreiche Ebene zu gelangen. Der T'eu versicherte, daß man schon am zeitigen Nachmittag in Ho-tsing-ting sein werde.
Der Methusalem hielt sich vorzugsweise zu diesem Manne, welcher selbstverständlich ein ausgezeichneter Kenner chinesischer Zustände war. Von ihm konnte und wollte er lernen und erhielt über alles, was er fragte, die ausführlichste Auskunft und Belehrung. Zuweilen gesellte er sich aber auch zu den Gefährten, welche sich für sich halten mußten, weil sie sich mit den Begleitern des Bettlerkönigs nicht genügend zu verständigen vermochten.
Richard Stein und der Methusalem hatten einige Worte und Redensarten mit ihnen gewechselt. Der Dicke versuchte es gar nicht, seine drei oder vier Worte, welche er sich gemerkt hatte, an den Mann zu bringen. Er unterhielt sich aber trotzdem ganz gut mit ihnen, indem er ihnen zuweilen freundlich zunickte oder ihnen ein sehr wohlwollendes Lächeln von seinem fetten Gesicht entgegenglänzen ließ. Turnerstick aber hatte es nicht lassen können, mit seinen berühmten Sprachkenntnissen zu glänzen, war aber natürlich nicht verstanden worden. Darum sagte er zu dem Methusalem, als dieser sich wieder einmal für kurze Zeit zu ihnen gesellte, in mürrischer Weise:
»Da reiten Sie nun immer neben diesem T'eu daher! Ich weiß nicht, was Sie an ihm und seinen Leuten finden!«
»Nun, alles was ich suche, nicht mehr und nicht weniger.«
»Ich aber gar nichts. Diese Menschen verstehen nicht einmal ihre eigene Muttersprache!«
»Warum aber verstehen sie denn mich?«
»Weil Sie ein ebenso horribles Chinesisch sprechen wie sie. Ich habe gestern und heute nicht eine einzige gescheite Endung zu hören bekommen. Höchstens wenn einmal von dem Wohnorte des Onkels Daniel die Rede war. Ho-tsing-ting, das ist wirklich echt chinesisch. Ing, ang, ong, ung und eng. Merken Sie sich das endlich doch einmal! Ich will herzlich froh sein, wenn wir zum Onkel kommen, denn ich hoffe, daß er so gut und gewandt spricht, daß ich mich mit ihm unterhalten kann.«
»Jedenfalls, da er lange genug in China gelebt hat.«
»Was wird er für Augen machen, wenn er Deutsche kommen sieht!«
»Deutsche? Meinen Sie, daß er uns sofort als solche erkennen werde?«
»Er wird es aus Ihren Studentenanzügen erraten.«
»Dergleichen werden auch an den Universitäten anderer Länder getragen. Übrigens möchte ich ihm nicht gleich sagen, was wir wollen und wer wir sind.«
»Warum?«
»Um ihn dann desto mehr zu überraschen. Er wird allerdings sehen, daß wir des Studiums Beflissene sind, aber
»Ik ook?« unterbrach ihn der Dicke.
»Nein, denn Sie sind nur ein der lieben Ernährung Beflissener. Aber wir können uns als englische Bursche ausgeben, welche sich auf einer Studentenfahrt rund um die Erde befinden. Engländern ist so etwas wohl zuzutrauen.«
»Gut! Und ich bin der Kapitän, mit dessen Schiffe Sie die Fahrt unternehmen. Nicht?«
»Ja.«
»En ik? Wat ben ik?« fragte der Mijnheer.
»Wat sind Sie?« antwortete der Gottfried. »Sie sind natürlich kein andrer als der dicke Kaffernhäuptling Cetewayo, den wir mit nach London nehmen wollen, um ihm zu lehren, wie ein juter Plumpudding jemacht wird!«
»Zoo! En gij, wat zijt gij, Mijnheer? Gij zijt dat ongelukkige Nijlpaard, dat ik in Londen zien laten wil, namelijk voor geld, een Schilling van ieden Mijnheer van goeden huize en een halfen Schilling van ieden baardscheerder, penseelmaker en hoogeschoolfagotblazer – so! Und Sie, was sind Sie, Mijnheer? Sie sind das unglückliche Nilpferd, welches ich in London sehen lassen will, nämlich für Geld, einen Schilling von jedem Herrn aus gutem Hause und einen halben Schilling von jedem Bartscherer, Pinselmacher und Universitätsfagottbläser!«
»Sehr gut!« lachte Gottfried. »Da haben Sie mir jewaltig ablaufen lassen, und ik jestehe, dat ik es wohl verdient habe. Aberst es war nicht so jemeint, und es fuhr mich nur so heraus, weil Sie dick sind und der Kaffer auch. Darum nichts für unjut, oller Schwede! Ich bleibe doch Ihr bester Freund, den Sie haben, und wir können uns also janz jut von- und miteinander fürs Jeld sehen lassen. Nicht?«
»Neen! Ik wil weten, wat ik in Ho-tsing-ting zijn zal -nein! Ich will wissen, was ich in Ho-tsing-ting sein soll.«
»Wat Sie für eine Rolle spielen sollen? Essen Sie und trinken Sie! Dat wird wohl das beste sein.«
»Ja, dat is goed; dat laat ik geern gelden. Gij zijt mijn vriend, en ik heb zij zeer liev – ja, das ist gut; das lasse ich gern gelten. Sie sind mein Freund, und ich habe Sie sehr lieb.«
Bei diesen Worten, welche der gute Mensch nicht etwa ironisch, sondern in vollem Ernste aussprach, reichte er dem Gottfried seine Hand hinüber, welche derselbe herzhaft drückte.
»So ist's recht,« sagte der Methusalem. »Freunde dürfen scherzhafte Worte nicht auf die Goldwage legen. Aber, Gottfried, hüte deine Zunge besser! Wer sich zu schnell gehen läßt, der muß sich darauf gefaßt machen, einmal derb angehalten zu werden. Du wirst mir, wie schon oft gesagt, zuweilen zu üppig.«
»Davon ist mich nichts bewußt, und wat ich dem Mijnheer sagte, dat war nur eine kleine und sehr jerechte Rache.«
»Wofür?«
»Für seine Dampfsäge.«
»Ah! Hat er heute nacht geschnarcht?«
»Jeschnarcht! Wat dat für ein jelinder und nachsichtiger Ausdruck ist! Jesägt hat er! Baumstämme hat er auseinander jerissen und zu Brettern verschnitten, Baumstämme so stark und lang wie ein Leuchtturm, dat die Latten und Schalen nur so abjeflogen sind!«
»Neen,« protestierte der Dicke. »Dat kan ik niet. Daarvan wet ik niets – nein. Das kann ich nicht. Davon weiß ich nichts.«
»Ja, weil Sie schlafen wie ein Faß, welches sich auch dann noch nicht regt, wenn es jeschüttelt wird. Ik habe alles versucht, Ihnen sojar die Nase zujehalten; aberst auch dat half nichts, denn da schnarchten Sie dann mit dem Munde. Wie Sie dat fertig bringen, dat erklärt mich kein Strumpfwirker und kein Schlosser, wat doch sehr jeräuschvolle Handwerke sind. Mir bekommen Sie nie wieder als sanften Ruhejenossen! Wenn ich Ihnen wejen nächtliche Ruhestörung anzeige, bekommen Sie drei Jahre Bruchsaler Einzelhaft und müssen auch noch die Kosten tragen. Ich war voller Jift und Jalle, und da ist mich, ohne dat er erst viel um Erlaubnis jefragt hat, der dicke Kaffer entfahren. Er muß selbst im allerschlimmsten Falle, so wie die Anjelejenheiten stehen, bei jedem jerecht denkenden Richter Milderungsjründe finden. Jehen wir also darüber schleunigst zur Tagesordnung über! Wir hatten von Onkel Daniel jesprochen und von dem Plane, ihm uns als englische Studenten anzubieten. Bei welche Jelejenheit aber soll er dann die Wahrheit erfahren?«
»Bei der ersten passenden. Vorher läßt sich das nicht sagen,« meinte Degenfeld.
»O doch! Der Mensch muß sich seine juten Jelejenheiten immer selbst machen können.«
»Nun, so versuche es, und mache eine!«
»Schön! Ich setze also den Fall, er sei zur Ruhe jegangen und schläft, ohne dat ihm die Sägemühle des Mijnheer um seinen jerechten Schlummer übervorteilt. Er wird träumen, und von wat? Als juter Deutscher natürlich von seine jeeinigte Heimat. Und während da Preußen und Sachsen, Bayern, Württemberg und Baden, Lippe-Detmold und Vaduz samt den Hansestädten an seinem Jeiste vorüberziehen, stimmen wir unter dem Fenster seines trauten Kämmerleins ein deutsches Ständchen an, ein Terzett, wie wir es ja oft daheim jesungen haben, wenn wir zufälligerweise einmal nicht alle drei zugleich an Heiserkeit litten. Wat sagen Sie zu diese schneidige Idee?«
»Sie ist nicht schlecht.«
»Nicht wahr?«
»Nein, sie ist vielmehr sehr gut,« stimmte Richard bei. »Wir wählen eins von unsren prächtigen Liedern aus, welche Mutter stets so gern hörte.«
»Aber welches?« fragte der Methusalem, welcher sich schon im voraus darauf freute, seinen gewaltigen Bierbaß wieder einmal hören lassen zu können.
»Natürlich eins, welches zu die Situation paßt,« antwortete der Gottfried. »Da die musikalische Widmung an eine nachtschlafende Person jerichtet ist, so schlage ich vor, dat Ruhe bringende Lied:
»Schlaf, Kindchen, schlaf!
Dein Vater kauft ein Schaf«
zu singen. Und wenn er darüber aufjewacht ist, so bringen wir als zweiten Jang, wat ihm sofort wieder einlummern muß, vielleicht dat liebliche:
Ein Schäfermädchen weidete
Zwei Lämmer an der Hand,
Auf einer Flur, wo fetter Klee
Und Jänseblümchen stand.«
Und wenn er dann wieder bei Morpheusens ruht, so – – –«
»Schweig!« lachte der Methusalem. »Es muß etwas Kräftiges sein, denn zu etwas anderm paßt meine Kehle nicht. Ein kerniges, echt deutsches Lied, so wie Arndt sie gedichtet hat.«
»Da gibt's ja gleich eins, welches paßt,« meinte Richard. »Es ist von Arndt und muß jeden Deutschen, welcher es in der Fremde hört, erfreuen, zumal, wenn man ihn damit, daß man ein Deutscher ist, überraschen will. Ich meine nämlich: ›Was ist des Deutschen Vaterland?‹«
»Ja, das ist's, das wird gesungen. Das ist etwas für meinen Baß. ›Was ist des Deutschen Vaterland?‹«
Diese letzten Worte sprach er nicht, sondern er sang sie nach der allbekannten Melodie, und zwar mit so dröhnender Stimme, daß die Pferde stutzten und die Reiter sich erschrocken nach ihm umwandten. Er lachte erfreut über diese Wirkung seines Stimmorgans und fuhr fort:
»Wir können alle Verse auswendig, und umwerfen werden wir auch nicht, da wir drei das Lied unzählige Male dreistimmig gesungen haben, du die Melodie, Richard, der Gottfried das Zwischengesäusel und ich die Grund- und Orgeltöne.«
»En ik?« fragte der Mijnheer. »Ik wil ook met zingen!«
»Sie?« fragte der Gottfried. »Können Sie denn singen?«
»O, zeer goed, zeer fraai. Ik kan zingen en flueten als eene meerle of nachtegal – o, sehr gut, sehr schön. Ich kann singen und pfeifen wie eine Amsel oder Nachtigall.«
»Aber nicht deutsch!«
»Ook duitsch.«
»Wo haben Sie das jelernt?«
»In Keulen. Ik was daar metlid van de Lyra – in Köln. Ich war da Mitglied der Lyra.«
»Also eines Gesangvereins?«
»Ja. Wij hebben daar saturtag 's avonds gezongen – ja. Wir haben da Samstag abends gesungen.«
»So! Aberst dat Lied, welches wir meinen, dat kennen Sie wohl nicht?«
»Wat is des duitschers vaderland? O, dat kan ik ongemeen fraai zingen – o, das kann ich ungemein schön singen.«
»Und wat haben Sie für eine Stimme?«
»Eene zeer gunstige een bijzondere – eine sehr günstige und vorzügliche.«
»Ich meine, ob Sie Baß, Tenor oder Bariton singen?«
»Ik zing zeer hoog; ik heb ten minste Diskant en ook nook hooger – ich singe sehr hoch; ich habe mindestens Diskant und auch noch höher.«
»Wat! Diskant und noch höher? Dann singen Sie wohl Pikkoloflöte?«
»Ja wel; ik zing ook de fluite; ik zing veel beter als de leeuwerik en de kwaktel – ja wohl; ich singe auch die Flöte; ich singe viel besser als die Lerche und die Wachtel.«
»So sind Sie ein wahres Unikum, und ich bin neugierig, Sie zu hören.«
»Zal ik straks thans eenmal zingen? Ik ontgin zoofoort -soll ich gleich jetzt singen? Ich fange sofort an!«
»Ja, singen Sie etwas Schönes!«
»Zoo word ik zingen eene duitsche zangwijze, namelijk: morgenrood, morgenrood. Niet? – so werde ich singen eine deutsche Melodie, nämlich: Morgenrot, Morgenrot. Nicht?«
»Ja. Fangen Sie an; dann leuchtet's mich janz jewiß zum frühen Tod.«
Der Dicke hustete einige Male sehr nachdrücklich, um seine Kehle zu reinigen; dann fuhr er sich mit dem Finger hinter die Halsbinde, um sich zu überzeugen, daß dort nichts vorhanden sei, woran die Töne hängen bleiben könnten. Dann machte er die Augen zu und rief: »Voorgezien, voorgezien – vorgesehen, vorgesehen!« als ob für die Zuhörer eine Gefahr nahe sei, und öffnete den Mund, um sein musikalisches Exempel zu statuieren. Da aber bat ihn der Methusalem:
»Jetzt nicht, jetzt nicht, Mijnheer! Wir wollen lieber warten bis zum Abend.«
Er befürchtete, daß der Dicke sich lächerlich machen werde. Dieser machte den Mund wieder zu und die Augen auf und meinte in gleichmütigem Tone:
»Ik heb niets daartegen. Ik kan ook 's avonds zingen. Het klinkt insgelijks goed – ich habe nichts dagegen. Ich kann auch des Abends singen. Es klingt ebenfalls gut.«
Von diesem Erfolge befriedigt, lenkte der Methusalem sein Pferd wieder an die Seite des Bettlerkönigs, wo es zwar weniger zu lachen, aber mehr zu lernen gab.
Der Trupp hatte die Bergkette längst hinter sich und befand sich auf einem weiten unabsehbaren Gefilde, aus dessen Grün die Häuser zahlreicher Dörfer hervorblickten. Wald gab es gar nicht, aber in der Nähe der Ortschaften Fruchtbäume genug. Die Felder wurden durch nutzbare Bambushecken voneinander getrennt.
Die gut gepflegte Straße führte an der Seite des erwähnten Nebenflüßchens hin, bis sie dasselbe in östlicher Richtung verließ, um sich nach dem Gebiete des Dschangflusses zu wenden, an dessen nördlichem Quellarme Ho-tsing-ting lag.
Kurz vor Mittag wurde Rast gemacht, doch nur um die Pferde zu tränken. Dann ging es wieder weiter. Man merkte mehr und mehr, welchem Orte man sich näherte. Karren mit Kohlen oder Petroleumgefäßen begegneten den Reisenden. Einzelne Arbeiter mit geschwärzten Gesichtern kamen vorüber, und in der Luft machte sich jener nicht sehr angenehme Duft bemerkbar, welcher in der Nähe von Petroleumwerken unausbleiblich ist.
»Dat riekt goed,« sagte der Mijnheer; »dat heb ik gaarn; dat is zeer gezond voor de borst en de long – das riecht gut; das habe ich gern; das ist gesund für die Brust und die Lunge.«
Er hatte sich einmal in diese Gegend verliebt, und nun gefiel ihm alles, was dieselbe bot.
»Ja,« nickte der Gottfried zustimmend. »Der Petroleumgeruch soll ein ausgezeichnetes Mittel gegen die Verzehrung sein. Wäre ich kränklich und von schwacher Leibesgestalt, so würde ich hier in China bleiben.«
»Ja, gewisselijk! Ik ben zwak, en ik blijf daarom hier.«
»Daran thun Sie sehr recht, denn bei dieser gesunden Luft braucht man weder Thee noch Wörterbuch. Sie werden sich hier sehr schnell erholen.«
Man ritt jetzt durch ein Dorf, den letzten Ort vor Ho-tsing-ting. Am Einkehrhause stieg soeben ein Reiter auf sein Pferd. Er war ein junger Mann von vielleicht dreißig Jahren und vollständig chinesisch gekleidet; doch trug er keinen Zopf.
»Holla, Monsieur van Berken, treffen wir Sie hier? Reiten Sie heim?« rief ihm Liang-ssi in deutscher Sprache zu.
Der Mann hatte sich nicht umgeblickt und also die Reiter nicht gesehen. Jetzt wendete er ihnen das Gesicht zu. Als sein Auge auf Liang-ssi und den Bettlerkönig fiel, leuchteten seine intelligenten Züge freudig auf; er lenkte sein Pferd zu ihnen hin, reichte dem ersteren die Hand, verbeugte sich vor dem letzteren und sagte, doch in chinesischer Sprache:
»Das ist eine Überraschung! Endlich, endlich kehren Sie zurück, lieber Liang-ssi! Wir glaubten, es sei Ihnen ein Unglück begegnet, da Sie so viel länger fortblieben, als vereinbart war.«
»Da haben Sie sich auch nicht getäuscht.«
»Wirklich? Was ist geschehen?«
»Ich geriet unter die Piraten.«
»Alle Wetter! Das müssen Sie erzählen. Wie haben Sie sich wieder losgemacht?«
»Mir wäre das unmöglich gewesen. Ich habe meine Befreiung diesen fremden Herren zu verdanken, welche Herrn Stein kennen lernen wollen, vier Englishmen und ein Holländer, Mijnheer von Aardappelenbosch, welcher außerordentlich erfreut war, als er von mir erfuhr, daß er in Ihnen hier einen Herrn aus Belgien sehen werde.«
»Wie? Sie sind ein Niederländer, Miinheer?« fragte der Ingenieur erstaunt, indem er sich der deutschen Sprache bediente, da er wußte, daß Liang-ssi derselben mächtig war.
»Ja, ik ben een Nederlander,« antwortete der Dicke. »En gij, wat zijt gij?«
»Ich bin ein Belgier, aus Louvain gebürtig.«
»Louvain, dat is Löwen! Zijt gij de machinist, de mechaniker von Mijnheer Stein?«
»Ja, ich bin der Maschinist, der Mechaniker dieses Herrn.«
»Dat is goed! Dat is zeer fraai! Spreekt gij ook hollandsch -das ist gut! Das ist sehr schön! Sprechen Sie auch holländisch?«
»Ja,«
»Zo moeten wij hollandsch spreeken!«
»Sehr gern! Aber die andern Herren würden uns nicht verstehen. Warten wir also, bis wir allein sind! Ich freue mich sehr, mich wieder einmal dieser Sprache bedienen zu können.«
»Ik ook. Wij zullen zeer goed spreeken. Hoe is dat eten in Ho-tsing-ting – ich auch. Wir werden sehr gut sprechen. Wie ist das Essen in Ho-tsing-ting?«
»Das Essen?« antwortete der Belgier, einigermaßen erstaunt über die so unvermittelte Erkundigung. »Ich kann es nur loben. Wir speisen nach chinesischer und auch nach unsrer heimatlichen Küche.«
»Dat is zeer goed van dezen oom Daniel – das ist sehr gut von diesem Onkel Daniel!«
»Sie nennen ihn Ohm, also Onkel? Sie wissen auch seinen Vornamen? Wie kommen Sie dazu, ihn Onkel zu heißen?«
»Dewijl – aangezien – – naardien – – – weil – in Hinsicht, daß – – indem – – –« stotterte der Dicke verlegen, da er im Begriffe gestanden hatte, das zu verraten, was einstweilen noch Geheimnis bleiben sollte.
»Ich will es Ihnen sagen,« kam ihm der Methusalem in deutscher Sprache zu Hilfe. »Wir wollten eigentlich noch nicht darüber sprechen; aber Sie werden uns nicht verraten, und vielleicht bedürfen wir auch Ihrer Hilfe. Wir sind nämlich keine Engländer, sondern Deutsche.«
»Deutsche, ah! Doch nicht etwa gar – – – ?«
Er musterte die studentisch Angezogenen mit unsicherem Blicke.
»Nun, was meinen Sie? Doch nicht etwa gar – – – ?«
»Aus der Heimat meines Herrn?«
»Ja, daher kommen wir.«
»Und ist dieser junge Herr vielleicht ein Neffe meines Herrn?«
Er deutete auf Richard.
»Ja, das ist er. Er heißt Richard Stein.«
»Welch eine Überraschung! Meine Herren, ich begrüße Sie auf das Herzlichste. Sie können sich denken, daß Sie hoch willkommen sein werden!«
»Das hoffen wir allerdings!«
»Ja, ich kann Ihnen versichern, daß er Sie mit offenen Armen aufnehmen wird.«
Er schüttelte ihnen die Hände und fuhr dann fort:
»Aber wie ist es Ihnen möglich gewesen, in dieser Kleidung bis hierher zu kommen?«
»Warum sollte das nicht möglich sein?«
»Sie müssen ungeheures Aufsehen erregt haben. Ihre Mützen fallen ja schon in der Heimat auf, um wieviel mehr also hier!«
»Nun, man hat uns allerdings mit großer Aufmerksamkeit betrachtet. Es ist uns das zuweilen lästig geworden, aber wirkliche Unannehmlichkeiten oder gar Schaden haben wir davon nicht gehabt.«
»Das wundert mich! Dieser Herr hat ja sogar ein Fagott mit!«
»Ja, dat habe ich mit!« nickte der Gottfried, »und warum sollte ich es nicht mitnehmen? Es ist mich ans Herz jewachsen, denn es stammt von einem Jevatter meines Urjroßvaters her und hat sich so nach und nach von Kind auf Kindeskind jeerbt. Es ist ein Universalstück. Wenn ich den Knauf oben abschraube und die Löcher zuhalte, wozu jrad zwölf Fingerspitzen jehören, so kann ich es als Blasrohr benutzen. Ich kann mir mit ihm jegen Räuber und sonstige Onkels verteidigen, indem ich sie anfagotte und, wenn sie nicht sofort ausreißen, ihnen dat Instrument um die Köpfe schlage. Es ist mich stets treu jewesen, hat mir nie beleidigt und jekränkt und soll mir auch fernerhin durch dat Leben begleiten, bis ik mir zu meinen Vätern versammle und ihm dann auch die Luft ausjeht.«
»Es scheint, daß Sie eine lustige Gesellschaft sind?« lachte van Berken.
»Ja, dat sind wir! Und warum sollten wir es nicht sein? Wir haben ein jutes Jewissen, und wir haben Jeld, heidenmäßig viel Jeld, dat heißt, nicht ich, sondern unser Methusalem. Und sodann –«
»Methusalem?« unterbrach ihn der Belgier erstaunt.
»Ja. Wir haben uns Ihnen noch jar nicht vorjestellt. Ich bin nämlich der Jottfried von Bouillon, welcher damals den Ungläubigen so viel zu schaffen jemacht hat.«
»Zur Zeit der Kreuzzüge?«
»Ja. Wann denn sonst! Und dieser Herr ist derjenige Methusalem, welcher schon im Alten Testamente sich eine ehrenvolle Erwähnung zujezogen hat. Zwar ist er seitdem noch älter jeworden, aber seine Jeisteskräfte scheinen nicht darunter jelitten zu haben. Er ist ein juter, lieber – – –«
»Schweig!« fiel Degenfeld ihm in die Rede. »Ich werde mich selbst vorstellen, denn aus deinem Gefasel wird niemand klug. Übrigens sind die Chinesen uns vorangeritten, und wir müssen sie einholen. Sie wollten doch von hier auch nach Hotsing-ting, Herr van Berken?«
»Das war meine Absicht,« antwortete der Gefragte.
»So kommen Sie! Ich werde Sie unterwegs von allem Nötigen unterrichten.«
Der T'eu war mit seinen Leuten langsam weitergeritten, wohl um bei der Begrüßung nicht zu stören. Die andern hatten bisher beim Einkehrhause gehalten; jetzt ritten sie schnell weiter. Dabei erklärte der Methusalem dem Ingenieur die Gründe und den Verlauf der Reise bis zur gegenwärtigen Stunde. Als er geendet hatte, rief der letztere aus:
»Das ist ja ein wahrer Roman, über den man ein Buch schreiben könnte! Und, nehmen Sie es mir nicht übel, Sie alle sind ganz sonderbare Menschen!«
»Pst! Das Wort ›sonderbar‹ ist bei uns verboten. Es enthält eine große Beleidigung. Sie haben es aber gut gemeint, und so will ich Sie nicht auf Schläger anrennen. Ja, ein wenig sonderbar mögen wir sein, aber doch sehr gute Kerls, denen Sie wohl den Gefallen thun werden, einstweilen zu verschweigen, wer sie sind und was sie hier wollen?«
»Natürlich! Ich werde nichts verraten. Aber nehmen Sie sich in acht, daß der Onkel nichts errät! Er ist ein halber Yankee geworden, ein Pfiffikus, welcher den Menschen schnell durchschaut.«
»Wir werden vorsichtig sein. Aber, sagen Sie, bereitet es ihm denn keine Schwierigkeiten, hier mit den Chinesen zu verkehren?«
»Früher hat es ganz bedeutende gegeben; jetzt sind sie überwunden, und zwar zumeist mit Hilfe des Bettlerkönigs, welcher einen Einfluß besitzt, von dem Sie keine Ahnung haben, obgleich Sie an sich selbst einen Beweis davon erlebten. Er hat es so weit gebracht, daß mein Herr nicht nur geduldet wird; Stein ist einer der angesehensten Männer der Provinz und darf sich der Freundschaft und des Schutzes der höchsten Mandarinen rühmen. Sein Etablissement hat eine solche Ausdehnung erreicht, daß meine Kräfte nicht mehr zureichend sind. Nächstens wird mein Bruder kommen, welcher auch Ingenieur ist und als zweiter technischer Leiter angestellt werden soll. Die Ölquellen sind eine Wohlthat für die weite Umgegend geworden. Wir beschäftigen nur arme Leute, welche uns der T'eu empfiehlt. Diese Chinesen hängen mit großer Liebe und Dankbarkeit an uns. Wir haben ihnen hübsche Arbeiterwohnungen erbaut und sind eifrig besorgt, daß alle ihre berechtigten Bedürfnisse befriedigt werden. Früher mag es sogar ein wenig gefährlich gewesen sein, unter diesen Leuten zu wohnen; aber Herr Stein hat sich ihrer Weise und ihren Anschauungen anbequemt und es nur im Notfalle merken lassen, daß er anders denkt und fühlt als sie. Später gelang es ihm, die Freundschaft des T'eu zu erlangen, und jetzt steht er sogar unter dem Schutze der Mohammedaner, welche sich empört haben und das Land unsicher machen. Er ist ein geschickter Diplomat, welcher sich selbst die widrigsten Verhältnisse nutzbar zu machen versteht.«
»Aber er ist krank?«
»Ja, aber mehr im Gemüt als körperlich. Obgleich er es nicht zugestehen will, so möchte ich doch behaupten, daß es die Sehnsucht nach der Heimat ist, welche heimlich an ihm zehrt. Er würde vielleicht nach Deutschland zurückkehren, aber sein Unternehmen hält ihn hier fest. Er betrachtet es als eine heilige Pflicht, seinen Arbeitern das zu bleiben, was er ihnen jetzt ist. Wollte er verkaufen, so würde er keinen Käufer finden. Ein Chinese würde weder das nötige Kapital noch die Intelligenz besitzen, welche der Besitzer so großartiger Anlagen haben muß.«
»O, ik heb geld!« rief da der Mijnheer.
»Sie?« fragte der Belgier.
»Ja, ik heb geld, ten eerste geld, ten tweede geld en ten derde ook weder geld – ja, ich habe Geld, erstens Geld, zweitens Geld und drittens wieder Geld!«
»Das klingt ja ganz so, als ob Sie als Käufer auftreten wollten!«
»Dat wil ik ook! Ik heb veel geld! En ik heb ook opvoeding en onderwijs gehad; ik ben niet dom; ik ben een wijse mensch, een zeer wijse mensch – das will ich auch! Ich habe viel Geld! Und ich habe auch Erziehung und Unterricht gehabt; ich bin nicht dumm; ich bin ein weiser Mensch, ein sehr weiser Mensch!«
»Das glaube ich Ihnen ganz gern; aber ist das der Grund, Ho-tsing-ting zu kaufen?«
»Neen. Ik wil Ho-tsing-ting koopen, dewijl hier de lucht zoo goed en gezond is. Ik ben ziek en zwak; ik wil hier weder gezond werden, gezond en dik – nein, ich will Ho-tsing-ting kaufen, weil hier die Luft so gut und gesund ist. Ich bin krank und schwach; ich will hier wieder gesund werden, gesund und dick!«
Van Berken ließ sein Auge mit verwundertem Blicke über die Gestalt des angeblich Kranken schweifen und meinte lächelnd:
»Nun, ich denke, daß Sie sich hier wieder anessen können.«
»Dat denk ik ook. Ik wil eten en drinken, dat ik zoo dik hoe een nijlpaard worde – das denke ich auch. Ich will essen und trinken, daß ich so dick wie ein Nilpferd werde!«
Der Belgier schien zu merken, wessen Geistes Kind er vor sich habe. Er warf dem Methusalem einen munteren Blick zu und hätte das Gespräch wohl gern fortgesetzt, wenn sie nicht eben jetzt den T'eu eingeholt hätten, mit welchem er ja auch zu sprechen hatte.
Dieser wollte nur aus freundschaftlichen und nicht aus geschäftlichen Gründen nach Ho-tsing-ting gehen. Er erhob dort überhaupt niemals Forderungen, da Stein weit mehr an seinen Arbeitern und überhaupt an den Armen that, als der von ihm zu erhebende Betrag ergeben hätte.
Von dem Dorfe aus, durch welches man soeben geritten war, hatte man nur noch eine Viertelstunde bis zur Grenze von Ho-tsing-ting. Die Felder hörten auf. Man sah nackte Schutthalden liegen, auf denen hölzerne Zechenhäuschen standen – die Kohlengruben. Weiterhin erhoben sich hohe, eigentümliche Gerüste, meist mit einem Schutzdache versehen. Das waren alte Bohrwerke, welche nun in Ruhe standen.
Auf einer Anhöhe stand ein stattliches Haus. Es war im chinesischen Stile erbaut, mutete aber doch die Deutschen heimlich an.
»Das ist das Wohngebäude des Herrn,« erklärte der Ingenieur. »Und da rechts und links sehen Sie die Arbeiterniederlassungen in der Ebene liegen. Sie zeichnen sich, wie Sie bemerken werden, durch große Sauberkeit aus. Sie sind so gesund und bequem, daß ein deutscher Arbeiter froh sein würde, da wohnen zu können.«
»Und wat ist dat für eine Menschenmenge da oben vor dem Wohnhause?« fragte der Gottfried. »Dat müssen ja mehrere hundert Personen sein!«
»Über fünfhundert. Es sind die Arbeiter, welche ihren Lohn erhalten. Heut ist zeitig Schicht, da morgen gefeiert wird.-
»Jiebt's einen jötzendienstlichen Feiertag?«
»Nein, sondern einen privaten. Es ist der Geburtstag des Herrn Stein, an welchem er nie arbeiten läßt.«
»Sein Jeburtstag! Hast du es jehört, Richard! Weißt du, wat wir ihm da bescheren? Dat allerbeste, wat er bekommen kann, nämlich dich.«
Richard war still. Er pflegte sich überhaupt am liebsten schweigend zu verhalten. Jetzt nahte der Augenblick, an welchem er den Oheim sehen sollte. Das ergriff ihn auf das tiefste. Seine Augen waren feucht, und es that ihm herzlich leid, daß er sich nicht in die Arme des Verwandten werfen konnte. Man hatte die Nahenden gesehen. Die Arbeiter oben vor dem Hause riefen laut und jubelnd, daß der T'eu komme. Viele kamen ihm entgegen, um die ersten zu sein, welche ihn begrüßten. Die andern bildeten eine Gasse, durch welche die Ankömmlinge zu dem Manne ritten, welcher an einem Tische gestanden hatte, der von Münzen ganz bedeckt war. Er kam ihnen entgegen und begrüßte den T'eu auf chinesische Weise, so wie es unter Gleichstehenden geschieht.
Stein war lang und hager, über sechzig Jahre alt. Zwar trug er keinen Zopf, aber sein langes Haar hing unter dem Hute hervor. Es war silberweiß. Sein scharf geschnittenes Gesicht zeigte tiefe Falten, die Spuren langer körperlicher und auch geistiger Anstrengung. Man sah es diesem Gesichte an, daß der Mann einen festen, selbständigen Charakter habe, und doch lag eine freundliche Milde, welche dem Beschauer wohl that, über dasselbe ausgebreitet.
Der T'eu und dessen Leute waren für ihn gewöhnliche Erscheinungen. Als sein Auge aber auf die andern fiel, zog er erstaunt die Brauen empor und rief:
»Nguot! Y-jin – was sehe ich? Das sind ja Fremde!«
»Ja, Europäer!« antwortete van Berken.
»Ihre Kleidung läßt das vermuten.«
»Und ich halte es für meine Pflicht, sie Ihnen vorzustellen, denn ich bin derjenige, welcher die Herren zuerst kennen lernte und ihnen sein Leben zu verdanken hat,« fiel Liang-ssi ein. »Sie werden das nachher ausführlich erfahren. Jetzt vor allen Dingen ihre Namen. Dieser Herr, dem es beliebt hat, die Kleidung eines chinesischen Mandarinen anzulegen, ist der Seekapitän Heimdall Turnerstick aus London, auf dessen Schiff die andern Herren eine Reise um die Welt machen. Sie sind Studenten der Universität zu – zu – zu – – –«
Seine geographischen Kenntnisse ließen ihn hier im Stiche.
»Zu Oxford,« kam ihm der Methusalem zu Hilfe.
»Ja, zu Oxford; ich hatte das schwere Wort schon wieder vergessen. Es sind die Herren – – –«
Und nun nannte er Namen, wie sie ihm gerade einfielen und von denen er wußte, daß es englische seien.
Diese Vorstellung war natürlich in chinesischer Sprache erfolgt. Der T'eu erklärte, daß diese Fremdlinge ihm große Dienste erwiesen hätten, weshalb er ihnen seine ganz besondere Freundschaft schenke. Stein erfuhr von ihm, daß die Engländer gekommen seien, seine berühmten Werke in Augenschein zu nehmen, und sich freuen würden, in ihrer Heimat konstatieren zu können, daß sich in China auch eine in vorzüglicher Weise ausgebeutete Petroleumquelle befinde.
Er bewillkommnete sie auf das herzlichste, und zwar in englischer Sprache, und lud sie ein, seine Gäste zu sein und bei ihm zu verweilen, so lange es ihnen gefalle.
Als sie nun abstiegen, bemächtigten sich die Arbeiter schnell der Pferde, um dieselben nach den Stallungen zu führen; die Gäste wurden von dem Wirte selbst nach dem Empfangssaale geleitet. Dieser, das größte im Parterre gelegene Zimmer, war ganz in chinesischer Weise eingerichtet und enthielt so viele Tische und Stühle, daß zu vermuten war, der Onkel Daniel sehe oft zahlreiche Gäste bei sich.
Er bat sie, sich einstweilen niederzulassen, bis er seine Befehle erteilt habe, und entfernte sich dann. Der T'eu und Liang-ssi gingen mit ihm, ohne daß er sie dazu aufgefordert hatte. Es war jedenfalls ihre Absicht, ihm zu erklären, daß seine jetzigen Gäste alle Rücksicht und Aufmerksamkeit verdienten.
»Dat also ist der Onkel Daniel,« sagte der Gottfried. »Wie jefällt er dich?«
Richard, an den diese Frage gerichtet war, antwortete nicht. Er wäre nicht im stande gewesen, ein Wort zu sagen, so groß war seine innere Bewegung.
»Dumme Frage!« zürnte der Methusalem.
»Ja, ich bin jetzt Herr Jones aus Oxford. Wo soll da die Jescheitheit herkommen! Einen jeistreicheren Namen konnte Liang-ssi nicht für mich finden. Übrijens jefällt es mich hier ausnehmend jut. Nur scheint der Onkel ein sehr unvorsichtiger Mann zu sein. Er hat dat viele Jeld draußen liejen lassen, und die Chinesigen stehen dabei um den Tisch herum!«
»Es wird keiner das Geringste davon nehmen,« antwortete van Berken, welcher bei ihnen geblieben war. »Sie haben den Herrn so lieb, daß sie einen, der ihn nur um einen Li bestehlen wollte, sofort ausstoßen würden. Es ist eben jeder Mensch gut, wenn er richtig behandelt wird.«
In kurzem kehrte der Oheim mit dem T'eu und Liang-ssi zurück. Er sagte den Deutschen in doppelt höflichem Tone, daß er erfahren habe, was Liang-ssi ihnen verdanke, und wiederholte seine Bitte, möglichst lange bei ihm zu bleiben und sich ganz als zu seiner Familie gehörig zu denken.
»Eigentliche Familie habe ich nicht,« fügte er hinzu. »Meine Arbeiter bilden meine Familie, und willkommene Gäste, wie Sie sind, betrachte ich, so lange sie sich bei mir befinden, als Anverwandte von mir. Betrachten Sie sich also als Mitherren meines Hauses und verschweigen Sie keinen Wunsch, welchen ich Ihnen erfüllen kann. Jetzt werde ich Ihnen die Zimmer anweisen, welche Sie bewohnen sollen.«
Er führte sie eine Treppe höher. Dort brachte er sie zunächst in seine eigene Wohnung, welche ganz auf europäische Weise eingerichtet war. Sie bestand aus Wohn-, Schlaf- und Arbeitsstube, und es gewährte ihm augenscheinlich großes Vergnügen, als der Methusalem erklärte, daß man sich hier wie daheim im Vaterlande fühlen könne.
»Ich habe noch ein solches Zimmer,« sagte er, »für Europäer bestimmt. Es kommt zuzeiten vor, daß ich aus Kanton oder Hongkong den Besuch eines solchen erhalte, oder daß ein Mandarin, welcher sich vorübergehend bei mir befindet, das Verlangen hegt, einmal auf europäische Weise zu wohnen. Solche Herren erhalten die betreffende Stube, welche nun Sie bewohnen werden, Herr Williams.«
So war nämlich der Student von Liang-ssi genannt worden. Er erhielt ein allerliebstes Gaststübchen, in welchem sich allerdings auch ein Mandarin wohl fühlen konnte. Neben ihm kam Richard mit dem Gottfried und neben diesen Turnerstick mit dem Mijnheer zu wohnen.
Der Methusalem sprach sehr gut englisch und hatte es auch Richard daheim gelehrt. Beide konnten als Engländer gelten. Anders war es mit dem Gottfried, der zwar ein Hundert Worte leidlich radebrechte, aber doch keins hören lassen durfte, weil der Onkel es sonst sofort bemerkt hätte, daß er unmöglich ein Herr Jones aus Oxford sein könne.
Nun entschuldigte sich der Hausherr, daß er sich für einige Zeit entfernen müsse, da er sich mit den Arbeitern zu beschäftigen habe. Er werde ihnen aber Herrn van Berken senden, der ihnen Gesellschaft leisten möge.
Kurze Zeit später wurden ihnen Erfrischungen gebracht, und dann kam der Belgier, um ihnen zu melden, daß er ihnen zur Bedienung und als Führer kommandiert sei, falls sie Lust hätten, das Etablissement in Augenschein zu nehmen.
»Ja, ik wil het olie zien; ik ga met – ja, ich will das Öl sehen, ich gehe mit,« sagte der Dicke.
Die andern stimmten bei. Nach dem langen Sitzen im Sattel war ein Spaziergang ganz angenehm, und so begannen sie denn ihren Rundgang durch die weit ausgedehnten Einrichtungen des Etablissements.
Keiner von ihnen hatte bisher gesehen, in welcher Weise das Petroleum gewonnen und zubereitet wird. Van Berken führte sie überall hin und erklärte ihnen alles. Es war genau, als ob sie sich an einem großen Petroleumorte Amerikas befänden, und sie vermochten sehr bald, sich ein Bild von der Bedeutung zu machen, welche Onkel Daniel für diese Gegend und auch die ganze Provinz hatte.
Am befriedigtsten zeigte sich der Mijnheer. Er war ganz entzückt über das großartige Werk. Er lauschte mit größter Aufmerksamkeit, als van Berken herrechnete, was dasselbe dem Besitzer einbringe. Er betrachtete alles mit doppelter Aufmerksamkeit, sprach mit sich allein, scheinbar das kunterbunteste Zeug, war von manchen Stellen gar nicht wegzubringen und erklärte endlich in entschlossenem Tone:
»Ho-tsing-ting is goed, is zeer goed. Ik word het olie koopen – Ho-tsing-ting ist gut, ist sehr gut. Ich werde das Öl kaufen!«
»Das ist doch Ihr Ernst nicht!« meinte der Ingenieur.
»Niet? Zegt gij eenmal, uw broeder spreekt ook nederlandsch?«
»Ja.«
»En hij komt in waarheid naar Ho-tsing-ting?«
»Gewiß. Er wird schon in nächster Woche in Kanton eintreffen, wo ich ihn abholen werde.«
»Zoo blijf ik hier en koop al het olie. Ik heb vervolgens twee menschen hier, met welken ik nederlandsch spreken kan – so bleibe ich hier und kaufe das ganze Öl. Ich habe nachher zwei Menschen hier, mit welchen ich niederländisch reden kann.«
»So würden Sie uns als Ingenieure behalten?«
»Ja, op mijne eer, dewijl ik niets weet van den olie – ja, auf meine Ehre, weil ich von dem Öle nichts verstehe.«
»Nun, Sie könnten sich auch ganz auf uns verlassen.«
Er sagte das, indem er aus Höflichkeit auf den Gedanken des Dicken einging, glaubte aber nicht, daß es demselben wirklich ernst damit sei. Dann führte er sie in seine Privatwohnung, weiche aus dem Parterre eines netten Häuschens bestand, dessen hübsches Obergeschoß auch schon für seinen Bruder eingerichtet war.
Es waren einige Stunden vergangen, ehe sie wieder nach dem Hauptgebäude zurückkehrten. Der Abend dämmerte bereits stark, und durch die Fenster, welche hier aus Glas bestanden, strahlte das Licht der Lampen. Vor dem Hause war es still und ruhig, aber unten in den Arbeiterwohnungen und vor denselben schien ein reges Leben zu herrschen. Das hatte seinen guten Grund und auch einen ebenso guten Zweck.
Liang-ssi hatte einigen der Werkmeister erzählt, daß er den fremden Mandarinen sein Leben zu verdanken habe. Er war eine sehr beliebte Persönlichkeit. Darum hatten diese Werkmeister die Kunde schnell weiter verbreitet, und nun war die ganze, große Arbeiterkolonie mit gewissen Vorbereitungen beschäftigt, welche darauf hinzielten, den Fremdlingen zu zeigen, daß man sie ehre.
So etwas kann in China unmöglich ohne Feuerwerk geschehen. Der Chinese ist ein geborener Pyrotechniker. Alles, alles muß er befeuerwerken, und die Regierung legt ihm dabei nicht das geringste Hindernis in den Weg. Während es in andern Staaten aus wohlbegründeter Ursache der obrigkeitlichen Genehmigung bedarf, ein Feuerwerk abzubrennen, sieht man in China täglich alt und jung sich damit belustigen, ohne daß jemand etwas dagegen hat. Man tritt aus seiner Hausthür und wird von brennenden Fröschen umhüpft. Man biegt um eine Ecke, und eine funkensprühende Schlange züngelt einem entgegen. Man erblickt zur Zeit des Neumonds ganz erstaunt den Vollmond am Himmel und bemerkt erst nach einigen Minuten, daß es ein künstlicher, täuschend nachgemachter ist. Bevor die Straßenthore zugesperrt werden, sieht man überall Feuerwerkskörper hüpfen, springen, schießen, fliegen und schwirren, und das in ganz engen Gassen, deren Häuser aus dem ausgedorrtesten Holzwerke bestehen. Wollte die Regierung ein Verbot dagegen erlassen, so wäre mit fast mathematischer Gewißheit eine allgemeine Empörung zu erwarten.
Es verstand sich ganz von selbst, daß auch die Arbeiter von Ho-tsing-ting solche Feuerwerker waren. Sie rüsteten sich, nach eingebrochener Dunkelheit zu Ehren der fremden Gäste ihre Künste sehen zu lassen.
Der Methusalem hatte sich noch nicht lange in seinem Zimmer befunden, so erschien der Onkel in eigener Person, um ihn zur Tafel zu holen. Seine Kameraden wurden ebenso benachrichtigt und folgten nach dem großen, auch im Erdgeschoß liegenden Speisesaale. Die Wände desselben waren ganz chinesisch; aber die beiden langen Tafeln, welche in der Mitte standen, hatten die doppelte Höhe chinesischer Tische und waren ganz auf europäische Art und Weise gedeckt. Es gab Messer, Gabeln und Löffel, aber keine Speisestäbchen. Zwischen dem feinen chinesischen Porzellangeschirr standen gold- und silberhalsige Weinflaschen, bei deren Anblick der Dicke den Gottfried am Arme zupfte, indem er ihm zuraunte:
»Ziet gij deze fleschen? Dat is wijn – sehen Sie diese Flaschen? Das ist Wein!«
»Und ob! Ich glaube, dat es sojar Schamplanscher ist. Na, ich werde mir da nicht werfen lassen!«
»Ik ook niet, waarachtig niet – ich auch nicht, wahrhaftig nicht!«
An der einen Seite stand ein Pianino. Van Berken erklärte dem Methusalem, daß er es von Onkel Daniel als Weihnachtsgeschenk erhalten habe, doch unter der Bedingung, daß es hier stehen müsse. Der Onkel war großer Musikfreund, konnte aber nicht spielen. Es bereitete ihm die größte Freude, wenn der Ingenieur die Saiten erklingen ließ.
Der T'eu war mit seinen Leuten schon da. Sie saßen bereits an der Tafel, an welcher der Methusalem den Ehrenplatz bekam.
Die Gerichte waren meist auf europäische Weise zubereitet. In dieser Beziehung befragt, erklärte der Onkel, daß er sich einen französischen Koch aus Hongkong habe kommen lassen.
Die Erzeugnisse dieses Künstlers erhielten von keinem so feurigen Beifall wie von dem Mijnheer. Bei jedem neuen Gange wurde sein rotes Gesicht um einen Ton dunkler. Er fand nicht Worte genug, all die bekannten und unbekannten Gerichte nach Gebühr zu loben, und als gar der erste Champagnerpfropfen gegen die Decke flog, da hätte er am liebsten alle Welt vor Seligkeit umarmen mögen. Da er nicht als Engländer, sondern als Holländer vorgestellt worden war, so konnte er sich getrost seiner Muttersprache bedienen, was zur Folge hatte, daß der Onkel ihm zuweilen einige Worte in deutscher Sprache zuwarf.
Dieser letztere stand, als man sich endlich beim Nachtische befand, auf, trat an das Instrument, öffnete es und bat seinen Ingenieur, ein Stück vorzutragen. Dieser kam der Aufforderung gern nach. Er spielte einen leichten Tanz, das beste, was er konnte, und doch erregte er das Staunen aller anwesenden Chinesen.
Draußen vor den Fenstern, weiche wegen der im Zimmer herrschenden Hitze geöffnet worden waren, versammelten sich die Feuerwerkslustigen. Sie wagten kaum zu atmen. Als aber dann der Methusalem sich unaufgefordert an das Instrument setzte und die Finger kühn über die Tasten fliegen ließ, da war die Bewunderung doppelt groß. Er war ein sehr guter Pianist und ließ hier hören, daß er etwas gelernt hatte. Als sein letzter Ton verklungen war, erbrausten draußen die Zurufe der Hörer, dann aber begann ein Krachen und Zischen, ein Schwirren und Schmettern, daß man sich die Ohren hätte zuhalten mögen. Das Feuerwerk begann.
Die Gäste traten vor das Haus. Was sie sahen, übertraf die Erwartungen, welche sie geglaubt hatten, hegen zu dürfen, da sie keine gelernten oder vielmehr studierten Feuerwerker vor sich hatten.
Die Chinesen begannen mit ganz gewöhnlichen Dingen, mit Fröschen, Kanonenschlägen, Feuerrädern und Leuchtkugeln. Dann gingen sie zu schwierigeren Sachen über. Die Kugeln bildeten Worte und Bilder. Eine große Leuchtkugel stieg empor, ihr nach eine zweite. Beide platzten. Aus der ersten schoß eine lange, feurige Schlange, aus der andern ein glühender Drache, welcher ihr in immer engeren Spirallinien folgte, bis beider Köpfe auch platzten, um hundert und aber hundert kleine Schlangen und Drachen erscheinen zu lassen. Eine kugelrunde Papierlaterne, in welcher ein Lichtchen zu brennen schien, stieg langsam empor. Hoch oben stand sie still, aus ihr stiegen ein Mond, der sie langsam umkreiste, dann Sterne, welche sich in weiteren Kreisen um sie bewegten. Sie bekam Zacken und Strahlen und entwickelte sich zur hellleuchtenden Sonne, bei deren Glanze man die feinste Druckschrift hätte lesen können.
So wie die Arbeiter vorher das Klavierspiel des Methusalem bewundert hatten, so staunte er jetzt ihre pyrotechnischen Leistungen an, welche erst nach Verlauf einer vollen Stunde endeten.
Die Zuschauer kehrten in das Zimmer zurück, wo der Onkel abermals die Pfropfen springen ließ. Degenfeld wurde ersucht, nochmals zu spielen. Er gab Richard einen Wink, und dieser setzte sich an das Instrument. Er war sehr musikalisch veranlagt und konnte sich hören lassen, da er einen ausgezeichneten Musiklehrer hatte. Während er spielte, raunte der Gottfried Turnerstick zu:
»Wo alle lieben, soll da Jottfried janz alleine hassen? Ich werde auch wat zum besten jeben.«
»Sie?« lächelte der Kapitän. »Doch nicht etwa auf Ihrer Oboe?«
»Auf wat denn sonst? Etwa auf dem Wurstkessel? Ich habe doch kein andres Instrument!«
»Na, das würde eine schöne Geschichte werden.«
»So! Sie trauen mich nichts zu?«
»Nein.«
»Haben Sie mir schon mal jehört?«
»Leider ja!«
»Ja, wenn ich nur so zum Spaße hineinjefiebt habe. Aberst heut' sollen Sie mir zum erstenmal richtig hören, und dann werde ich Ihnen den Mund zuschieben, denn Sie werden ihn vor Erstaunen ohne diese Hilfe nicht wieder zubringen. Passen Sie auf!«
Er ging heimlich fort, um sein Fagott zu holen und kehrte gerade zurück, als Richard geendet hatte. Er trat zu ihm und fragte leise:
»Wollen wir mal, Junge?«
»Ja,« nickte der Gefragte. »Aber ja nichts Dummes!«
»Nein, sondern ›Wenn die Schwalben heimwärts ziehn‹, weißt's schon! Fang mal an!«
Der Methusalem erhob sich, als er sah, was vorgehen sollte, von seinem Platze. Gottfried sah es und gab ihm einen beruhigenden Wink. Da setzte der Student sich wieder nieder, denn nun wußte er, daß der Wichsier keine Dummheit machen werde.
Gottfried ließ sich nur ganz selten mit einem ernsten Stücke hören, wenn er es aber that, so mußte man ihn bewundern. Er war in seiner Art ein Virtuos auf dem Instrumente, welchem scheinbar kein richtiger Ton zu entlocken war. Der beste Fagotter hatte auf Gottfrieds Fagott nicht die leichteste Melodie fertig gebracht; dieser letztere aber kannte alle guten und schlechten Eigenschaften seines Instruments. Er allein wußte, wo die herrlichsten Töne in demselben zu suchen und wie sie herauszubringen seien. Er hatte sein Fagott studiert wie ein Reiter sein häßliches Pferd, welches keinem gehorcht, aber zum trefflichsten Rosse wird, sobald sein Herr sich in den Sattel geschwungen hat.
Richard hatte oft mit ihm gespielt. Er kannte alle seine Lieblingsstücke, zu deren besten das genannte gehörte. Er begann die Einleitung; dann fiel Gottfried ein. Er blies die Melodie des bekannten, innigen, aber anspruchslosen Liedes in einfacher Weise bis zu Ende. Dann ließ er eine leichte Variation folgen; es kam eine schwierigere, und dann perlten die Töne in Sechzehntel- und Zweiunddreißigstelnoten so zart und lieblich, so rein und eigenartig voll hervor, daß selbst der anspruchsvollste Kenner hätte zugeben müssen, daß er weder diesem Gottfried noch seiner alten Fagottoboe so etwas zugetraut habe. Es war wirklich eine außerordentliche Leistung, und zwar auf einem Instrumente, welchem man die Bedeutung eines Soloinstruments sonst abzusprechen pflegt.
Die Zuhörer saßen lautlos da. Der Onkel Daniel fühlte sich tief ergriffen. Eine echt deutsche Melodie, in dieser Weise vorgetragen, mußte auf ihn, der sich so nach seiner Heimat sehnte, einen mehr als gewöhnlichen Eindruck machen. Er mußte sich Mühe geben, nicht zu weinen, und rief, als der Gottfried geendet hatte und sein Fagott neben das Pianino lehnte:
»Herrlich, herrlich! Ich danke Ihnen außerordentlich, Herr Jones! Das ist eine deutsche Melodie. Sie können auch solche spielen?«
Er hatte englisch gesprochen.
»Yes,« antwortete der Gottfried.
»Und die haben Sie in England gelernt?«
»Yes.«
»Spielt und singt man denn dort auch deutsche Lieder?«
»Yes.«
»Bitte, würden Sie noch eins blasen?«
»Yes.«
Dieses »Yes« war das einzige englische Wort, von welchem er genau wußte, daß er es richtig ausspreche. Der Methusalem befreite ihn aus seiner Verlegenheit, indem er Richard bat, einige deutsche Lieder zu spielen.
Der Gymnasiast folgte dieser Aufforderung, hütete sich aber sehr, diese Lieder zu singen. Der Onkel durfte ja noch nicht wissen, daß seine Gäste des Deutschen mächtig seien.
Dennoch machten die Melodien auf den Hauswirt den Eindruck, daß er ganz schwermütig wurde. Er bemerkte, daß er dadurch die vorherige heitere Stimmung seiner Gäste schädige und entschuldigte sich:
»Ich bitte um Verzeihung! Der Deutsche bleibt eben ein Melancholikus, wohin er nur kommen mag. Ich liebe mein Vaterland und bin doch durch die Verhältnisse abgehalten, es jemals wiederzusehen. Das stimmt mich, so oft ich daran denke, trübe. Lassen Sie also lieber nun etwas recht Munteres, Lustiges hören.«
»Ja,« stimmte der Methusalem bei, »Mister Jones, blasen Sie doch einmal das famose Dings, welches, glaube ich, ›Auf dem Bauernhofe‹ überschrieben ist!«
Gottfried verstand das Englische weit besser, als er es sprach. Er wußte, was der Blaurote meinte.
»Yes,« sagte er, indem er wieder zu seinem Instrument griff. Und leise flüsterte er Richard zu-.
»Mach deine Sache jut und falle mich nicht so oft aus die Taktmäßigkeit wie jewöhnlich! Wenn dat Ding jut jespielt wird, sollst du sehen, wie sich diese Chinesigen vor Lachen die Bäuche halten. Also los!«
Richard spielte die sehr ernste, ja würdig gehaltene Einleitung. Dann setzte der Gottfried sein Fagott an, im nächsten Augenblicke wieder ab – ein Hahn hatte gekräht. Das hatte so täuschend geklungen, daß die Chinesen in alle Ecken schauten, um den Hahn zu sehen, und auch der Dicke sagte:
»Een haan! Ik zie hern niet – ein Hahn! Ich sehe ihn nicht!«
Gottfried hatte das Mundstück wieder zwischen den Lippen – eine ganze Schar von Gänsen schnatterte; Enten quakten und Tauben girrten. Nun erst sahen und hörten die mit der Kunst des Wichsiers Unbekannten, daß diese Stimmen aus seinem Instrumente kamen. Ein Ochse brummte, ein Pferd wieherte; dann meckerten einige Ziegen. Das war so vortrefflich nachgeahmt, daß die Hörer meinten, die Tiere vor sich zu sehen. Eine Katze pfauchte, und ein Hund knurrte darauf. Die Katze miaute laut, und der Hund kläffte hinterdrein. Die Katze schrie förmlich auf, und der Hund bellte und heulte aus Leibeskräften. Das gab einen ganz entsetzlichen Lärm, welcher aber so genau nach dem Takte ging, daß jeder Ton mit der Begleitung harmonierte. Diese Stimmen und andre wiederholten sich in der verschiedensten Weise und Reihenfolge, bis sie endlich so rasch hintereinander und scheinbar durcheinander erschallten, daß die Zuhörer sich wirklich die Ohren zuhielten und aus Leibeskräften lachten.
»So,« sagte Gottfried, indem er sein Instrument hinlehnte, »dat hast du jut jemacht, Richard. Du bist nicht ein einziges Mal aus das Konzept jekommen, und ich denke, dat wir Ehre einjelegt haben. Nun komm! Wir sind keine Freunde von diejenigte Arbeitsteilung, dat wir nur blasen, wenn die übrigen trinken.«
Durch dieses letzte Musikstück war die muntere Laune neu angeregt worden und sie hielt vor, bis niemand, selbst der Dicke nicht, mehr trinken wollte. Der T'eu wünschte, schlafen zu gehen, und so wurde die Tafel aufgehoben.
»Ik eet und drink ook niets meer,« sagte der Dicke; »maar slapen kan ik ook nook niet. Ik moet met gij spreken, Mijnheer Stein – ich esse und trinke auch nichts mehr; aber schlafen kann ich auch noch nicht. Ich muß mit Ihnen sprechen, Herr Stein.«
»Worüber?« fragte der Onkel.
»Dat word ik gij zeggen. Gaan wij in uw vertrek – das werde ich Ihnen sagen. Gehen wir in Ihr Zimmer!«
»Gern, wenn Sie es wünschen. Doch bitte, hier zu warten, bis ich die andern Herren begleitet habe!«
Da fiel dem Dicken ein, daß ja gesungen werden solle. Er hatte versprochen, mitzusingen. Darum meinte er jetzt:
»Ik kan het ook morgen zeggen. Ik wil met slapen gaan -ich kann es auch morgen sagen. Ich will mit schlafen gehen.«
So schloß er sich also den andern an, welche der Onkel in ihre Zimmer brachte. Mit dem Methusalem in der Stube desselben angekommen, bemerkte der Wirt:
»Das war ein höchst genußreicher Abend, für welchen ich Ihnen nicht genug Dank sagen kann. Solche Stunden habe ich hier noch nicht erlebt.«
»Haben Sie wirklich ganz darauf verzichtet, die Heimat wieder zu sehen?«
»Ja. Einen Käufer finde ich nicht. Und soll ich meine Schöpfung und meine Arbeiter verlassen?«
»Besitzen Sie nicht Verwandte, welche Sie zu sich rufen können? Die Anwesenheit derselben würde Ihnen doch wenigstens einigermaßen die Heimat ersetzen.«
»Gewiß. Ich habe Verwandte und hegte auch schon denselben Gedanken wie Sie. Ich habe geschrieben.«
»Und werden sie kommen?«
»Das weiß ich nicht, da ich keine Antwort erhalten habe. Vielleicht sind sie verschollen.«
»Nun, in Deutschland ist das doch nicht so leicht.«
»Warum nicht? Ich hatte einen Bruder, welcher Lehrer war. Er ist wohl tot. Seine Witwe hat mit den Kindern nicht von der armen Pension zu leben vermocht. Nun sind sie auseinander gegangen, eins dahin und das andre dorthin, und keins ist mehr aufzufinden. Ich werde dafür bestraft, daß ich ihnen so lange Jahre keine Nachricht von mir zugehen ließ.«
»Nun, man darf die Hoffnung nie ganz aufgeben.«
»Das wohl; aber ich werde morgen, oder vielmehr heut, denn es ist schon nach Mitternacht, und um ein Uhr bin ich geboren, sechsundsechzig Jahre. Da hat man nicht mehr viel Zeit zum Hoffen und Warten übrig. Ihre Gegenwart macht mir den Geburtstag diesmal zum wirklichen Freudentag. Wir werden ihn feiern, denn ich habe Zeit dazu. Meine Leute arbeiten nicht, und ich werde Essen und Trinken unter sie verteilen lassen. Schlafen Sie jetzt wohl und ein frohes Wiedersehen nach dem Erwachen!«
Er ging.
»Noch vor dem Erwachen, ja, noch vor dem Einschlafen,« lachte der Methusalem leise hinter ihm her.
Er wartete noch eine Viertelstunde, bis im Hause alles ruhig war; dann wollte er zu Richard und Gottfried gehen. Aber da wurde seine Thür leise geöffnet; der letztere steckte den Kopf herein und fragte:
»Sie warten auf uns? Dürfen wir eintreten, jeehrter Freund und Ständchenjenosse?«
»Ja, komm herein! Wo sind denn die andern?«
»Sie folgen mich hinterdrein. Da sehen Sie dat janze Corps der Rache.«
Er schob Richard, Turnerstick und den Dicken herein. Draußen aber standen noch Liang-ssi, dessen Bruder, van Berken und auch der Bettlerkönig.
»Gut!« meinte Degenfeld. »So sind wir nun alle beisammen. Ist der Herr in seiner Schlafstube?«
»Ja. Liang-ssi hat eine Leiter an dat Fenster jelegt und den Spion jemacht. Soeben hat sich der Onkel zur Ruhe jelegt, die wir ihm aber nicht lassen werden.«
»So kommt! aber leise!«
»Ik ook?« fragte der Mijnheer.
»Ja. Wir müssen alle beisammen sein.«
»Und ik zal ook met zingen?«
»Nein. Sie schweigen.«
»Waarom?«
»Weil Sie nicht singen können.«
»O, ik kan zingen, ik kan zeer goed zingen!«
»Das ist möglich. Da wir aber noch keinen Beweis davon haben und es uns auch an der Zeit fehlt, uns diesen Beweis geben zu lassen, so ersuche ich Sie, nicht mitzusingen. Bitte, kommen Sie jetzt!«
Die vorher auf dem Korridor brennende Lampe war ausgelöscht worden. Die Herren hatten aber ihre Lichter mitgebracht; also gab es Beleuchtung genug. Sie schlichen sich bis zur Thür, hinter welcher das Wohnzimmer des Onkels lag. Degenfeld klinkte leise; sie ging auf. Die drei, der Methusalem, Gottfried und Richard, traten ein. Links von ihnen führte die Thür in das Schlafkabinett des Onkels. Sie war nur angelehnt; der Schein der Lichter fiel durch die Spalte hinaus. Er sah es und fragte auf chinesisch:
»Wer ist da draußen?«
Anstatt der Antwort erklang der Bierbaß des Methusalem: »Was ist des Deutschen Vaterland?« Gottfried und Richard fielen kräftig ein. Aber schon nach den ersten zehn oder zwölf Takten lauschten sie selbst erstaunt auf. Sie sangen nicht allein. Zu ihren drei Stimmen hatte sich ein wundervoller Tenor gesellt, ein Tenor, so glockenhell, so rund und trotz aller Zartheit so mächtig, daß sie sich umdrehten.
Da stand hinter ihnen der Dicke und sang mit ihnen:
»Ist's wo am Rhein die Rebe blüht,
Ist's wo am Belt die Möwe zieht?«
Ja, er konnte singen, der Mijnheer, und wie! Er hatte eine Stimme, und was für eine! Der Methusalem nickte ihm aufmunternd zu, und so ließ er diese Stimme nun nicht mehr schüchtern, sondern in ihrer vollen Stärke erschallen. Das gab einen prachtvollen Zusammenklang.
Als das Lied zu Ende war, stand der Onkel unter der Thür. Sein Gesicht war ein einziges großes Fragezeichen. Seine faltigen Wangen hatten sich gerötet, und seine Augen leuchteten vor Erregung. Mit fast zitternder Stimme rief er:
»Sie singen dieses prächtige Lied! Sie singen deutsch! Sie verstehen also auch deutsch! Warum haben Sie mir das nicht früher gesagt?«
»Um Ihnen zu überraschen,« antwortete der Gottfried voreilig. »Wir bringen Ihnen dieses Ständchen zum Jeburtstage und dazu die Erfüllung Ihres Lieblingswunsches. Sehen Sie sich diesen wohljeratenen Jüngling an, diesen – – – o weh! Hat ihm schon! Da ist es mit meine schöne Rede aus!«
Richard hatte sich nicht länger halten können. Noch während der Gottfried sprach, war er mit den Worten: »Onkel, lieber Onkel, ich bin dein Neffe!« auf Stein zugeeilt und hatte seine Arme um ihn geschlungen. Der Onkel stand starr vor freudigem Schreck. Die Arme hingen ihm schlaff herab.
»Mein Neffe – – Du – du bist mein Neffe?« stammelte er.
»Hinaus!« flüsterte Degenfeld den andern zu, indem er sie zurückdrängte. »Hier sind wir von jetzt an überflüssig.«
Er schob die Thür hinter sich zu. Drin erklangen die Stimmen des Oheims und des Neffen, schluchzend und jubelnd zugleich. Auf dem Korridor sagte der Gottfried:
»Wohin jehen wir einstweilen?«
»Einstweilen?« antwortet der Blaurote. »Von einem Einstweilen ist natürlich keine Rede. Wir gehen schlafen.«
»Dat wäre höchst incoulant!«
»Warum?«
»Weil der Onkel uns bald suchen wird, um uns zu danken.«
»Du willst einen Dank haben für deinen zweiten Bänkelsängertenor? Schäme dich!«
»Na, so war's nicht jemeint. Aberst er wird noch mit uns reden wollen. Wir werden ihm erzählen sollen!«
»Dazu ist morgen besser Zeit als jetzt. Übrigens kann und wird Richard ihm alles erzählen. Lassen wir die beiden allein!«
Er ging nach seiner Schlafstube und legte sich nieder. Die andern mußten wohl oder übel seinem Beispiele folgen. Noch war er nicht eingeschlafen, so klopfte man an seine Thür. Auf seine Frage antwortete Richards Stimme:
»Onkel Methusalem, du sollst zu Onkel Daniel kommen.«
»Wozu?«
»Wir wollen hinunter in den Speisesaal, du sollst erzählen.«
»Wo sind die andern?«
»Die soll ich auch mitbringen, bin aber erst zu dir gegangen.«
»So laß sie liegen, und entschuldige auch mich. Ihr habt ein Recht, ungestört zu sein, und du kannst ja auch erzählen. Morgen ist ein langer Tag, ein Geburtstag, den wir feiern sollen. Da muß ich ausgeschlafen haben. Gute Nacht!«
Mit diesem Bescheide mußte Richard sich entfernen. Der Methusalem aber schlief mit dem Bewußtsein ein, seine Aufgabe mit der jetzigen Stunde ganz und voll gelöst zu haben.
Am Morgen wurde er durch ein abermaliges Klopfen geweckt. Er sah an die Uhr. Die Sonne schien schon hell, aber es war erst sieben.
»Wer klopft denn?« fragte er ärgerlich.
»Ich,« antwortete der Gottfried.
»Warum?«
»Erheben Sie sich aus die Eiderjänse! Es ist höchst wahrscheinlich ein Malheur passiert, wenn es nicht bloß eine Dummheit ist, die er bejangen hat.«
»Wer?«
»Der Mijnheer.«
»Was ist mit ihm?«
»Dat ist's eben, wat wir nicht wissen. Er ist verschwunden.«
»Unsinn!«
»Möglich, dat es nur ein Unsinn ist! Aberst er ist wirklich fort.«
»Wann denn?«
»Dat weiß nicht mal Buddha.«
»Warte, ich komme!«
Er kleidete sich schnell an und trat hinaus. Da stand der Gottfried mit Richard und Turnerstick.
»Endlich!« meinte der erstere. »Sollte man es denken, dat so ein Dicker solche dumme Streiche machen könnte!«
»Er hat doch mit dem Kapitän in einem Zimmer geschlafen, denke ich. Dem muß er doch etwas gesagt haben!«
»Ist ihm nicht eingefallen,« antwortete Turnerstick. »Er schnarchte wie ein Walroß, so daß ich stundenlang nicht einschlafen konnte. Endlich fand ich ein wenig Ruhe. Als ich dann erwachte, war er fort.«
»Er wird spazieren gegangen sein.«
»Der? So ein Langschläfer? Das ist ihm nicht eingefallen!«
»Wo sind denn seine Sachen?«
»Die hat er mit, die Gewehre, den Ranzen, den Schirm, kurz, alles! Und das ist es eben, was mich so besorgt macht.«
»Pah! Wie können Sie denken, daß der Mijnheer uns durchgeht. Von seinen Sachen trennt er sich überhaupt nie. Daß er sie mitgenommen hat, ist kein Beweis dafür, daß er hat verschwinden wollen.«
»Aber daß er vor uns aufgestanden ist!«
»Das ist freilich höchst ungewöhnlich von ihm. Ist Onkel Daniel schon auf?«
»Jedenfalls,« antwortete Richard. »Wir haben bis Tagesanbruch in seiner Stube gesessen. Dann schickte er mich schlafen. Er selbst, sagte er, werde aber wohl nicht schlafen können.«
»Vollen fragen und suchen.«
Sie erkundigten sich bei der Dienerschaft nach dem Dicken. Niemand hatte ihn gesehen. Nun verließen sie das Haus, um nach ihm zu suchen. Das war aber sehr überflüssig, denn kaum hatten sie die Thür hinter sich, so sahen sie ihn kommen, den Schirm geöffnet, die beiden Flinten und den über dieselben gehängten Tornister auf dem Rücken. Neben ihm schritt Onkel Daniel, mit welchem er sich in einem sehr eifrigen Gespräch zu befinden schien. Als beide die Wartenden erblickten, kamen sie schnelleren Schrittes herbei. Onkel Daniel rief schon von weitem:
»Guten Morgen, Herr Degenfeld! Guten Morgen, meine Herren! Schon munter? Das freut mich, denn um so eher kann ich Ihnen da sagen, was ich heute früh nicht sagen konnte, weil Sie sich mir entzogen, nämlich, wie außerordentlichen Dank ich Ihnen schulde. Wer hätte das denken und ahnen können! Wer – –«
»Bitte!« unterbrach ihn der Methusalem. »Es gibt wirklich keinen Grund zu so besonderer Dankbarkeit. Wir haben Ihnen den Neffen gebracht und genießen dafür Ihre Gastfreundschaft. Wir sind quitt!«
»Das ist nicht wahr. Das kann ich nicht zugeben. Ihre Anwesenheit hat meinem Leben eine ganz neue, glückliche Richtung gegeben, besonders seit ich jetzt mit diesem Herrn gesprochen habe.«
»Mit Herrn van Aardappelenbosch? Ja, den suchen wir eben. Sagen Sie uns doch einmal, was Sie heute gemacht haben, Mijnheer!«
»Heden – heut?« fragte der Dicke.
»Ja, heute früh.«
»Daar ben ik opgestaan – da bin ich aufgestanden.«
»Schön! Und dann?«
»Daar ben ik voortgegaan – da bin ich fortgegangen.«
»So! Warum?«
»Waarom? Dewijl ik al het olie koopen wil – warum? Weil ich das ganze Öl kaufen will.«
»Darum sind Sie so zeitig aufgestanden?«
»Ja, darum,« erklärte der Onkel Daniel. »Mijnheer van Aardappelenbosch hat vielleicht sonst die Eigenschaft, gut und lange zu schlafen, heute aber hat ihm ein sehr lebhafter Wunsch, welchen er hegt, keine Ruhe gelassen. Ich konnte vor Freude nicht schlafen. Als es hell war, wollte ich einen Spaziergang unternehmen und traf auf der Treppe den Mijnheer, dem ich sehr willkommen war, denn nun fand er Gelegenheit, mir das zu sagen, was er mir vorher nicht sagen konnte, weil er gern mitsingen wollte.«
»Wohl, daß er das ganze Öl kaufen will?«
»Ja, das ganze Öl!«
»AI het olie, al het huis en al het land – das ganze Öl, das ganze Haus und das ganze Land!« nickte der Dicke sehr ernsthaft.
»Aber das ist doch nicht Ihr wirklicher, ernster Wille, Mijnheer?« fragte Degenfeld.
»Ik wil het, en ik maak het – ich will es und ich mache es!«
»Ich habe es bisher für Scherz gehalten!«
»O nein, es ist sein völliger Ernst,« sagte der Onkel. »Ich habe ihm sogar schon den Preis genannt. Er will Rücksprache mit dem Ingenieur nehmen und sich in den Büchern orientieren.«
»Das nenne ich Entschlossenheit! Sie sind ein kühner Mann, Mijnheer!«
»Ja, ik ben dapper. Ik ben zwak en ziek, en ik wil dik en gezond worden. De lucht is hier zeer goed – ja, ich bin tapfer. Ich bin schwach und siech, und ich will dick und gesund werden. Die Luft ist hier sehr gut.«
»Nun, mir kann das sehr recht sein,« meinte Stein. »Ich habe es für unmöglich gehalten, einen Käufer zu finden. Jetzt, da sich Mijnheer van Aardappelenbosch bereit erklärt, das Etablissement käuflich zu übernehmen, wird mir das Herz leicht. Meine Arbeiter bekommen einen guten Herrn, und ich kann in die Heimat zurückkehren. Werden wir einig, so sorge ich, soviel es mir möglich ist, dafür, daß er dieselben Erleichterungen findet, welche ich gefunden habe. Ich werde ihn dem Schutz des T'eu empfehlen, und von den Hoei-hoei bin ich überzeugt, daß sie meinem Nachfolger dasselbe Wohlwollen schenken wie mir. Wegen der Sprache braucht ihm nicht bange zu sein, da der Ingenieur ja die seinige spricht, und so viel Chinesisch, wie man braucht, um sich den Arbeitern verständlich zu machen, ist bald gelernt. Doch, solche Arrangements lassen sich nicht an einem Tage und auch nicht in einer Woche treffen. Wir haben ja Zeit und je länger Sie bei mir bleiben, desto lieber ist es mir. Jetzt wollen wir zum Frühstück, und dann sollen Sie mir von Ihrer Heimat und Ihrer Reise erzählen!«
Sie kehrten in das Haus zurück. Der Dicke ging langsam hinterdrein und sagte für sich:
»En ik maak het dook. Ik koop al het olie en al het Hotsing-ting – und ich mache es doch. Ich kaufe das ganze Öl und das ganze Ho-tsing-ting!«
Dabei blieb er, heute und auch die kommenden Tage. Er ließ dem Onkel Daniel keine Ruhe. Dieser mußte ihn in seine Bücher einweihen und ihm alles zeigen und erklären. Der Dicke besichtigte und prüfte jeden Gegenstand und entwickelte dabei eine Beweglichkeit und Ausdauer, welche zu bewundern war. Bald erfreute er sich einer großen Beliebtheit bei den Arbeitern. Er konnte zwar nicht mit ihnen sprechen, aber er kannte den chinesischen Gruß, und sein Tsching-tsching klang einem jeden, der ihm begegnete, schon von weitem entgegen. Dabei nickte er so freundlich mit dem Kopfe und lächelte jeden so herzlich an, daß sie geradezu gezwungen waren, ihn lieb zu gewinnen.
Als drei Wochen vergangen waren, wurde der Kauf abgeschlossen. Das gab wieder einen festlichen Tag, für die bisherigen Gäste, für die Mandarinen, welche den Kaufkontrakt abzufassen und zu unterzeichnen hatten, und für die Arbeiter. Der Mijnheer hatte alles gekauft, wie es stand und lag, so daß dem Onkel das Fortziehen leicht gemacht wurde. Er brauchte nicht viele und große Kisten zu füllen.
Es versteht sich ganz von selbst, daß Richard indessen an seine Mutter geschrieben hatte. Auch der Methusalem hatte an Ye-kin-li geschrieben und ihm gemeldet, daß es ihm gelungen sei, sein Kong-Kheou zu lösen. Ebenso hatten Liang-ssi und Jin-tsian an ihn geschrieben. Onkel Daniel sandte diese Briefe durch einen sicheren Expressen nach Kanton zu seinem Geschäftsfreunde, welcher sie mit nächstem Schiffe abgehen lassen sollte.
Es läßt sich denken, daß ein Mann wie Stein nur mit Wehmut von seiner Schöpfung Abschied nimmt. Doch wurde ihm derselbe durch den Gedanken erleichtert, daß er der geliebten Heimat entgegen ging.
Auch die Deutschen schieden nur schwer von Ho-tsing-ting. Der Dicke war ihnen sehr lieb geworden, und als sie von ihm gingen, war es in der festen Überzeugung, daß sie ihn im Leben niemals wiedersehen würden. Doch Gott führt die Seinen wunderbar.
Sie hatten zunächst die Sorge gehegt, daß er nicht der Mann sei, ein solches Etablissement mitten in China ohne Schaden weiter zu leiten. Aber bald überzeugten sie sich, daß er bei all seiner Güte und scheinbaren Unbeholfenheit ein sehr tüchtiger und energischer Geschäftsmann sei. Seine Befangenheit erstreckte sich nur auf private Verhältnisse. Als Kaufmann suchte er seinen Meister. Das beruhigte sie in Beziehung auf seine Zukunft.
Er weinte helle Zähren, als sie nun auf den Pferden vor seinem Hause hielten und Abschied von ihm nahmen.
»Ik kaan niet met rijden; ik moet hier blijven,« sagte er. »Ik kaan mij niet helpen, ik moet snuiven en snuiten. Reizt met God, mijne lieven, goeden vrienden, en denkt somtijds aan uwen zwaken Aardappelenbosch – ich kann nicht mitreiten; ich muß hier bleiben. Ich kann mir nicht helfen, ich muß schnauben und schneuzen. Reist mit Gott, meine lieben, guten Freunde, und denkt manchmal an euern schwachen Aardappelenbosch!«
Er hatte sie ein Stück zu Pferde begleiten wollen, was aber von ihnen zurückgewiesen worden war. Das hätte nur die Wehmut verlängert und den Abschied erschwert.
In dem Dorfe, in welchem die Frau und die Töchter Yekin-lis wohnten, gab es abermals Abschied zu nehmen. Der Hoei-hoei, welchem sie so viel zu verdanken gehabt hatten, war von ihnen aufgefordert worden, mit nach Deutschland zu gehen, hatte sich aber nicht dazu entschließen können. Nun mußten sie von ihm scheiden.
»Wäre ich reich oder wenigstens wohlhabend, so würde ich ihn belohnen,« sagte Liang-ssi.
»Womit?«
»Mit einer Summe, die es ihm ermöglicht, seine Lage zu verbessern und sich von den Aufrührern loszusagen.«
»Wie hoch würde diese Summe sein?«
»O, hätte ich das Geld, so würde ich ihm hunderttausend Li geben!«
Diese Summe klingt ungeheuer, beträgt aber nach deutschem Gelde nur 641 Mark. Der Methusalem griff in eine geheime Tasche seines Rockes, zog einen Beutel hervor und entnahm demselben eine Anzahl englischer Goldstücke. Diese gab er dem Chinesen, indem er sagte:
»Das ist etwas mehr als hunderttausend Li. Geben Sie es ihm!«
Liang-ssi machte ein Gesicht, als ob er eine Unmöglichkeit habe möglich werden sehen.
»Herr,« rief er aus, »das ist ja eine ganz entsetzliche Summe!«
»Für den Hoei-hoei wird sie hinreichend sein.«
»Und die wollen Sie ihm schenken?«
»Nein.«
»Aber Sie sagten doch, daß er sie erhalten solle!«
»Von Ihnen, aber nicht von mir. Ich leihe sie Ihnen.«
»Aber wissen Sie denn, daß ich sie Ihnen jemals wiedergeben kann?«
»Ja.«
»Wohl weil mein Vater ein gutes Geschäft in Deutschland besitzt?«
»Nicht allein deshalb. Hunderttausend Li sind in Deutschland nicht viel. Dort schlachtet zum Beispiel mancher Fleischer einen Ochsen, welcher so viel kostet, und es gibt Pferde, welche mehr als eine Million Li kosten. Ihr Vater würde mir das Geld also zurückerstatten können. Aber Sie haben doch auch hier in China Geld.«
»Wir? Hier?«
»Ja. Sie wissen es nicht, und ich habe bisher nicht davon gesprochen. Ihr Vater ist hier sehr reich gewesen.«
»Das war er. Aber man hat ihm bei der Verhaftung alles abgenommen.«
»Nein. Er hatte sein Geld sehr klug beiseite gebracht, und als er entflohen war, vergrub er es.«
»Ist das wahr? Hat er es Ihnen gesagt? Wissen Sie, wo es liegt?«
»Ja.«
Die Brüder, denn Jin-tsian stand auch dabei, waren Feuer und Flamme geworden. Bei dem Chinesen hat kein Wort so guten Klang wie die eine Silbe »Geld«.
»Aber ob es nicht indessen ein andrer, ein Fremder gefunden hat!« rief Liang-ssi.
»Es liegt noch da.«
»Wissen Sie das so genau?«
»Ich könnte es beschwören.«
»O Himmel, o Welt, o Erde! Und das sagen Sie so ruhig! Müssen Sie da nicht vor Freude springen?«
»Nein. Es ist recht gut, wenn man Geld besitzt; aber es gibt noch höhere Güter. Man kann reich sein an Ehre und Ruhm, an Zufriedenheit, an Glück, an Gesundheit, ja an noch viel höherem. Ich habe den Ort aufgesucht und mich überzeugt, daß das Geld sich noch da befindet.«
»Wann?«
»Auf unsrer Herreise.«
»Wo?«
»Oben in den Bergen, als wir in dem Sië-kia einkehrten und ich von den Hoei-hoei überfallen wurde.«
»Und davon haben Sie uns nichts gesagt!«
»Ich hatte meinen guten Grund dazu. Erstens hätte Ihnen die Kunde, daß Sie einen Schatz da liegen haben, die Ruhe geraubt, und zweitens gehört das Geld nicht Ihnen, sondern Ihrem Vater. Nicht für Sie, sondern für ihn habe ich es aus dem Verstecke zu holen, und nur ihm allein werde ich es aushändigen. Aber Sie sehen, daß ich Ihnen ohne Gefahr die hunderttausend Li leihen kann.«
»Wenn es so ist, dann nehme ich sie an, um sie dem Hoei-hoei zu geben. Er wird dadurch sein Glück machen!«
Die Freude des Mannes, als er die Goldstücke empfing, war allerdings geradezu unbeschreiblich. Er tanzte in der Stube hin und her, machte die tollsten Kapriolen und küßte allen, die er erreichen konnte, die Hände und die Kleidersäume. Diese Gabe milderte in hohem Grade die Wehmut, mit welcher er die Frauen scheiden sah, die er einst als flüchtige Bettlerinnen bei sich aufgenommen hatte.
Man hatte die Nacht wieder im hiesigen Einkehrhause zugebracht, denn der T'eu hatte gebeten, ihn hier zu erwarten, da er die Reisenden begleiten und sicher nach Kanton bringen wollte. Er kam des Nachts mit mehreren Berittenen, und am Morgen brach man auf, die Männer zu Pferde, während sich die Damen dreier Sänften bedienten. Ihr Gepäck war schon mit demjenigen des Onkel Daniel vorher nach Kanton geschickt worden.
Ganz selbstverständlich erregten die Fremden auch jetzt überall dasselbe Aufsehen, dessen Ursache sie herwärts gewesen waren. Sie zogen es vor, nicht in Ortschaften, sondern in alleinstehenden Ruhehäusern einzukehren.
Als sie dasjenige erreichten, von welchem aus der Methusalem mit Gottfried und Richard das alte Marabu untersucht hatte, war der Abend nahe, so daß sie hier bleiben mußten. Degenfeld unterrichtete die Gefährten alle, daß jetzt der Augenblick, an welchem der Schatz gehoben werden solle, nahe sei. Er führte sie in die Schlucht und an das Häuschen. Jeder kroch einzeln hinein, um zu erraten, wo man suchen müsse. Sie klopften auf den Boden und an die Wände, um eine hohle Stelle zu finden – vergebens. Dann hob der Methusalem die Steine aus und zog die beiden Säcke hervor. Die Brüder stürzten sich auf dieselben, um sie zu öffnen. Degenfeld ließ es geschehen, bemerkte ihnen aber:
»Diese Barren gehören Ihrem Vater. Sie sollen sie sehen und zählen, um mir später zu bezeugen, daß kein Stück abhanden gekommen sei. Dann aber nehme ich sie ausschließlich in meine Verwahrung. Ich habe zu diesem Zwecke ein Packpferd mit Sattel und Decken mitgenommen.«
Die Barren wurden gleich an Ort und Stelle gezählt; dann band Degenfeld die Säcke zu und ließ sie in das Einkehrhaus tragen. Von diesem Augenblicke an war es mit der Nachtruhe der Brüder aus. Sie hatten Angst vor Räubern, die es gar nicht gab, und hüteten mit Argusaugen die Stelle, an welcher der Methusalem neben den Säcken schlief.
Die Reise wurde ganz auf derselben Straße, auf welcher man hergekommen war, fortgesetzt. Man gelangte am Morgen über die gefährliche Brücke und am Abend nach Schin-hoa, doch ritt man dieses Mal durch die Stadt, um jenseits derselben im ersten Sië-kia zu übernachten.
Dadurch wurde ein kleiner Vorsprung gewonnen, welcher es ermöglichte, schon am nächsten Nachmittage Schao-tscheu zu erreichen, wo die Reisenden auf dem Herwege die militärische Begleitung erhalten hatten.
Der Methusalem ritt bei dem Mandarin vor und wurde von demselben noch viel ehrerbietiger als vorher empfangen, eine Folge davon, daß sich der Bettlerkönig in Person bei ihm befand. Da es galt, hier ein flußabgehendes Schiff zu bekommen, so mußten sie daselbst über Nacht bleiben. Der Teu fand auch wirklich eine Dschunke, deren Führer solchen Respekt vor ihm hatte, daß er sich bereit erklärte, sein Fahrzeug bis zum Morgen klar zu machen.
Der Methusalem stellte dem Mandarin die Pferde und alle Utensilien, welche die Soldaten im Stich gelassen hatten, zurück. Zu bezahlen hatte er nichts dafür. Als er nach dem Oberlieutenant fragte, erhielt er eine ausweichende Antwort, und da ihm die Bestrafung des mutlosen Menschen nichts nutzen konnte, so zog er es vor, diesen Gegenstand nicht wieder zu berühren.
Am Morgen wurden die Reisenden mit ihrem Gepäck und großem Pomp nach dem Flusse gebracht, wo die Dschunke für sie bereit lag. Da sie dieselbe vor Kanton nicht verlassen wollten, so hatten sie sich reichlich mit Proviant versehen.
Der Ho-tschang des Fahrzeuges ließ sich bewegen, auch während der Nacht zu fahren. Dadurch und weil es nun stromabwärts ging, wurde eine sehr schnelle Rückreise ermöglicht.
Es war eines frühen Morgens, als man Kanton erreichte. Eigentlich durften sich die Fremden hier nicht sehen lassen. Ganz dasselbe war mit Jin-tsian der Fall, da er aus dem Amte entflohen war. Aber der letztere wünschte zu wissen, ob man irgend welche Maßregeln zu seiner Ergreifung angeordnet habe, und der Methusalem wollte den Tong-tschi und den Ho-po-so benachrichtigen lassen, daß er seine Reise dank ihrer Unterstützung glücklich beendet habe. Der T'eu übernahm es, die Wünsche beider zu erfüllen.
Bereits nach zwei Stunden kehrte er mit dem Ho-po-so zurück und meldete, daß von einer Verfolgung Jin-tsians nicht die Rede gewesen sei, und der Ho-po-so bat, Kanton schleunigst zu verlassen, wozu er eine besondere Dschunke zur Verfügung stellen wolle. Er habe den betreffenden Befehl bereits erteilt.
Es dauerte auch gar nicht lange, so kam ein Schnellsegler herangerudert und legte sich Bord an Bord mit der Dschunke aus Schao-tscheu. Auf diese Weise konnte die Umquartierung vor sich gehen, ohne daß die Aufmerksamkeit der auf den nahe liegenden Schiffen befindlichen Chinesen mehr als gewöhnlich erregt wurde.
Nun galt es, Abschied von dem Bettlerkönig und dem Hopo-so zu nehmen. Man hatte dem letzteren viel und dem ersteren noch weit mehr zu verdanken. Der Ho-po-so machte, nachdem er dem Führer der Dschunke seine Befehle erteilt hatte, die Sache mit einigen Verbeugungen ab. Er war, obgleich er diesen Fremden das Leben verdankte, doch herzlich froh, sie nun auf der Heimreise zu wissen. Degenfeld wollte dem Bettlerkönig den T'eu-kuan zurückgeben, doch bat derselbe, den Paß als ein Andenken an ihn zu behalten. Dann reichte er allen die Hände, versprach, seinen Schwiegersohn und den Tong-tschi zu grüßen und vor allen Dingen sich des Mijnheer anzunehmen, und verabschiedete sich dann mit einer Herzlichkeit, aus welcher zu ersehen war, daß er die Fremdlinge aufrichtig liebgewonnen hatte.
Kurze Zeit später zog die Mannschaft die beiden Segel auf, und die Dschunke setzte sich nach Whampoa zu in Bewegung, um durch die Bocca Tigris nach Hongkong zu gehen, dessen Hafen man beim Grauen des nächsten Morgens erreichte.
Dort wurde die Dschunke, nachdem das Gepäck aus derselben an Bord von Turnersticks Klipperschiff geschafft worden war, abgelohnt; die Reisenden selbst aber begaben sich nach dem Hotel, in welchem sie den braven Mijnheer kennen gelernt hatten. Der Wirt lächelte vergnügt, als er sie, den Neufundländer voran, sich durch das Menschengewühl Bahn brechen und auf sein Haus zusteuern sah. Turnerstick zog es dieses Mal vor, zu gehen. Er hatte nicht Lust, wieder »Sänfte zu laufen«. Die Damen jedoch wurden per Palankin nach dem Hotel gebracht.
Infolge des ungeahnt schnellen und glücklichen Verlaufs des Unternehmens schlug der Gottfried vor:
»Es jiebt zwar hier kein Faß; aberst ich möchte mich nicht nachreden lassen, dat ich diesem China wie ein durstiger Pudel den Rücken jewandt habe; darum ist es meine höchst maßjebliche Vorder- und Seitenansicht, dat wir einige Flaschen des heimatlichen Jerstensaftes ausstechen. Wer thut mit?«
»Ich!« antwortete der Methusalem, und die andern hatten nichts dagegen.
Als dieses löbliche Vorhaben ausgeführt war, begab sich Turnerstick nach seinem Schiffe, um nachzusehen, ob der Steuermann seinen Instruktionen nachgekommen sei. Bei seiner baldigen Rückkehr meldete er, daß die Ladung gelöscht und neue Fracht an Bord genommen sei und man schon am nächsten Tage unter Segel gehen könne.
Die Reise hätte per Dampfer schneller und wohl auch bequemer zurückgelegt werden können; aber der gute Turnerstick hatte so lange gebeten, bis es ihm versprochen worden war, daß man sich auch auf der Rückfahrt seines Schiffes bedienen werde. Er wollte, und sollte es zu seinem größten Schaden sein, die Freunde bis in ihre Heimatstadt begleiten, um dort Ye-kin-li und Richards Mutter kennen zu lernen und – was er aber kaum sich selbst eingestand – auch seinen Anteil an dem Ruhme zu haben, der die Heimkehrenden dort erwartete.
An Bord des Klippers sollte ein ausführlicher Bericht über das Erlebte verfaßt und mit dem ersten vorüberlaufenden Dampfer vorangeschickt werden.
Turnerstick schlief die Nacht schon an Bord. Die andern blieben im Hotel. Als sie sich am Morgen auf dem Klipper einfanden, hatte er seine chinesische Mandarinenkleidung ab- und den Südkarolinafrack samt Halstuch mit Schmetterlingsschleife wieder angelegt. Seine eigene Kabine war während der Nacht ganz allerliebst für die Damen eingerichtet worden, und ebenso hatte er sehr ausgiebig dafür gesorgt, daß die männlichen Passagiere gute Plätze fanden.
Seine Kommandostimme erscholl munter über das Deck. Die Anker wurden angezogen und die Segel gehißt. Getrieben von der Ebbe und einer guten Prise glitt der schlanke Klipper aus dem Hafen.
Die Passagiere standen alle an Deck, die Blicke nach dem Lande gerichtet, von welchem als sicher anzunehmen war, daß sie es nicht wiedersehen würden. Als es verschwinden wollte, nahm Turnerstick den Klemmer ab und sagte, indem er sich mit der Hand über die Augen fuhr:
»Sonderbare Erde, und noch sonderbarere Menschen darauf! Können nicht einmal ihre Muttersprache richtig sprechen; haben nicht den mindesten Begriff von einer richtigen chinesischen Endung! Und doch thut es mir leid, daß ich Abschied nehmen muß. Vielleicht nur deshalb, weil wir den Dicken zurücklassen mußten.«
»Dat wird es sein!« stimmte der Gottfried bei. »Wäre meine Oboe mich nicht jar so lieb, so hätte ich sie ihm als Andenken an seinen Jottfried zurückjelassen. Auch mich thut dat Scheiden weh; aberst es beseligt mir doch dabei der Jedanke, dat wir unser Kong-Kheou erfüllt haben. Darum weg mit die traurigen Jefühle! Habe ich dat China mit einem Tsching-tsching bejrüßt, so verabschiede ich mir jetzt von ihm mit einem Tsching-Iao, wat so viel heißt als: Adje, du Land der jeschlitzten Augen; du thust mich herzlich leid, denn dich jeht soeben dein schönster Jottfried für immer verloren!«