Karl May
Satan und Ischariot II
Karl May

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FÜNFTES KAPITEL

Am Dschebel Magraham

Elatheh, die von mir gerettete Frau, hatte erklärt, nun stark genug zu sein, sich mit ihrem Kinde im Sattel halten zu können, und ritt eins der Pferde der Ayun. Sie schien keine Sorge mehr um sich selbst zu haben, da wir ihre Todfeinde, die Ayun, nicht als Freunde behandelt hatten.

Wir drei saßen natürlich auch zu Pferde und trieben unsere Fußgänger zu raschem Laufe an. Die Pferde der Ayun machten uns nicht viel zu schaffen. So feurig die Beduinenrosse sind, so sind sie doch wie Hunde, welche ihren Herren folgsam und willig nachlaufen.

Die Sonne hatte den Horizont noch nicht erreicht, als wir hier und da im Sande größere oder kleine Steine liegen sahen. Das »Warr« begann, und je weiter wir kamen, desto größer und zahlreicher wurden die Steine. Endlich sahen wir sie südwärts in Massen vor uns liegen; ein nächtlicher Ritt durch ein solches Warr ist höchst unbequem, und so konnten wir den Entschluß Krüger-Beis, am Beginn desselben Halt zu machen, nur billigen.

Bald sahen wir denn auch das Lager vor uns, in welchem es sehr lebhaft zuging. Man sah uns kommen; man sah auch, daß wir nicht allein waren, und so kamen uns viele neugierig entgegen, die nicht wenig erstaunt waren, als sie hörten, was geschehen war, und die Kunde davon schnell durch das ganze Lager verbreiteten.

Natürlich stattete ich Krüger-Bei meinen Rapport ab. Er schien nicht sehr von demselben erbaut zu sein, denn er sagte:

»Sie haben da zu drei Personen eine Heldenthat vollbracht und außerdem vierzehn Personen gefangen genommen; aber anders wäre es mir viel lieber gewesen.«

»Anders? Wie meinen Sie das?«

»Weil diese Gefangenen mitschleppen zu müssen, große Unannehmlichkeiten zur Folge haben wird.«

»Ich denke gerade das Gegenteil.«

»Wodrum?«

»Weil sie uns in Beziehung auf die Uled Ayars von großem Nutzen sein können.«

»So wollen Sie mir gütigst mitteilen, worin dieser Nutzen besteht, was ich mit voller Zuverlässigkeit nicht einsehe!«

»Die Uled Ayars haben die Kopfsteuer verweigert. In welcher Weise wird dieselbe geleistet oder ausgezahlt? «

»Der Stamm hat so und so viel Köpfe, macht in Summa für den Stamm und seinesgleichen alle Köpfe zusammen so viel Pferde, Rinder, Kamele, Schafe oder Ziegen.«

»Die Kopfsteuer wird also in Vieh geleistet. Im Frühjahr sind die Regen ausgeblieben, und infolge der nachherigen Dürre gingen unzählige Tiere zu Grunde. Die Herden sind gelichtet, und mancher wohlhabende Nomad ist zum armen Manne, mancher arme Mann zum Bettler geworden. Die Leute müssen, wenn sie nicht rauben sollen, von ihren Herden leben; nun aber sind sie gezwungen, zu darben. Sie hegten die Hoffnung, daß Mohammed es Sadok Pascha ihnen deshalb die Kopfsteuer für dieses Jahr erlassen oder doch wenigstens herabmindern werde; sie sandten darum Boten zu ihm; er hat es aber nicht gethan. Sie sollen von ihren gelichteten Herden die Steuer, die volle Steuer entrichten und werden also in noch viel größere Not geraten, Das hat sie erbittert; deshalb haben sie sich empört. Nun kommen wir, sie zu zwingen, ihnen mit Gewalt das Verweigerte abzunehmen; das wird sie zur Verzweiflung bringen. Ich bin aber überzeugt, daß sie die Steuer entrichten würden, wenn sie nicht so große Verluste erlitten hätten. Sie nicht auch?«

»Sofern als auch!« nickte er.

»Sie können sie nicht geben, ohne in noch größere Not zu geraten; sie werden sich also bis auf das Messer wehren. Die Uled Ayar sind uns an der Zahl der Krieger überlegen. Wenn sie uns besiegen, so sind wir unendlich blamiert und müssen mit Schande heimkehren. Das darf uns natürlich nicht passieren!«

»Es ist unmöglich, eine solche Schande zu ertragen, lieber mit der Waffe in der Faust sterben.«

»Ganz richtig, lieber sterben! Aber nun der andere Fall: wir siegen. Dann stürzen wir den ganzen Stamm in das tiefste Elend; der Hunger reibt ihn auf, und was dieser übrig läßt, das raffen die Krankheiten und Seuchen, welche eine Folge der Hungersnot sind, hin. Soll das geschehen?«

»Ungern. Aber warum soll nicht eintreten ein Auszug des Stammes nach Gegenden, wo die Herden mit gefundenen Weiden wieder Kraft und Fett und Fleisch erhalten?«

»Sie meinen, die Ayars sollen die Gegend wechseln, sollen gute Weiden aufsuchen, um ihre Herden sich wieder vermehren zu lassen? Dann ziehen sie hinüber ins Algerien oder gar über die Grenze von Tripolis; sie gehen also dem Pascha verloren, und er wird von ihnen nie wieder Steuer erhalten können, weil er ihnen diejenige eines einzigen kurzen Jahres nicht erlassen hat. Wünschen Sie das?«

»Entweder niemals oder auch nein!«

»Also Sie wünschen, daß weder wir noch die Uled Ayars besiegt werden!«

Er antwortete nicht sofort; er starrte mich ganz erstaunt an, dachte nach und kam da allerdings zur Einsicht, daß ich recht hatte, denn er meinte in verlegenem Tone:

»Das zu wissen, kann ich weder einsehen noch begreifen. Vielleicht können Sie mit beliebiger Scharfsinnigkeit nach Auseinandersetzung aller Gründe mir Hilfe leisten.«

»Ja, ich kann Ihnen einen Rat erteilen; ich weiß ein Mittel, den Uled Ayars die Zahlung der Kopfsteuer zu ermöglichen, ohne daß sie Schaden davon haben. Sie treiben dieselbe von den Uled Ayun ein.«

»Uled Ayun? Inwiefern?«

»Ich weiß, daß die Uled Ayun viel reicher sind, als die Uled Ayar; sie können einen Verlust viel leichter ertragen. indem ich ihren Häuptling und seine dreizehn Begleiter gefangen nahm, verfolgte ich einen doppelten Zweck; einmal wollte ich ihn für den Mord bestrafen, das andremal bekam ich durch ihn einen Trumpf in die Hände, welchen wir gegen oder vielmehr für die Uled Ayars ausspielen können. Es ist uns vielleicht gar möglich, letzteren die Entrichtung der Steuer zu ermöglichen und also sie mit dem Pascha auszusöhnen, ohne daß wir einen einzigen Schuß zu thun brauchen.«

»Das würde als ein Wunder vernommen werden.«

»Denken Sie daran, daß die Uled Ayar mit den Uled Ayun in Blutrache stehen. Es wird mir nicht schwer werden, festzustellen, wieviel Morde die letzteren an den ersteren begangen haben; dafür müssen sie die Blutpreise zahlen. Wir können sie zwingen, weil ihr Scheik sich in unsern Händen befindet.«

Da that Krüger-Bei trotz seines Alters und seiner hohen Würde einen Freudensprung und rief aus:

»Alhamdulillah! Allah sei Dank für diesen kostbaren Gedanken und diese unvergleichliche List, die Sie ausgesonnen haben! Sie sind ein kostbarer Kerl! Ihnen meine Freundschaft! Darauf können Sie sich verlassen von Zeit zu Zeit.«

Er schüttelte mir die Hände, und ich fragte ihn:

»Sie tadeln mich nun also nicht mehr darüber, daß ich den Scheik gefangen genommen habe?«

»Weder nicht noch nie!«

»So bitte, lassen Sie ihn mit seinen Leuten vorführen. Wir wollen ihn ins Gebet nehmen wegen der Blutrache. Auch habe ich eine persönliche Sache mit ihm zu ordnen.«

»Welcherlei Sache?«

»Er schimpfte mich wiederholt einen Hund, und ich habe ihm dafür Strafe angedroht. Er soll Prügel haben.«

»Prügel? Wissen Sie, daß ein freier Beduine die Prügel nur mit Blut abwäscht und die fürchterlichste Rache auf Tod und Leben nimmt?«

»Ich weiß es genau; ich weiß alles, was Sie sagen wollen. Auch ist's nicht etwa allein der ›Hund‹, den er büßen soll, sondern er soll bestraft werden für die Bosheit und Gefühllosigkeit, welche dazu gehört, eine wehrlose Frau mit einem armen Kinde in geradezu teuflischer Weise zu behandeln. Die Blutrache geht mich nichts an; daß er den Greis ermordet hat, darüber bin ich nicht zum Richter berufen; aber ich sah das blinde Kind bei dem Kopfe seiner Mutter liegen, welcher um Hilfe schreiend aus der Erde ragte; ich sah die Geier um die Stelle versammelt, jeden Augenblick bereit, die Zerfleischung von Mutter und Kind zu beginnen. Diese Grausamkeit ging weit über die Blutrache hinaus, und dafür soll und muß er seine Strafe erhalten.«

»Und dennoch kann ich nicht umhin, Zweifel über ihre Berechtigung zu hegen!«

»Sagen Sie, was Sie wollen! Mein christliches Gefühl ist empört über die Unmenschlichkeit. Sie waren Christ, und ich weiß, daß Sie es im Herzen noch sind, obgleich Sie leider das Gewand eines Moslem tragen. Sie warnen mich nur vor den Folgen, um welche ich mich nicht schere, und geben mir doch innerlich recht. Ich wiederhole meine Bitte: Lassen Sie die Kerle kommen! Ich habe gesagt, daß er seine Strafe noch vor dem Abendgebete erhalten soll, und was ich sage, das gilt. Wenn Sie es nicht zugeben, werde ich ihn hinter Ihrem Rücken durchbläuen lassen!«

»Indem es Ihr fester Entschluß ist, daß er entweder hinter meinem Rücken oder auch vor demselben geprügelt werde, so soll es auf der Stelle Ihnen zuliebe ausgeführt werden.«

Nachdem er diese Zustimmung in seiner außerordentlich klaren Weise gegeben hatte, erteilte er den Befehl, die Gefangenen vor ihn zu führen. Er nahm vor dem Zelte, welches für ihn aufgerichtet worden war, Platz; ich mußte mich auf die eine Seite neben ihn setzen und Winnetou und Emery wurden aufgefordert, sich auf der anderen Seite niederzulassen.

Nach der Art, wie er seine Muttersprache ge- oder vielmehr mißbrauchte, durfte man den Beamten ganz und gar nicht beurteilen; er war in seinen gegenwärtigen Verhältnissen und für dieselben ein ganzer Mann.

Als die Truppen hörten, daß der Herr der Heerscharen mit den Gefangenen sprechen wolle, kamen sie herbei, um zuzusehen. Die Offiziere bildeten einen weiten Halbkreis um uns. Der Scheik der Uled Ayun wurde mit seinen Leuten gebracht. Er kannte Krüger-Bei und grüßte ihn, doch nur mit einer leichten Verneigung seines Hauptes. Der freie Beduine meint, auf den unfreien Beamten oder Soldaten des Pascha tief herabsehen zu müssen. Da kam er aber bei dem Obersten an den unrechten Mann; dieser hatte jetzt nicht deutsch, sondern arabisch zu sprechen und schnauzte ihn an:

»Wer bist du?«

»Du kennst mich doch!« antwortete der Scheik in trotzigem Tone.

»Ich glaubte, dich zu kennen; dein hoheitsvoller Gruß sagt mir aber, daß ich mich geirrt habe. Bist du seine Herrlichkeit, der Großsultan von Stambul, welcher der jetzige Khalif aller Gläubigen ist?«

»Nein,« antwortete der Scheik, welcher nicht wußte, wo der Oberst mit seinen Fragen hinaus wollte.

»Warum grüßest du mich da wie ein Sultan, zu dessen Angesicht ich meine Augen nicht erheben darf! Ich will hören, wer du bist!«

»Ich bin Farad el Aswad, der oberste Scheik aller Uled Ayun.«

»Ah, der! Allah öffnet mir die Augen, dich wieder zu erkennen. Also du bist ein Ayun, nichts als ein Ayun, und doch ist dein Nacken zu steif, den Herrn der Heerscharen des Pascha, dem Allah tausend Jahre schenken möge, in würdiger Weise zu grüßen. Ich werde dir den Nacken beugen lassen!«

»Herr, ich bin ein freier Ayun!«

»Ein Mörder bist du!«

»Kein Mörder, sondern ein Bluträcher; aber das geht keinen Menschen etwas an. Wir sind freie Männer, wir haben unsre eigenen Gesetze, nach denen wir leben; wir zahlen dem Pascha die Kopfsteuer, welche wir ihm versprochen haben; weiter hat er nichts zu fordern, und um das übrige hat er sich nicht zu kümmern.«

»Du thust, als ob du deine Rechte ganz genau kenntest, und ich werde sie dir nicht streitig machen; aber deine Pflichten scheinst du nicht zu kennen. Da ich dich bei deinen Rechten lasse, werde ich auch darauf sehen, daß du bei deinen Pflichten bleibst. Du siehst in mir den Vertreter des Pascha und hast ihn in mir zu achten und zu ehren. Ich werde euch jetzt zwanzig Schritte weit zurückführen lassen; dann naht ihr euch wieder und grüßt mich so, wie ihr es mir schuldig seid! Sonst bekommt ihr augenblicklich die Bastonnade!«

»Das darfst du nicht wagen!« fuhr der Schwarze auf. »Wir sind freie Männer, wie ich bereits gesagt habe.«

»In der Wüste seid ihr frei; wenn ihr euch aber beim Pascha oder bei mir befindet, seid ihr Untergebene, denn ihr zahlt uns die Kopfsteuer. Und wo ich meinen Fuß hinsetze, da gelten die Gesetze des Pascha. Wer die nicht befolgt, wird bestraft. Also zwanzig Schritte zurück, und dann ordentlich gegrüßt! Fort mit euch!«

Sie sahen, daß es ihm Ernst war, und ich war auch überzeugt, daß er seine Drohung ausführen würde, falls sie ihm nicht gehorchten. Sie entfernten sich bis auf zwanzig Schritte, kamen dann wieder und grüßten, indem sie sich tief verbeugten und die rechte Hand auf Stirn, Mund und Brust legten. Dennoch fuhr Krüger-Bei sie an:

»Wo bleibt das Sallam? Seid ihr stumm geworden?«

»Sallam aaleïkum!« grüßte der Scheik. »Allah verlängere dein Leben und schenke dir die Freuden des Paradieses!«

»Sallam aaleïkum! Allah verlängere dein Leben und schenke dir die Freuden des Paradieses!« wiederholten seine dreizehn Begleiter einstimmig.

»Aaleik es Sallam!« antwortete Krüger-Bei kurz. »Wie kommt ihr hieher?«

»Man hat uns gezwungen,« antwortete der Scheik. »Weil wir ein Weib der Uled Ayar bestraften, mit denen wir in Blutrache leben.«

»Wer zwang euch?«

»Die drei Männer, welche an deiner Seite sitzen.«

»Und ihr seid vierzehn? Wie kannst du das sagen, ohne daß dein Angesicht errötet?«

»Wir brauchen nicht zu erröten, denn die Männer stehen mit dem Scheitan im Bunde; er hat ihnen Gewehre gemacht, gegen welche hundert Krieger nicht aufkommen können.«

»Sie halten es nicht mit dem Teufel, sondern sie fürchten Gott; aber sie sind tapfere Männer, welche schon in vielen Kämpfen gesiegt haben und weder Furcht noch Zagen kennen.«

»So kennst du sie noch nicht, uns aber haben sie gesagt, wer sie sind.«

»Nun, wer sind sie?«

»Der eine ist ein Nemsi, der andere ein Inglesi und der dritte ein Amierikani. Sie alle drei sind Ungläubige, welche in der Hölle wohnen werden. Was haben sie in unserm Lande zu suchen? Wer giebt ihnen das Recht, sich in unsere Angelegenheiten zu mischen? Die Hunde haben uns –«

»Halt!« gebot der Oberst ihnen in drohendem Tone. »Beleidigt sie nicht, denn sie sind meine Freunde und Gäste, und ihr beleidigt mich mit ihnen, Laßt also kein solches Wort wieder hören!«

Und in einem ganz anderen, merkwürdig freundlichen Tone fuhr er fort:

»Ihr habt Blutrache mit den Uled Ayar? Seit wann?«

»Seit fast zwei Jahren.«

»Ich ziehe jetzt gegen sie, um sie zu bekämpfen. Sie sind also meine Feinde ebenso, wie sie die eurigen sind.«

»Wir wissen es und hoffen also, daß du uns als Freunde behandeln wirst.«

»Für wen ist die Blutrache günstiger ausgefallen, für euch oder sie?«

»Für uns.«

»Wieviel Männer haben sie euch getötet?«

»Keinen.«

»Und ihr ihnen?«

»Vierzehn.«

Ich wußte, daß der plötzliche freundliche Ton des Obersten einen Grund haben müsse. Jetzt meinte er in ganz veränderter, strenger Weise:

»Das wird euch teuer zu stehen kommen! Denn ich werde euch den Uled Ayar ausliefern.«

»Das wirst du nicht!« rief der Scheik erschrocken. »Sie sind doch deine Feinde!«

»Sie werden dadurch, daß ich euch ihnen gebe, meine Freunde werden!«

»O Allah! Sie werden Rache nehmen und uns töten! Aber du hast kein Recht, uns auszuliefern. Wir sind nicht deine Sklaven, die du nach Belieben verschenken kannst!«

»Ihr seid meine Gefangenen! Ich sage euch, der Ritt nach der Stelle, an welcher ihr das Weib eingegraben hattet, wird euch teuer zu stehen kommen!«

Der Scheik sah finster vor sich nieder; dann blickte er zu dem Obersten auf, sah diesem scharf und forschend in das Gesicht und fragte:

»Ist es dein Ernst, uns auszuliefern?«

»Ich beteure es bei meinem Namen und bei meinem Barte!«

Da ging ein Zug grimmigen Hasses über das Gesicht des Ayun, und in höhnischem Tone fuhr er fort:

»Du meinst wohl, daß sie uns töten werden?«

»Ja.«

»Du irrst, bei meiner Seele, du irrst! Sie werden uns nicht töten, sondern die Diyehl von uns nehmen. Einige Pferde, Kamele und Schafe werden ihnen lieber sein als unser Blut. Dann sind wir wieder frei und werden an dich denken! Wir werden dich – dich – –«

Er machte eine drohende Armbewegung. Der Oberst that, als ob er diese nicht gesehen habe, und sagte:

»Irrt euch nicht! – Es wird sich wahrscheinlich nicht nur um einige Stück Vieh, sondern um viel mehr handeln.«

»Nein. Wir kennen den Preis, welcher bei uns gebräuchlich ist, und können ihn recht wohl bezahlen.«

Da wendete sich der Oberst an mich und fragte:

Welcher Ansicht bist denn du, Effendi?«

Es ist allerdings gebräuchlich, die Höhe der Diyeh, des Blutpreises, nach den Verhältnissen der Person, welche ihn zu bezahlen hat, zu bestimmen. In diesem Falle war freilich anzunehmen, daß die Uled Ayun nicht soviel für die getöteten Ayar zu bezahlen hatten, wie die Kopfsteuer betrug, welche die letzteren entrichten sollten. Dies wußte der Oberst, und darum wendete er sich an mich in der Hoffnung, daß ich es verstehen würde, der Sache eine günstigere Wendung zu geben. Ich antwortete also in diesem Sinne:

»Du willst, o Herr, mit den Uled Ayar über die Auslieferung unserer Gefangenen verhandeln?«

»Ja.«

»So bitte ich dich um die Gewogenheit, zu erlauben, daß ich es bin, der die Verhandlung zu führen hat!«

»Die Bitte ist gewährt, denn ich weiß, daß ich keinen bessern Mann damit beauftragen kann.«

»In diesem Falle werden die Uled Ayun nun freilich viel mehr zu bezahlen haben, als sie jetzt denken.«

»Meinst du?« fragte er erfreut.

»Ja. Der Scheik der Ayun hat mich einen Hund, einen Ungläubigen genannt; ich kenne aber den Kuran und die verschiedenen Auslegungen desselben besser als er. Ich werde ihm das dadurch beweisen und seine beleidigenden Ausdrücke dadurch bestrafen, daß ich für die Auslieferung der Gefangenen die Bedingung stelle, den Blutpreis für die getöteten Uled Ayar genau nach dem Kuran und seinen Kommentaren zu bestimmen.«

Da lachte der Scheik höhnisch auf und rief:

»Ein Nemsi, ein Ungläubiger, ein Christ will den Kuran besser kennen als wir, und nach dem heiligen Buche die Diyeh bestimmen! Dem Giaur ist der Hochmut in den Kopf gefahren und hat ihm den Verstand verwirrt!«

»Wahre dich!« warnte ich ihn. »Noch ist das Abendgebet noch nicht gekommen und du nennst mich einen Giaur. Weißt du denn, was der Kuran und die Auslegung über die Diyeh berichtet?«

»Nein, denn es wird gar nichts berichtet, sonst müßte ich es wissen.«

»Du irrst, und ich werde deine Unwissenheit erleuchten. Also höre, und die deinen mögen auch hören: Abd. el Mottaleb, der Vatersvater des Propheten, hatte der Gottheit gelobt, wenn sie ihm zehn Söhne bescheren würde, ihr einen derselben zu opfern. Sein Wunsch wurde erfüllt, und um seinem Gelübde treu zu sein, befragte er das Los, welchen seiner zehn Söhne er zum Opfer bringen solle; es traf Abd-Allah, den nachherigen Vater des Propheten. Da nahm Abd el Mottaleb den Knaben und verließ mit ihm die Stadt Mekka, um ihn draußen vor derselben zu opfern. Inzwischen aber hatten die Bewohner der Stadt gehört, was er vorhatte; sie folgten ihm und stellten ihm vor, wie frevelhaft und grausam zu handeln er im Begriffe stehe. Sie versuchten sein Vaterherz zu erweichen, aber er widerstand allen ihren Reden und schickte sich an, das Opfer zu vollziehen. Da trat ein Mann zu ihm und bat ihn, ehe er handle, eine berühmte Wahrsagerin zu befragen. Abd el Mottaleb that dies, und sie erklärte, daß man rechts den Abd-Allah und links zehn Kamelstuten stellen möge und dann das Los werfen solle, wer zu töten sei, der Knabe oder die Stuten. Wenn das Los auf Abd-Allah falle, müsse man weitere zehn Kamelstuten bringen und wieder das Los befragen, und in dieser Weise fortfahren, bis es auf die Stuten falle, wodurch die Gottheit erkläre, wieviel Stuten das Leben und das Blut des Knaben wert sei. Es wurde auch in dieser Weise verfahren. Zehnmal fiel das Los auf den Knaben, sodaß bereits hundert Kamelstüten auf der linken Seite standen. Zum elftenmale traf das Los die Kamele, und Abd-Allah, der Vater des Propheten, wurde dadurch vom Opfertode erlöst. Seit jenem Tage und zum Andenken an denselben, wurde der Blutpreis eines Menschen auf hundert Kamelstuten festgestellt, und jeder wirklich gläubige Moslem darf sich nicht nach dem Brauche seiner Gegend, sondern er muß sich nach diesem geheiligten Brauche richten. Was sagst du nun?«

Diese Frage richtete ich an den Scheik. Er blickte einige Zeit finster vor sich nieder, warf mir dann einen grimmigen Blick zu und fragte:

»Welcher M'allim des Kuran hat die Todsünde begangen, dich, den Ungläubigen über die Geheimnisse des Islam zu unterrichten? Allah verbrenne ihn im glühendsten Feuer der Hölle!«

»Der Lehrer war auch ein Christ. Wir Christen kennen eure Lehre weit besser, als ihr selbst. Nun rechne einmal! Ihr habt vierzehn Uled Ayar umgebracht; das giebt vierzehnhundert Kamelstuten, welche ihr zu bezahlen habt, wenn ihr euer Leben retten wollt.«

»Und die Uled Ayar werden so verrückt sein, sie zu verlangen?«

»Ja. Oder vielmehr, sie würden verrückt sein, wenn sie es nicht thäten. Wir liefern euch nur unter der Bedingung an sie aus, daß sie es thun. Wir machen ihnen mit euch ein großartiges Geschenk, welches sie mit Freuden hinnehmen werden, da sie dann die Kopfsteuer bezahlen können und ihnen noch viele Tiere übrig bleiben, um die gehabten Verluste zu ersetzen!«

»Du redest wie ein ungeborenes Kind! Woher sollen wir vierzehnhundert Kamelstuten nehmen!«

»Hat denn nicht jedes Tier einen Preis, für welchen es zu haben ist? Besitzt nicht auch jede Kamelstute einen solchen?«

»Sollen wir Geld geben? Soviel bares Geld giebt es im ganzen Lande nicht. Wir bezahlen nicht, sondern wir tauschen. Aber das weißt du nicht, weil du ein Fremder, ein Giaur bist!«

»Giaur! Wieder eine Beleidigung! Sie wird zu den vorigen gerechnet und erhöht das Maß der Strafe, welche dich treffen wird. Habe ich übrigens gesagt, daß ihr Geld bezahlen sollt? Wenn es bei euch nur Tauschhandel giebt, und ich weiß sehr wohl, daß es so ist, so wird euch kein Mensch verwehren, die vierzehnhundert Kamelstuten im Tausche zu bezahlen. Ihr kennt den Wert eines Kameles, eines Rindes, eines Pferdes, eines Schafes und einer Ziege, und könnt euch also leicht berechnen, wieviel Pferde, Rinder, Schafe oder Ziegen ihr für die Stuten abzuliefern habt. Übrigens ist dies noch nicht alles, was ihr zu bezahlen habt.«

»Etwa noch mehr?« fuhr er auf.

»Ja. Kennst du die Erklärungen des Kuran von Samakschari und Beidhawi?«

»Nein.«

»Ich habe sie studiert. Du siehst also abermals, daß ich, den du einen Giaur schimpfest, die Lehren, Gebote und Gesetze des Islam besser kenne als ihr, die ihr euch rühmt, gläubige und unterrichtete Anhänger des Propheten zu sein. Diese beiden Ausleger sind die berühmtesten von allen, und sagen übereinstimmend: Wer das Weib eines andern beschimpft, schändet, der tötet ihre Ehre und soll den halben Blutpreis bezahlen; wer sie aber mißhandelt, der tötet die Ehre ihres Mannes und muß die ganze Diyeh entrichten. Weißt du, was ich meine?«

»Allah verderbe dich!« knirschte er.

»Ihr habt die Frau, die ich rettete, auf eine ganz unmenschliche Weise mißhandelt und dadurch die Ehre ihres Mannes getötet. Das kostet den ganzen Blutpreis, also hundert Kamelstuten, oder deren genauen Wert in andern Tieren. Ich will dabei so gütig sein und die Gefahr, in welche ihr auch das blinde Kind brachtet, nicht mit in Anrechnung bringen. Aber das schwöre ich euch zu, daß ihr euer Leben nicht rettet, außer ihr bezahlt neben den vierzehnhundert Stuten für die Ermordeten auch noch hundert an die Frau! Sie ist arm, und ich will, daß sie durch die Mißhandlungen, welche sie erdulden mußte, wohlhabend werde.«

Da konnte sich der Scheik nicht länger halten; er sprang zwei Schritte vor und schrie:

»Hund, was hast du zu wollen und zu gebieten! Was gehen dich, den Hundesohn, alle diese Dinge an! Du bist wahnsinnig, daß du dir einbildest, zwei große Stämme dieses Landes sollen sich nach deinen Wünschen richten! Wären mir nicht die Hände gebunden, so würde ich dich erwürgen. So aber nimm das! Ich speie dich an; ich speie dir ins Gesicht!«

Er führte seine wütende Drohung wirklich aus; ich aber warf, an der Erde sitzend, den Oberkörper schnell zur Seite, sodaß er mich nicht traf. Da rief Krüger-Bei:

»Führt die Hunde fort, sonst werden sie toll! Sie haben gehört, was wir wollen, und wir werden keinen Finger breit davon abgehen; sie werden ausgeliefert und müssen den Blutpreis nach dem Kuran und hundert Kamelstuten an die Frau zahlen, wenn sie nicht ihr Leben lassen wollen. Sind die Betreffenden nicht reich genug, so mag ihr Stamm für sie eintreten!«

Man schaffte sie fort, doch hielt man auf meinen Wink den Scheik zurück, welchen, da er sich unbändig gezeigt hatte, die Füße wieder gebunden wurden.

Jetzt ging die Sonne unter, und es war also die Zeit des Moghreb gekommen, des Gebetes, wenn die Sonne sich hinter dem Horizonte niedersenkt. Bei jeder Karawane, bei jedem Trupp, der sich unterwegs befindet, giebt es jemand, welchem das Amt des Vorbeters übertragen ist; ist's kein moslemitischer Geistlicher, Derwisch oder Moscheebeamter, so ist's ein Laie, der die zu beobachtenden Funktionen genau kennt. Hier bei uns war es mein Freund, der Feldwebel, der alte Sallam. Kaum berührte die Sonne den Horizont, so rief er mit lauter, weithin schallender Stimme:

»Hai alas Sallah, hai alal felah! Allahu akbar! Aschada anna la ilaha il Allah, aschadu anna Mohammad-ar-rasulullah – auf zum Gebete, auf zum Heile! Gott ist sehr groß! Ich bekenne, daß es keinen Gott giebt außer Gott. Ich bekenne, daß Mohammed der Gesandte Gottes ist!«

Darauf folgte der für dieses Gebet vorgeschriebene Lobpreis, welcher aus siebenunddreißig Versen oder Abschnitten besteht, und zu dem in den Moscheen Rauchwerk mit Laudanurn geopfert wird. Die Soldaten lagen alle auf den Knieen, die Gesichter gen Mekka gerichtet und verrichteten ihr Gebet mit einer Andacht und Hingebung, welche man manchem Christen wünschen möchte. Nur der Scheik konnte nicht beten, weil er doppelt gebunden war. Er verwendete fast kein Auge von mir, und ich bemerkte, daß er mich mit dem Ausdrucke der Verachtung und des Hohnes betrachtete. Der letzte Abschnitt des Moghreb lautet:

»Es ist kein Gott als der einzige, der ohne Gefährten ist. Sein ist die Herrschaft, und sein ist das Lob. Er belebt, und er tötet, und er stirbt nicht. In seiner Hand ist das Gute, und er ist über alle Dinge mächtig. Es ist kein Gott als Gott. Er hält, was er versprochen hat und steht seinen Dienern bei. Er erhöht sein Heer mit Ehre und vernichtet der Feinde Heere, er, der einzige. Es ist kein Gott als Gott, und wir dienen keinem andern als ihm, wir, seine Diener, die aufrichtigen, die treuen, wenn uns auch die Ungläubigen deshalb verabscheuen. Lob sei Gott, dem Herrn der Welten! Lobpreis ihm in der Morgen- und in der Abendzeit! Sein ist das Lob im Himmel und auf Erden, im Morgen- und im Abendrot, vormittags, nachmittags und mittags!«

Kaum waren diese letzten Worte verklungen und die Betenden hatten sich erhoben, so zischte mir der Scheik zu, daß alle, die sich in meiner Nähe befanden, es hören konnten:

»Nun, du Hund, wie steht es mit deinem Worte, mit deinem Schwure?«

Ich antwortete nicht.

»Du scheinst deine Drohung vergessen zu haben! Drohen kannst du leicht, zur Ausführung aber fehlt dir der Mut!«

Ich sagte immer noch nichts.

»Nun bist du ein Lügner, der sein Wort, nachdem er es herausgespieen hat, wieder frißt! Wolltest du mich nicht noch vor dem Abendgebete bestrafen? Nun ist es vorüber. Ich verachte dich!«

»Sallam!« rief ich jetzt.

Der alte Feldwebel kam heran.

»Was hast du jetzt gebetet?«

»Das Moghreb.«

»Welches Gebet kommt dann, wenn es vollständig dunkel geworden ist?«

»Das Aschiah – das Abendgebet.«

»Gut. Rufe den Bastonnadschi!«

»Wer soll denn bestraft werden?«

»Der Scheik der Uled Ayun.«

»Wieviel Hiebe?«

»Hundert.«

»Herr, dann wird er uns Beschwerde verursachen, denn er wird mehrere Tage nicht gehen können.«

»Nicht Bastonnade, sondern Hiebe auf den Rücken.«

»Das ist etwas anderes! 0 Herr, Allah segne deine Gedanken! Jetzt werden wir endlich einmal wieder die ›Beschließerin‹ beten können; das ist seit langer Zeit nicht vorgekommen: bei jedem Namen ein Hieb. Erlaubst du mir, die Namen herzusagen? Ich thue das so gern!«

»Meinetwegen!«

Er ging, um meinen Auftrag auszuführen. Bei welcher muselmännischen Truppe gäbe es keinen Bastonnadschi oder Kurbadschi! Der Mann, ein Unteroffizier, war schnell mit seinen Gefährten zur Stelle, und die Soldaten, voran die Offiziere, versammelten sich wieder bei dem Zelte des Obersten.

Dieser fand nichts mehr gegen die Exekution einzuwenden; ja er freute sich so darauf, daß er für sich und uns Pfeifen stopfen ließ, um ihr mit Hochgenuß beiwohnen zu können. Wir saßen noch am Eingange des Zeltes, und der Scheik lag vor uns. Es war nicht meine Absicht gewesen, so hart mit ihm zu sein; ich mag überhaupt dergleichen Szenen nicht gern leiden; aber er hatte die Hiebe durch die Mißhandlung der Frau verdient und sein nachheriges, besonders sein letztes Verhalten war nicht geeignet, uns zur Milde zu stimmen.

»Hundert Hiebe! Schöne Portion!« meinte Emery. »Möchte sie nicht haben; danke! Wird er sie aushalten?«

»Jedenfalls.« »Und Feldwebel dazu beten?« »Ja.«

»Die Beschließerin? Eigentümliches Volk, die Mohammedaner. Zu den Prügeln einen hundertfachen Lobpreis Allahs!«

»Ich nehme das nicht als Gotteslästerung. Hundert Hiebe und hundert Namen Allahs; da verzählt man sich nicht. Ich habe einer derartigen Exekution noch nicht beigewohnt, aber man hat mir versichert, es komme häufig vor, daß der Exekutierte die Namen Allahs mitsage, oder vielmehr laut brülle, um seine Schmerzen zu betäuben.«

»Werden sehen und hören. Bin wirklich neugierig!«

Zu bemerken ist, daß das mohammedanische Schlußgebet, welches »die Beschließerin« genannt wird, die hundert Namen Allahs enthält, welche unter Verbeugungen und Händeaufheben hergesagt werden. Da es auch für den Christen von großem Interesse ist, zu erfahren, wie Allah von den Bekennern des Islam genannt wird, so mag ein Teil der »Beschließerin« hier folgen:

Allbarrnherziger! Allbesitzender! Allheiliger! Allfehlerfreier! Allbedeckender! Allgeehrter! Allherrlicher! Schöpfer! Allhervorbringer! Allnachsichtiger! Allzwingender! Allwissender! Allempfangender! Allausbreitender! Allerniedernder! Allerhöhender! Allbeehrender! Allherabsetzender! Allhörender! Allsehender! u. s. w.

Als der Scheik den Bastonnadschi kommen sah, starrte er mich wie abwesend an; dann belebte sich plötzlich sein Auge, und er fragte mich:

»Wer – wer ist dieser Mann?«

»Der Bastonnadschi,« antwortete ich bereitwillig und nicht im geringsten gehässig. »Er soll seines Amtes walten bei dir.«

»Ich – ich soll – die hundert – die hundert Hiebe erhalten! Mensch! Giaur!«

»Schweig, sage ich dir, sonst werden es hundertfünfzig!«

»Ich bin ein freier Uled Ayun! Niemand darf mich schlagen!«

»Außer der Bastonnadschi!«

»Das fordert Blut – Blut – Blut!«

»Drohe nicht, denn bald wirst du jammern! Du sollst erfahren und fühlen, daß ich es leicht wage, meine Drohungen auszuführen.«

»Weißt du, daß es dich dein Leben kostet!«

»Schwatze nichtl Du wärst der Kerl, mein Leben zu gefährden! Wie gefährlich du bist, habe ich heute gesehen! Bastonnadschi, es kann beginnen!«

»Kräftig?«

»Thue deine Pflicht, aber ich will ihm nicht an das Leben.«

»So wird er nicht sterben, aber Allah mag mich bewahren, die Wonnen zu schmecken, welche ich ihm bereiten werde! Zieht ihn aus!«

Damit war nicht gemeint, dem Delinquenten etwa die Kleider auszuziehen, sondern seinen Körper auszuziehen, auszustrecken. Man nahm ihm den Haïk und band ihm die Hände los. Dann wurden ihm dieselben auseinandergestreckt an eine Lanze gebunden, welche zwei Soldaten ergriffen; zwei andere faßten ihn an den Füßen; alle vier zogen, und nun lag der Scheik lang ausgestreckt mit dem Bauche auf der Erde.

»Wir sind bereit, o Herr!« meldete der Bastonnadschi, indem er mit der Rechten einen Stock aus dem Bündel nahm, welches er in der Linken hielt.

»Dann los!« nickte ich.

Aber es ging noch nicht los, sondern alle sahen noch auf den alten Sallam. Dieser breitete die Arme aus und begann im Vorbetertone:

»Bismi-Ilahi 'r rahmani 'r rahim! la rabb, ia ddim. Groß und viel sind die Sünden dieser Welt und versteckt die Herzen der Boshaften. Aber die Gerechtigkeit ist wach, und die Strafe schlummert nicht. 0 Allah, o Mohammed, o alle ihr Khalifen! Hört, ihr Gläubigen, ihr frommen Lieblinge der Tugend die hundert heiligen Namen dessen, der keine Sünde hat und die ewige Gerechtigkeit und Vergeltung ist! Hört sie, aber hört nicht auf das Wimmern dieses Wurmes, dessen Sünden ihm jetzt auf die Fläche seines gottlosen Rückens verzeichnet werden! 0 Allbarmherziger! 0 Allerbarmender! 0 Allbesitzender –!«

Natürlich folgten bei diesen drei ersten Namen die drei ersten Hiebe. Dann kamen die andern alle langsam hintereinander. Beim »O« holte der Bastonnadschi aus, und bei der nächsten Silbe fiel der Hieb. Der Scheik lag wie leblos; er biß die Zähne zusammen und gab keinen Laut von sich. Aber beim fünfzehnten Namen öffnete er stöhnend den Mund, und mit dem siebzehnten begann er in brüllendem Tone mitzuzählen:

»O Allbeteilender – o Alleröffnender – o Allwissender – o Allempfangender – o Allausbreitender –!«

Ich sah und hörte nun freilich, daß die »Beschließerin« vortrefflich geeignet ist, das Geschrei oder Geheul eines Exekutierten in artikulierte Bahnen zu lenken. Der Mensch hatte seine Hundert wohl verdient; aber die Szene wurde mir immer widerwärtiger, und als er sechzig Hiebe empfangen hatte, ließ ich aufhören und ihn fortschaffen. Das moralische Wehe, welches ich ihm angethan hatte, war jedenfalls wenigstens ebenso groß wie das körperliche, und ich konnte vollständig überzeugt sein, mir in ihm einen grimmigen Feind gemacht zu haben, was mich aber nicht im geringsten aufregte.

Elatheh, die Frau, welche wir gerettet hatten, kam zu mir, um mir Dank für die Strafe zu sagen, welche ihren Peiniger getroffen hatte. Bei der Behandlung, die ihr bis jetzt geworden war, sah sie ein, daß sie für ihre Person nichts zu befürchten hatte. Sie wußte nicht, daß sie heimlich beaufsichtigt wurde. Es war ja immerhin der Fall möglich, daß sie, wenn auch nicht aus Undankbarkeit, entwich und, wenn sie auf die Krieger der Ihrigen traf, uns durch ihre ganz absichtslosen Mitteilungen verriet.

Wir legten uns zeitig schlafen, denn der morgende Weg durch das Warr war nicht nur beschwerlich, sondern wurde auch nach und nach gefährlich, je mehr wir uns den Ruinen näherten, wo wir die Feinde und unsere eingeschlossenen Leute vermuteten.

Am andern Morgen wurde zeitig aufgestanden, gegessen, die Pferde und Kamele gefüttert, und dann brachen wir auf. Noch im letzten Augenblicke kam Winnetou zu mir geritten und sagte:

»Mein Bruder mag mit mir kommen. Ich habe ihm etwas zu zeigen.«

»Etwas Gutes?«

»Vielleicht Böses.«

»Ah! Was?«

»Winnetou hat, wie mein Bruder weiß, die Gewohnheit, vorsichtig zu sein, auch wo dies nicht notwendig zu sein scheint. Ich bin hinaus und um das Lager geritten und habe da eine Spur gesehen, welche meinen Verdacht erweckt.«

Er nahm mich, während die andern fortritten, die Gefangenen auf Pferde gefesselt, mit nach Südosten, und da sahen wir denn im Sande, der zwischen den Steinblöcken lag, allerdings eine menschliche Fährte, welche zunächst vom Lager fort und dann in dieses wieder zurückführte. Wir folgten ihr und kamen an eine zwischen großen Felsbrocken gelegene Stelle, wo der Mann, der die Spur verursacht hatte, mit einem andern zusammengetroffen war; der andere war zu Pferde gewesen. Allem Anscheine nach hatten sie längere Zeit miteinander gesprochen.

Die Spuren waren unserer Ansicht nach wenigstens acht Stunden alt, und die Zusammenkunft hatte also um die Mitternachtszeit stattgefunden. Wir konnten jetzt nichts weiter thun, als der Spur des Reiters folgen. Sie führte ohne Unterbrechung nach Südost, also aus der Richtung, welcher unser Zug folgte, weit ab. Dies beruhigte uns einigermaßen, und wir kehrten nach einer halben Stunde um, um die Gefährten einzuholen.

Natürlich teilten wir, als dies geschehen war, Krüger-Bei und Emery unsere Beobachtungen mit. Der erstere nahm sie leicht und machte sich keine Sorge; der andere aber nahm sich mit uns vor, heute abend ganz gehörig aufzupassen. Ursache hatten wir dazu. Emery erkundigte sich:

»Der Reiter war nicht vielleicht im Lager während wir schliefen?«

»Nein.«

»So hat er Ursache gehabt, sich nicht sehen zu lassen. Und wer sich nicht sehen lassen darf, der ist kein Freund, sondern ein Feind.«

»Und wer nächtlicherweise heimlich mit einem Feinde verkehrt, ist ein Verräter. Wir haben also einen Verräter unter uns,« sagte ich.

»Well, bin auch der Meinung; aber wer mag das sein? Wenn wir heut abend aufmerksam sind, werden wir ihn wahrscheinlich erwischen. Wie lange reiten wir noch bis zu den Ruinen?«

»Bis morgen nachmittag.«

»Dann ist zu erwarten, daß der Reiter heut abend wiederkommt, um sich neue Nachrichten zu holen. Den halten wir fest und seinen Kumpan dazu.«

Leider sollte diese Erwartung nicht in Erfüllung gehen, denn es waren Dinge geschehen, weiche wir, wenn sie uns vorhergesagt worden wären, wohl kaum geglaubt hätten, trotzdem wir wußten, daß der Kolarasi Kalaf Ben Urik ein Schurke sei. Er war zu den Feinden übergegangen und befand sich mit diesen viel näher, als wir dachten. Der nächtliche Reiter war wirklich ein Spion der Uled Ayar gewesen, und der, mit welchem er gesprochen hatte, war kein anderer als der Führer, dem wir unvorsichtigerweise soviel Vertrauen schenkten.

Das Warr hinderte unser Fortkommen sehr. Wir konnten nicht in geschlossener Kolonne reiten, sondern mußten uns teilen und viel mehr Kundschafter und Seitenpatrouillen aussenden, als sonst nötig gewesen wäre. Doch mittags, als wir einen kurzen Halt machten, tröstete uns der Führer mit der Bemerkung, daß das Warr nach nicht viel über drei Stunden zu Ende und in eine wieder offene Steppe übergehe, auf welcher erfreulicherweise Gras zu finden sei.

Eine Stunde nach Mittag brachen wir wieder auf, und eine halbe Stunde später kam der Führer zu uns und meldete dem Obersten, mit welchem wir ritten:

»Da drüben liegt die Stelle, an welcher der Mulassim Achmed ermordet wurde.«

Er deutete nach rechts, also nach Südwest hinüber.

»Der Mulassim Achmed?« fragte Krüger-Bei erstaunt.

Ja.«

»Der ist ermordet worden?«

»Ja. Ich habe es dir doch gesagt, o Herr!«

»Kein Wort!«

»Verzeih, o Herr! Ich weiß ganz genau, daß ich es dir berichtet habe. Wie hätte ich so etwas Wichtiges vergessen oder verschweigen können!«

»Sollte ich es überhört haben? Da müßte ich an etwas anderes und sehr Wichtiges gedacht und dabei nicht auf deine Worte geachtet haben. Achmed tot! Ermordet! Von wem?«

»Von mehreren Ayar drüben an einem kleinen Wasser.«

»Sind die Mörder erwischt worden?«

»Ja. Wir haben sie ergriffen und erschossen. Es waren ihrer drei.«

»Und Achmeds Leiche –?«

»Die haben wir da, wo er gefallen ist, begraben.«

»Erzähle!«

»Wir ritten genau denselben Weg, auf welchem wir uns jetzt befinden. Der Mulassim hörte, daß dort, zehn Minuten von hier, Wasser sei, und ritt hin, denn sein Pferd war erkrankt, und er wollte es laben. Wir zogen weiter, hörten aber bald einen Schuß. Der Kolarasi sandte sofort zehn Mann, bei denen ich mich befand, aus, um zu erfahren, wer geschossen habe, Als wir an das Wasser kamen, lagerten da drei Uled Ayar, welche keine Ahnung davon hatten, daß wir in solcher Nähe vorüberzogen; sie hatten den Mulassim erschossen. Wir ergriffen sie und brachten sie dem Kolarasi. Dieser ließ den Zug halten. Es wurde kurzer Prozeß gemacht; sie bekamen die Kugel. Dann ritten die Offiziere mit einiger Mannschaft nach dem Wasser. Der Mulassim wurde begraben. Wir deckten ihn mit Steinen zu und schossen darüber dreimal unsere Gewehre ab.«

»Achmed, der brave, tapfre Achmed! Ich muß sein Grab sehen! Zeig es uns!«

Ich kann es mir heute noch nicht erklären, warum ich damals so außerordentlich unvorsichtig war und dem Führer glaubte. Seine Erzählung war so unwahrscheinlich! Er wollte Krüger-Bei Bericht erstattet haben, und dieser wußte nichts davon! Ich hätte doch an den nächtlichen Reiter denken sollen. Aber der war nach Südost davongeritten, während wir nach Südwest zogen.

Wir folgten also dem Führer, nämlich Krüger-Bei, Emery und ich. Winnetou ritt nicht mit, wohl nur deshalb, weil er an unserm Gespräch nicht teilnehmen konnte. Ehe wir den Zug verließen, befahl der Oberst, daß derselbe sich indessen langsam fortbewegen solle.

Wir ritten immer zwischen Felsblöcken, und es dauerte freilich weit über zehn Minuten, ehe wir an Ort und Stelle kamen. Dieser Zeitunterschied hätte mir auffallen sollen.

An einem großen Felsblock gab es allerdings eine kleine Wasserlache, deren Inhalt spärlich aus der Erde zu sickern schien. Zur Seite waren kleinere Steine aufeinander gehäuft. Auf diese deutend, sagte der Führer:

»Das ist das Grab.«

»Da muß ich das Gebet der Toten verrichten,« meinte der Oberst, indem er abstieg.

Auch wir stiegen ab und ließen unsere Gewehre an den Sätteln hängen. Es war hier außer uns kein Mensch zu sehen und zu vermuten. Krüger-Bei kniete nieder und betete. Ich und Emery falteten die Hände, blieben aber stehen. Der Führer war nicht abgestiegen, was uns unbedingt hätte auffallen müssen.

Als der Oberst sein Gebet vollendet hatte, erhob er sich und fragte:

»Wie liegt der Mulassim? Doch mit dem Gesicht nach Mekka gerichtet?«

»Ja, Herr,« antwortete der Führer.

Ohne daß ich mir etwas Böses dabei dachte, sagte ich doch:

»Das ist wohl unmöglich. Mekka liegt gegen Osten; die Länge dieses Haufens aber geht von Nord nach Süd.«

»Das ist wahr! Allah! Man hat ihm eine falsche Lage gegeben!«

»Und,« fügte ich hinzu, jetzt aufmerksamer werdend, »was ist denn das? Der Steinhaufen müßte doch zwei Wochen alt sein; das ist er aber nicht.«

»Ja, das ist er nicht,« stimmte mir Emery bei.

»Warum?« fragte der Oberst.

»Schau, wie der dünne, mehlfeine Sand sich bewegt, obgleich man kaum einen Luftzug spürt! Der Sandstaub wird in jede Spalte und in jede Ritze getrieben; man sieht das an den andern Steinen überall. Hier aber bei, an, in und auf dem Steinhaufen bemerkt man nicht eine Spur des Sandes. Der Haufen ist nicht vierzehn Tage alt. Ja, ich möchte behaupten, daß er nicht drei, nicht zwei Tage alt ist. Vielleicht ist er gar erst heute errichtet worden, um – Have care! 'sdeath!«

Emery unterbrach sich und stieß diese englischen Alarmrufe aus, weil es in diesem Augenblicke ganz plötzlich von wilden Gestalten um uns wimmelte, welche sich auf uns und unsere Pferde warfen, sodaß wir nicht zu den Tieren und unsern Gewehren konnten. Ich riß zwar schnell meine Revolver aus dem Gürtel, wurde aber ebenso rasch von sechs, acht, neun Männern von hinten und vorn, von den Seiten und an den Armen gepackt. Ich wendete meine ganze Kraft an und machte mir auch wirklich die Arme frei. Schon glaubte ich schießen zu können; zwölf Revolverkugeln mußten mir unbedingt Luft machen; da aber riß mir einer, der sich gebückt hatte, die Füße nach hinten; ich stürzte nieder und hatte sofort die ganze Rotte auf mir liegen. Es kamen noch mehrere. Sie entwanden mir die Revolver; sie zogen mir das Messer aus dem Gürtel; sie banden mich – ich war gefangen.

Im Niederstürzen hatte ich gesehen, daß unser Führer frei davongaloppierte, und nun wußte ich mit einem Male, daß er uns verraten hatte. Rechts von mir lag Krüger-Bei und noch näher Emery, beide ebenso gefesselt, wie ich. Der letztere rief mir englisch zu:

»Wir sind Esel gewesen; der Führer ist der Verräter. Aber nur getrost! Man will uns, wie es scheint, nicht an das Leben. Das giebt uns Zeit. Winnetou wird sich auf unsere Spur werfen und nicht von ihr lassen, bis er bei uns ist!«

Es waren wohl an die fünfzig Menschen, welche uns überrumpelt hatten; sie waren hinter den umliegenden Felsblöcken versteckt gewesen, ohne daß wir die leiseste Spur von ihnen bemerkt hatten. Einer von ihnen, wohl der Anführer, sagte zu Krüger-Bei:

»Du bist es, den wir wollten; aber die beiden andern nehmen wir auch mit, und morgen fangen wir dein ganzes Heer, um es zu vernichten, wenn der Pascha uns nicht Kamele, Pferde, Schafe und andere Nahrung für das Leben der Soldaten giebt. Fort mit ihnen, schnell, ehe sie vermißt werden!«

Man zwang uns, auf unsere Pferde zu steigen und band uns auf dieselben fest; dann ging es fort, nach Südwest, immer zwischen Felsen hindurch, bis nach über zwei Stunden das Warr zu Ende war.

Ich hätte mich am liebsten ohrfeigen mögen; aber einesteils waren mir die Hände gebunden und andernteils pflegt man eine solche Selbstzüchtigung doch lieber zu unterlassen. Meine Waffen, meine schönen, guten Waffen waren fort. Dort, der Anführer, ein Kerl, der das Gesicht eines Affen hatte, hatte sie an sich genommen. Es stand fest, daß es Uled Ayar waren, die uns festgenommen hatten.

Emery hoffte auf Winnetou. Ja, ich traute dem Apatschen mehr als jedem andern und dazu alles mögliche zu, aber was konnte er thun, da er des Arabischen nicht mächtig war! Es gab ja keinen Menschen, mit dem er sich verständigen konnte. Aber dennoch fiel es mir nicht ein, das Spiel verloren zu geben. Emery hatte recht; man schien unser Leben schonen zu wollen, denn keiner der Angreifer hatte von irgend einer Waffe Gebrauch gemacht. Das mußte uns beruhigen. Dann gab es einige gute Trümpfe, welche wir ausspielen konnten: Elatheh, die wir gerettet hatten, und die gefangenen Uled Ayun, welche wir ihren Todfeinden ausliefern wollten; durch sie kamen die letzteren ja zu dem, was sie, wie ich gehört hatte, zu haben wünschten.

Unlieb war mir nur, daß man uns drei getrennt hatte. Ich wurde vorn, der Oberst in der Mitte und Ernery am Ende des kleinen Zuges gehalten, sodaß wir nicht miteinander sprechen konnten. Ich blickte fleißig nach Ost hinüber, wo unsere Leute sich bewegen mußten, konnte aber, obgleich die Gegend eben und jetzt von Felsen vollständig frei war, nichts von ihnen bemerken. Jedenfalls waren wir ihnen zu lange weggeblieben, und sie hatten Halt gemacht, um nach uns zu suchen. Leider war ich überzeugt, daß der Führer sein möglichstes thun werde, sie zu täuschen und irre zu leiten.

Wie der letztere ganz richtig vorausgesagt hatte, gab es jetzt keine Sand- oder Steinwüste mehr; die Ebene war mehr eine Steppe zu nennen, denn es wuchs, wenn auch höchst spärlich, Gras auf derselben. Es wurde jetzt östlich eingelenkt und Galopp geritten. Erst Südwest und dann nach Osten; es war klar, daß man einen Umweg gemacht hatte, um etwaige Verfolger irre zu führen.

Die Sonne senkte sich dem Westen zu; in vielleicht drei Viertelstunden war die Dämmerung zu erwarten. Da hob sich nach und nach der Boden, und rechter Hand tauchten Höhen auf. Zwei von ihnen traten besonders charakteristisch hervor, obgleich sie weit hinten lagen. Das mußten mächtige Bergstöcke sein, das heißt, was man hier in einem so ebenen Lande so nennen kann. Täuschte ich mich nicht, so waren es die beiden Berge von Magraham. Da führte aber unser Weg nicht nach den Ruinen, welche unser Ziel gewesen waren. Die Uled Ayar mußten dieselben verlassen und sich nach der Gegend von Magraham gewendet haben.

Wir hatten einen großen Bogen gemacht, und wenn ich richtig vermutete, so lag das Warr, in welchem wir uns noch vorhin befunden hatten, nicht weiter als eine gute Reitstunde nördlich von uns. Das war mir von Bedeutung. Es kommt überhaupt unter Umständen sehr viel darauf an, sich die Gegend genau einzuprägen, und dies that ich denn auch sehr sorgfältig.

Nun sahen wir eine ganz eigenartige Berggestaltung vor uns. Eine kompakte Masse stieg rechts und links allmählich zu bedeutender Höhe an und war in der Mitte tief bis herunter auf die Steppe eingeschnitten. Es sah aus, als ob ein Riese, ein gigantisches Wesen sich ein Brot gebacken, es hierher gelegt und dann mit einem mehrere Kilometer langen Messer bis ganz nach unten durchschnitten und nachher die beiden Hälften ein wenig auseinander gerückt habe. Die beiden Seiten waren leicht zu ersteigen, die zwischen ihnen liegende Kluft oder der zwischen ihnen liegende Paß aber schwerlich, denn ich sah ganz deutlich, daß die Wände desselben fast lotrecht abfielen.

»Der Paß wird von großer Bedeutung für euch werden.«

So sagte ich mir gleich, als ich ihn erblickte, und die Vermutung sollte schon in der nächsten Nacht zur Wahrheit werden. Die Uled Ayar ritten auch gerade auf denselben zu.

Noch ehe wir ihn erreichten, drehte ich mich um und musterte den Gesichtskreis nach der Richtung, aus welcher wir gekommen waren. Irrte ich mich nicht, so gab es da draußen, weit draußen, einen kleinen, hellen Punkt, welcher nur die scheinbare Größe einer Erbse hatte. Das war jedenfalls ein Haïk, ein heller Burnus, und eine Ahnung, welche sich später bewahrheitete, sagte mir, daß dies Winnetou sei. Er war unserer Spur gefolgt, hatte also ganz denselben Umweg gemacht als wir und mußte uns besser sehen als ich ihn, da wir fünfzig Männer waren, die alle weiße Burnusse trugen. Daß er, hier angekommen, höchst vorsichtig sein und sich auf keinen Fall sehen lassen werde, davon konnte ich bei einem Manne, wie der Apatsche war, vollständig überzeugt sein. Es ahnte mir, daß er uns oder doch wenigstens mich, trotz aller Gefahr, welche dabei unvermeidlich war, sehr bald herausholen werde.

Jetzt gelangten wir in den Paß, und ich erkannte allerdings, daß die Wände wie mit einem Messer glatt geschnitten waren. Da hinauf konnte wohl niemand klettern. Wir waren kaum fünf- oder sechshundert Schritte da hineingeritten, so tauchte das eigenartige Treiben eines kriegerischen Beduinenlagers vor uns auf.

Ich sah Zelte, zwischen denen sich viele Gestalten bewegten. Hier und da war dürres Holz aufgeschichtet, um am Abende zu Feuern verwendet zu werden. Hunderte und noch mehr Menschen kamen uns entgegengerannt, um ihre siegreichen Stammesgenossen mit echt orientalischem, das heißt überschwenglichem Jubel zu begrüßen. Hinter den Zelten lagerten Soldaten, welche, wie ich bemerkte, von Wachen beaufsichtigt wurden, und noch weiter hinten erblickte ich eine große Menge von Pferden. Nur Männer waren zu sehen, kein einziges weibliches Wesen. Wir befanden uns also wirklich in einem Kriegslager, und die Soldaten, welche da hinten bewacht wurden, waren Gefangene, gehörten zu der umzingelten Schwadron, welche, wie ich nun wußte, sich hatte ergeben müssen. Ich war nun auch darauf gefaßt, den Kolarasi Kalaf Ben Urik oder, wie er eigentlich hieß, den falschen Spieler und Mörder Thomas Melton zu sehen. Daß er mich als Gefangenen sehen sollte, ärgerte mich gewaltig, doch tröstete ich mich mit der Beruhigung, daß er ebenfalls Gefangener sei. Da aber hatte ich mich freilich ganz gehörig geirrt.

Geradezu unbegreiflich war es mir, daß die Uled Ayar hier in dem engen Passe ihr Lager aufgeschlagen hatten. Wie ich zu meinem Schaden überzeugt worden war, kannten sie die Annäherung unserer Truppen ganz genau. Wie nun, wenn diese sich teilten und zu gleicher Zeit von vorn und von hinten in den Paß eindrangen? In diesem Falle waren die dazwischen sich befindenden Ayar verloren, da sie doch nicht, um sich zu retten, die steilen Felswände hinauflaufen konnten. Ich sollte aber gleich nachher hören, warum sie sich hier so sicher fühlten.

Es läßt sich leicht denken, welche Blicke uns von allen Seiten zugeworfen wurden, und noch schlimmer waren die Schimpf- und Hohnrufe, welche wir zu hören bekamen. Es war am besten, gar nicht darauf zu achten.

Hart an der linken Wand der Schlucht stand ein ungewöhnlich großes Zelt, welches mit einem Halbmonde und andern Zieraten geschmückt war, jedenfalls das Zelt des Scheikes. Nach diesem wurden wir von sechs Reitern, während die andern zurückblieben, gebracht. Die sechs stiegen, dort angekommen, von den Pferden, banden uns los und forderten uns auf, auch abzusteigen. Vor dem Zelte saß auf einem Teppiche ein alter Mann mit langem, grauem Barte, der ihm ein sehr ehrwürdiges Aussehen verlieh. Indem er uns beobachtete, that ich dasselbe mit ihm. Sein Auge blickte scharf aber offen, und sein Gesicht war dasjenige eines Mannes, dem man Vertrauen schenken, ja den man vielleicht auch lieben kann. Daß er in hohem Ansehen bei den Seinen stand, bewies die respektvolle Scheu seiner Krieger, welche in ehrfurchtsvoller Entfernung standen, um uns zu betrachten, Er hatte eine lange Pfeife in der Hand, aus welcher er rauchte.

Der Kerl mit dem Affengesichte übergab ihm meine Waffen, auch diejenigen von Emery und Krüger-Bei, welche andere getragen hatten, und schien ihm dann Bericht zu erstatten, denn sie sprachen längere Zeit halblaut miteinander. Während dieser Pause standen wir wartend da. Als dieselbe zu Ende war, entfernte sich der Berichterstatter mit den fünf andern Beduinen; sie nahmen die Pferde mit. Nun wollte Krüger-Bei nicht länger stehen und trat auf den Scheik zu, indem er sagte:

»Wir beide kennen uns. Du bist Mubir Ben Safa, der oberste Scheik der Uled Ayar. Ich grüße dich!«

Der Scheik antwortete:

»Ja, ich kenne dich, aber ich grüße dich nicht. Wer sind die beiden andern?«

»Das ist Kara Ben Nemsi aus dem Belad el Alman, und dieser ist der Behluwan-Bei aus dem Belad el Inkelis.«

»Du hast noch so einen Fremden bei dir gehabt aus dem Belad el Amierika?«

»Ja. Woher weißt du das?« fragte der Oberst erstaunt.

»Ich weiß alles, aber woher, das geht dich nichts an. Wo ist dieser Amierikani?«

»Bei meinen Leuten.«

»Das ist schade! Es ist jemand hier, der ihn sehr gerne sehen wollte.«

Damit war natürlich Melton gemeint, welcher sich, wie ich vermutete, hinten bei den gefangenen Soldaten befand. Aber die Vermutung war falsch, denn soeben kam mit schnellen Schritten ein langer, hagerer Beduine daher, dem der Scheik entgegenrief:

»Ist er begraben?«

»Noch nicht ganz,« antwortete der andere. »Das Loch ist noch zuzuschütten; ich bin so früh davongelaufen, weil ich hörte, daß der Streich, den ich dir vorgeschlagen habe, geglückt sei. Wo ist der Fremde aus dem Lande Amierika?«

»Er ist nicht mit dabei.«

Jetzt trat der Mann heran. Kaum erblickte ihn Krüger-Bei, so rief er in höchster Überraschung aus:

»Kalaf Ben Urik, mein Kolarasi! Du bist gefangen?«

»Nicht gefangen, sondern frei!« meinte der andere stolz.

»Frei? Dann werde auch ich sofort frei sein, denn ich vermute, daß –«

»Schweig!« fiel ihm der Verräter in die Rede. »Erwarte keine Hilfe von mir! Mit dir habe ich nichts mehr zu schaffen, denn –«

Er hielt mitten in der Rede inne und fuhr einige Schritte zurück. Sein Auge war auf mein Gesicht gefallen. Er erkannte mich, sowie ich ihn erkannt hatte, aber er traute seinen Augen nicht, sondern fragte den Scheik fast atemlos:

»Hat dieser Gefangene dir seinen Namen gesagt?«

»Ja. Er heißt Ben Nemsi aus dem Belad el Alman.«

Da platzte er in englischer Sprache los:

»All devils! So habe ich doch richtig gesehen, obgleich es geradezu unglaublich ist! Old Shatterhand! Ihr seid Old Shatterhand?«

Ich lächelte ihm ruhig entgegen und antwortete zunächst nicht. Er fuhr fort:

»Old Shatterhand! Ist so etwas zu glauben? Und doch! Man sprach ja schon damals davon, daß Shatterhand auch in der Sahara gewesen sei. Mann, wenn ich Euch nicht für einen Feigling halten soll, so redet! Seid Ihr der Mann, dessen dreimal verfluchten Namen ich soeben genannt habe?«

Er legte mir dabei die Hand auf die Achsel. Ich schüttelte sie ab und antwortete:

»Thomas Melton, mäßigt Eure Wonne! So oft Old Shatterhand auf Eure Fährte geraten ist, hat es für Euch keinen Grund zum lauten Jubel gegeben!«

Also Ihr seid Old Shatterhand! Und Ihr seid mit Krüger-Bei, dem alten, verrückten deutschen Landstreicher, gekommen, die Uled Ayar zur Raison zu bringen! Na, freut Euch! Euch soll es so wohl wie möglich werden! Denkt Ihr noch zuweilen an Fort Uintah?«

»Sehr oft!« antwortete ich mit einer Miene, als ob mir soeben gesagt worden sei, daß ich die allerschönste Tochter des großen Moguls zur Frau bekommen solle. »Wenn ich mich recht besinne, so mußtet Ihr Euch aus gewissen und auch sehr triftigen Gründen dort ein wenig unsichtbar machen.«

»Und denkt Ihr dann auch an Fort Edward?«

»Ebenso. Wie mir scheint, habe ich Euch dort oder so dort herum einmal liebevoll beim Schopfe genommen.«

»Ja, Ihr habt mich durch die Wälder und Prairien dahingejagt wie einen tollen Hund, den man erschießen und dann so tief wie möglich einscharren muß. Das war eine Hetze! Aber Ihr begingt die Dummheit, mich nicht selbst abzuurteilen und gleich aufzuknüpfen! ihr liefertet mich menschenfreundlich der Polizei aus, und diese war dann auch so christlich gesinnt und so kindlich naiv, mir ein Loch zu lassen, durch welches ich kriechen konnte. Seit jener Zeit ist mir Euer heißgeliebter Anblick entzogen worden. Ich habe nach ihm geschmachtet zum Herzbrechen, und Ihr könnt Euch denken, mit welcher Wonne ich Euch hier so plötzlich wie durch ein Wunder wiedersehe und wie innig und liebevoll ich Euch in meine Arme schließen werde. Ich sage Euch, Sir, Ihr sollt vor lauter unbeschreiblichem Glück vergehen wie ein Baum im Savannenbrande. Ich bin Euch noch viel mehr Dank schuldig, als Ihr meint, daß ich weiß. Könnt Ihr Euch vielleicht auf meinen Bruder Harry besinnen?«

»Ja. Ich kenne Eure liebe Familie überhaupt besser, als Ihr ahnt und als es für sie wünschenswert ist.«

»Well, wollen das abwarten! So denkt Ihr wohl zuweilen an die Hazienda del Arroyo zurück?«

»Die Euer Bruder anzünden und verwüsten ließ? Ja.«

»Wohl auch an das Bergwerk Almaden alto?«

»Wo ich Euern Bruder gefangen nahm? Ja.«

Er hat damals durch Euch sein ganzes Vermögen verloren. Er hatte es versteckt, und als er später wiederkam, war es nicht mehr da. Ein vermaledeiter Indianer muß es im alten Schachte gefunden haben!«

»Da irrt Ihr Euch. Ich habe es damals gleich mitgenommen und an die armen deutschen Emigranten verteilt, denen er so übel mitgespielt hatte.«

»Thunder-storm! Ist das wahr? Na, ich werde es Euch so reichlich danken, daß es Euch in allen Gliedern reißen soll. Wäre doch mein Bruder hier! Welche Seligkeit für ihn, Euch hier gefangen und in meiner Gewalt zu wissen! Aber am Ende habt Ihr ihn bisher für tot gehalten?«

»Allerdings.«

»Seid doch so gut, und laßt Euch nicht auslachen! Ihr hattet ihn den Indianern überantwortet, die mit ihm kurzen Prozeß machen sollten, sowie Ihr mir heute von den Uled Ayar ausgeliefert werdet; aber er entkam ihnen doch und befindet sich jetzt so wohl und munter, daß es Euch gewiß herzlich freuen wird, es jetzt von mir zu erfahren. Nebenbei bemerkt, müßt Ihr Euch recht rasch freuen, denn es ist Euch nur wenig Zeit geboten. Spätestens morgen werdet Ihr ein toter Mann sein.«

»Pshaw!« lachte ich so herzlich wie möglich.

Ich that dies, um ihn zu reizen, denn ich hoffte, von ihm etwas über den Kriegsplan der Uled Ayar zu hören. Wenn es mir gelang, ihn aufzuregen, vergaß er sich vielleicht.

»Lacht nicht!« warnte er. »Ich sprach im Ernste!«

»Und dennoch lache ich, denn ich bezweifle noch sehr, daß ich mich in Eurer Gewalt befinde. Und selbst wenn dies der Fall wäre, würde das, was Ihr Euch einbildet, nicht so leicht oder billig auszuführen sein.«

»Wohl weil Ihr Old Shatterhand seid und ich mich vor Euch fürchte?«

»Nein, obgleich ich zugebe und auch schon oft bewiesen habe, daß Old Shatterhand noch mit ganz andern Verhältnissen, als die heutigen sind, und auch mit ganz andern Menschen, als Ihr seid, fertig geworden ist. Ich brauche zu meiner Befreiung nichts zu thun, denn die Truppen, mit denen ich gekommen bin, werden für mich sorgen.«

»Und ich sage Euch: Ehe sie kommen, seid Ihr tot!«

»Dann werden sie mich an Euch rächen, denn ich bin vollständig überzeugt, daß sie siegen werden.«

Da schlug er ein lautes Gelächter auf und rief-

»Welch eine Treuherzigkeit und Arglosigkeit!«

»Lacht nur. Unsere Soldaten werden euch zu Paaren treiben!«

»Oho! Als ob ich die Memmen nicht besser kennte als Ihr! Ich will Euch sagen, wie es kommen wird.«

Jetzt war er da, wo ich ihn haben wollte. Dennoch unterbrach ich ihn, natürlich nur, um ihn zu reizen:

»Behaltet es für Euch! Ich weiß es besser als Ihr. Ihr seid so unverantwortlich leichtsinnig gewesen, Euch hier in dieser Schlucht, die eine wahre Falle ist, festzusetzen. Morgen, spätestens Mittag, werden unsere Truppen kommen und Euch in derselben einschließen; da giebt es dann kein Entkommen!«

»Das sagt Ihr mir? Seht Ihr denn nicht ein, was für eine ungeheuerliche Thorheit Ihr begeht, wenn Ihr mir das sagt? Gesetzt, wir wären wirklich so unvorsichtig gewesen, so blind in die Falle zu gehen, wie Ihr denkt, so hättet Ihr mich doch durch Eure Bemerkung auf die Gefahr, in welcher wir schwebten, aufmerksam gemacht, und wir würden uns derselben schleunigst entziehen.«

»Zounds!« stieß ich hervor und machte dabei ein Gesicht wie einer, welcher soeben einsieht, daß er einen gewaltigen Pudel geschossen hat.

»Ah, ich sehe, daß Ihr erkennt, was für ein Pfiffikus Ihr seid. Aber sorgt nicht um uns! Wir sind in die Schlucht gegangen, weil wir da versteckt liegen und nicht gesehen werden können. Auch können wir hier unsere Feuer brennen, ohne daß es unserer Sicherheit Schaden bringt. Aber morgen früh werden wir die Stelle verlassen, nämlich nur die Hälfte von uns, denn die übrigen werden bleiben und sich so weit nach hinten in den Paß ziehen, daß sie nicht gesehen werden.

Die andern aber verlassen, wie gesagt, die Schlucht und verbergen sich draußen, außerhalb derselben. Dann kommen Eure tapfern Soldaten und reiten in die Schlucht, die nun für sie zur Falle wird, denn sobald sie in dieselbe eingedrungen sind, kommen ihnen die außen postierten Uled Ayars nach und drängen sie auf ihre im Hintergrunde wartenden Gefährten. Ein Kind muß einsehen, daß es dann für Eure Leute keine andere Rettung giebt als Ergebung auf Gnade und Ungnade!«

Jetzt wußte ich, was ich wissen wollte, doch stellte ich mich überzeugt und machte ein möglichst verlegenes Gesicht. Dann ließ ich es schnell wieder hell werden und sagte:

»Die Berechnung würde ganz gut sein, wenn es gewiß wäre, daß die Soldaten auch in die Falle reiten.«

»Sie werden es; darauf könnt Ihr Euch verlassen; es ist dafür gesorgt! Der Führer, nach dessen Weisungen Ihr Euch mit so großem Vertrauen gerichtet habt, steht mit mir im Bunde. Er hat Euch heute nach dem Wasser gebracht; ich war gestern abend bei Eurem Lager und habe ihm das befohlen, um Eure Truppe führerlos zu machen. Ebenso wird er dieselbe morgen in die Schlucht bringen.«

»Wetter! Aber Ihr seid doch Offizier und solltet zu Krüger-Bei halten!«

»Unsinn! Ich habe mich lange Zeit vor ihm geduckt und um seine Gunst gebuhlt, habe jetzt aber wichtigere Dinge vor und ganz andere Aussichten. Ich gehe nach den Vereinigten Staaten zurück und will die Gelegenheit benutzen, eine gut gefüllte Tasche mitzunehmen. Ich habe mich mit Absicht umzingeln lassen; ich habe mit voller Überlegung dem Scheik der Uled Ayar meine Soldaten zugeführt; ich habe durch meinen Boten Krüger-Bei mit seinen drei Schwadronen herbeigelockt. Die Soldaten gehören dem Scheik; der Pascha mag sie auslösen. Krüger-Bei gehört mir und soll mir für seine Freiheit eine tüchtige Summe bezahlen. Hier steht ein Engländer, und bei Euern Truppen befindet sich ein Amerikaner. Beide müssen mir Lösegeld bezahlen. Und in Euch habe ich durch Zufall den allerwertvollsten Fang gemacht; aber Ihr sollt mir kein Geld einbringen, sondern Ihr werdet sterben – und wie! Alles was Ihr an mir und meinem Bruder verübt habt, wird nun mit einem Male über Euch kommen. Und wißt ihr, warum ich Euch dies alles mit solcher Aufrichtigkeit sage?«

»Nein. Ich finde Eure Offenherzigkeit geradezu unbegreiflich.«

»Um Euch zu beweisen, daß ich meiner Sache vollständig sicher bin. Es giebt keinen Gedanken an Rettung für Euch.«

»Dann aber auch für diesen Engländer und jenen Amerikaner nicht, noch weniger für Krüger-Bei.«

»Wieso?«

»Sobald Ihr das bare Lösegeld oder die Wechsel in den Händen habt, werdet Ihr sie töten oder töten lassen, um nicht von ihnen verraten zu werden.«

»Seht, wie klug Ihr plötzlich geworden seid!« grinste er mich an. »Was ich thun oder mit ihnen vereinbaren werde, braucht Ihr nicht zu wissen; das ist meine und ihre Sache. Was sie mir zahlen sollen, ist nur ein hübsches Reisegeld. Drüben werde ich dann Geld in Masse finden; dafür ist gesorgt.«

»Wohl durch eine Erbschaft?« entfuhr es mir halb unfreiwillig und doch auch halb mit Bedacht.

Er lachte mir heiter ins Gesicht und antwortete, ohne zu ahnen, daß ich alles wußte:

»Ja, durch eine Erbschaft, werter Sir! Und nun soll es genug sein mit meiner Aufrichtigkeit. Der Oberst mag bei dem Scheik bleiben; Ihr aber und der Englishman geht mit nach meinem Zelte, wo ich euch so sorgfältig und sicher aufbewahren werde, daß Ihr erstaunen werdet, wie fest meine Riemen und Stricke sind. Nur noch ein Wort zum Scheik.«

Er wendete sich an diesen:

»Krüger-Bei gehört dir einstweilen. Verwahre mir ihn gut! Diese beiden aber nehme ich mit zu mir; sie sind mein Eigentum ebenso wie der Oberst, den ich dir einstweilen lasse, damit du mit ihm über die Bedingungen sprechen kannst, unter denen du seine Soldaten freigeben wirst.«

Emery hatte an meiner Seite gestanden und jedes Wort des Halunken gehört. Dieser nahm jetzt mit der einen Hand ihn und mit der andern Hand mich beim Arme, um uns fortzuführen; da aber forderte ihn der Scheik auf:

»Halt! Du scheinst mit den beiden Männern fertig zu sein, ich aber bin es noch nicht mit dir.«

Das Gesicht des Sprechers hatte einen finstern, fast möchte ich sagen drohenden Ausdruck angenommen. Ich ahnte, er werde es nicht zugeben, daß wir von dem Amerikaner fortgeführt würden, und dies konnte uns nur lieb sein. Für unser Leben war ich zwar keineswegs schon jetzt besorgt, aber es stand fest, daß wir bei ihm mehr auszustehen haben würden, als dann, wenn der Scheik uns bei sich behielt. Um unser Leben hatte ich aus zwei Gründen keine Angst. Ich konnte mich zwar auf Krüger-Bei nicht verlassen, glaubte aber annehmen zu dürfen, daß ich mit Emery gewiß eine Art finden würde, uns zu befreien. Und selbst wenn mich diese Hoffnung getäuscht hätte, so war Winnetou da, auf den ich mich verlassen konnte.

War dieser wirklich da? Ich hoffte es, ja, ich hätte darauf schwören mögen, so genau kannte ich diesen besten und bewährtesten aller meiner Freunde und Genossen. Ich war vollständig überzeugt, daß er der weiße Punkt, den ich gesehen hatte, gewesen war und konnte leicht von dem, was ich an seiner Stelle thun würde, auf das schließen, was er that. Unsere beiderseitigen Ansichten und Gedanken pflegten in solchen Lagen stets dieselben zu sein.

Er hatte unbedingt wahrgenommen, daß wir in den Engpaß einbogen, welcher den Berg in zwei Hälften, eine östliche und eine westliche durchschnitt. Winnetou kam, wie wir, von Westen her; jedenfalls hielt er diesen Paß für ebenso bedeutsam, wie ich ihn, als ich ihn bemerkte, gleich gehalten hatte. Er mußte sehen, wer sich in demselben befand und was in demselben vorging, und hatte auf alle Fälle zu diesem Zwecke seine Richtung geändert und unsere Spur verlassen, um hinauf auf den Berg zu reiten und von der Höhe herab in den Paß herabzublicken. Es war mir, als ob ich ihn dort sehen müsse, wenn ich meinen Blick nach oben richtete. Ich that dies, und wirklich, kaum hob ich das Gesicht empor, so richtete sich da oben, ganz an der Kante des lotrecht abfallenden Felsens, eine Gestalt auf, machte einige augenfällige Armbewegungen und ließ sich dann schnell wieder niederfallen. Er schien in dieser Höhe nur die Größe eines Knaben zu haben, aber ich habe ihn dennoch erkannt. Er war es und hatte mir durch seine Bewegung ein Zeichen gegeben, daß sein Adlerauge uns sah und alles beobachtete. Ich war nun vollständig beruhigt; ich wußte, daß er trotz aller Gefahr, die es für ihn dabei gab, kommen werde, um uns zu befreien. Er blieb ganz bestimmt so lange da, bis er sah, wohin wir geschafft wurden.

»Da oben liegt Winnetou und schaut zu uns herab,« flüsterte ich Emery zu. »Wenn es hier ruhig geworden ist, wird er kommen.«

»Well,« antwortete er, ohne sein Auge nach oben zu richten. »Famoser Kerl! Wird uns herausholen!«

Der verräterische Kolarasi hatte sich mit dem Ausdrucke des Erstaunens nach dem Scheik gewendet und denselben gefragt:

»Was hast du mir noch zu sagen?«

»Das, was du nicht zu wissen scheinst, nämlich, daß du dich in einem Lager der Uled Ayar befindest, und daß ich der Anführer dieser Krieger bin.«

»Das weiß ich.«

»Warum benimmst du dich da so, als ob du der Anführer seist? Warum bestimmst du über unsere Gefangenen, als ob sie die deinigen seien?«

»Das sind sie doch auch!«

»Nein. Sie sind von meinen Kriegern ergriffen worden. Wer den Vogel fängt, dem gehört er. Die beiden Männer bleiben ebenso hier bei mir, wie der Herr der Heerscharen hier bleiben wird.«

»Das kann ich nicht zugeben!«

»Ich frage nicht nach dem, was du zugiebst oder nicht. Hier gilt nur mein Wille.«

»Nein! In diesem Falle gilt der meinige!«

Und auf mich deutend, fuhr er fort:

»Du weißt nicht, welches Interesse ich an den Männern habe. Dieser da ist ein entsprungener Verbrecher, welcher viele Mordthaten und andere Sünden auf dem Gewissen hat. Er wollte auch mich und meinen Bruder töten, was ihm aber glücklicherweise nicht gelungen ist. Ich habe also eine Blutrache mit ihm; er ist mir verfallen und gehört nicht euch, sondern mir.«

Da trat ich auf ihn zu, stieß ihm, da ich ihn mit meinen gefesselten Händen nicht züchtigen konnte, mit dem Fuße, daß er hintenüber und zur Erde flog und rief:

»Schurke, du drehst die Verhältnisse um. Du selbst bist der Flüchtling und Mörder, und ich verfolgte dich, um dich der Gerechtigkeit zu überliefern!«

»Hund!« schrie er, indem er aufsprang und auf mich losstürzte. »Du wagst es, eine solche Lüge gegen mich –«

Er kam nicht weiter. Um mich fassen zu können, mußte er an Emery vorüber, und dieser versetzte ihm ebenfalls einen so gewaltigen Tritt, daß er wieder zur Erde flog, und die Besinnung verlor. Dies geschah so schnell, daß kein Mensch Zeit fand, ihn daran zu hindern. Es hatte aber überhaupt gar nicht den Anschein, als ob, selbst wenn Zeit dazu gewesen wäre, irgend jemand Lust gehabt hätte, dem Kolarasi diese mehr als verdiente Züchtigung zu ersparen.

Ich wollte mich hierauf an den Scheik wenden und eben zu sprechen beginnen, da gab er mir ein Zeichen zu schweigen, und sagte:

»Still! Ich mag nichts hören von dem, was du mir sagen willst. Daß ihr diesen Menschen mißhandeln durftet, ohne daß ich euch dafür bestrafe, mag euch genug sein. Ihr erseht daraus, was ich von ihm denke. Er nennt dich einen Flüchtling und Mörder. Du siehst nicht aus wie ein entflohener Verbrecher, und der Herr der Heerscharen würde keinen solchen in seiner Nähe und an seinem Herzen dulden. Du bist ein Almani, also wohl ein Christ?«

»Ja.«

So kennst du das Leben eures Heilandes, den auch wir für einen Propheten halten?«

»Ja.«

»Er hatte zwölf Jünger und Schüler. Einer davon verriet und verkaufte ihn. Weißt du, wie dieser hieß?«

»Judas Ischariot.«

»Gut! So ein Ischariot ist der Kolarasi, denn er hat seinen Freund und Herrn, den Obersten der Heerscharen, verraten und verkauft. Er scheint eine große Rache auf euch zu haben und würde euch wohl gar töten. Ich kenne ihn. Er ist ein Mörder; ich kann das beweisen, denn erst heut hat er einen Mann erschossen, dessen Freund er war. Euch soll dies nicht geschehen; ich liefere euch ihm nicht aus. Ihr seid nicht seine, sondern meine Gefangenen.«

»Soll ich dir erzählen, warum er meinen Tod wünscht?«

»Jetzt nicht, denn ich habe keine Zeit dazu. Was mit euch geschehen wird, werdet ihr erfahren. Damit ihr nicht entfliehen könnt, werde ich euch gut bewachen lassen, und damit ihr nicht miteinander reden möget, werde ich euch trennen. Jeder von euch kommt in ein anderes Zelt zu liegen. Der Herr der Heerscharen wird hier in dem meinigen bleiben.«

»Ich habe dir aber einige sehr wichtige Dinge mitzuteilen, welche ganz geeignet sind, dir zu beweisen –«

»Jetzt nicht, jetzt nicht,« unterbrach er mich. »Später, wenn wir mehr Zeit haben, kannst du mir sagen, soviel du willst.«

Er rief zwei seiner Beduinen herbei, erteilte ihnen einige leise Weisungen, und dann wurden wir von ihnen fortgeschafft. Der eine brachte mich in ein Zelt, wo er mir nun auch die Füße band. Dann schlug er einen Pfahl tief in die Erde und befestigte mich mit Stricken an denselben. Dann setzte er sich draußen vor dem Eingange nieder, um mich zu bewachen.

Die Trennung von meinen beiden Gefährten war mir freilich nicht lieb; es ließ sich aber nichts dagegen thun.

Mittlerweile wurde es dunkel und immer dunkler. Der Abend brach herein. Nach dem Abendgebete brachte mir mein Wächter einige Schluck Wasser; zu essen bekam ich nichts. Bemerken muß ich noch, daß er mir alles abgenommen hatte, was sich in meinen Taschen befand.

Durch die Leinwand meines Zeltes bemerkte ich, daß mehrere Feuer brannten, doch ließ man sie bis auf ein einziges, welches während der ganzen Nacht unterhalten werden sollte, bald wieder ausgehen. Der Lärm des Lagers verstummte zeitig; man legte sich früh schlafen, weil morgen noch vor Tagesanbruch der Paß verlassen werden sollte.

Mein Wächter verließ von Zeit zu Zeit seinen Platz vor der Thür und kam herein, um sich zu überzeugen, daß ich noch da sei, und um meine Fesseln zu betasten. Wie es schien, wollte er dies die ganze Nacht so durchführen.

Ich arbeitete mit Eifer an meinen Handfesseln herum und hatte alle Hoffnung, noch vor dem Morgen die Hände aus denselben zu bekommen. Wenn mir dies gelang, war ich gerettet. Aber dessen bedurfte es gar nicht, denn noch war es nicht Mitternacht, als ich ein leises Geräusch an der hintern Seite des Zeltes hörte. Es war so dunkel, daß ich unmöglich etwas erkennen konnte, aber ich sagte mir gleich, daß Winnetou es sei, von dem dieses Geräusch herrührte. Ich horchte.

»Scharlieh, Scharlieh!« flüsterte es da ganz in meiner Nähe.

Ja, es war Winnetou, denn in dieser Weise pflegte er meinen Vornamen auszusprechen.

»Hier bin ich,« antwortete ich ebenso leise.

»Natürlich gefesselt?«

»Gefesselt und noch an einen Pfahl gebunden.«

»Kommt dein Wächter herein?«

»Von Zeit zu Zeit.«

»Wie seid ihr gefangen genommen worden?«

Ich erzählte es ihm in kurzen Worten, erklärte ihm auch den Verrat des Kolarasi und fügte hinzu:

»Krüger-Bei ist im Zelte des Scheiks. Wo Emery steckt, werden wir bald erfahren.«

»Ich weiß es, denn ich sah, wohin man ihn schaffte. Er befindet sich auf der entgegengesetzten Seite des Lagers.«

»So schneide mich ab! Wir müssen uns beeilen, die beiden freizumachen.«

»Nein, das werden wir nicht, weil wir damit alles verderben würden. Die Uled Ayar dürfen nicht merken, daß ihr fort seid! Sie würden sofort annehmen, daß wir unsere Soldaten holen, und das würde sie zum sofortigen Aufbruche veranlassen. Also müßt ihr hier bleiben. Sieht das mein Bruder Old Shatterhand ein?«

»Ja. Aber dann muß ich darauf rechnen, daß unsere Soldaten ganz gewiß kommen!«

»Du darfst nicht bloß darauf rechnen, sondern du sollst sie selbst holen.«

»Aber ich darf doch nicht fort! Mein Wächter würde es bemerken und Lärm schlagen.«

»Er wird nichts bemerken, denn ich bleibe an deiner Stelle hier.«

»Winnetou!« hätte ich beinahe ganz laut ausgerufen. »Welch ein Opfer!«

»Es ist kein Opfer. Wenn ich allein gehe, kann ich nicht mit den Soldaten sprechen. Wenn du mitgehst, entdeckt man es, und der Fang gelingt uns nicht. Wenn aber ich hier bleibe und du gehst, ist es ganz sicher, daß wir sie fangen, denn du wirst sie noch während der Nacht einschließen, sodaß sie am Morgen nicht aus der Schlucht können. Für mich ist keine Spur von Gefahr dabei, daß ich hier bleibe.«

Er hatte recht. Man könnte mich wohl dafür, daß ich dieses sein Anerbieten annahm, verurteilen; aber wir kannten uns und wußten, daß wir uns aufeinander verlassen konnten.

»Gut, ich willige ein,« erklärte ich. »Bist du bei den Unserigen gewesen, seit wir gefangen genommen worden sind?«

»Nein; ich hatte keine Zeit dazu. Ich mußte vor allen Dingen dich heraus haben.«

»Wie will ich sie finden, da ich nicht weiß, wo sie sind?«

»Wenn du gerade gegen Norden reitest, mußt du auf sie stoßen. Sie haben jedenfalls da, wo die Felsen aufhören, Halt gemacht.«

»Am südlichen Ende des Warr? Das denke ich auch. Du sprichst vom Reiten. Natürlich meinst du auf deinem Pferde?«

»Ja. Wenn du aus der Schlucht kommst, gehst du tausend Schritte gegen Norden; da habe ich es angehobbelt. Meine Waffen hängen am Sattel; nur das Messer habe ich mit.«

»Das behältst du auch, um für alle Fälle etwas zur Verteidigung zu haben. Wie aber, wenn der Wächter hereinkommt und dich anspricht! – Du kannst ja nicht antworten!«

»Ich werde schnarchen, damit er denkt, ich schlafe.«

»Gut! Hoffentlich dauert es nicht lange, bis ich wieder da bin. Soll ich dir vielleicht ein Zeichen geben?«

»Ja. Drei Schreie eines Geiers.«

»Gut! Also binde mich los! Dann fessele ich dich; aber so, daß du dir die Hände leicht frei machen kannst.«

Dies geschah; dann verabschiedete ich mich von dem Apatschen und kroch zum Zelte hinaus. Das war nicht schwer. Die Leinwand war mit Hilfe von Schnüren unten an der Erde an die Zeltstangen festgebunden. Winnetou hatte zwei Schnüre aufgelöst und die Leinwand so weit emporgehoben, daß er hatte ins Zelt kriechen können. Ich kam auf dieselbe Weise hinaus und band die Schnüre wieder fest. Ich war frei, ohne daß mein Wächter eine Ahnung davon hatte.

Nun, eigentlich frei war ich allerdings noch nicht, denn ich hatte erst noch einen großen Teil des Lagers zu durchschleichen; aber ich wußte doch, daß es niemanden gelingen werde, mich zu fangen.

Der junge Mond stand am Himmel, obgleich ich ihn hier in der tiefen Schlucht nicht sehen konnte. Es war ziemlich hell, doch sah ich keinen Menschen, der noch wach und munter war. Die Schläfer lagen in Gruppen, welche leicht zu vermeiden waren, beisammen. Ich kroch schlangengleich auf der Erde hin und hatte schon nach einer Viertelstunde die letzten Uled Ayar hinter mir. Da stand ich auf und lief.

Die Beduinen fühlten sich wirklich vollständig sicher. Sie hatten nicht einmal am Ausgange des Passes einen Wachtposten aufgestellt. Nun tausend Schritte nordwärts. Schon nach achthundert Schritten sah ich das Pferd, denn hier im Freien war es bedeutend heller, als drin in dem tiefen Engpasse. Ich stieg auf und ritt davon, indem ich mich erst jetzt vollständig sicher fühlen konnte, da ich ein Pferd und Winnetous vortreffliche Waffen hatte.

Nun ging es im Galoppe immer weiter nach Norden. Der Mond stand im Anfange des ersten Viertels, schien aber so hell, daß ich eine ziemlich weite Aussicht hatte. Nach einer Stunde erreichte ich die ersten Felsblöcke, welche den Beginn des Warr bedeuteten. Es galt, unser Lager zu finden, was hier zwischen den Felsen weit schwerer war, als auf der offenen Steppe. Ich nahm die Silberbüchse des Apatschen und gab einen Schuß ab, nach einer kleinen Weile einen zweiten. Als ich nun horchte, hörte ich nach vielleicht einer halben Minute zwei Schüsse als Antwort; sie fielen westlich von mir. Ich schlug diese Richtung ein und traf bald auf mehrere Soldaten. Als man im Lager meine Schüsse gehört hatte, war man der Ansicht gewesen, daß Winnetou zurückkehre. Man hatte auch zweimal geschossen, um ihm die Richtung anzudeuten, und außerdem noch Leute ausgesandt, ihm entgegenzugehen. Sie erstaunten, an seiner Stelle mich zu sehen, doch unterließ ich es, ihnen Auskunft zu geben, denn meine Zeit war kostbarer, als daß ich sie damit hätte vergeuden mögen.

Im Lager wurde ich jubelnd empfangen. Ich fragte sofort nach dem Führer; er wurde gerufen und zeigte, als er kam, nicht eine Spur von Angst, oder auch nur Verlegenheit.

»Du weißt, wie wir gefangen genommen worden sind?« fragte ich ihn.

»Ja, o Herr. Ich war ja dabei.«

»Was mag wohl der Grund gewesen sein, daß gerade nur du entkamst?«

»Daß ich auf dem Pferde sitzen geblieben war. Es trug mich schnell davon.«

»Hm, ja! Was thatest du dann?«

»Ich meldete eure Gefangennahme.«

»Und dann?«

»Suchten wir euch im Warr.«

»Warum denn da?«

Es war anzunehmen, daß die Uled Ayar sich mit euch in demselben verstecken würden.«

»Und ihrer Spur folgtet ihr nicht?«

»Das wäre überflüssig gewesen, weil dein Freund, welcher Ben Asra heißt, dies schon that.«

»Ah, darum hieltet ihr es für überflüssig! Wenn einer ein gutes Werk thut, dürfen andere dasselbe nicht auch thun, weil es überflüssig ist. Du hast sonderbare Gründe. Aber der eigentliche Grund ist ein anderer. Wo hatten die Uled Ayar wohl gesteckt, als sie uns überfielen?«

»Hinter den Felsen.«

»Dort hatten sie auf uns gewartet. Sie mußten also wissen, daß wir kommen würden. Sie erfuhren es von einem, der es gewußt hat, daß du uns an das Wasser führen würdest. Wer hat es noch gewußt?«

»Niemand!«

»Ja, niemand außer dir. Folglich bist du es gewesen.«

»Ich? Allah, Allah! Welch ein Gedanke! Habe ich nicht bewiesen, daß ich treu bin! Bin ich nicht nach Tunis geritten, um Hilfe zu holen?«

»Du willst sagen, um den Uled Ayar noch mehr Soldaten in die Arme zu treiben! Wer war der Reiter, mit dem du gestern um Mitternacht in der Nähe unsers Lagers gesprochen hast?«

Diese Frage hatte er nicht erwartet. Er blieb vor Schreck stumm.

»Antworte!« befahl ich ihm.

»Herr, auf – auf eine – auf eine solche Frage – kann ich nicht antworten,« stotterte er.

»Du kannst antworten! Wer war es?«

»Ich habe mit niemanden gesprochen. Ich habe das Lager nicht verlassen.«

»Lüge nicht! Du hast mit dem Kolarasi Kalaf Ben Urik gesprochen und mit ihm beredet, uns den Uled Ayar auszuliefern.«

»Maschallah! Herr, sage mir, wer mich in dieser Weise verleumdet hat, damit ich ihn auf der Stelle niederschieße!«

»Sprich nicht vom Schießen, denn du selbst wirst es sein, der erschossen wird. Die Kriegsgesetze verlangen deinen Tod.«

»Herr, ich bin unschuldig! Ich weiß –«

»Schweig!« herrschte ich ihn an. »Du hast nach unserm Verschwinden als Führer die Nachforschungen geleitet, und mit Absicht nicht auf unsere Spuren geachtet. Der Kolarasi hat mir selbst gesagt, daß er mir dir im Bunde steht.«

»Der Schurke! Er ist –«

»Still! Du bist ein Verräter und wolltest uns alle ans Messer liefern. Entwaffnet den Halunken und bindet ihn! Der Herr der Heerscharen wird ihm morgen sein Urteil sprechen.«

Die Leute waren so erstaunt, den Unteroffizier, welcher bisher ein so großes Vertrauen genossen hatte, eines solchen Verbrechens angeklagt zu sehen, daß sie versäumten, meinen Befehl auszuführen. Dies machte er sich zunutze, indem er ausrief.

»Mein Urteil? Eher soll das deinige gesprochen werden, und zwar jetzt gleich, du verfluchter Giaur!«

Er zog sein Messer und wollte es mir in die Brust stoßen, um dann zu entrinnen. Ich hatte Winnetous Gewehr in der Hand, parierte mit demselben den Stoß und griff nach dem Verräter. Er huschte mir aber unter dem Arme weg und eilte davon, der Stelle zu, an welcher die Pferde standen. Die Anwesenden waren alle so perplex, daß es keinem einfiel, ihn zu verfolgen. Auch ich blieb stehen; aber ich legte die Silberbüchse zum Schusse an.

An dem Manne lag mir ganz und gar nichts. Er hätte immerhin entkommen mögen; aber es war mit Sicherheit anzunehmen, daß er sich direkt nach der Schlucht zu den Uled Ayar wenden würde und das mußte unbedingt verhindert werden. Die Felsblöcke verhinderten die Aussicht auf die Pferde; aber wenn er aufstieg, saß er so hoch, daß seine Gestalt über die Felsen ragen mußte. Darauf wartete ich. Das Schnauben eines Tieres war zu hören, dann Hufschlag. Er war aufgestiegen. Da drüben ritt er hin. Ich sah seinen Kopf und seine Schultern; ich zielte auf die rechte Schulter und drückte ab. Der Schuß krachte; ein Schrei ertönte, und der Reiter verschwand.

»Ich habe ihn vom Pferde geschossen,« sagte ich, indem ich das Gewehr absetzte. »Eilt hin, und holt ihn her zu mir!«

Viele rannten fort. Als sie ihn brachten, war er ohnmächtig.

»Der Hekim mag ihn verbinden; dann wird er gefesselt,« gebot ich. »Er darf nicht aus den Augen gelassen werden.«

»Warum fesseln?« ertönte da eine Stimme hinter mir. »Der Mann schien brav zu sein und hat sich gut geführt. Wer wird eines Verdachtes wegen einen Menschen erschießen!«

Diese Worte waren in englischer Sprache gesprochen worden, und als ich mich umdrehte, stand der falsche Hunter da. Der kam mir eben recht!

»Sie tadeln mich?« fragte ich ihn in derselben Sprache. »Dazu haben Sie kein Recht.«

»Haben Sie Beweise für die Schuld dieses Unteroffiziers?«

»Ja.«

»So mußten Sie ihn anzeigen, damit er vor ein Kriegsgericht gestellt werde! Sie hatten auf alle Fälle kein Recht, auf ihn zu schießen!«

»Pshaw! Ich weiß stets, was ich thue. Ich werde das, was ich gethan habe und noch thun werde, vor Krüger-Bei verantworten. Wie kommt es, daß Sie sich eines Verräters so warm annehmen?«

»Es muß bewiesen werden, daß er einer ist!«

»Es ist schon erwiesen. Ich habe allerdings in letzter Zeit bemerkt, daß Sie eine ganz besondere Neigung zu diesem Manne gefaßt und sich besonders in heimlicher Weise viel mit ihm beschäftigt haben. Jetzt verteidigen Sie ihn, ohne dazu berufen worden zu sein. Können Sie mir den Grund dazu angeben?«

»Ich habe mich vor Ihnen nicht zu rechtfertigen! Was ich lasse oder was ich thue, das geht Sie gar nichts an!«

»So! Das ist Ihre Meinung; die meinige klingt aber anders. Soll ich Ihnen sagen, warum Sie eine ebenso heimliche wie innige Freundschaft mit diesem Verräter geschlossen haben?«

»Dies zu sagen, würde Ihnen wohl sehr schwer werden!«

»Kinderleicht! Er macht das Bindeglied zwischen Ihnen und dem Kolarasi Kalaf Ben Urik, den Sie befreien wollen.«

»Wenn es das ist, so bedaure ich es jetzt sehr, Sie in mein Vertrauen gezogen und ihnen soviel mitgeteilt zu haben!«

»Dann bedauern Sie vielleicht das noch mehr, was ich von andern außerdem noch weiß, daß Sie einen gewissen Thomas Melton kennen.«

»Tho – mas – Mel – ton!« stieß er silbenweise hervor.

Wenn es Tag gewesen wäre, hätte ich gewiß gesehen, daß er leichenblaß geworden war.

»Ja. Sie leugnen doch nicht, diesen Mann zu kennen, wenigstens von ihm gehört zu haben?«

Wenn ich diesen Namen brauchte und eine solche Frage aussprach, mußte ich allerdings etwas wissen. Daß ich aber alles wußte, hielt er natürlich für unmöglich. Abzuleugnen wäre ein großer Fehler gewesen; darum antwortete er:

»Es kann mir gar nicht einfallen, in Abrede zu stellen, daß ich diesen Namen gehört habe. Aber was geht das Sie an?«

»Nur sehr wenig, wie Sie gleich hören werden. Wissen Sie, wer Thomas Melton war?«

»Ja, ein Westmann.«

»Und nebenbei ein falscher Spieler und ein Mörder.«

»Mag sein; mich kümmert das nicht.«

»Das wundert mich, denn ich weiß, daß Sie die famose Geschichte vom Fort Uintah kennen.«

»Und Sie kennen sie auch?« fragte er unbedacht, denn er gab damit zu, daß er sie in Wirklichkeit kannte.

»Ein wenig,« fuhr ich fort. »Er hatte auch damals falsch gespielt und wurde ertappt; es kam zum Streite, und er erschoß infolgedessen einen Offizier und zwei Soldaten. War es nicht so?«

»Ich denke,« antwortete er mit scheinbarer Gleichgültigkeit.

»Dann tauchte er in Fort Edward auf, wie Sie wohl auch wissen?«

»Was fragen Sie nur! Ich habe nicht das mindeste Interesse an dem Manne!«

»Ich desto mehr. Und auch das Ihrige wird sich steigern, wenn ich Ihnen die Mitteilung mache, welche ich auf dem Herzen habe. Wenn ich mich nicht irre, wurde er dort als Gefangener eingeliefert, und zwar von einem Westmanne, welcher – welcher – hm, wie hieß er doch gleich?«

»Old Shatterhand!«

»Ja, richtig; jetzt fällt es mir ein! Old Shatterhand! War das nicht ein Schotte oder Irländer?«

»Nein, sondern ein Deutscher, der überall seine schmutzige Hand im Spiele hatte.«

»Ja, ja, er mengte sich gern in alles! Dabei fällt mir etwas anderes ein, eine Geschichte, in welcher Old Shatterhand auch sein Wesen trieb. Hatte Thomas Melton nicht einen Bruder, welcher Harry hieß, und nach Mexiko, in die Sonora ging, um sich eine Besitzung zu erwerben?«

»Ich hörte davon.«

»Wurde er nicht auch von Old Shatterhand aus derselben vertrieben?«

»Ja.«

»Und Thomas Melton hat einen Sohn, welcher Jonathan heißt?«

»Alle Wetter! Wie kommen Sie auf den?«

»So, wie man eben aus Langerweile auf irgend etwas kommt. Jonathan Melton ging als Reisebegleiter nach Europa, und dann gar nach dem Orient?«

»Wo – wo – woher wissen – wissen Sie das?« fragte er stockend.

»Ich habe es ganz zufällig erfahren. Er ging als Begleiter mit einem Amerikaner, welcher – hm, wie hieß er doch nur gleich! Wissen Sie das nicht?«

»Nein.«

»Nicht? Das wundert mich außerordentlich, denn ich lasse mir auf der Stelle den Kopf abschlagen, wenn dieser Amerikaner nicht genau so hieß, wie Sie, nämlich Small Hunter. Ist's nicht so?«

»Ich weiß es nicht. Lassen Sie doch diese Fragen; sie sind mir zuwider!«

»Mir nicht, denn die Sache ist wirklich höchst interessant. Und wissen Sie, was das Allerinteressanteste dabei ist?«

»Ich mag es nicht wissen!«

»O doch! Denn jetzt kommt die Hauptsache. Nämlich ich selbst habe damals eine Rolle, und zwar keine Nebenrolle, mitgespielt. Ich heiße nicht Jones, sondern Old Shatterhand.«

»Old – Shat –!«

Er brachte vor Schreck den Namen nur halb über die Lippen und fuhr zurück, als ob der Blitz vor ihm in die Erde geschlagen habe.

»Ja, so heiße ich. Und diesen Namen haben Sie ja vorhin genannt, als Sie sagten, ich hätte meine schmutzige Hand überall mit im Spiele. Vielleicht spiele ich auch heute mit, mit Ihnen und mit Ihrem Kolarasi Kalaf Ben Urik.«

Er überhörte den letzten drohenden Hohn und sagte wie abwesend:

»Old Shatterhand! Sie wollen dieser Mann sein, Sie? Unmöglich!«

»Später wird Ihnen das Licht darüber heller aufgehen. Fragen Sie Emery, welcher mich genau kennt und mit mir im wilden Westen gewesen ist! Und fragen Sie Krüger-Bei, welcher ganz genau weiß, daß ich ein Deutscher bin und da drüben Old Shatterhand genannt werde! Übrigens will ich Ihnen noch eine weitere Überraschung bereiten. Mein zweiter Begleiter ist nämlich kein Somali und heißt nicht Ben Asra, sondern er ist ein sehr berühmter Apatschenhäuptling, und wird Winnetou genannt.«

»Win – ne – tou!« wiederholte er, als ob ihm der Atem stocken wolle. »Er ist's wirk – wirk – wirklich?«

»So wahr, wie ich Old Shatterhand bin. Wenn Sie von uns gehört haben, so wissen Sie wohl, daß wir beide unzertrennlich sind.«

»Das weiß ich. Aber was wollen Sie denn hier in Tunis?«

»Wir suchen jenen Thomas Melton.«

»Donnerwetter!« fluchte er.

»Wir waren erst in Ägypten, fanden aber anstatt diesen Thomas seinen Sohn Jonathan, der im Begriff stand, nach Tunis zu gehen, und da wir uns sagten, daß er da jedenfalls seinem Vater einen Besuch abstatten werde, so gingen wir mit.«

»Und – und – und –?«

»Und haben uns nicht geirrt. Wir haben Thomas Melton gefunden in der Gestalt Ihres lieben Kolarasi Kalaf Ben Urik. Ich habe Ihnen etwas höchst Interessantes versprochen; habe ich nicht Wort gehalten?«

»Lassen Sie mich in Ruhe! Was gehen mich alle die Leute an! Ich bin Small Hunter und habe nichts mit Ihnen zu schaffen.«

Er wollte sich abwenden; ich hielt ihn aber beim Arme zurück und sagte:

»Bitte, warten Sie noch, Sir! Ich glaube sehr gern, daß Sie nichts mit mir zu schaffen haben wollen; jetzt und hier aber ist die Frage, ob ich noch mit Ihnen zu schaffen habe. Ich kann Sie nicht gehen lassen, ganz und gar nicht. Ja, ich habe die Absicht, Sie bei mir zu behalten, mögen Sie nun wollen oder nicht. Ich behalte Sie bei mir, bis ich mit dem jungen Amerikaner gesprochen habe, welcher den Zug hierher mit dem Kolarasi Melton gemacht hat.«

»Kenne ich nicht; weiß kein Wort von ihm!«

»So? Und doch ist er eine Persönlichkeit, an welcher Sie den lebhaftesten Anteil nehmen müssen. Er nennt sich gerade so wie Sie, nämlich Small Hunter.«

»Unmöglich!«

»Nein, wirklich! Sie sehen, der Mann bringt Sie in Gefahr, für einen falschen Small Hunter gehalten zu werden.«

»Sie denken doch nicht etwa –!«

»Ich denke, daß Sie der echte, der wirkliche Small Hunter sind, denn ich bin überzeugt, daß Sie das beweisen können. Ich weiß das sehr genau.«

»Woher?«

»Aus Ihrem Notizbuche.«

»Notizbuch? Was wissen Sie von meinem Buche? Kein Mensch hat in dasselbe gesehen, als nur ich allein.«

»Da irren Sie. Ich habe auch hineingesehen. Und nicht ich allein, sondern Winnetou und Sir Emery auch.«

»Das wollen Sie mir doch nicht etwa weismachen!«

»Weismachen nicht, sondern es ist wirklich so. Sie erinnern sich, daß Winnetou auf dem Schiffe mit in Ihrer Kabine gewohnt hat. Wir wollten wissen, woran wir mit Ihnen waren; da machte Winnetou seine Augen auf, und die sind scharf. Er sah, daß Sie Ihr Portefeuille mit großer Sorgfalt behandelten und versteckten. Als Sie schliefen, machte er den Taschendieb. Sie schliefen infolge Ihres außerordentlich guten Gewissens sehr fest, und es gelang ihm darum, den Schlüssel aus Ihrer Tasche und das Portefeuille aus dem Koffer zu bringen. Natürlich kam er mit demselben zu uns hinüber in unsere Kabine, und wir beeilten uns, Einsicht zu nehmen. Dann brachte er es an die Stelle zurück, woher er es genommen hatte. Sie begreifen also nun wohl, warum ich überzeugt bin, daß Sie der echte, wirkliche Small Hunter sind.«

»So bin ich also von Ihnen bestohlen worden!«

»O nein, denn Sie haben Ihr Eigentum zurückerhalten. Sie können uns höchstens das Eine vorwerfen, daß wir ein wenig neugierig gewesen sind. Auch jetzt will ich Sie nicht bestehlen. Ich gebe zwar zu, daß ich das Portefeuille brauche; aber ich werde es Ihnen nicht im Schlafe nehmen; o nein, das fällt mir nicht ein, sondern Sie werden die Güte haben, es mir im vollen Wachen jetzt zu geben.«

»Das werde ich nicht!« schrie er mich an.

»Sie werden!« sagte ich in einem sehr bestimmten Tone. »Wenn Sie es nicht herausgeben, werde ich Sie zu zwingen wissen!«

»Ich habe es nicht mit mir! ich habe es bei dem Pferdehändler von Zaghuan im Koffer gelassen.«

»Sie irren. So einen wichtigen Gegenstand läßt man nicht bei so fremden Leuten liegen. Sie haben während unsers Rittes das Portefeuille oft in der Hand gehabt, und es immer wieder in die Brusttasche zurückgesteckt. Hier ist es; ich fühle es.«

Bei diesen Worten klopfte ich ihm an die Brust, wo das Buch steckte. Er wich zurück und rief:

»Rühren Sie mich nicht an; ich dulde das nicht!«

»O, Sie werden noch mehr als das erdulden. Passen Sie auf!«

Ich wendete mich, natürlich nicht in englischer Sprache, an die umstehenden Offiziere, welche kein Wort unsers Gespräches verstanden, aber doch bemerkt hatten, daß der Inhalt desselben für Jonathan Melton kein angenehmer sein könne. Es kostete nur einige Bemerkungen, so wurde er ergriffen, niedergeworfen und gebunden. Ich nahm das Portefeuille; was er sonst bei sich hatte, wurde ihm gelassen. Dann schaffte man ihn zu den gefangenen Uled Ayun, mit denen er streng bewacht wurde. Nun konnte er sich nicht mehr darüber im Zweifel befinden, daß er von mir durchschaut worden war.

Wir hatten, wie schon längst erwähnt, drei Schwadronen Kavallerie. An der Spitze einer jeden standen ein Kolarasi (Rittmeister), ein Ober- und ein Unterlieutenant. Mit diesen neun Offizieren hielt ich einen kurzen Kriegsrat, nachdem ich ihnen erzählt hatte, wie die Sachen standen.

Die erste Schwadron sollte sich mit ihrem Kolarasi vor den Eingang des Engpasses legen. Mit der zweiten wollte ich selbst den Berg umreiten, um den hintern Ausgang zu besetzen. Die dritte sollte hinauf auf den Berg, um die beiden Felsenränder des Passes zu belegen und nötigenfalls von da oben herabzuschießen. Diese Schwadron mußte sich also teilen; die eine Hälfte unter dem Kolarasi sollte die rechte und die andere unter dem Oberlieutenant die linke Seite des Berges nehmen. Da hinten, wo ich Posto fassen wollte, waren, wie früher erwähnt, die Pferde, und dort lagerten auch die zu der gefangenen Schwadron gehörigen Soldaten, welche von Uled Ayar-Kriegern bewacht wurden. Wenn es mir gleich anfangs gelang, die Gefangenen zu befreien, bekamen wir hundert Mann mehr für uns.

»Und wann soll der Angriff erfolgen?« fragte einer der Offiziere.

»Einen eigentlichen Angriff wird es nicht geben. Die erste Schwadron hat nichts zu thun, als die Feinde zurückzuweisen, wenn dieselben die Schlucht verlassen wollen; die zweite Schwadron hat die gleiche Aufgabe, falls die Ayar hinten ausbrechen wollen. Nur werde ich mit einem Teil derselben vorher über die Wächter herfallen, um eure gefangenen Kameraden zu befreien. Das wird wohl nicht ohne Geschrei und einige Schüsse abgehen, ist aber noch kein Kampf zu nennen, und so dürfen sich die andern Abteilungen nicht etwa dadurch zu einem voreiligen Handeln verleiten lassen. Wir wollen die Feinde nicht töten, sondern gefangen nehmen. Hütet euch also vor Blutvergießen! Je mehr Uled Ayar fallen, destoweniger giebt es dann, von denen der Pascha die Kopfsteuer bezahlt bekommt.«

»Aber der Augenblick, an welchem du über die Wächter unserer gefangenen Kameraden herfallen willst, muß doch bestimmt werden, damit wir wissen, woran wir sind!«

»Das ist richtig. Ich werde den Augenblick des Fagr, des Morgengebetes, dazu benutzen.«

»Das geht nicht.«

»Warum?«

»Weil wir doch auch beten müssen, und da haben wir keine Zeit, auf den Feind zu achten. Du bist ein Christ und meinst vielleicht, daß wir nicht zu beten brauchen.«

»Das meine ich nicht; ihr sollt beten und dennoch gerüstet sein. Ihr vergeßt, oder vielleicht wißt ihr es nicht, daß die Uled Ayar ihr Morgengebet nach den Regeln der Hanofisekte verrichten. Ihr betet, wenn der erste schwache Lichtschimmer im Osten erscheint. Bei den Hanofi aber beginnt das Fagr ein wenig später, nämlich wenn el Isfirar, der ›gelbe Schimmer‹, zu sehen ist. Ihr seid also, wenn sie beginnen, schon fertig, und eure Morgenandacht wird euch nicht verhindern, eure Pflicht zu thun. Sobald die Ayar zu beten beginnen, werde ich schnell vorrücken, um die Gefangenen zu befreien. Sie werden überhaupt durch unser Erscheinen so überrascht sein, daß sie, wenigstens für den ersten Augenblick, die Gegenwehr vergessen; dann aber ist die gefangene Schwadron schon frei, und wir können den Feind ruhig an uns kommen lassen.«

Es waren noch einige weitere Bemerkungen nötig; dann brachen wir auf, um nach dem Engpasse zu reiten. Nach Verlauf von anderthalber Stunde waren wir in seiner Nähe angekommen, und wir trennten uns. Die erste Schwadron ritt nach dem Eingange, nachdem sie einige Kundschafter zu Fuß vorausgesandt hatte. Die zweite ritt rechts und links von dem Engpasse den Berg hinan, und ich ritt mit der dritten um den letzteren herum, bis wir seine hintere, die südliche Seite erreichten, wo der Paß wieder ins Freie trat. Dort ließ ich halten und ging, um zu rekognoscieren.

Die Uled Ayars waren von einer geradezu unbegreiflichen Unvorsichtigkeit. Sie hatten auch hier keine Posten, und ich drang wohl zweihundert Schritte in die Schlucht ein, ohne auf irgend jemand zu stoßen.

Bis hierher war beim Scheine des Mondes alles recht gut von statten gegangen; aber er hatte seinen Lauf schon tief gesenkt und mußte in einer halben Stunde verschwinden. Das schadete jedoch nichts, denn wenn wir nichts sahen, so wurden auch wir nicht gesehen.

Ich legte beide Hände hohl an den Mund und ließ dreimal hintereinander den Schrei des Geiers hören. Er drang in die Schlucht hinein, und ich war überzeugt, daß Winnetou ihn vernommen hatte.

Nun galt es, bis zum Morgen zu warten. Ich hatte einige Posten in die Schlucht vorgeschoben; die andern lagerten draußen vor derselben. Meiner Weisung gemäß verhielten sie sich vollständig ruhig. Es war nichts als nur zuweilen das Schnauben eines Pferdes zu hören.

Die Zeit verging; der Mond war längst verschwunden, und die Sterne verloren ihren Glanz. Dann färbte sich der Osten mit einem leisen Scheine.

»Herr, sollen wir beten?« fragte mich der Kolarasi.

»Ja, aber natürlich ganz leise.«

Sie knieten alle nieder und verrichteten die vorgeschriebene Andacht. Darüber wurde der Schein heller und heller, bis er sich gelb färbte. Das konnte man im Innern der Schlucht nicht sehen; dennoch drang jetzt aus derselben der laute, wohltönende Ruf.

»Hai alas Sallah, hai alal felah; es Sallah cher min en nohm – auf zum Gebete, auf zum Heile; das Gebet ist besser als der Schlaf!«

Es war so hell geworden, daß wir sehen konnten. Ich huschte rasch in die Schlucht hinein und ging so weit, als ich gehen konnte, ohne befürchten zu müssen, bemerkt zu werden. Schon gestern hatte ich gesehen, daß der Paß keine Krümmung machte, sondern fast schnurgerade verlief; ich konnte sie nahezu völlig überblicken.

Gar nicht weit von mir befanden sich die Pferde, eine große Menge. Hinter denselben lagen die gefangenen Soldaten; sie waren nicht gefesselt und wurden von ungefähr zwanzig bewaffneten Uled Ayar bewacht. Dann kam ein freier Raum, hinter welchem das eigentliche Lager begann. Alle Menschen, welche ich dort erblickte, knieten betend an der Erde, die Gefangenen mit ihren Wächtern auch. Ich eilte zurück und holte mir dreißig Mann.

»Seid ganz still,« gebot ich ihnen. »Sagt kein Wort. Je weniger Lärm wir machen, desto größer ist die Überraschung und desto eher werden wir fertig sein. Es sind zwanzig Wächter da. Schießt nicht, sondern haut sie mit den Kolben nieder! Dann geht es schnell wieder zurück.«

Es ging mit raschen Schritten in die Schlucht hinein. Die Stimme des Vorbeters wechselte mit dem Chore der Nachbetenden ab. Da kamen wir zu den Pferden. Wir rannten um dieselben herum und zwischen ihnen hindurch und warfen uns mit hochgeschwungenen Kolben auf die Wächter. Sie waren vor Schreck ohne Bewegung. Hieb fiel auf Hieb. Zwei oder drei rafften sich doch auf und rannten schreiend davon; die andern wurden niedergeschlagen.

»Auf, ihr Männer!« rief ich den Gefangenen zu. »Ihr seid frei. Eilt zu den Pferden; nehmt deren so viel ihr könnt bei den Zügeln und kommt mit ihnen hinaus, wo eure Befreier warten!«

Sie folgten diesem Rufe. Sie sprangen auf und zu den Pferden. Jeder warf sich auf den Rücken eines derselben und nahm ein anderes oder gar zwei bei den Zügeln; ein kurzes Drängen durcheinander, und dann trieb alles dem hintern Ausgange zu. Vom Lager her aber erschollen Rufe des Zornes, des Schreckens; es fiel keinem ein, weiter zu beten. Jeder ergriff seine Waffen und kam schreiend nach hinten gerannt. Aber die Befreiten waren mit den so schnell annektierten Pferden schon hinaus ins Freie; sie hatten keine Waffen und mußten also zunächst zurück. Mit den andern ging ich vor. Wir füllten in vielen Gliedern hintereinander die ganze Breite des Passes und gaben eine blinde Salve. Da wichen die Heranstürmenden zurück, oder sie blieben wenigstens stehen und schrieen einander unter den lebhaftesten Gestikulationen an. Ihr Schreck war so groß, daß sie zunächst nicht wußten, was sie thun sollten. Dann ertönte die Stimme des Scheiks. Er brachte Ordnung in das Gewirr, wenigstens notdürftig, und dann sahen wir, daß sich die Uled Ayar vorn nach dem Eingange drängten. Da krachten ihnen auch Schüsse entgegen, und von beiden Seiten oben herab blitzte es auch. Ein einziges großes Wut- oder Wehegeheul der Ayar erfüllte den Engpaß; sie gingen auch da vorn zurück und drängten sich in der Mitte der Schlucht zusammen. Da sandte ich einen Lieutenant zu ihnen. Er war schon vorher instruiert und schwang ein Tuch zum Zeichen, daß er als Unterhändler komme. Ich ließ durch ihn den Scheik bitten, zu mir zu kommen und gab ihm das Versprechen, daß er, sobald es ihm beliebe, zu den Seinen zurückkehren könne. Doch sollte er seinen Uled Ayar den Befehl geben, daß sie sich bis zu seiner Rückkehr jeder Feindseligkeit zu enthalten hätten.

Ich sah den Boten im Gedränge der Feinde verschwinden. Es dauerte wohl zehn Minuten; dann öffnete sich die Menge, und er erschien wieder; an seiner Seite kam der Scheik geschritten. Er hatte also das Vertrauen zu mir, daß ich mein Versprechen halten würde. Als er näher gekommen war, ging ich ihm der Höflichkeit halber eine kleine Strecke entgegen, legte beide Hände auf die Brust, verbeugte mich und sagte:

»Sei willkommen, o Scheik der Uled Ayar! Du wolltest mich gestern, als ich dein Gefangener war, nicht zu dir sprechen lassen. Darum bin ich aus deinem Lager gegangen, um dich jetzt als freier Mann zu bitten, heute mit mir zu reden.«

Er verbeugte sich ebenfalls und antwortete:

»Ich grüße dich! Du hast mir freies Geleit geboten und wirst dein Versprechen halten?«

»Ja. Du kannst gehen, sobald du willst, denn ich bringe dir den Frieden.«

»Dafür willst du Steuern!«

»Nein.«

»Nicht?« fragte er erstaunt. »Seid ihr nicht deshalb als Feinde zu uns gekommen, um uns das, was uns von unsern Herden übriggeblieben ist, vollends zu nehmen?«

»Ihr habt Mohammed es Sadok Pascha versprochen, die Kopfsteuer zu zahlen, aber nicht Wort gehalten. Es ist sein Recht, das, was ihr ihm verweigert, mit Gewalt zu nehmen; ihr werdet also zahlen müssen; aber ich bin nicht dein Feind, sondern dein Freund und will dir sagen, wie du die Steuer bezahlen kannst, ohne daß du ein einziges Haar eurer Herden anzurühren und wegzugeben brauchst.«

»Allah ist groß und barmherzig! Wenn deine Worte wahr sind, so bist du allerdings mein Freund und nicht ein Feind von uns!«

»Ich habe die Wahrheit gesprochen. Habe die Güte, dich zu mir zu setzen, so wirst du hören, welchen Vorschlag ich dir zu machen habe.«

»Deine Rede duftet wie Balsam. Die Erde, auf welcher du sitzest, soll auch meinen Gliedern Ruhe geben.«

Es wurden zwei Gebetsteppiche nebeneinander gelegt; er setzte sich auf den einen, ich mich auf den andern. Der Beduine überstürzt nichts. Unsere Würde erforderte, zunächst eine Pause zu machen. Während derselben musterte ich die Schlucht mit allem, was sie enthielt; er aber verwendete kein Auge von mir und begann endlich:

»Der Herr der Heerscharen hat mir gestern von dir erzählt, Effendi. Ich habe erfahren, was du erlebt und gethan hast; aber er hat mir nicht gesagt, daß du auch ein Meister in der Zauberei bist.«

»Wieso?«

»Du lagst gefesselt und angebunden in deinem Zelte. Dein Wächter ist in dieser Nacht zwölfmal in demselben gewesen und hat dich und deine Fesseln betastet, um zu wissen, daß du noch vorhanden seiest. Nur ganz kurze Zeit vor dem Morgengebete war er zum letztenmale bei dir. Und jetzt sitzest du hier und redest zu mir als freier Mann! Ist das nicht Zauber?«

»Nein. Hat der Wächter denn gewußt, daß ich es war, den er bewachte?«

Dieser Zauber war sehr leicht zu erklären. Ich hatte Winnetou die Hände nicht fest zusammengebunden. Als er mein Zeichen hörte, hatte er die Fesseln abgestreift, sich vom Pfahle losgemacht und in seiner unvergleichlichen Weise aus dem Lager geschlichen. Jedenfalls befand er sich jetzt vorn am Eingange der Schlucht bei der ersten Schwadron. Da ich es nicht für nötig hielt, dem Scheik diese Erklärung mitzuteilen, ließ ich ihn bei seinem Wunderglauben und sagte:

»Du magst daraus ersehen, daß es besser gewesen wäre, – wenn du mir schon gestern dein Ohr gegönnt hättest. Ist jemand von euch von den Schüssen unserer Soldaten verwundet oder getötet worden?«

»Nein.«

»Das ist gut! Ich hatte Befehl gegeben, in die Luft zu schießen. Erst wenn meine Unterredung mit dir vergeblich sein sollte, werden wir euch unsere Kugeln geben. Doch hoffe ich, daß du uns nicht zwingen wirst, die Frauen und Kinder deines Stammes zu Witwen und Waisen zu machen. Wie steht ihr euch mit den Uled Ayun?«

»Wir haben Blutrache mit diesen Hunden!«

»Wie viele Männer haben sie euch getötet?«

»Dreizehn! Allah sende die Ayun in die Hölle!«

»Sind sie ärmer oder reicher als ihr?«

»Reicher. Schon früher waren sie reicher; aber nun wir unsere Herden verloren haben, ist der Unterschied noch viel größer als vorher, denn sie haben keine Verluste gehabt. Sie weiden ihre Tiere im Wadi Silliana, in welchem es nie an Wasser mangelt.«

»Wie bist du dazu gekommen, mit dem Kolarasi Kalaf Ben Urik einen Vertrag abzuschließen?«

»Er bot mir denselben an, als wir ihn umzingelt hatten.«

»Konnte er sich denn nicht anders retten?«

»O doch! Seine Soldaten hatten viel bessere Waffen als wir. Sie hätten sich durchschlagen können und dabei gewiß sehr viele von uns getötet. Er aber zog es vor, einen Vertrag mit mir abzuschließen und sich dann zu ergeben. Ich sollte die Soldaten bekommen, welche er bei sich hatte, und auch die, welche er noch herbeilocken wollte.«

»Und was verlangte er dafür?«

»Seine Freiheit und den Herrn der Heerscharen, den er zwingen wollte, ihm ein großes Lösegeld zu bezahlen.«

»Du weißt nicht, mit was für einem Menschen du den Vertrag abgeschlossen hast!«

»Er ist ein Ischariot; das habe ich dir schon gesagt.«

»Und er ist noch mehr. Ich werde dir später von ihm erzählen; jetzt ist die Zeit dazu zu kurz und zu wichtig, denn ich möchte auch einen Vertrag mit dir abschließen, aber einen viel bessern, der dich nicht in Widerstreit mit deinen Pflichten bringt und dir auch die Rache des Pascha nicht zuziehen wird.«

»So sprich! Ich lausche deinen Worten, o Effendi.«

»Zunächst will ich dir sagen, was ich von dir verlange, nämlich die Freiheit des Herrn der Heerscharen und des Engländers, welche sich noch bei dir befinden. Sodann die Auslieferung des Kolarasi und endlich den vollen Betrag der Kopfsteuer, welche wir eintreiben sollen.«

»Effendi, das letztere kann ich dir nicht leisten; es ist unmöglich!«

»Warte nur! Ich will dir doch auch sagen, was du von uns erhältst, wenn du in meine Forderungen einwilligest. Du erhältst vierzehnhundert Kamelstuten oder deren Wert.«

Er sah mich mit weit geöffneten Augen an, schüttelte den Kopf und sagte dann:

Ach kann unmöglich richtig gehört haben, Effendina, und bitte dich also, es noch einmal zu sagen!«

»Gern! Du sollst vierzehnhundert Kamelstuten oder deren Wert bekommen.«

»Aber wofür? Bedenke, Effendina, daß ich gar keine Forderungen an euch stellen kann.«

»Ja. Du magst daraus ersehen, daß es viel besser ist, einen Christen als einen Moslem zum Gegner zu haben. Was dir noch unerklärlich ist, werde ich dir erklären. Es giebt bei euch ein junges Weib, welches Elatheh heißt?«

»Ja. Sie ist der Liebling des ganzen Stammes. Aber Allah hat sie mit den Augen ihres Kindes betrübt, denn ihr Söhnchen ist blind geboren. Darum ist sie mit einem ehrwürdigen Greise nach einem heiligen Orte gepilgert, um Allah zu bitten, die Augen des Kindes sehend zu machen. Sie wird nun bald heimkehren.«

»Sie ist bei mir. Sie fiel unterwegs den Uled Ayun in die Hände, welche den Greis töteten und die Frau bis an den Kopf in die Erde eingruben.«

»Allah 'l Allah! Schon wieder ein Mord! Das ist der vierzehnte! Das viele Blut schreit um Rache bis zum Himmel hinauf. Und die Hunde verschonen nicht ein Weib, welches sich auf der Wallfahrt befindet! Welch eine Qual, und welch ein Tod! Bis an den Kopf eingegraben! Da kommen die Geier und hacken die Augen aus!«

»Fast wäre es so geworden; aber Allah hatte Erbarmen mit der Frau. Er führte mich zu ihr, und ich habe sie ausgegraben. Vorher aber habe ich etwas gethan, worüber du dich freuen wirst: Ich habe Farad el Aswad gefangen genommen.«

»Farad el Aswad? Wer heißt denn noch so? Denn den Scheik der Uled Ayun kannst du doch nicht meinen!«

»Warum nicht?«

»Weil dies für mich die größte der Wonnen wäre, und Wonnen giebt es für mich nicht mehr. Und auch weil dieser Scheik nicht ein Mann ist, der sich so leicht gefangen nehmen läßt.«

»Pah! So hältst du ihn für einen tapfern Mann? Ich habe ihn freilich ganz anders gesehen. Ich hatte nur zwei Männer bei mir, Wir drei haben den Scheik Farad el Aswad nebst dreizehn Ayuns gefangen genommen, ohne daß sie es wagten, sich zu wehren. Und doch hatten sie ihre Waffen bei sich und saßen auf vortrefflichen Pferden.«

Da fuhr er von dem Gebetsteppiche auf und jubelte:

»O Allah, Allah, ich danke dir! Das macht alles wieder gut! Daß diese Hunde ergriffen worden sind, ist Himmelslust für meine Seele; aber daß es ihrer vierzehn waren, die sich von drei Personen festnehmen ließen, das verlängert mein Leben um mehrere Jahre! Welche Schande – welche Schande! Du mußt mir erzählen, wie das gekommen ist, Effendina. Vorher aber sag mir, was du mit den Hunden gemacht hast, als sie in deine Hände gefallen waren! Hast du sie getötet?«

»Nein. Ein Christ darf selbst seinen ärgsten Feind nicht töten; die Rache ist allein Gottes. Sie leben noch, sind gefesselt und befinden sich bei mir.«

»Sie leben noch und sind bei dir! Was wirst du mit ihnen thun? Sag es mir – sag es mir schnell!«

Er zitterte fast vor Verlangen, meine Antwort zu hören.

»Ich übergebe sie dir.«

Kaum hatte ich diese vier Wörtchen ausgesprochen, so sank er wieder nieder, vor mir auf die Kniee, ergriff meine Hände und fragte, vor Aufregung fast brüllend:

»Ist das wahr – ist das wahr? Ist das dein fester Wille?«

»Ja, ich liefere sie aus; aber natürlich nur dann, wenn du die Bedingungen erfüllst, welche ich vorhin gestellt habe.«

»Ich erfülle sie – ich erfülle sie! 0 Allah, o Muhammed! Wir bekommen vierzehn Uled Ayuns, vierzehn Ayuns, und der Scheik ist selbst dabei! Wir können unsere Rache sättigen! Sie müssen ihr Leben hergeben! Ihr Blut wird fließen –«

»Halt!« fiel ich ihm in die begeisterte Rede. »Ihr Leben darf nicht gefährdet werden; das muß ich unbedingt verlangen!«

»Wie?« fragte er ganz betroffen. »Wir haben vierzehn Morde zu rächen, bekommen vierzehn Todfeinde in die Hände und sollen uns doch nicht an ihnen rächen? Das ist unmöglich! So etwas würde noch niemals geschehen sein, und alle Einwohner des Landes würden uns verlachen und uns für Menschen halten, welche keine Ehre besitzen und sich Mord und Beleidigung gefallen lassen.«

»Nein, das wird niemand von euch sagen, denn man wird erfahren, daß ihr wegen des Blutpreises darauf verzichtet habt, das Blut eurer Feinde zu vergießen.«

»Effendi, das ist eine Bedingung, auf die wir wohl schwerlich eingehen können!«

»Nicht? Dann bekommt ihr die Uled Ayuns auf keinen Fall.«

»Du vergissest, daß dann auch die Wünsche, welche du ausgesprochen hast, nicht erfüllt werden!«

»Ich vergesse nichts. Aber du hast vergessen, daß ihr euch in unserer Gewalt befindet. Dreihundert Soldaten stehen vorn und hinten an diesem Passe. Ihr könnt also nicht heraus. Und hundert Mann halten da oben auf der Höhe. Ihr könnt sie mit euern Kugeln nicht erreichen; die oben werden einen nach dem andern von euch wegputzen, ohne daß ihr dies zu verhindern vermögt. Ich brauche nur ein einziges Zeichen zu geben, so krachen hinter und über euch alle Gewehre. Was wollt oder könnt ihr dagegen thun?«

Er blickte eine kleine Weile finster vor sich nieder und antwortete dann:

»Nichts, gar nichts! Wir sind unvorsichtig gewesen; wir hätten nicht hier in der Schlucht bleiben sollen.«

»Ja, ihr wolltet uns in derselben fangen und steckt nun selbst in dieser Falle, aus welcher ihr gegen unsern Willen nicht zu entkommen vermögt. Ich habe auch nicht lange Zeit, gegen deine Bedenken mit unnützen Redensarten anzukämpfen. Ich gebe dir also fünf Minuten Zeit, dich zu entscheiden. Also merke wohl: Ich verlange den Engländer und den Herrn der Heerscharen frei; dazu gebt ihr alles heraus, was den beiden und mir abgenommen worden ist. Ferner verlange ich die Auslieferung des Kolarasi Kalaf Ben Urik.Dafür übergebe ich euch die vierzehn Uled Ayun unter der Bedingung, daß ihr auf die Zahlung des Blutpreises eingeht. Und außerdem laß ich euch aus der Schlucht heraus und sorge für einen guten Friedensschluß zwischen euch und dem Pascha.«

»Dem wir aber die Kopfsteuer bezahlen müssen?«

»Allerdings. Ich gebe ihm recht, daß er auf dieselbe nicht verzichten will, denn sie gehört zu seinem Einkommen, von welchem er leben muß. Er ist kein Beduine, der von seinen Herden lebt.«

»Aber sie ist doch für uns zu hoch! Unsere Herden müssen sich erst erholen.«

»Du vergißt wieder etwas, nämlich den Blutpreis von vierzehnhundert Kamelstuten, von welchem ihr die Steuer bezahlen könnt.«

»Allah ist groß! Vierzehnhundert Kamelstuten! Das ist freilich viel mehr, als wir an den Pascha zu zahlen haben. Wir würden eine ganze Menge von diesen Tieren übrig behalten und mit denselben unsere gelichteten Herden vermehren können!«

»Ja. Du siehst, wie gut ich es mit euch meine. Und da die Frau, welche Elatheh heißt, der Liebling eures Stammes ist, so soll sie für die Angst und Qual, welche sie ausgestanden hat, entschädigt werden. Sie ist arm, ich aber habe ihr versprochen, sie wohlhabend zu machen. Die Uled Ayun sollen ihr auch hundert Kamelstuten geben.«

»Effendi, deine Güte ist groß, und deine Hände werden zum Segen für jeden, den sie berühren! Aber das würden fünfzehnhundert Stuten sein; das ist eine ungeheure Zahl!«

»Für die Uled Ayun nicht zu viel, denn sie sind reich.«

»Aber dies Opfer wird ihren Reichtum außerordentlich vermindern!«

»Das will ich eben! Sie verlieren, ihr aber gewinnt an Macht.«

»Das ist richtig; aber eben darum bezweifle ich, daß sie auf einen so hohen Preis eingehen werden.«

»Sie müssen, denn sie haben nur die Wahl zwischen ihm oder dem Tode, und jedermann giebt lieber sein ganzes Eigentum als sein Leben her. Ich werde den Unterhändler zwischen euch und ihnen machen, und du kannst dich darauf verlassen, daß ich um keine einzige Stute herabgehen werde.«

»So werden sie ja sagen, aber nicht Wort halten!«

»Wie kommst du auf diesen Gedanken, der doch ganz unbegründet ist? Die vierzehn Uled Ayun werden jedenfalls nicht eher freigelassen, als bis die Diyeh ohne allen Abzug bei euch eingegangen ist.«

»Da kennst du diese Leute nicht. Sie werden die Zahlung hinausschieben, sich während derselben rüsten und dann über uns herfallen, um die Gefangenen zu befreien und dann nichts zu bezahlen.«

»Nein, das werden sie nicht, denn sie müssen sich sagen, daß es ihnen nicht gelingen würde, die Gefangenen zu befreien. Letztere befinden sich doch als Geißeln in euern Händen, und ihr würdet sie selbstverständlich eher töten, als sie euch abnehmen lassen.«

»Das ist freilich richtig.«

»Und außerdem mußt du an einen Umstand denken, den du zu übersehen scheinst. Ich verhelfe Euch zu dem außerordentlich hohen Blutpreise, damit ihr die Steuer bezahlen könnt. Wir gehen mit unsern Truppen nicht eher fort, als bis dieselbe entrichtet ist. Wir werden also warten, bis die Uled Ayun die Diyeh bezahlt haben. Bis zu dieser Zeit sind wir bei euch, sind eure Gäste, welche unter Umständen mit und für euch kämpfen werden. Es liegt in unserm Interesse, den Uled Ayun nur eine kurze Zahlungsfrist zu geben; sie werden also keine Zeit finden, sich zu einem Angriffe zu rüsten. Und wenn sie trotz alledem so thöricht wären, euch überfallen zu wollen, so würden wir mit unsern Truppen im Kampfe an eurer Seite stehen. Dann würden die Ayun vernichtet oder doch wenigstens so geschwächt, daß sie für lange Jahre an keine Feindseligkeit gegen euch mehr denken könnten.«

»Effendi, was du da vorbringst, giebt mir die Gewißheit, daß du es gut und ehrlich mit uns meinst, und daß diese für uns so wichtige Angelegenheit auch wirklich so verläuft, wie du denkst und sagst.«

»Du gehst also auf meine Bedingungen ein?«

»Ich für meinen Teil, ja. Aber du kennst unsere Sitten und Gewohnheiten und wirst also wissen, daß ich nicht die Macht habe, solch hochwichtige Frage allein zu entscheiden. Ich muß vorher die Dschemma, die Versammlung der Ältesten, zusammenrufen. Und du? Hast denn du die Macht der Entscheidung? Du bist ein Fremder hier im Lande, und dies ist doch eine Angelegenheit des Pascha.«

»Der Herr der Heerscharen befindet sich an der Stelle des Pascha hier; was er thut, wird dieser gutheißen, und ich bin überzeugt, daß Krüger-Bei meinen Forderungen und Bedingungen seine Einwilligung nicht versagen wird.«

»Effendi, ich achte deine Worte, aber noch lieber wäre es mir, wenn ich sie auch aus dem Munde des Herrn der Heerscharen vernehmen könnte.«

»Gut, das sollst du. Schicke ihn her, damit ich mit ihm reden kann.«

»Willst du nicht lieber zu ihm gehen, mit mir kommen? Du könntest da erst mit ihm und dann auch in unserer Dschemma sprechen. Wenn du meinen Ältesten alles erklärst, wird es einen bessern und tiefern Eindruck machen, als wenn ich es bin, der ihnen so große und so schöne Versprechungen bringt und solche Vorteile verheißt, an die sie kaum zu glauben vermögen.«

»Giebst du mir freies Geleite?«

»Ja. Du hast es mir auch gegeben.«

»Und ich kann mich auf dich verlassen?«

»Wie auf dich selbst. Ich schwöre dir beim Barte des Propheten, bei dem meinigen und bei der Seligkeit aller meiner Vorfahren, daß du frei und ganz nach deinem Belieben kommen oder gehen kannst!«

»Ich glaube dir und hoffe, daß deine Krieger diesen deinen Schwur respektieren werden.«

»Sie werden es!«

»Dennoch könnte es einen oder einige geben, welche dies nicht thun. Für diesen Fall sage ich dir, daß, wenn von eurer Seite ein einziger Schuß fällt oder wenn ein einziger von euch die Hand feindselig nach mir ausstrecken sollte, ich augenblicklich das Zeichen zum Beginn des Kampfes geben würde. Gleich unsere erste Salve würde euch dreihundert Kugeln bringen.«

»Das wird nicht geschehen; ich versichere es dir!«

Trotz dieser Versicherung gab ich, so daß er es hörte, den Befehl, daß die Soldaten, sobald ein Schuß fallen würde, augenblicklich in der Schlucht vordringen sollten. Ich war überzeugt, daß in diesem Falle auch die andern Abteilungen von uns die Feindseligkeiten sofort beginnen würden. Dann brach der Scheik auf, und ich begleitete ihn.

Als wir die Uled Ayar erreichten, waren es sehr feindselige Blicke, welche von allen Seiten auf mich geworfen wurden. Der Scheik suchte eine erhöhte Stelle, von welcher aus er von allen gesehen wurde und rief den sich Zusammendrängenden zu:

»Hört, ihr Männer, was ich euch zu sagen habe. Der fremde Effendi, Kara Ben Nemsi genannt, bringt uns den Frieden, bringt uns Reichtum und bringt uns Ehre. Er bietet uns Gaben, über welche ihr euch freuen werdet wie die Lämmer, wenn sie frische Weide finden. Ich habe ihm freies Geleite versprochen; er kann unangefochten wieder gehen, sobald es ihm beliebt. Er ist wie ich, und ich bin, wie er. Mein Blut ist sein Blut, und seine Ehre ist die meinige. Er steht unter meinem Schutze und ebenso auch unter dem eurigen. Die Dschemma mag zusammentreten, um zu erfahren, welche Freude und welches Glück uns widerfahren wird!«

Diese Worte brachten einen außerordentlichen Eindruck hervor. Die vorher so finstern und drohenden Gesichter wurden freundlicher; es entstand eine allgemeine Bewegung, ein Rauschen von fragenden und antwortenden Stimmen. Da klang eine derselben über alle andern hinweg:

»Halt! Das kann ich nicht zugeben! Der Giaur war unser Gefangener und ist uns entflohen. Wer darf ihm da freies Geleit erteilen! Ich fordere, daß man ihn auf der Stelle wieder in Fesseln legt!«

Der Sprecher drängte sich herbei; es war der Kolarasi Thomas Melton. Sein rot und blau und grün angeschwollenes Gesicht bot einen widerlichen Anblick. Die Geschwulst war eine Folge der Fußtritte, welche Emery ihm gestern versetzt hatte. Er stellte sich vor mich hin und fuhr, zu dem Scheik gewendet, fort:

»Ich habe dir bereits gesagt, daß dieser Mann mir gehört!«

»Was du sagst und behauptest, geht mich nichts an,« antwortete dieser. »Der Effendi steht unter meinem Schutze.«

Ich war auf irgend eine schnelle That des Kolarasi gefaßt und hielt Winnetous Silberbüchse, welche ich mitgenommen hatte, zur Abwehr bereit, doch so unauffällig wie möglich.

»Unter deinem Schutze?« fragte er ergrimmt. »Wie kommst du dazu, meinen Todfeind in Schutz zu nehmen!«

»Er bringt uns Glück und Segen. Wir werden Frieden mit dem Pascha schließen.«

»Frieden? Und wo bleib ich? Was wird aus unsern Vereinbarungen?«

»Die gelten nicht mehr. Du siehst, daß wir von allen Seiten eingeschlossen sind. Wir haben nur zwischen dem Frieden und dem Tode zu wählen.«

»Ah! Und da greift ihr Feiglinge nach dem Frieden! Und der deutsche Hund soll mir nicht ausgeantwortet werden?«

»Nein. Er ist der Beschützte!«

»So beschütze ihn, wenn du kannst!«

Er zog mit einer gedankenschnellen Bewegung sein Messer; es blitzte gegen meine Brust, aber noch ehe es dieselbe erreichte, rannte ich ihm den Gewehrkolben unter das Kinn, daß sein Kopf in das Genick knickte und er selbst in einem weiten Bogen zur Erde flog. Da blieb er liegen; ein Blutstrom entquoll seinem Munde.

»Effendi, ich danke dir für diesen Stoß!« sagte der Scheik. »Du hast mit demselben das tödliche Messer von dir abgewehrt. Hätte es dich getroffen, so wäre mein Eid, mit dem ich dir Sicherheit verhieß, gebrochen gewesen und zu einem Meineide geworden, und das hätte mein graues Haupt mit ewiger, unauslöschlicher Schande bedeckt. Ist er tot?«

Diese Frage galt einigen Uled Ayar, welche sich zu Melton niedergebückt hatten.

»Er bewegt sich nicht, scheint aber nicht tot zu sein,« lautete die Antwort.

»So bindet ihm die Hände und Füße, damit er bei seinem Erwachen nicht etwa noch größeren Schaden verursachen kann! Du aber, 0 Effendina, magst die Güte haben, in mein Zelt zu treten, wo du den Herrn der Heerscharen finden wirst!«

Ich folgte der Aufforderung und fand Krüger-Bei an einen Pfahl befestigt.

»Ihnen hier, Ihnen!« rief er mir erfreut entgegen. »Ich denke, daß Sie ebenso wie ich mit Fesseln angebunden gewesen sind!«

»Wie Sie sehen, bin ich frei und werde auch Sie gleich losbinden.«

»Gott sei Dank! So sind Sie wohl gar nicht gefangen und gefesselt zu betrachten gewesen?«

»O doch! Ich war ebenso wie Sie gefangen, bin aber entflohen.« Und ich erzählte ihm schnell das Notwendigste, nachdem ich ihn losgebunden hatte. Er hörte mir mit großer Spannung zu, und die Spannung verdoppelte sich, als ich ihm die Vorschläge, welche ich dem Scheik gemacht hatte, und deren Gründe auseinandersetzte. Als ich geendet hatte, rief er aus:

»Maschallah! Was sind Sie für ein Mensch!«

»Wie meinen Sie das? Stimmen Sie mir bei oder nicht?«

»Sowohl ja, niemals nein!«

»Das freut mich. Ich war überzeugt, ganz in Ihrem Sinne gehandelt zu haben. Sie verlangen also von den Uled Ayar nicht mehr, als ich von ihnen gefordert habe und gewähren ihnen alles, was ich ihnen versprochen habe?«

»Ja und Amen.«

»Gut, so kommen Sie heraus! Draußen werden die Ältesten beisammensitzen und auf mich warten. Oder wollen Sie zu ihnen sprechen?«

»Um meines Ranges willen, weil ich des Paschas Vertretung habe, will ich lieber selbst zu ihnen reden.«

»Ich stimme Ihnen bei. Sie befinden sich an Stelle des Paschas von Tunis hier, und es macht also einen tiefern Eindruck, wenn Sie selbst zu der Dschemma sprechen. Ich kann Sie ja erinnern, wenn Sie etwas auslassen sollten.«

Wir traten aus dem Zelte, vor welchem die Alten in einem Kreise saßen. Sie zeigten keine Spur von Erstaunen darüber, daß ich den Herrn der Heerscharen losgebunden hatte, und machten ihm bereitwillig Platz, als er sich anschickte, in die Mitte ihres Kreises zu treten. Den Kolarasi Melton sah ich nicht; er war fortgeschafft worden.

Natürlich waren alle Uled Ayar äußerst gespannt auf das Resultat der Versammlung, von welcher Krieg und Frieden, Tod und Leben abhing. Sie hatten sich neugierig in die Nähe zusammengezogen, hielten sich aber in respektvoller Entfernung. Bei den Beduinen wird einer Dschemma die größte Ehrerbietung erwiesen, und mancher junge Civilisations-Fant könnte von diesen ungebildeten Leuten lernen, wie man das Alter zu achten und zu ehren hat.

Die Rede des Herrn der Heerscharen war ein Meisterstück wie immer, wenn er sich seiner deutschen Muttersprache nicht bediente. Er bestätigte alles, was ich dem Scheik versprochen hatte, und wollte, als er zu Ende war, sich zurückziehen, um der Dschemma Zeit zur Beratung zu lassen; da aber erhob sich der Scheik und sagte:

»Deine Worte, o Herr, waren wie Rosen, deren Duft das Herz verjüngt. Du willst dich entfernen, damit wir uns beraten mögen? Das ist nicht nötig. Wozu ist eine Beratung notwendig, da du uns Bedingungen stellst, die wir durch dieselbe weder erleichtern noch verbessern können? Ich stimme jedem deiner Worte bei und fordere alle meine Gefährten auf, dasselbe zu thun. Wer ein Wort dagegen zu sagen hat, mag seine Stimme erheben!«

Keiner folgte der Aufforderung, und so fuhr er fort:

»Und wer mit dem, was der Herr der Heerscharen gesagt hat, einverstanden ist, der stehe auf!«

Nicht einer blieb sitzen.

Darauf bestieg der Scheik einen hohen Stein, von welchem aus er von allen Uled Ayar gesehen werden konnte, und verkündete denselben mit weithin schallender Stimme, welches Übereinkommen jetzt getroffen worden war und nun mit der nötigen Feierlichkeit besiegelt werden sollte. Darob erhob sich ein lauter, allgemeiner Jubel. Und als der Scheik darauf zu mir kam, mir die Hände drückte und mit ebenso lauter Stimme wie vorhin sagte, daß der frohe Ausgang dieses vorher so gefährlichen Streites nur mir zu verdanken sei, so folgten alle, welche zur Dschemma gehörten, seinem Beispiele, und dann drängten sich noch viele andere herbei, um dasselbe zu thun. Ich hatte. mehrere Hundert Hände zu drücken, und die vorher mir so feindlichen Gesichter und Augen hatten jetzt einen ganz andern Ausdruck angenommen.

Das allererste, was ich nun that, war natürlich, Emery zu befreien. Er hatte den Lärm, die lauten Stimmen gehört und daraus geschlossen, daß etwas Wichtiges im Werke sei; aber daß dies ein Friedensschluß sein werde, welcher seine augenblickliche Befreiung zur Folge habe, das war ihm nicht in den Sinn gekommen. Um so größer war sein Erstaunen und seine Freude, als ich in das Zelt, in dem er steckte, trat, um ihn loszubinden.

Das war die erste Folge unsers Friedensschlusses; die zweite war, daß wir unsere Waffen und alles, was man uns abgenommen hatte, wieder bekamen; es fehlte nicht der unbedeutendste Gegenstand.

Nun ließ ich mir sagen, wo der Kolarasi zu finden sei. Man hatte ihn in sein Zelt geschafft und ihn dort angebunden, so wie wir vorher angebunden gewesen waren. Als ich hineinkam, sah ich, daß er die Augen offen hatte; er schloß sie aber sogleich und stellte sich, um Spottreden zu entgehen, ohnmächtig. Er hatte Blut gespuckt, und zwei Zähne, welche in demselben lagen, bewiesen, daß mein Kolbenstoß nicht gerade die Wirkung einer Liebkosung gehabt hatte. ich überzeugte mich, daß er sich nicht befreien konnte, und ging fort.

Es wurde ausgemacht, daß die Uled Ayar die Schlucht verlassen sollten, um draußen vor derselben ihr Lager aufzuschlagen. Vorher aber mußte der Friedensschluß förmlich vollzogen werden, was unter dem Absingen der heiligen Fathha und anderer Gebete zu geschehen hatte. Dabei genügte die Anwesenheit Krüger-Beis und Emerys. Ich zog es vor, mich dieser langweiligen Handlung zu entziehen, und begab mich also zu meinen Soldaten, um ihnen das Übereinkommen mitzuteilen.

Dann setzte ich mich zu Pferde und ritt, dieses Mal nicht um den Berg herum, sondern geraden Weges durch die Schlucht und durch die Schar unserer bisherigen Feinde, nach der Nordseite des Passes, wo die erste Schwadron aufgestellt war. Die Leute wunderten sich nicht wenig, als sie mich dieses Weges, gerade von den Feinden her, kommen sahen. Natürlich nahmen sie die Kunde, welche ich ihnen brachte, auch mit Freude auf. Sie waren zwar überzeugt gewesen, daß wir unbedingt siegen würden, aber falls es zum Kampfe gekommen wäre, hätte es auch auf unserer Seite Tote und Verwundete gegeben, und da war es auf alle Fälle besser, daß ein Kampf hatte vermieden werden können.

Wie schon gesagt, hatte ich angenommen, daß Winnetou sich bei dieser Abteilung befand, und dies traf zu. Noch ehe ich bei meinem Kommen den Mund öffnen konnte, trat er mir entgegen und fragte.

»Mein Bruder hat mit den Kriegern der Uled Ayar Friede geschlossen?«

»Ja. Es ist so gut gegangen, wie ich es nur denken konnte; es hat keinen Tropfen Blutes gekostet, und das habe ich nur dir allein, meinem besten Freunde und Bruder, zu verdanken. Du hast viel gewagt, indem du dich an meiner Stelle gefangen legtest.«

»Winnetou hat keinen Dank verdient, denn mein Bruder Scharlieh hätte ganz dasselbe für mich gethan. Auch war keine Gefahr dabei; ich war nicht festgebunden und konnte also in jedem Augenblicke fort. Was ist mit Thomas Melton, dem Mörder und Verräter, geworden?«

»Er liegt gefesselt in seinem Zelte. Die Uled Ayar werden den Engpaß verlassen und hier außerhalb desselben ihr Lager aufschlagen. Wir lagern uns ganz in ihrer Nähe und wollen alle unsere Truppen zusammenrufen.«

Der Kolarasi dieser Schwadron sandte Boten aus, und eine halbe Stunde später war unsere ganze Kavallerie an der Nordseite des Berges vor der Schlucht versammelt. Die gefangen gewesene Schwadron Meltons bekam später von den Beduinen ihre Pferde und ihre Waffen wieder.

Es war vier Uhr nach arabischer Zeit, nach abendländischer ungefähr zehn Uhr vormittags, als die Zeremonien des Friedensschlusses vorüber waren; die Uled Ayar kamen, ihren Scheik, Krüger-Bei und Emery an der Spitze, aus dem Engpasse geritten und wurden von drei Salven einer Abteilung unserer Kavallerie begrüßt; auch sie schossen zur Erwiderung ihre Gewehre ab, unregelmäßig und jeder nach Belieben, wie es ihre Gewohnheit ist. Emery hatte dafür gesorgt, daß der Kolarasi Melton mitgebracht wurde. Da dieser sich jetzt nicht mehr bewußtlos stellen konnte, nahm er eine andere Maske vor, wie man gleich sehen wird. Er sah schrecklich aus. War sein Gesicht schon durch die Fußtritte Emerys verschimpfiert worden, so kamen jetzt die Folgen meines Kolbenhiebes dazu. Dieser hatte zwar den Kiefer nicht verletzt, sondern nur den Verlust einiger Zähne herbeigeführt, aber die untere Hälfte war doch jetzt ebenso sehr oder noch viel mehr als vorher schon die obere geschwollen. Auch die Zunge schien in Mitleidenschaft gezogen worden zu sein, denn das Sprechen fiel ihm schwer; das hörte ich sehr bald, denn er wurde zu mir geführt und mir von dem Scheik nun förmlich übergeben, wie unsere Friedensbedingungen das mit sich brachten. Der Scheik that dies in einigen kurzen Worten. Als Melton dies hörte, fuhr er ihn grimmig an:

»Was? Du lieferst mich diesen Menschen aus?«

»Ich muß,« antwortete der Beduine. »Es war das eine Bedingung des Friedensschlusses.«

»Aber du hast mir vorher die Freiheit versprochen! Als ich mich und meine Truppen dir übergab, machte ich die Bedingung, daß ich nicht gefangen, sondern frei sein sollte. Hältst du so dein Wort? Wenn du dies nicht thust, bist du ein schandbarer Lügner, ein ehrloser Verräter, der seinen Verbündeten mit Undank lohnt!«

Eigentlich hatte er recht; das mußte sich der Scheik auch sagen, und daher erklärte ich mir die Ruhe, mit welcher der letztere die Beleidigung hinnahm. Ich sollte mich aber leider später überzeugen, daß ein anderer Grund vorlag. Aber hätte der Scheik jetzt auch antworten wollen, so wäre er doch nicht dazu gekommen, denn als Melton seine letzten Worte gesprochen hatte, fuhr Krüger-Bei ihn zornig an:

»Das wagst du zu sagen, Halunke? Du wagst, von schandbarer Lüge und ehrlosem Verrate zu sprechen? Wer ist ein Lügner und wer ein Verräter? Du wirfst dem Scheik vor, als Verbündeter schlecht an dir gehandelt zu haben. Was aber bin ich, ich dir gewesen? Etwa nur ein Verbündeter? Ich war dein Gönner, dein Beschützer, dein Freund; ich habe wie ein Vater an dir gehandelt. Und wie hast du es mir nun vergolten! Du hast mich von Tunis hierher gelockt, damit man mich gefangen nehmen solle, was ja auch geschehen ist.«

»Das ist eine Lüge!« verteidigte sich der Angeschuldigte in frechster Weise.

»Hund, willst du mich zu alledem auch noch zu einem Lügner machen!«

»Dich nicht, sondern denjenigen, welcher dir das weisgemacht hat, was du jetzt sagtest.«

»Das wäre hier mein Freund Kara Ben Nemsi? Den nennst du einen Lügner? Höre, du Sohn, Enkel und Urenkel von Vorfahren, welche alle in der Hölle wohnen, wie auch du in derselben braten wirst, das ist eine Gottlosigkeit, welche ich fast nicht begreifen kann. Deine ganze Seele ist aus Lügen zusammengesetzt! Wie konnte Allah es zugeben, daß ich einen solchen Menschen beschützte! Ich werde dich aufhängen lassen. Schafft den Judas fort!«

»Halt!« bat ich. »Wenn du ihn als deinen Gefangenen betrachtest, so muß ich geltend machen, daß ich frühere Rechte habe.«

»Die sind aber nicht größer als die meinigen!«

»Das mag sein; aber ich habe ihn noch wegen wichtiger Dinge vorzunehmen!«

»Das werde ich nicht verhindern.«

»Gut! Dann bitte ich dich aber, ihn so fest binden und so gut bewachen zu lassen, daß er uns vollständig sicher ist.«

»Habe keine Sorge! Der Hund soll mir nicht entgehen; darauf kannst du dich verlassen! Schnürt ihn fest und bindet ihn dann an einen Pfahl!«

Der Befehl wurde dem alten Sallam gegeben, und dieser beeilte sich, ihn auszuführen. Dabei sagte nun Scheik Mubir Ben Safa zu Krüger-Bei:

»Herr, du hast recht, wenn du den Hund als Ischariot bezeichnest; auch ich habe ihn schon so genannt.«

»Hattest auch du Veranlassung dazu? Ist er auch gegen dich nicht ehrlich gewesen?«

»Mich hat er nicht betrügen können, obwohl ich nicht sagen mag, daß er mich nicht noch betrogen hätte. Aber er hat dich verraten, dich in meine Hände geliefert. Du warst mein Feind; du kamst, uns zu bekriegen; darum bin ich auf den Vorschlag, den er mir machte, dich zu fangen, eingegangen. Das war mir von großem Nutzen, der mich aber nicht verhindern konnte, ihn für einen Judas Ischariot zu halten und aus tiefstem Herzen zu verachten. Aber er hat noch an einem anderen ebenso oder gar noch schlimmer gehandelt.«

»An wem?«

»An seinem Begleiter.«

Da fiel ich schnell ein:

»Dieser ist es, nach welchem ich fragen muß. Ich kenne ihn und fürchte nur zu sehr, daß seine Reise hierher für ihn verhängnisvoll geworden ist. Wo befindet er sich?«

»Dort in der Schlucht.«

»In der Schlucht? Himmel! Kein Mensch ist mehr in derselben, wenigstens kein lebender! So ist er tot?«

»Ja,«

»Ermordet?!«

»Ich denke es.«

»Von dem Kolarasi?«

»Natürlich!«

»Wie hieß der Mann?«

»Seinen eigentlichen Namen kenne ich nicht. Der Kolarasi nannte ihn seinen Freund; er sprach ihn stets ›mein Freund‹ an.«

»Aber ihr müßt ihn doch bei irgend einem Namen genannt haben!«

»Das haben wir. Wie du weißt, besitzen wir die Gewohnheit, fremde Leute, welche wir nicht kennen oder deren Namen wir schwer auszusprechen vermögen, nach irgend einer Eigenschaft, durch welche sie sich vor andern auszeichnen, zu benennen. Wir haben diesem jungen Fremdlinge auch einen solchen Namen gegeben, Abu tnasch Ssabil

»Aus welchem Grunde? Hatte er etwa zwölf Zehen an seinen Füßen, was ja bei manchen Menschen vorgekommen ist?«

»Ja. Wir umzingelten die Soldaten bei den Ruinen, in deren Nähe eine Quelle liegt. Die Soldaten wurden natürlich als Gefangene betrachtet, der Kolarasi aber und sein Freund waren frei. Der letztere trank an der Quelle und wusch sich dann das Gesicht, die Hände und die Füße, und dabei hat einer unserer Leute bemerkt, daß er an jedem Fuße sechs Zehen hatte.«

»Das ist mir von großem Interesse; das kann von höchster Wichtigkeit werden! Ich sage jetzt, was selbst mein Freund, der Herr der Heerscharen, noch nicht weiß, daß ich gekommen bin, den ›Vater der zwölf Zehen‹ vom Tode zu erretten.«

»Wie?« fragte Krüger-Bei. »Du wußtest, daß er ermordet werden sollte?«

»Ich ahnte es. Es handelte sich um einen verbrecherischen Plan, welcher ebenso raffiniert wie eigenartig ins Werk gestellt worden ist. Hört!«

Ich erzählte dem Herrn der Heerscharen und dem Scheik, was sie zu wissen brauchten. Der erstere rief, als ich fertig war:

»Welch eine That, welche Berechnung, welche bodenlose Schlechtigkeit! Hättest du eher gesprochen, so hätten wir uns beeilt und wären eher hier angekommen. Da wäre der ›Vater der zwölf Zehen‹ noch nicht tot gewesen!«

»Glaube das nicht! Wir haben uns beeilt und hätten gar nicht schneller reiten können. Und wäre es uns möglich gewesen, einen Tag früher hier zu sein, so ist damit noch lange nicht gesagt, daß dadurch der arme Small Hunter am Leben geblieben wäre.«

»Dennoch behaupte ich, daß du hättest reden sollen!«

»Ich durfte nicht. Wenn ich dich in die Angelegenheit einweihen wollte, so mußte ich dir doch sagen, daß der Kolarasi ein Verbrecher, ein entsprungener Mörder sei? Nicht?«

»Allerdings.«

»Er war aber dein Liebling. Erinnerst du dich unsers Gespräches im Bardo? Ich fing an, von ihm zu sprechen; ich klopfte bei dir an; aber bei dem ersten Worte, mit welchem ich dein Vertrauen zu dem Kolarasi zu erschüttern versuchte, wurdest du zornig, nahmst mir das Wort und schnittest mir das weitere in einer Weise ab, welche mich augenblicklich zum Schweigen brachte.«

»Du hättest dennoch nicht schweigen sollen. Du bist mein Freund, und ich hätte dich doch vielleicht angehört!«

»Nein, denn deine Erregung war zu groß. Und wenn du mich angehört hättest, so wäre es mir dadurch doch nicht gelungen, dir dein Vertrauen zu diesem Menschen zu nehmen. Ja, ich behaupte sogar, daß es für mein Unternehmen gefährlich war, dich dennoch ins Vertrauen zu ziehen.«

Er senkte den Kopf, schwieg eine Weile und sagte dann:

»Die Aufrichtigkeit zwingt mich, einzugestehen, daß ich wahrscheinlich etwas gethan hätte, was dir hinderlich gewesen wäre. Ich gebe ja zu, daß ich für den Halunken eingenommen war.«

»Du bist also bereit, mein Gewissen zu beruhigen?«

»Ja. Du hast nichts gethan und nichts unterlassen, wodurch das, was nun geschehen ist, geändert worden wäre.«

»Ich danke dir! Und nun, o Scheik, sage uns, was du über den Tod des ›Vaters der zwölf Zehen‹ weißt. Wurde er von dem Kolarasi schlecht behandelt?«

»O nein! Derselbe war sehr freundlich mit ihm. Das lag ja in dem Plane, den er gegen ihn hegte; er mußte ihn sicher machen. Wir lagerten in der Schlucht. Vorgestern nach dem Abendgebete gingen beide aus dem Lager fort bis an eine Stelle, welche zwischen den gefangenen Soldaten und den Pferden lag. Da hörten wir einen Schuß, keinen starken, sondern einen schwachen, wie er aus den winzigen fremden Pistolen kommt, welche man drehen kann; sie haben sechs Kugeln, aber nur einen Lauf. Dann kehrte der Kolarasi in das Lager zurück und brachte mir die Nachricht, daß sein Freund sich soeben erschossen habe.«

»Gab er einen Grund an?«

»Ja. Er sagte, sein Freund habe es aus Schwermut, aus Trübsinn, aus Lebensüberdruß gethan.«

»Habt ihr eine Spur dieser Schwermut an ihm bemerkt?«

»Nein. Er hatte die wenigen Tage über, welche er bei uns war, stets ein heiteres Gesicht und brachte uns durch seine Reden, die oft scherzhaft waren, gern zum Lachen.«

»Das stimmt freilich mit dem angeblichen Trübsinn nicht zusammen!«

»Der Kolarasi behauptete aber, daß sein Freund schon lange Zeit des Lebens überdrüssig gewesen sei und schon einige Selbstmordversuche gemacht habe; das sei auch der Grund, daß er ihn so wenig aus den Augen lasse.«

»Weiter! Was thatet ihr bei der Nachricht von dem angeblichen Selbstmorde?«

»Ich ließ eine Palmenfaserfackel anzünden; dann begaben wir uns nach der Stelle, an welcher der Tote lag.«

»War er wirklich tot? Hast du dich selbst davon überzeugt?«

»Nein, weil wir nach unserm Glauben durch die Berührung einer Leiche verunreinigt werden. Hätte der Tote zu uns gehört, so wäre es etwas anderes gewesen; aber er war ein Fremdling, warum sollten wir da unsere Hände an ihm beflecken?«

»Hm! Er wurde begraben?«

4a, von dem Kolarasi.«

»Es half ihm niemand dabei?«

»Niemand, eben der Verunreinigung wegen. Auch hat er keinen Menschen um Hilfe dabei gebeten.«

»Wann war das?«

»Gestern. Als man euch als Gefangene zu mir brachte, erschien doch der Kolarasi bei euch und mir. Er kam von dem Grabe; er war noch nicht fertig mit demselben und hat es dann später vollendet, als wir euch in die Zelte gesteckt hatten.«

»Sahst du die Wunde, welche die Kugel gemacht hat?«

»Ja. Das tödliche Metall ist in das Herz gedrungen. Hältst du solche Nebendinge für wichtig, daß du mich nach denselben fragst?«

»Für außerordentlich wichtig. lch muß das Grab sofort aufsuchen und bitte dich, mich zu begleiten.«

Er war natürlich dazu bereit, nachdem er vorher in Betreff des zu errichtenden Lagers einige notwendige Anordnungen gegeben hatte. Krüger-Bei, Winnetou und Emery gingen mit. Unterwegs erkundigte ich mich noch bei ihm:

»Ging nicht aus deinen Worten vorhin hervor, daß du nicht an einen Selbstmord glaubst?«

»Ich zweifle allerdings an demselben, weil es mir unmöglich erscheint, daß der ›Vater der zwölf Zehen‹ so lebensüberdrüssig gewesen ist, daß er sich selbst den Tod gegeben hat. Und sodann ist der Kolarasi ein Mensch, dem man alles zutrauen kann. Er bewachte den Fremden förmlich; es war ganz so, als ob derselbe sein Gefangener sei.«

Als wir während dieses Gespräches den großen Teil der Schlucht durchschritten hatten, zeigte uns der Scheik die Stelle, an welcher sich das Grab befand. Von einem Grabe im eigentlichen Sinne war freilich keine Rede; es bestand nicht aus einer Grube, sondern aus einem Steinhaufen, mit welchem die Leiche zugedeckt worden war. Melton hatte sich die Arbeit leicht gemacht. Der Steinhaufen war nicht hoch; wir hatten ihn in einigen Minuten entfernt. Da lag der Tote. Sein Anblick machte den Eindruck, den ich erwartet hatte.

»Heavens!« rief Emery aus. »Welch eine Ähnlichkeit!«

»Uff!« meinte Winnetou, ohne aber noch ein Wort hinzuzufügen.

»Maschallah, Gottes Wunder!« ließ sich der Herr der Heerscharen vernehmen. »Das ist ja der Mann, den du von Tunis mitgenommen hast!«

»Du findest die Ähnlichkeit also groß?«

»So groß, wie ich sie niemals für möglich gehalten hätte!«

»Sie ist es ja, welche das Gelingen des Planes dieser Menschen allein möglich machen konnte! Durchsuchen wir zunächst die Kleider sehr genau!«

Ich hatte schon manchen Toten gesehen; dieser aber machte einen ganz besondern Eindruck auf mich, und nicht etwa allein infolge der Umstände, die ihm das Leben gekostet hatten, sondern auch wegen des Ausdruckes, den sein Gesicht zeigte. Es lächelte so friedlich, ich möchte sagen, so selig, als ob er schlafe und ein glücklicher Traum durch seine Seele gehe. Er sah so wenig wie ein Toter aus, daß ich mich wirklich erst mit den Händen überzeugen mußte, um zu glauben, daß er nicht mehr lebe.

In seinen Kleidern und Taschen fand sich nicht der geringste Gegenstand. Aber bei der Untersuchung derselben fiel mir auf, daß seine linke Hand verbunden war.

»Was ist das?« fragte ich den Scheik. »Weißt du vielleicht, weshalb er den Verband angelegt hat?«

»Natürlich weiß ich es. Er ist verwundet worden von einer Kugel. Als wir eure Reiter umzingelten, geschah dies so schnell und vollständig, und der Kolarasi dachte so wenig an eine Verteidigung, daß von unserer Seite nur ein einziger Schuß gefallen ist. Und die Kugel hat den Fremden getroffen, der gar nicht unser Feind war, sondern nur hierher gelockt worden ist. Sie hat ihm das vordere Glied des linken Daumens halb weggerissen, sodaß es vollends mit dem Messer entfernt werden mußte.«

»Ah? Das muß ich sehen.«

Ich wickelte die Binde, welche aus dem Stück eines Kopftuches bestand, ab und überzeugte mich, daß allerdings die Spitze des Daumens fehlte. Da trat Winnetou näher heran, besah sich die Wunde und sagte:

»Mein Bruder mag nun das Herz entblößen!«

Ich that es. Ja, gerade da, wo das Herz lag, war die Revolverkugel eingedrungen; sie hatte schnelle und auch saubere Arbeit gemacht, denn die Wunde und ihre Umgebung war so rein, als ob sie abgewaschen worden wäre. Auch an der Kleidung war kein Blutflecken zu sehen.

Winnetou legte den Finger auf die Stelle, wo die Kugel eingedrungen war, drückte einigemal darauf und meinte dann:

»Wird mir mein Bruder Scharlieh erlauben, die Kugel und ihren Weg zu suchen?«

»Natürlich! Komm her!«

Ich machte ihm an der Leiche Platz; er zog sein Messer und begann die traurige Arbeit, vor welcher ich mich zwar gescheut, die ich aber doch auch vorgenommen hätte. Nämlich ich wußte, was er dachte; ich hatte denselben Gedanken wie er. Es sollte Selbstmord vorliegen; dieser hätte nur mit der Rechten vorgenommen werden können, da es dem jetzt Toten unmöglich gewesen wäre, mit der verletzten und verbundenen linken Hand zu schießen. Es kam also darauf an, welcher Richtung die Kugel im Körper gefolgt war, woraus sich dann schließen ließ, ob ein Schuß mit der rechten Hand als Thatsache angenommen werden könne.

Winnetou war ein erfahrener und außerordentlich geschickter Chirurg. Er operierte mit seinem langen, starken und scheinbar ungefügen Bowiemesser so zart, so vorsichtig, wie ein studierter Arzt es mit den feinsten Instrumenten nicht besser hätte machen können. Das ging freilich langsam; erst nach einer halben Stunde kannten wir den Weg, den die Kugel eingeschlagen hatte; sie saß hinten an der letzten rechten wahren Rippe. Der etwas abwärts gehende Schuß konnte also unmöglich mit der rechten Hand abgegeben worden sein. Der Apatsche richtete sich auf, hielt uns seine Hand mit der Kugel entgegen und sagte nur das eine Wort:

»Mord!«

»Well!« stimmte Emery bei. »Hier liegt kein Selbstmord vor. Eine solche Richtung nimmt die Kugel nur, wenn mit der linken Hand geschossen wird, und mit dieser hat Small Hunter unmöglich schießen können.«

»Also ist Melton der Mörder!« fügte ich hinzu. »Das habe ich sogleich gedacht, und ihr seid wohl alle derselben Meinung gewesen. Es ist eine traurige Arbeit, der wir uns hier zu unterziehen haben. Es schaudert mich; aber wir dürfen uns ihr nicht entziehen. Es muß unbedingt festgestellt werden, wer der Tote ist. Ziehen wir ihm die Schuhe aus; wir müssen die Zehen sehen!«

Dies geschah. Ja, er hatte an jedem Fuße sechs, anstatt einer kleinen deren zwei, die beide ganz richtig ausgebildet waren, nur daß der zweiten der Nagel fehlte. Sonst fanden wir am ganzen Körper nichts, kein Mal, kein sonstiges Zeichen, welches zur Feststellung der Persönlichkeit hätte dienen können.

Damit hatten wir unserer Pflicht nach ihrer, sozusagen kriminellen Seite hin genügt; es galt nun, den Toten zu begraben, was mit größerer Sorgfalt geschah, als Melton es gethan hatte. Wir gaben den aufgeschichteten Steinen die Gestalt eines Kreuzes und beteten dann leise für das ewige Heil des Toten, der so ohne alle Vorbereitung aus dem 1 eben geschieden war.

Dann aber drang der Scheik sofort darauf, daß wir uns reinigen mußten. Es geschah dies in der Weise, daß wir uns Hände und Gesicht mit Sand wuschen, wobei er mit leiser Stimme einige kurze Gebete murmelte. Dann sagte er:

»Nun seid ihr wieder rein, und niemand braucht sich zu scheuen, euch zu berühren. Kehren wir jetzt nach dem Lager zurück!«

»Warte noch!« bat ich. »Der Ort und das Grab liegt auf dem Gebiete, welches den Uled Ayars gehört, deren oberster Scheik du bist. Kannst du uns versprechen, daß die Stätte von euch geachtet und nicht beschädigt wird?«

»Ich schwöre es euch bei Allah und dem Propheten zu! Doch warum bist du so besorgt um das Grab eines Mannes, der für dich ein Fremder gewesen ist?«

»Weil es möglich ist, daß es später noch einmal geöffnet werden muß. Ihr vergegenwärtigt euch doch alles, was ihr hier gesehen habt?«

»Ja.«

»Wir müssen eine Schrift darüber aufsetzen, welche drüben in Amerika gerichtliche Geltung hat. Du als Scheik des Stammes, welchem der Ort gehört, mußt sie unterschreiben, wir als Zeugen auch, und wenn der Herr der Heerscharen seinen Namen daruntersetzt, so ist alles geschehen, was unter den hiesigen und gegenwärtigen Verhältnissen geschehen kann. Für jetzt aber muß ich dich, Mubir Ben Safa, bitten, mir eine wichtige Frage zu beantworten: Wo sind die Sachen, welche diesem Toten gehörten?«

»Sein Pferd befindet sich mit bei unsern Pferden. Seine Waffen hatte der Kolarasi zu sich genommen; aber als er selbst gebunden in seinem Zelte lag, habe ich sie mir holen lassen. Ich werde sie euch zeigen, und ihr könnt sie haben.«

»Und das sonstige Eigentum? Der Tote hat doch jedenfalls noch viele andere Gegenstände besessen, wie Ringe, eine Uhr, verschiedene Dinge, welche zu einer Reise hierher notwendig waren, vor allen Dingen seine Beglaubigungen. An der Leiche aber haben wir nichts von alledem gefunden. Natürlich hat der Kolarasi ihm die Sachen auch alle abgenommen?«

»Das weiß ich nicht!«

»Nicht? fragte ich erstaunt, ja fast betroffen. »Du mußt es doch wissen. Du hast ihm doch jedenfalls alles abgenommen, was er bei sich hatte?«

»Seine Waffen habe ich, denn er ist jetzt gefangen und darf sie also nicht besitzen, aber was sich in seinen Taschen befand, ist ihm geblieben. Ich habe streng verboten, ihm irgend etwas davon zu nehmen.«

»Warum?«

»Infolge der Übereinkunft, welche ich mit ihm abschloß, ehe er sich uns ergab. Ich mußte versprechen, daß sein Eigentum nicht angetastet werde.«

»So hat er auch alles, was dem Toten gehörte, noch bei sich stecken?«

»Jedenfalls, denn ich bin überzeugt, daß keiner meiner Krieger sich daran vergriffen hat.«

»Gut, werde nachsehen! Gehen wir!«

»Ja, gehen wir! Was ihr mit dem Kolarasi und seinem Eigentume macht, kann mich nicht kümmern; ich habe ihm nur mein Versprechen zu halten, und dabei war nicht gesagt, daß ich ihn gegen euch in Schutz nehmen soll. Seit ich ihn euch vorhin ausgeliefert habe, könnt ihr mit ihm machen, was ihr wollt, und ich habe nicht mehr mit ihm zu sprechen oder zu verkehren.«

Nach diesen Worten handelte er. Als wir aus der Schlucht kamen und das Lager erreichten, trennte er sich von uns. Es konnte uns gar nicht auffallen, daß er nicht Lust hatte, sich vor einem Manne sehen zu lassen, der sein Verbündeter gegen uns gewesen war. Krüger-Bei wurde von einigen militärischen Obliegenheiten in Anspruch genommen; wir übrigen drei suchten Melton auf. Er war streng gefesselt und außerdem an einen in die Erde gerannten Pfahl gebunden. Zwei Soldaten hielten bei ihm Wache. Er wendete, als er uns kommen sah, den Kopf zur Seite, zum Zeichen, daß er nichts von uns wissen wolle.

»Master Melton,« sagte ich, »wir kommen, um einige Fragen an Euch zu richten. Ich denke, Ihr werdet so klug sein, sie uns zu beantworten.«

Er sagte nichts, sah uns auch nicht an. Ich fuhr fort:

»Die erste Frage ist: Wer war der Fremde, der sich von Tunis bis hierher bei Euch befand?«

Er antwortete nicht. Da gebot ich einem der Soldaten:

»Hole den Bastonnadschi! Er mag dem Manne die verlorene Sprache wiedergeben.«

Da wendete Melton sein Gesicht schnell herum und schrie mich an:

»Wage es nicht, mich schlagen zu lassen! Ich bin nicht so ohnmächtig, wie du denkst! Heute mir und morgen dir! Merke dir das!«

»Pshaw, macht Euch doch nicht lächerlich! Es sollte Euch wohl schwer werden, die Macht zu entfalten, mit welcher Ihr mir droht. Übrigens, habt Ihr Euch den Mann schon angesehen, welcher da neben mir steht?«

Er stieß einen häßlichen Fluch aus.

»Jedenfalls habt Ihr von Winnetou, dem Häuptling der Apatschen, gehört?« fuhr ich fort.

Er wiederholte seinen Fluch.

»Daß wir beide uns bei Euch befinden, mag Euch an die Rechnung erinnern, welche Ihr drüben in den Staaten noch auszugleichen habt. Von ihr sprechen wir wohl später; jetzt aber ersuche ich Euch allen Ernstes, unsere Fragen zu beantworten. Seht, da kommt der Bastonnadschi mit seinen Gehilfen! Ich gebe Euch mein Wort, daß Euch jede Weigerung, zu sprechen, auf jede nackte Sohle zehn Hiebe eintragen wird. Also, wer war der Fremde, nach welchem ich soeben fragte?«

Er warf einen langen Blick in mein Gesicht, als ob er alle meine Gedanken erraten und durchschauen wolle, und antwortete dann:

»Was habt Ihr denn nach diesem Manne zu fragen!«

»Ich interessiere mich für ihn.«

»Fangen wollt Ihr mich, fangen! Ich kenne Euch! Wer weiß, was für Absichten und Pläne Ihr jetzt in Euerm Schädel stecken habt!«

»Das will ich Euch gern sagen. ich habe die feste Absicht, Euch peitschen zu lassen, wenn Ihr nicht endlich antwortet. Also, wer ist der Fremde?«

Der Bastonnadschi stand meines Winkes gewärtig; darum zog Melton es doch vor, zu antworten:

»Er ist mein Sohn.«

»Euer Sohn? Ah! Das ist doch sonderbar! Habt Ihr ihn bei den Uled Ayars nicht als Euern Freund ausgegeben?«

»Ist ein Sohn kein Freund? Mußten die Wilden alles wissen?«

»Hm! Es kommt allerdings ganz auf Euch an, wie Ihr Euern Sohn nennen wollt. Aber er ist plötzlich fort. Wo steckt er jetzt?«

»Verstellt Euch nicht! Ihr wißt es doch, daß er gestorben ist. Die Beduinen werden es Euch gesagt haben.«

»Wie aber ist Euer Sohn denn auf den unglücklichen Gedanken gekommen, sich das Leben zu nehmen?«

»Melancholie, Lebensüberdruß!«

»Und dieses Selbstmordes wegen kommt Euer Sohn von Amerika herüber nach Tunis? Er hat Euch den Gefallen thun wollen, dabei zu sein? Da scheint es, er hat eine ungeheuer zärtliche Liebe zu Euch gehegt!«

»Spottet nur! Kann ich dafür, daß solche Melancholiker auf so dumme Gedanken kommen!«

»Ihr scheint Euch aber nicht viel daraus zu machen; wenigstens ist Euch keine Betrübnis anzusehen. Aber dennoch nehme ich Anteil an diesem traurigen Falle. Ich hörte, daß er sich in Eurer Gegenwart erschossen hat?«

»Ja, mit seinem Revolver.«

»Nicht mit dem Eurigen?«

»Laßt die dummen Witze! Ich habe keinen. Ein tunesischer Kolarasi führt keine Revolver.«

»Aber wie konnte Euer Sohn mit einem Revolver umgehen? Er war doch verwundet und konnte infolgedessen die Hand nicht brauchen!«

»Da Ihr so klug seid und alles wißt, werdet Ihr doch wohl auch wissen, daß nur seine linke Hand verletzt war.«

»Ach so! Hoffentlich habt Ihr den Toten beerbt?«

Wieder sah er mich forschend an, um zu erraten, wo hinaus ich wolle, und als ich die Frage wiederholt hatte, antwortete er:

»Selbstverständlich, wenn Ihr nämlich meint, daß ich alles, was mein Sohn bei sich trug, zu mir genommen habe.«

»Das freut mich ungemein, denn ich möchte den Nachlaß gern einmal sehen. Da Ihr verhindert seid, in die Taschen zu greifen, werde ich Euch der Mühe entheben, indem ich es an Eurer Stelle thue.«

»Thut es!«

Diese Worte waren in zornigem Tone gesprochen, und doch klang auch, wie mir schien, ein gut Teil Hohn und Schadenfreude heraus. Ich leerte seine Taschen und untersuchte seinen Anzug auf das genaueste. Es konnte mir nichts verborgen bleiben, und doch fand ich nur Gegenstände, welche, wie sich herausstellte, ihm gehörten; es war nichts dabei, was das Eigentum Small Hunters gewesen war.

»Was macht Ihr denn für ein Gesicht, wertester Sir?« lachte er mich aus. »Könntet Ihr Euch jetzt im Spiegel sehen, so würdet Ihr darauf schwören, der geistreichste Mensch der Erde zu sein. Und ich Esel habe Euch stets für den größten Dummkopf gehalten! Ihr seht, wie man sich irren kann!«

Er hatte mir die Enttäuschung, welche ich fühlte, angesehen; ich nahm mich zusammen und sagte in einem Tone, welchem er meinen Mißmut nicht anhören konnte:

»Das ist also alles, was Ihr besitzt und was Euer Sohn besessen hat?«

»Ja,« nickte er mit freundlichem Grinsen.

»So bedaure ich Euch und ihn! Ein tunesischer Kolarasi sollte doch kein so armer Teufel sein, und Euer Sohn scheint sich auch nicht viel erspart zu haben.«

»Erspart? Wo? Bei wem?«

»Bei Small Hunter.«

»All divers!« fuhr er auf. »Small Hunter! Was wißt Ihr von Small Hunter?«

»Daß er ein angenehmer junger Master ist, der sich das Vergnügen macht, den Orient kennen zu lernen.«

»Den Orient?«

»Ja. Und zwar reist er nicht allein, sondern hat einen Begleiter bei sich, welcher ein ebenso interessanter junger Mann ist. Wenn ich mich nicht irre, wird er Jonathan Melton genannt.«

»Ich verstehe nicht!«

»Es geht mir selbst fast so, daß ich mich nicht verstehe. Ich habe gemeint, daß die beiden, nämlich Small Hunter und Jonathan Melton, sich in Ägypten befinden, und nun erfahre ich hier zu meinem Erstaunen, daß der letztere hier gewesen ist und sich vor Euern Augen erschossen hat!«

Er musterte mich zum drittenmal mit einem seiner langen Blicke. Es schien ihm jetzt ein Licht aufzugehen, daß ich nicht zufällig hier sei, sondern mehr über seine Pläne wisse, als ihm lieb sein konnte.

»Könnt Ihr mir vielleicht eine Erklärung geben?« fragte ich.

»Denkt gefälligst selber nach!« stieß er hervor.

»Meint Ihr? Nun, ich will einmal Euern Rat befolgen. Indem ich dies thue und also nachdenke, komme ich auf die Euch jedenfalls sonderbar erscheinende Idee, daß Ihr Euch in der Person Eures Sohnes geirrt habt.«

»Ein Vater soll sich in der Person seines Sohnes irren!«

»Warum nicht? Nehmen wir zum Beispiel an, es liege eine große Ähnlichkeit vor. Das ist doch ein Fall, der nicht zu den Unmöglichkeiten gehört.«

Er horchte auf und brach dann ungestüm los:

»Verwünscht sei Euer Ziehen, Zerren und Dehnen! Ihr habt etwas auf dem Herzen! Ihr wollt mir irgend einen Hieb oder Stoß versetzen! Was zögert Ihr doch! Hervor damit!«

»Einen Hieb oder Stoß? Da irrt Ihr Euch. Ich spreche aus reiner Teilnahme zu Euch. Der beste Trost für Euch wäre nun freilich der Beweis, daß Ihr Euch vergeblich grämt, daß Euer Sohn nicht gestorben ist, sondern noch lebt.«

»Laßt mich mit Euern Romanen in Ruh'! Ich kann gar nicht begreifen, wie Ihr auf solche Gedanken kommt!«

»Wie? Auch das will ich Euch sagen. Wieviel Fußzehen hat wohl jeder Mensch?«

»Zehn natürlich!« grollte er heraus. »Ihr müßt wahrhaftig nicht recht im klaren sein, daß Ihr mir so dumme Fragen vorlegen könnt!«

Der Ton, in welchem er diese Worte aussprach, war mir ein sicherer Beweis, daß er den abweichenden Bau des Fußes bei Small Hunter nicht kannte. Darum fuhr ich weiter:

»Die Fragen sind gar nicht so verrückt, wie Ihr anzunehmen scheint. Es ist bekannt, daß Small Hunter an jedem Fuße sechs Zehen hat, oder vielmehr hatte.«

»Wie? Sechs Zehen?« fragte er ganz betroffen und indem er mich mit großen Augen ansah. Der Fall war ja von außerordentlicher Wichtigkeit für ihn.

»Ja, sechs an jedem Fuße! Und da er Euerm Jonathan so außerordentlich ähnlich sah und Ihr ihm nur ins Gesicht blicktet, aber nicht auf die Zehen, so habt Ihr Euch ganz unnützerweise über den Tod Eures Sohnes gehärmt. Ihr habt die Leiche selbst begraben. Ist es Euch denn dabei entgangen, daß sie zwölf Zehen hatte?«

Er stieß einen Fluch aus.

»Ja, sonderbar! Ihr habt nichts davon gewußt; den Uled Ayars aber ist dieser seltene Überfluß an Zehen recht wohl bekannt gewesen, denn sie haben den Toten unter sich nicht anders als Abu tnasch Sabi, ›Vater der zwölf Zehen‹, genannt.«

Er drängte die Ausrufe des Erstaunens, des Zornes, welche ihm auf den Lippen schwebten, zurück und machte seinen Gefühlen nur durch ein Kopfschütteln Luft.

»Und nicht nur in dem Manne selbst habt Ihr Euch geirrt,« fuhr ich fort, »sondern auch in Beziehung auf den Tod, den er gestorben ist. Es liegt nämlich ganz bestimmt kein Selbstmord vor. Wir haben die Leiche ausgegraben und seciert. Die Kugel ist von links nach rechts unten durch das Herz gegangen und an der siebenten Rippe, da wo diese am Wirbel sitzt, stecken geblieben. Einen solchen Schuß kann ein Selbstmörder nicht mit der Rechten, sondern nur mit der Linken gethan haben. Die linke Hand des Toten war aber in der Weise verletzt, daß er mit derselben keinen Revolver zu handhaben vermochte; folglich hat er sich nicht selbst getötet, sondern er ist von einem andern getötet, also ermordet worden.«

»Wer sollte ihn denn ermordet haben?«

»Der, welcher im betreffenden Augenblick bei ihm war.«

»Das war ich!«

»Ihr? Hm, Master Melton, das wirft freilich kein gutes Licht auf Euch!«

»Unsinn! Meint Ihr wirklich, daß ich im stande bin, meinen Sohn, meinen einzigen Sohn zu töten?«

»Er war nicht Euer Sohn!«

»Aber ich habe ihn dafür gehalten!«

»Habt Ihr? Wirklich? Vielleicht irrt Ihr Euch auch da! Aber selbst wenn es so wäre, würde ich Euch, da ich Euch kenne, unbedenklich auch einen Kindsmord zutrauen. Jedoch ihr erklärt mit sehr glaubhafter Miene, es nicht gethan zu haben, und da muß ich mich also nach einem andern umschauen, der es gewesen sein kann. Ich denke da an den Schreiber eines Briefes, welcher aus Tunis nach Ägypten gegangen ist. In diesem Briefe wurde Small Hunter angeblich von seinem Freunde, dem Advokaten Fred Murphy, eingeladen, nach Tunis zu kommen. Wißt Ihr vielleicht etwas von diesem Briefe?«

»Nein, nein, nein!« brüllte er mich förmlich an, vor Grimm und vor Verlegenheit.

»Oder kennt Ihr einen Juden Namens Musah Babuam, an welchen gewisse Schriftstücke adressiert werden sollten?«

»Nein, nein!«

»Oder den Pferdehändler Bu Marama im Dorfe Zaghuan, bei dem Euer Sohn bis zu Eurer Rückkehr heimlich logieren soll?«

Er bäumte sich unter seinen Fesseln auf, fiel aber wieder zurück und rief mir, vor Wut schäumend, zu:

»Du stehst mit allen Teufeln im Bunde! Du ersinnst dir Lüge über Lüge, nur um mich zu quälen; aber ich werde dir nicht länger Rede stehen und nicht mehr antworten, und wenn du mich totpeitschen lassen solltest! Geh in die Hölle, wohin du gehörst!«

Jetzt endlich hatte er eingesehen, daß ich alles wußte. Um ihm noch vollere Klarheit zu geben, ging ich, seinen Sohn zu holen, der sich gut bewacht bei unsern Truppen befand und seinen Vater noch nicht gesehen hatte. Ich band ihm die Füße los, so daß er gehen konnte, und führte ihn nach der Stelle, an welcher sein Vater auf der Erde lag. Ich war überzeugt, daß die Überraschung beide zu unvorsichtigen Äußerungen bringen werde, hatte mich aber darin getäuscht, denn als sie einander erblickten, sprach keiner von ihnen ein Wort, gerade als ob sie es so verabredet hätten.

Jonathan Melton, der Sohn, hatte sich natürlich sagen können, daß man ihn seinem Vater gegenüberstellen werde, und also vollständig Zeit gehabt, sich das dabei zu beobachtende Benehmen zurechtzulegen. Er hatte für Small Hunter gelten wollen; auch sein Vater hegte die Absicht, ihn für diesen auszugeben, und er war entschlossen, bei dieser Rolle so lange wie möglich zu bleiben. Zwar hatte er von mir erfahren, daß er und sein Plan durchschaut worden waren, doch hielt er es für besser, bei der Lüge zu bleiben, als ein Geständnis abzulegen. Und was Thomas Melton, den Vater betraf, so war dieser zu erfahren, zu hart gesotten und für alle Sättel so gerecht, daß er nicht durch die Überraschung zu einer Unvorsichtigkeit verleitet werden konnte, zumal er sich nach dem Gespräch mit mir recht gut sagen mochte, daß ich auf irgend eine Art zu seinem Söhne in Beziehung stehen mußte, weil ich über Dinge unterrichtet war, die ich nur von diesem erfahren haben konnte.

Also sie sahen sich erstaunt an, sagten aber dabei kein Wort.

»Nun, kennt ihr euch?« fragte ich.

»Natürlich kennen wir uns,« antwortete Thomas Melton, indem sein geschwollenes Gesicht sich zu einem triumphierenden Grinsen verzerrte.

»So? Das ist gut! Also sagt mir doch einmal, wer ist dieser junge Mann?«

»Das ist Small Hunter, mit welchem mein Sohn einige Zeit gereist ist.«

»Schön! Und Ihr, junger Mann, sagt mir nun, wer dieser Gefangene ist!«

»Das ist Thomas Melton, der Vater meines früheren Reisebegleiters,« antwortete der Gefragte.

»Das habt ihr beide sehr gut gemacht! Vom Standpunkte der Schurkerei muß ich euch das lobendste Zeugnis ausstellen. Nur schade, daß ich hier dieses besitze. Der Inhalt wirft eure ganze List und Festigkeit über den Haufen.«

»Was ist's?« fragte der Alte.

Ich hatte das Portefeuille des Jungen aus der Tasche genommen und vorgezeigt und antwortete:

»Das werdet Ihr schon noch erfahren, Thomas Melton. Und alles, was Ihr Euch von Small Hunter angeeignet habt, werde ich Euch bald zeigen.«

»Zeigt es doch!« lachte er.

»Ich finde es noch!«

»So sucht, soviel und wo Ihr wollt! Mich aber laßt nun endlich mal in Ruhe mit diesen Euern Dummheiten!«

Er drehte sich um, und ich sah ein, daß es allerdings Zeit war, abzubrechen. Aber zusammenlassen durfte ich die beiden nicht, da sie sich sonst ganz gemütlich hätten besprechen können; der junge Melton wurde wieder fortgeführt.


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