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Es war drei Wochen später, als wir uns mitten in den Bergen des jetzigen Albanybezirkes im Südosten von Wyoming befanden. Im Norden von uns hob sich der Conical Peak und hinter ihm das Squawgebirge empor und weiter entfernt lagen die dunklen Massen des Rees- und Laramie-Peaks. Links von uns sahen wir die Höhen der Jelm- und der Sheepkette am fernen Horizont verschwinden, während rechts davon die Elk-Mountains mit einem leisen, kaum wahrnehmbaren Striche angedeutet wurden. Wir befanden uns also auf der weiten, außerordentlich fruchtbaren Laramie-Ebene und hatten für heut den Lake Jone zum Ziele, an dessen Ufer wir übernachten wollten.
Um einen kurzen Blick zurückzuthun, will ich erwähnen, daß ich den in St. Joseph gekauften Anzug Frau Hiller zum Aufheben übergeben und sie beauftragt hatte, die für mich aus St. Louis eingehenden Honorargelder anzunehmen und zu quittieren. Unser Ritt bis hierher war ein sehr schneller und angestrengter gewesen, hatte uns aber kein besonderes Erlebnis gebracht. Mit Dr. Rost waren wir zufrieden. Er hatte sich trotz der Kleinheit und scheinbaren Schwächlichkeit seines Körpers als ausdauernder Reiter und aufmerksamer, dienstfertiger Kamerad bewiesen und uns durch seine große Höflichkeit manchen heimlichen Spaß gemacht. Wir wurden auch jetzt noch von ihm nur Mylords genannt und sehr häufig um die Erlaubnis gebeten, daß »eine innere Stimme ihm etwas sagen dürfe«. Wie er sich in gefährlichen Lagen, in denen es ganz anders aufzupassen gab als bisher, verhalten würde, das war noch abzuwarten, doch hoffte ich, auch dann nicht bereuen zu müssen, daß ich seinen Wunsch, uns begleiten zu dürfen, bei Winnetou befürwortet hatte. Bemerken will ich, daß er eine zwar kleine aber umsichtig zusammengesetzte Apotheke bei sich trug und auch eine Anzahl chirurgischer Instrumente mitgenommen hatte. Er nahm als möglich oder auch wahrscheinlich an, daß er in die Lage kommen werde, von ihnen einmal Gebrauch machen zu können.
Was unsern eigentlichen Zweck betrifft, die Schoschonen aufzusuchen, so mußten wir jedenfalls bis zum Schlangenflusse vordringen, um zu erfahren, wo sie jetzt zu treffen waren. Wir kannten zwar ihre Wohnsitze, welche oft aus wirklichen Dörfern mit ziemlich gut gebauten, hölzernen Häusern bestehen, ganz genau, mußten aber annehmen, daß infolge des bevorstehenden Krieges mit den Crows wenigstens ihre Krieger nicht dort, sondern anderswo zu finden seien.
Es war Nachmittag, und wir hatten bis zum Lake Jone ungefähr noch zwei Stunden zu reiten. Wir befanden uns in der Zeit des sogenannten indianischen Sommers, in Beziehung auf die Witterung eine wunderbare Jahresperiode, welche nur dem Westen eigen ist und sonst in keinem andern Lande, keiner andern Gegend der Erde vorkommt. Die Laramie-Plains liegen über zweitausend Meter hoch, und doch gab es eine so linde, warme Luft hier oben, wie man sie anderswo in derselben Höhe nur im Sommer findet. Und dabei war sie so rein und klar, daß man auf der weiten Ebene in eine Unendlichkeit sehen zu können glaubte.
Diese Ebene war da, wo wir uns befanden, mit ziemlich hohem Grase bewachsen, ein Umstand, welcher uns eine Fährte, welche von rechts her in einem sehr spitzen Winkel auf uns stieß, schon von weitem deutlich bemerkbar machte. Als wir sie erreichten, hielten wir an, um sie zu betrachten. Rost sagte, um zu beweisen, daß er kein für uns ganz unnützer Begleiter sei:
»Das sind keine wilden Tiere gewesen. Gestattet mir, Mylords, daß mir eine innere Stimme sagt, es sind hier Menschen geritten! Man sieht die Pferdestapfen ganz genau.«
»Well! Wieviel Reiter waren es?« fragte ich lächelnd.
»Wieviel? Das kann kein Mensch sagen.«
»So sind wir, nämlich Winnetou und ich, keine Menschen!«
»Warum? Könnt ihr vielleicht diese Zahl angeben?«
»Ja.«
»Das wäre ein Kunststück, auf welches ich mich nicht verstehe.«
»Glaube es! Wartet nur einen Augenblick, so wird er Euch gleich Bescheid sagen!«
Winnetou war nämlich abgestiegen, um die Spuren zu zählen. Nun schwang er sich wieder in den Sattel und sagte in seiner kurzen Weise:
»Fünf Weiße – – – Uff!«
Daß er eine Pause vor dem Uff machte, ließ mich vermuten, daß die Fährte ihm Stoff zum Nachdenken gab. Da er aber weiter ritt, ohne etwas hinzuzufügen, war ich still, betrachtete aber die Fährte nun schärfer, als ich es sonst wohl gethan hätte.
Wir folgten ihr, erstens weil sie mit unserm Wege dieselbe Richtung hatte und weil man zweitens im wilden Westen keine Spur mit Gleichgültigkeit behandeln darf, denn es ist möglich, daß sie von Menschen stammt, welche eine feindliche Absicht haben. Nach einer Weile sah man, daß zwei von den fünf Reitern angehalten hatten und abgestiegen waren. Die Eindrücke ihrer Füße entfernten sich nicht von der Spur; sie waren ihr gefolgt, und dann sah man einen Eindruck, welcher nicht durch einen Fuß verursacht worden war. Als ich mein Pferd einen Augenblick anhielt, um das zu betrachten, fragte Rost:
»Giebt es hier etwas zu sehen, Mr. Shatterhand?«
»Ja, und zwar etwas sehr Wichtiges.«
»Was?«
»Zwei von diesen fünf Reitern haben die Fährte der andern drei untersucht, und einer von ihnen ist dabei niedergekniet.«
»Wozu? Ich ersehe keinen Grund. Wenn sie etwas wissen wollten, brauchten sie die andern doch nur zu fragen!«
»Das konnten sie nicht.«
»Warum?«
»Weil sie nicht bei ihnen waren.«
»Was? Wie? Die zwei sind nicht bei den drei gewesen? Die fünf sind also nicht zusammengeritten?«
»Nein.«
Winnetou, der Schweigsame, warf mir einen beistimmenden Blick zu, um mir ohne überflüssige Worte anzudeuten, daß ich jetzt wußte, warum diese Fährte ihm bedenklich vorgekommen war. Rost fragte weiter:
»Wie könnt Ihr das so genau wissen, Mylord? Ich bin zwar imstande, den Kaputzenmuskel vom rautenförmigen Muskel zu unterscheiden, aber hier wußte ich mir keinen Rat.«
»Man braucht nur nachzudenken, und Ihr habt das Rätsel ja auch schon gelöst: Eben weil die zwei, wenn sie etwas wissen wollten, die andern drei nur zu fragen brauchten, hätten sie es gar nicht nötig gehabt, anzuhalten, abzusteigen und deren Spuren zu untersuchen. Daß sie dies aber doch gethan haben, ist eben der Beweis, daß sie gar nicht bei ihnen gewesen, sondern hinter ihnen hergeritten sind. Seht Euch die Fährte einmal genau an! Hier links zum Beispiele hat sich das Gras beinahe schon wieder aufgerichtet, während es da rechts noch vollständig niederliegt. Diese Stapfen sind also jünger als jene. Ich schätze die links auf fünf, die rechts aber bloß auf drei Stunden; nach dieser Angabe sind die zwei Reiter also zwei Stunden später hier gewesen als die drei.«
»Da Ihr mich darauf aufmerksam gemacht habt, sehe ich diesen Unterschied im Grase nun freilich auch. Ich werde mir dieses Zeichen merken, um vorkommenden Falles auch sagen zu können, wie alt eine Fährte ist!«
Ich mußte lächeln. Er sah das und fragte mich also:
»Ihr lacht, Mylord? Warum?«
»Weil diese Bestimmung nicht so leicht ist, wie Ihr zu denken scheint, Mr. Rost.«
»Nicht so leicht? Hm! Man braucht doch nur das Gras anzusehen!«
»Pshaw! Wenn es sich nur um den Zustand der Halme handelte, wäre die Sache allerdings ziemlich leicht; aber es sind da noch ganz andere Dinge in Betracht zu ziehen.«
»Welche?«
»Vor allen Dingen die Witterung. Hat es geregnet, oder schien die Sonne? Woher wehte der Wind? War er stark oder schwach, trocken oder feucht? Sodann muß man sehen, welche Art von Gras es ist, ob es sich leicht oder schwer aufrichtet, worauf seine Länge oder Kürze, die Dicke der Halme, sein Alter, also seine Elastizität, seine größere oder geringere Brüchigkeit großen Einfluß hat.«
»Haltet auf, Mylord! Das ist ja eine ganze Menge von Dingen, die man dabei zu berechnen hat!«
»Oh, das ist noch nicht alles!«
»Was noch?«
»Wie groß war die Last, welche auf das Gras drückte, und wie lange währte dieser Druck? Die Spuren eines ledigen und eines berittenen Pferdes sind von verschiedener Deutlichkeit und Schärfe, weil eben die Last verschieden ist; sodann können die Eindrücke beim schnellen Gehen oder Reiten flüchtiger, also weniger deutlich, in andern Fällen aber ganz im Gegenteile ausgesprochener und kräftiger sein als beim langsamern Gange. Beim langsameren Reiten oder Gehen ruht der Fuß oder der Huf länger auf der betreffenden Stelle als beim schnellen; aber man hat dagegen sehr zu berücksichtigen, daß mit der Schnelligkeit auch die Kraft des Druckes wächst. Ein galoppierendes Pferd tritt mit ganz anderer Stärke auf als ein langsam schreitendes; es haut förmlich auf, und da es dabei aber mit der vordern Schärfe der Hufe fester auf- und tiefer tritt als mit dem hintern Teile derselben, läßt sich seine Gangart noch lange Zeit nach der Gestalt der Spuren unterscheiden und bestimmen. Ich könnte noch mehr sagen, was man alles zu berücksichtigen hat.«
»Es ist genug, vollständig genug für mich, Mylord! Ich sehe ein, daß die Sache doch größere Schwierigkeit besitzt, als ich dachte, und glaube nicht, daß ich es so bald und so leicht lernen werde.«
»Ja, das richtige Spurenlesen im Wildwest ist eine Wissenschaft, gradezu eine Wissenschaft, über die es freilich keine Lehrbücher und auch keine Lehrstühle giebt. Nicht jeder Mensch besitzt die Gabe, es in diesem Studium zu guten Erfolgen zu bringen. Wem sie versagt ist, der mag daheim bleiben, wenn er nicht zu Grunde gehen will, denn es kommt sehr häufig vor und ist auch mir hundertmal passiert, daß von der richtigen Beurteilung einer Fährte sehr viel abhängt, vielleicht sogar das Leben.«
»Doch nicht etwa hier von dieser auch?«
»Das kann man jetzt noch nicht wissen. Die Reiter waren Weiße; wir haben es also nicht mit Indianern zu thun, und das ist beruhigend. Aber es giebt auch Weiße, welche mehr zu fürchten sind als feindliche Indsmen, und so haben wir jetzt noch gar keinen Grund, die hier stets nötige Vorsicht in den Wind zu schlagen. Es sind hier vor fünf Stunden drei Bleichgesichter geritten; zwei Stunden später kamen zwei andere hinterher. Diese fünf bilden eine Gesellschaft; sie gehören unbedingt zusammen, und so fragt es sich, warum die zwei nicht mit den drei geritten, sondern von ihnen getrennt gewesen sind.«
»Hm! Mich dürft Ihr da nicht fragen; ich weiß es nicht! Aber wie könnt Ihr so bestimmt behaupten, daß die fünf zusammengehören?«
»Ich ersehe das aus dem Umstande, daß die hinterher Kommenden die Fährte der voran Reitenden so genau betrachtet haben.«
»Sonderbar! Ich würde daraus grad das Gegenteil schließen.«
»Wieso?«
»Mir würde eine innere Stimme sagen: Grad weil sie die Spur so angesehen haben, wußten sie nicht, wer die waren, die sie vor sich hatten.«
»Das beweist weiter nichts, als daß Ihr kein Westmann seid. Wenn man auf eine fremde Fährte stößt, so liest man sie und folgt ihr dann so lange, als sie keine Veränderung bietet oder es keinen sonstigen Grund zum Aufenthalte giebt. Die zwei Reiter aber sind abgestiegen und haben sich mit der Spur an einer Stelle beschäftigt, wo sie nicht den geringsten Grund zu dieser besondern Aufmerksamkeit bot, sondern ganz genau dieselbe war wie vorher. Sie haben also nicht nach etwas suchen wollen, was sie noch nicht wußten, sondern sich nur noch einmal überzeugen wollen, daß es die Fährte sei, der sie zu folgen hatten. Die Spuren, und folglich auch die drei Reiter, waren ihnen also bekannt. Wahrscheinlich wollten sie auch bloß wissen, wie groß die Entfernung zwischen diesen und ihnen war. Dieser Umstand bringt mich natürlich auf eine weitere Frage, welche für uns höchst wichtig werden kann.«
»Natürlich? Ich finde keine Frage, am allerwenigsten eine, die aus dem, was Ihr gesagt habt, so natürlich zu folgen hat!«
»Davon bin ich überzeugt! Es ist die Frage: Wollen die zwei die drei einholen, oder wollen sie das nicht?«
»Natürlich wollen sie es, da sie doch zu ihnen gehören!«
»Das ist nicht mit solcher Festigkeit hinzustellen. Wenn ich von ihrer Zusammengehörigkeit gesprochen habe, so ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß diese sich nicht auf den heutigen Tag, sondern auf eine spätere Zeit, auf ein entferntes Ziel bezieht.«
»Das ist mir zu verwickelt! Ich kann zwar den Kaputzenmuskel ganz gut von – –«
»Von dem rautenförmigen Muskel unterscheiden,« unterbrach ich ihn. »Aber für die jetzige – –«
»Entschuldigung, Mylord!« fiel er mir schnell in die Rede. »Ich hatte dieses Mal nicht den rautenförmigen, sondern den großen, vorderen, gekerbten gemeint; sie gehören aber alle drei zu der Muskelgruppe der Schulter und des Schlüsselbeines. Ich habe zu ihnen nur noch den Aufheber, der auch der geduldige genannt wird, den kleinen, vorderen und gekerbten und den musculus subclaveus zu fügen.«
»Gut, fügt diese drei noch hinzu, so werden es sechs! Wir können aber alle diese Muskeln ruhig an der Schulter und dem Schlüsselbeine sitzen lassen und wollen uns lieber mit der Fährte beschäftigen, welche uns doch wichtiger ist!«
»Well, Mylord! Ich folge Euren Worten mit größter Aufmerksamkeit, denn diese Spur ist auf unserm ganzen bisherigen Ritte die erste, welche Eure Aufmerksamkeit so sehr in Anspruch nimmt.«
»Mich beschäftigen jetzt vor allen Dingen die beiden Fragen: Warum sind die zwei Reiter zurückgeblieben? und: Wollen sie die drei einholen oder nicht? Der Zweck des Rittes ist bei beiden Trupps jedenfalls derselbe; aber die beiden Zurückgebliebenen scheinen dabei irgend eine Absicht zu verfolgen, welche geheim bleiben soll; sie haben sich separiert, um über diese Absicht ungestört und unbelauscht reden zu können. Unter den Verhältnissen, welche hier im wilden Westen herrschen, kann man aber bei neunzig unter hundert Fällen annehmen, daß eine so sorgfältig geheimgehaltene Absicht keine gute, sondern eine schlechte ist. Die drei Reiter haben sich also vor den zwei in acht zu nehmen. Das ist es, was mir diese Spuren sagen.«
»Mylord, Euer Scharfsinn ist bewundernswert! Ich muß gestehen, daß ich auf diese Gedanken und Schlüsse nie gekommen wäre!«
»Pshaw! Es ist nicht bloß der Scharfsinn, der mich auf sie bringt, sondern noch etwas anderes, wofür es aber keinen treffenden Ausdruck giebt. Der Westmann eignet sich nämlich nach und nach einen, ich will sagen, sechsten Sinn an, auf den er sich ebenso wie auf die fünf eigentlichen Sinne verlassen kann. Es ist das eine Art geistigen Sehens oder Hörens, eine geheimnisvolle Art der Wahrnehmung, welche nicht von Licht- oder Schallwellen abhängig ist. Man möchte ihn den Ahnungs- oder den Vermutungssinn nennen, wenn Vermutungen und Ahnungen nicht etwas so Unbestimmtes wären, denn dieser sechste Sinn trifft das Richtige mit ganz derselben Sicherheit, wie das Auge einen vor ihm stehenden Gegenstand erfaßt. Der Westmann hat sich diesen Sinn ganz in derselben Weise nach und nach anzuüben, wie das Kind auch erst durch lange Übung die Fertigkeit gewinnt, sich seiner Sinne zu bedienen; dann aber, wenn man ihn einmal besitzt, kann man sich auf ihn ebenso fest wie auf das Auge oder das Ohr verlassen; ja, es kommt sogar nicht selten vor, daß er den Ausschlag giebt, wenn die Ergebnisse von Gesicht und Gehör einander widersprechen. Kein Mensch besitzt diesen Sinn in so hoher Schärfe und Entwickelung wie Winnetou. Ich bin doch gewiß kein Neuling, aber es hat Fälle gegeben, in denen selbst ich im höchsten Grade über die Sicherheit erstaunte, mit welcher er Dinge vorhersagte, auf welche ich mit all meinem Scharfsinn nicht gekommen wäre. Diese Ankündigungen sind dann stets so genau in Erfüllung gegangen, als ob er die betreffenden, in der Zukunft liegenden Verhältnisse ganz deutlich vor seinen Augen gehabt hätte. Wenn ich diesen Sinn nicht auch besäße, wäre ich da wohl zuweilen versucht gewesen, anzunehmen, daß er zu den Menschen gehöre, welche mit dem sogenannten ›zweiten Gesicht‹ begabt sind. Doch, Ihr seht, daß er uns weit vorangekommen ist. Wollen uns beeilen, ihn wieder einzuholen! Ich vermute, daß wir heute am Lake Jone nicht so unbeschäftigt sein werden, wie wir es an unsern bisherigen Lagerstätten gewesen sind.«
»Denkt Ihr etwa an eine Gefahr, Mylord?«
»Nein. Wer Winnetou, den Häuptling der Apatschen, bei sich hat, für den wird manches, was sonst gefährlich sein würde, vollständig unbedenklich. Wir werden eine interessante Unterhaltung à la Wildwest haben, weiter nichts. Kommt, Mr. Rost!«
Wir trieben unsere Pferde an, um Winnetou, der seinen schnellen Schritt beibehalten hatte und uns infolgedessen vorausgekommen war, wieder einzuholen; dann folgten wir der Spur, welche grad auf den Lake Jone zuführte, so lange, bis sie sich trennte. Drei Pferde waren in der bisherigen Richtung weiter gegangen, zwei nach der rechten Seite von ihr abgewichen. Winnetou ritt, ohne sich zu besinnen, auf der letzteren Fährte weiter. Das konnte sich Rost nicht erklären, weshalb er mich fragte:
»Warum reiten wir nicht geradeaus, Mr. Shatterhand? Diese neuen Eindrücke führen doch wohl nicht zum See, wohin wir wollen!«
»Sie führen hin,« antwortete ich.
»Wirklich? Sie gehen aber doch von der Richtung ab!«
»Nur einstweilen. Später werden beide Fährten wieder zusammenstoßen. Winnetou ist, sobald er sah, daß sie sich trennten, sofort mit seiner Berechnung fertig gewesen. Ahnt Ihr, was er vermutet?«
»Nein. Ich bin so ahnungslos wie ein Kind.«
»Beide Abteilungen wollen nach dem See; die zweite will sich aber von der ersten zunächst nicht sehen lassen, weil sie wahrscheinlich die Absicht hat, sie zu belauschen.«
»Hm! Ist der Apatsche denn allwissend?«
»Wenn er es wäre, würde ich es auch sein, weil ich ganz dasselbe denke. Der Erfolg wird zeigen, daß wir recht haben. Es kann kein anderer Grund zu dieser Trennung vorliegen.«
»Aber hätten wir da nicht auch wohl Veranlassung, die erste Abteilung zu belauschen?«
»Allerdings. Wichtiger aber ist es, zu erfahren, was die zweite für einen Grund hat, Personen, mit denen sie zusammengehören, heimlich auszuhorchen. Wir haben hier den Beweis, daß das, was ich vorhin von ihnen gesagt habe, wahr ist: sie haben etwas vor, was entweder alle ihre drei Kameraden oder wenigstens einer von diesen nicht wissen sollen. Wenn aber Leute, welche die Gefahren des Westens mit einander tragen sollen, Heimlichkeiten vor einander haben, so mangelt ihrem Verhältnisse die grad hier so notwendige Ehrlichkeit. Es ist vorauszusehen, daß wir mit diesen fünf Personen zusammentreffen, und darum ist es vor allen Dingen notwendig, hinter die Schliche der Heimlichthuer zu kommen. Wir reiten also zunächst ihnen nach, um ihnen, wenn es notwendig ist, auf die Finger zu klopfen. Auf den Pfaden, welche Winnetou und Old Shatterhand reiten, werden keine Niederträchtigkeiten geduldet!«
»So kann es wohl gar zu Feindseligkeiten zwischen ihnen und uns kommen?«
»Ja.«
»Das ist höchst interessant! Jetzt treue Ich mich darüber, daß wir auf diese Fährte getroffen sind!«
»Wahrscheinlich giebt es unter den drei Reitern auch jemand, der sich ebenso und noch mehr als Ihr darüber zu freuen hat. Wir werden das sehr bald erfahren, denn wir haben nur noch eine halbe Stunde zu reiten, bis wir den See erreichen.«
Diese Voraussagung bewahrheitete sich, denn die angegebene Zeit war noch nicht ganz verflossen, so sahen wir im Südwesten von uns einen dunklen Strich am Horizonte, der das Gehölz bedeutete, welches sich rund um den See herumzog. Anstatt der Fährte weiter zu folgen, wich Winnetou, noch weiter rechts ausbiegend, von ihr ab. Rost konnte den doch so naheliegenden Grund dazu nicht einsehen und fragte mich nach demselben. Ich bin auch kein Freund vom unnützen Sprechen und habe mich, so oft ich mit Winnetou allein war, stets ebenso schweigsam verhalten wie er; aber ein Neuling, der Rost doch war, muß unterrichtet werden, und da die Rolle des Belehrenden nun einmal mir zugefallen war, konnte ich mich derselben nicht entziehen und gab ihm also die gewünschte Auskunft, indem ich antwortete:
»Die drei sind so geritten, daß sie den See in seiner südlichen Gegend erreicht haben. Die zwei ritten weiter rechts, also nördlich, um an einer Stelle auf ihn zu treffen, wo sie von den dreien nicht gesehen werden können. Von da aus wollen sie sich an sie schleichen. Da wir sie nun ebenso belauschen wollen wie sie die anderen, dürfen sie uns auch nicht sehen. Darum gehen wir nun von ihrer Fährte ab, um von Norden her an das Wasser zu kommen. Ihr werdet gleich sehen, daß Winnetou sein Pferd zum Galopp antreiben wird.«
»Wozu das?«
»Weil ein galoppierendes Pferd sich schneller und tiefer am Boden bewegt und also von weitem nicht so leicht gesehen werden kann wie ein langsam gehendes; auch wird dadurch die Zeit einer doch leicht möglichen Beobachtung bedeutend abgekürzt.«
»Aber die zwei können uns doch gar nicht sehen und beobachten, weil sie so weit südlich von uns sind!«
»Ganz richtig eigentlich; aber der vorsichtige Westläufer hat mit allen Möglichkeiten zu rechnen. Wenn sie so vorsichtig sind, wie wir an ihrer Stelle sein würden, so suchen sie den Wald eine hinreichende Strecke weit ab, um sich zu überzeugen, daß sich niemand in der Nähe befindet und sie also sicher sind. Dabei können sie so weit nördlich kommen, daß sie unsere Annäherung bemerken würden, wenn wir nicht so klug wären, ihnen weit genug auszuweichen.«
»Schön! Wollen sehen, ob er wirklich galoppieren wird!«
Er hatte diese Worte, welche Winnetou gar nicht hörte, kaum ausgesprochen, so trieb dieser sein Pferd durch ein aufmunterndes Zungenschnalzen an und flog dann in Carriere vor uns hin. Wir folgten natürlich in demselben Tempo.
Der den See umgebende Wald schickte uns einen Buschausläufer entgegen, hinter welchem wir anhielten und abstiegen. Die Stelle, an welcher wir uns befanden, konnte von derjenigen, wo die zwei Männer zu vermuten waren, vielleicht eine englische Meile entfernt sein. Winnetou gab seinem Pferde das Maul zum Grasen frei und sagte:
»Meine weißen Brüder mögen auf mich warten!«
Mit diesen Worten verschwand er im Gebüsch, nachdem er seine Silberbüchse von der Schulter genommen und mir gegeben hatte.
»Wo will er hin?« fragte Rost.
»Nach den Leuten suchen, die wir beobachten werden.«
»Warum nimmt er sein Gewehr nicht mit?«
»Weil es ihm hinderlich werden kann. Es ist möglich, daß er streckenweit durch das Gebüsch kriechen muß, wobei einem ein langes Gewehr natürlich im Wege ist.«
»Was thun wir inzwischen?«
»Wir setzen uns nieder und warten. Es kann leicht eine ganze Stunde dauern, bis er wiederkommt. Macht es Euch und den Pferden also bequem; ich will inzwischen nachsehen, ob sich niemand in der Nähe befindet.«
Ich suchte den Rand des Waldes sorgfältig ab, fand aber kein Anzeichen von der Gegenwart eines menschlichen Wesens und kehrte dann zu ihm zurück. Die wegen des dazwischen liegenden Waldes für uns unsichtbare Sonne mußte fast am Horizonte stehen; es war also nach ungefähr einer halben Stunde die Dämmerung zu erwarten.
Die Schatten wurden länger und immer länger, bis sie ihre Spitzen ganz über die östliche Ebene hinauswarfen, worauf es schnell zu dunkeln begann. Grad als das Licht des Tages im Verschwinden war, kehrte der Apatsche zurück. Er stieg auf sein Pferd und ritt, ohne ein Wort zu sagen, dem Walde entlang in südlicher Richtung fort; wir folgten ihm. Rost war neugierig. Er hätte gern gewußt, ob Winnetou seinen Zweck erreicht hatte, getraute sich aber nicht, ihn mit Fragen zu belästigen. Ich war auch still, denn ich wußte, daß der Häuptling sprechen würde, sobald er es für nötig hielt. Er hatte die Gesuchten jedenfalls gefunden, denn daß er wußte, wo sie waren, ersah ich aus der Sorglosigkeit, mit welcher er uns voranritt.
Es mochte eine gute Viertelstunde vergangen sein, da stieg er ab, schlang den Pegriemen an die Zügel, um sein Pferd anzupflocken, und sagte:
»Mein Bruder Rost mag hier bei den Pferden bleiben und sich sehr still verhalten. Wir werden ihm unsere Gewehre geben, um uns leichter an die zwei Bleichgesichter anschleichen zu können. Er soll, selbst wenn wir um Mitternacht noch nicht zurückgekehrt wären, keine Sorge um uns haben und sich ja, bis wir wiederkommen, nicht von dieser Stelle entfernen! Jetzt komm, Scharlih!«
»Darf ich wirklich so ohne Sorge um Euch sein, Mr. Shatterhand?« fragte mich der Angeredete.
»Ja,« antwortete ich.
»Auch selbst dann, wenn mir vielleicht eine innere Stimme sagt, daß Ihr Euch in Gefahr befindet?«
»Auch dann. Ihr habt überhaupt nicht auf diese Eure innere Stimme, sondern nur auf uns zu hören. Es giebt keine Gefahr für uns, und sollte es eine geben, so würdet Ihr durch eine etwaige Eigenmächtigkeit das Übel nur noch ärger machen. Ihr habt auf alle Fälle hier zu warten, bis wir wiederkommen, selbst wenn dies erst morgen früh geschehen sollte!«
Ich gab ihm meinen Bärentöter und den Henrystutzen und folgte dann dem Apatschen, welcher sich hier jeden Strauch gemerkt zu haben schien, so groß war die Sicherheit, mit welcher er mich erst durch das Gebüsch und dann in den vom Unterholz freien Wald führte. In diesem war es finster; darum nahm er mich bei der Hand.
Er bewegte sich, wie ich bemerkte, in einem Bogen um den Ort, den er erreichen wollte, und wurde um so vorsichtiger, je mehr wir uns demselben näherten. Dann ließ er meine Hand los, legte sich nieder und kroch auf den Händen und Füßen weiter. Selbstverständlich folgte ich ihm in derselben Weise. Bald hörten wir Stimmen. Indem wir uns langsam und geräuschlos vorwärtsschoben, erreichten wir die letzten Bäume am Waldesrande und hatten die Gesuchten nahe vor uns im Grase sitzen. Nicht weit von ihnen waren die dunklen Umrisse ihrer angehobbelten Pferde zu bemerken.
Das Glück war uns außerordentlich günstig, denn die beiden Personen sprachen grad jetzt über einen Gegenstand, welcher für mich von höchstem Interesse war. Als wir uns ihnen soweit genähert hatten, wie es möglich war, hörte ich die Worte:
»Ja, ich bin auch überzeugt, daß dieser Sheriff sehr fleißig nach uns forschen wird. Grad weil er einsehen mußte, daß er sich auf so falschem Wege befunden hatte, giebt er sich nun die größte Mühe, diesen Irrtum quitt zu machen. Ich möchte nur wissen, wer dieser fremde Dutchman gewesen ist!«
»Ein Zeitungsschreiber, weiter nichts!« antwortete der andere, dessen Stimme mir sofort bekannt vorkam, obwohl er in gedämpftem Tone sprach.
»Das bezweifle ich! Der Kerl ist in einer Weise gegen dich aufgetreten, die mehr als bloß einen Tintenklexer in ihm vermuten läßt.«
»Er hat aber doch das Gedicht gemacht und muß also ein Federfuchser gewesen sein!«
»Kannst du darauf schwören, daß er da nicht gelogen hat?«
»Schwören wohl nicht. Aber was für einen Grund sollte er gehabt haben, sich für den Verfasser auszugeben, Streit mit mir anzufangen und dann die Gedichte zu verbrennen?«
»Das weiß ich allerdings auch nicht.«
»Übrigens war dieses Verbrennen ein Unsinn von ihm, denn ich habe das Poem, welches wirklich gar nicht schlecht ist, auswendig gelernt und werde es wieder drucken lassen, wenn ich noch einmal die Veranlassung haben sollte, als frommer Prayer-man aufzutreten.«
»Das kommt nicht wieder vor, denn unser jetziger Streich bringt uns soviel ein, das wir das Geschäft aufgeben und uns zur Ruhe setzen können. Es ist nur gut, daß wir die Nuggets dieses albernen Watter so rasch in Geld umsetzen und dieses deponieren konnten, und daß die beiden Lachner mit ihren Reisevorbereitungen fertig waren und gleich mitfahren konnten.«
»Ob es wohl so notwendig war, die Eisenbahn zu benutzen?«
»Ganz gewiß! Wir mußten möglichst schnell aus dem Staate Missouri verschwinden, in welchem du es nie wieder wagen dürftest, deine fromme Rolle zu spielen. Man würde den salbungsvollen Prayer-man wohl schnell bei den Haaren nehmen. Du hast überhaupt von Glück zu sagen, daß man nicht schon längst auf dich aufmerksam geworden ist. Man hätte doch unbedingt darauf kommen müssen, daß, wo ein solcher wohl vorbereiteter Einbruch geschah, du stets vorher dagewesen warst!«
»Pshaw! Meine Frömmigkeit machte die Leute blind. Es macht mir noch jetzt Spaß, daß der Wirt in Weston von dem Einbruche bei dem dortigen Händler und bei dem Advokaten Pretter in Plattsburg sprach und dabei in seiner kindlichen Unschuld erwähnte, daß ich kurz vorher in Weston und Plattsburg gewesen bin. Der dumme Teufel hatte keine Ahnung von dem Zusammenhang!«
»Oh, jetzt wird ihm diese Ahnung wohl gekommen sein! In Weston darfst du dich niemals wieder sehen lassen. Wenn dieser verdammte Dutchman nicht gewesen wäre, dieser – – – wie hieß er?«
»Meier.«
»Also dieser Meier nicht gewesen wäre, hätte die Sache ein ganz anderes Ende genommen und es wäre nicht nötig gewesen, uns in der Weise zu beeilen, daß das Gelingen unseres herrlichen Planes beinahe unmöglich geworden wäre. Hatte er denn Verdacht gegen dich geschöpft?«
»Es schien so.«
»Aus welchem Grunde?«
»Das weiß der Teufel! Ich bin ja nicht dabei gewesen, als Watter den Diebstahl entdeckte, und ich weiß also nicht, was alles gesprochen worden ist. Als ich dann kam, hörte ich nur, daß dieser Meier den Sheriff aufforderte, mich festzuhalten. Es schien, daß der Verdacht auf ihn gefallen sei und er sich dadurch, daß er ihn auf mich warf, rechtfertigen wolle. Ich suchte natürlich sofort das Weite.«
»Vielleicht hättest du besser gethan, zu bleiben?«
»Nein. Wenn ich einmal arretiert worden war, so stand fast mit Sicherheit zu erwarten, daß alle Verdachtsmomente gegen mich sprechen würden. Übrigens mußte ich dir nach und durfte mich schon deshalb nicht ergreifen lassen.«
»Well! Ich bleibe aber dabei, daß dieser Meier nicht das gewesen ist, wofür er sich ausgegeben hat. Für die Wahrheit dieser Vermutung spricht auch der Umstand, daß er so meisterhaft geschossen hat.«
»Das war Zufall!«
»Nein. Wer bei so wenig Schüssen eine Kugel mit Absicht daneben gehen läßt, der weiß genau, daß er nicht wieder fehltreffen wird.«
»Ob es Absicht gewesen ist, das läßt sich nicht behaupten!«
»Ich behaupte es aber! Wenn er etwa ein verkappter Westmann gewesen wäre!«
»Pshaw!«
»Dann käme er gewiß auf den Gedanken, sich etwas näher nach uns zu erkundigen. Ich traue diesem Kerl nicht, obgleich ich ihn leider nicht gesehen habe. Ein guter Prairieläufer kommt sehr leicht auf allerlei Berechnungen, zu welchen das Gehirn anderer Menschen nicht ausreicht. Du hast doch nichts zurückgelassen, was auf unsere Fährte führen könnte?«
»Nein.«
»Deine Werkzeuge?«
»Habe ich in den Fluß geworfen.«
»Deinen Koffer?«
»Verbrannt.«
»Du hattest dir doch auch Notizen gemacht. Hast du die noch?«
»Nein; ich habe sie auch verbrannt, weil das Ereignis in Weston mich vorsichtig gemacht hatte.«
Der Prayer-man sagte hier die Unwahrheit, denn wir hatten ja seinen Koffer mit den Werkzeugen und Notizen in den Händen gehabt. Er verschwieg jetzt die Wahrheit, um sich keinen Vorwürfen auszusetzen.
Man kann sich denken, daß meine Überraschung, hier am Lake Jone auf den Prayer-man zu treffen, keine betrübende für mich war! Es hätte mir im Gegenteil nichts Erfreulicheres geschehen können, als diese Begegnung mit dem Manne, dessen Pläne zu durchkreuzen mein Wunsch gewesen war. Ich wußte nun mit einemmal ganz genau, wer die fünf Reiter seien. Es war gar nicht schwer, dies zu erraten.
Bei dem Nuggetdiebstahle in Weston nämlich waren drei Personen thätig gewesen: der Prayer-man, der eigentliche Einbrecher und sodann derjenige, welcher im Hofe gestanden und die Nuggets in Empfang genommen hatte. Einer von diesen beiden letzteren war der Fremde gewesen, welcher in der Gaststube gesessen und mit dem Prayer-man die von mir beobachteten Blicke des Einverständnisses gewechselt hatte. Nicht dieser Fremde, der mich doch in der Stube gesehen hatte, sondern der dritte im Bunde saß jetzt hier neben dem Prayer-man, denn er hatte soeben gesagt, daß ich ihm unbekannt sei. Dieser dritte schien der Anführer, das dominierende Mitglied des saubern Kleeblattes zu sein, wie aus seiner Ausdrucksweise zu vermuten war.
Ich hatte erfahren, daß zwei Menschen, ein Onkel und ein Neffe, in die Berge nach einem Finding-hole gelockt werden sollten. Diese fünf Personen ritten nach dem Gebirge, und zwar auf dem Wege, welcher auf dem in dem Koffer des Prayer-man gefundenen Zettel angegeben war. Da lag es sehr nahe, zu erraten, daß wir es hier mit diesem beabsichtigten Unternehmen zu thun hatten: es waren die drei Gauner mit ihren beiden Opfern, mit denen wir hier zusammentrafen. Und wenn ich mit dieser Vermutung keinen Irrtum beging, so waren die drei, welche vorangeritten waren, der Onkel, der Neffe und der fremde Gast aus Meiers Hotel, den ich beobachtet hatte.
Diese Erwägungen flogen mir nur so schnell durch den Kopf, denn ich hatte keine Zeit, ihnen nachzuhängen, weil jedes Wort, welches gesprochen wurde, meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen mußte.
»Es war klug, daß du das alles vernichtet hast. War es dir denn möglich, den Koffer auf der schnellen Flucht mitzuschleppen?« wurde der Prayer-man weiter gefragt.
»Ja, denn die Kerls waren so dumm, mir die nötige Zeit zu lassen. Ich habe dann zwar bemerkt, daß sie mir folgten, hatte aber da einen schon so großen Vorsprung, daß sie mich nicht einholen konnten.«
»Watter wird sich schleunigst auf deine Spur gesetzt haben!«
»Ganz gewiß, aber ich lache darüber. Dieser Mensch hält sich wirklich für einen guten Westmann! Er wird die Spur sofort wieder verloren haben.«
»Hm! Wenn der Teufel will, macht er auch einmal den dümmsten Kerl zum gescheiten Manne!«
»Pshaw! Unsere Fahrt auf der Bahn hat der Spur eine so große Unterbrechung gegeben, daß sie selbst von einem Winnetou oder Old Shatterhand nicht wiedergefunden würde.«
»Behaupte nicht zu viel!«
»Das thue ich nicht. Es giebt überhaupt keinen Kopf irgend eines Menschen, welcher so findig wäre, die Orte zu erforschen, an denen wir den Zug bestiegen und ihn dann wieder verlassen haben. Und sollten wir diesem Watter ja durch Zufall einmal begegnen, so ist inzwischen Gottes Zeit über Gottes Land gelaufen, und er muß schweigen.«
»Wenn er dies aber nicht thut?«
»So bekommt er eine Kugel durch den Kopf, und dann ist er für immer still. Die Entdeckung dieses Nuggetraubes macht mir ebensowenig Sorge wie der Überfall seines Kumpans Welley, dem wir vom Ufer des Platte aus eine Kugel durch die Brust gaben, die ihn von seinem Floße in das Wasser stürzte. Er wird auch nicht davon erzählen können, von wem er diese Kugel bekam und wer die sind, die dann das Floß auffischten und mit dem Golde an das Ufer zogen. Das war ein Fang! Fast zwanzigtausend Dollars! Ohne die drei Pfund, welche die großen Nuggets wogen, mit denen wir den alten Lachner geködert haben! Wird es nun nicht Zeit, daß wir uns hinschleichen?«
»Ja. Wenn wir so lange ausbleiben, ist es möglich, daß er Verdacht schöpft. Die Reden, welche er in den letzten Tagen hören ließ, sind mir aufgefallen. Darum gab ich Eggly den Auftrag, ihn heut abend, sobald ich ihm das Zeichen dazu gegeben haben werde, zur Aussprache zu bewegen. Es ist möglich, daß meine Besorgnis unnötig ist, daß wir also sein ganzes Vertrauen noch besitzen. Wenn man auf Wegen geht, wie unser jetziger einer ist, schöpft man sehr leicht Argwohn, ohne daß man es nötig hat. Aber ich will Sicherheit haben. Er wird sich von Eggly seine Meinung leichter als von uns entlocken lassen, und da er nicht ahnt, daß wir dabei sind und alles hören, was er sagt, wird er wahrscheinlich mit seinen Gedanken nicht zurückhalten. Der Neffe ist ein dummer Junge; was der denkt, kann uns ganz gleichgültig sein. Der Alte hat zwar die Klugheit auch nicht zentnerweise hinuntergeschlungen, aber er ist hinterlistig, und wenn er sich in Gefahr wähnt, kann er leicht auf den Gedanken kommen, uns um den Erfolg dieses Rittes und vielleicht auch um noch mehr zu bringen.«
»Das würde ihm nicht gelingen!«
»Pshaw! Ich denke da vorsichtiger als du.«
»Ist gar nicht nötig! Wenn der alte Halunke etwa Sprünge machen sollte, so nehmen wir ihn fest an die Leine und zeigen ihm, was er eigentlich von uns zu denken hat!«
»Das ist freilich leicht gesagt. Wie aber nun, wenn er Verdacht geschöpft hat und so klug ist, uns dies gar nicht merken zu lassen? Ist dieses Mißtrauen vorhanden, so hat er uns durchschaut und muß einsehen, daß wir zu jeder Gewaltthat entschlossen sind, er sich also auch nur durch eine Gewaltthat retten kann. Es würde für unser Leben ganz und gar nicht förderlich sein, wenn er uns ganz plötzlich einige Kugeln durch die Köpfe jagte und wieder nach Hause ritte, um uns als Fraß für die Geier liegen zu lassen!«
»All devils! Hältst du so etwas für möglich?«
»Ja. Darum soll Eggly ihn heut ausfragen, während wir dabei lauschen. Verrät er durch ein einziges Wort, daß er uns nicht mehr traut, so müssen wir dafür sorgen, daß er und sein Junge den morgenden Tag nicht erleben. Ich bin fest entschlossen dazu!«
»Es würde schade, jammerschade sein!«
»Um diese beiden Menschen? Unsinn!«
»Um sie nicht, aber um die Arbeit, welche sie uns machen sollen. Es wird keinem von uns drei einfallen, einige hundert Male in das Eiswasser des Finding-Hole hinabzutauchen, um die Nuggets, welche da unten liegen, heraufzuholen. Das Leben ist einem schließlich ja doch mehr wert als alles Gold der Erde!«
»Das gebe ich natürlich zu. In Rücksicht auf diesen Grund würde ich mich vielleicht entschließen, nur den Alten unschädlich zu machen, den Jungen aber leben zu lassen. Wir würden ihn fesseln, und ich halte es für gar nicht schwer, ihn als Gefangenen mit uns zu führen. Er ist ja so unerfahren und dabei so wirr im Kopfe, dieser Old Jumble, wie Eggly ihn immer nennt, daß er, wenn er einmal tüchtig eingeschüchtert worden ist, gar nicht auf den Gedanken kommen wird, sich uns zu widersetzen. Daß ihn dann das kalte Wasser auch kalt, vollständig kalt machen wird, kann uns nur lieb sein, denn dies erspart uns die Mühe, ihm eine Kugel in sein vergeßliches Gehirn zu geben.«
»Besser ist es aber doch, der Alte bleibt auch leben, natürlich nur, bis wir ihn nicht mehr brauchen. Es sollte mich also ärgern, wenn er uns nicht mehr traute!«
»Mich natürlich auch! Wir werden ja in kurzer Zeit erfahren, wie es in dieser Beziehung mit ihm steht. Es wird jetzt Zeit, daß wir uns auf die Beine machen. Gut, daß ich Eggly befohlen habe, sobald er den Wald erreicht, gleich Lager zu machen und ein Feuer anzuzünden. Auf diese Weise ist der Platz sehr leicht zu finden. Wir brauchen nur immer hier am Rande hinzugehen, bis wir das Feuer sehen, welches Eggly auslöschen wird, sobald er mein Zeichen hört. Haben wir dann erfahren, was wir wissen wollen, so kehren wir hierher zu unsern Pferden zurück und reiten auf einem Umwege nach ihrer Spur zurück, um zu thun, als ob wir erst jetzt über die Prairie herüber angekommen wären.«
»Was sagen wir aber von unserer Jagd?«
»Daß wir keinen Elk getroffen haben. Dieser Alte glaubte wirklich, daß die Bockfährte eine Elkspur sei! Hahahaha! Und als ich ihm sagte, daß es so außerordentlich gefährlich sei, einen Elk zu schießen, ritt er ganz gern mit seinem Old Jumble und Eggly weiter, ohne zu ahnen, daß dies nur ein Vorwand von uns sei, zurückbleiben zu können! Da sieht man aber wieder einmal, daß die Pfiffigkeit eines einzigen Westmanns vollständig ausreicht, um zehn der klügsten Ostmänner an der Nase auf das Glatteis zu führen! Kommt jetzt; es ist Zeit dazu!«
Sie erhoben sich aus dem Grase und gingen fort. Wir standen auch auf.
»Hat mein Bruder Scharlih Wichtiges gehört?« erkundigte sich Winnetou.
Er wußte selbstverständlich, daß ich ebenso wie er jedes Wort vernommen hatte, und wollte nur wissen, ob ich mit dem Resultate unsers Anschleichens zufrieden sein könne.
»Sehr Wichtiges,« antwortete ich. »Ich weiß nun alles, was ich wissen wollte.«
»Uff! Gehen wir ihnen nach!«
Wir traten in das weiche Gras hinaus und huschten längs des Waldrandes hin, stets bereit, den Schritt sofort einzuhalten, falls wir den beiden Vorangegangenen zu nahe kämen. Das dauerte wohl auch eine Viertelstunde, bis wir weit vor uns ein Feuer erblickten, welches uns hell und groß entgegenleuchtete. Da der Prayer-man und sein Kumpan sich zwischen ihm und uns befanden, konnten wir ihre Gestalt erkennen und uns nach ihren Bewegungen richten. Als sie so nahe an die Lagerstätte ihrer Gefährten gekommen waren, daß sie nun bald befürchten mußten, gesehen zu werden, verschwanden sie im Walde. Da huschten auch wir unter die Bäume und griffen uns zwischen ihnen so rasch wie möglich fort. Es war nun ganz stockdunkel da, doch ließen unsere geübten Augen uns auch hier nicht im Stich. Dann sahen wir das Feuer uns zwischen den Stämmen entgegenblinken, wodurch uns das Vorwärtskommen sehr erleichtert wurde.
Als wir uns bis auf ungefähr sechzig Schritte genähert hatten, erkannten wir die beiden Lauscher, welche am Boden lagen und nach dem Feuer zukrochen. Wir ließen uns auch auf unsere Hände nieder und folgten ihnen, nicht hinter-, sondern in einiger Entfernung nebeneinander. Indem ich mich so, mit dem Gesichte dem Boden nahe, fortbewegte, war es mir, als ob ich ein leises, fast unbemerkbares metallisches Blinken im Moose gesehen hätte. Ich griff hin und fand – – zwei Reitsporen, ein Fund, welcher mich in Staunen versetzen mußte. Die Sporen waren blank, konnten also gar nicht lange hier gelegen haben. Wahrscheinlich gehörten sie einer von den drei Personen, welche dort am Feuer saßen. Welch eine Unvorsichtigkeit! Man kann zwar unter Umständen Veranlassung haben, die Sporen abzunehmen; aber sie nicht einzustecken, sondern in das Gras oder Moos zu legen und dann liegen zu lassen, das ist eine so unerhörte Unvorsichtigkeit, daß ein erfahrener Westmann darüber vor Zorn außer sich geraten kann. So eine große, unverzeihliche Nachlässigkeit ist geeignet, die Sicherheit, ja, unter Umständen sogar das Leben aller Beteiligten in Frage zu stellen! Wer sie sich zu schulden kommen ließ, hatte noch mehr, viel mehr verdient, als bloß, daß man ihn Old Jumble nannte! Denn nur der Neffe, der Wirrkopf, von welchem vorhin gesprochen worden war, konnte diese Unachtsamkeit begangen haben. Eine solche Zerstreutheit – – Zerstreutheit!!! Indem ich an dieses Wort dachte, ging es mir wie ein elektrischer Schlag, ich weiß nicht, ob durch die Seele oder durch den Körper. Und warum?
Es war der Name Lachner genannt worden, und Lachner war der Familienname meines einstigen Freundes und Reisegefährten Carpio! Er hatte einen Verwandten in Amerika und war stets ein Wirrkopf, ein Old Jumble gewesen! Ich fand keine Zeit, diesem Gedanken weiter Audienz zu geben, denn Winnetou war mir vorangekommen, und ich mußte mich beeilen, ihn einzuholen. Ich steckte die Sporen ein und kroch schnell weiter.
Das Feuer brannte noch so hoch und hell wie vorher; es beleuchtete die ganze Umgebung des Lagerplatzes, den wir also überblicken konnte. Er bildete den Endpunkt eines schmalen Grasstriches, welcher sich, von zwei Buschreihen eingefaßt, aus der offenen Prairie bis an den Rand des Waldes zog. Die nördliche Buschreihe war von Lücken durchbrochen, durch welche der Schein hinaus in die Ebene drang. Diesem Umstande war es zuzuschreiben, daß wir das Feuer gesehen hatten.
Der Prayer-man und sein Gefährte bewegten sich auf diese Sträucherreihe zu, weshalb wir die südliche für uns wählen mußten. Wir waren dadurch gezwungen, einen Umweg zu machen, und erreichten also unsern Standort erst, als die andern es sich an dem ihrigen schon bequem gemacht hatten. Nachdem wir uns unter die bis auf die Erde niederhängenden Zweige hineingebohrt hatten, warteten wir auf das Zeichen, welches gegeben werden sollte. Worin es bestehen sollte, wußten wir nicht.
Es war uns gar nicht schwer geworden, an Ort und Stelle zu kommen, denn die drei am Feuer Sitzenden führten ein so lautes Gespräch, daß ein von uns vielleicht doch verursachtes kleines Geräusch gar nicht gehört werden konnte. Schwieriger schon war es gewesen, die Zweige beim Darunterkriechen so langsam und gleichmäßig emporzuheben, daß man ihre Bewegung nicht bemerkte. Glücklicherweise hatten die beiden sich uns nun gegenüber befindenden Lauscher so mit sich selbst zu thun, daß sie gar nicht auf die Büsche, unter denen wir staken, achteten.
Die drei saßen in der Weise am Feuer, daß die nach der Prairie gekehrte Seite desselben offen war. Das hatte jedenfalls der mit dem Namen Eggly bezeichnete Gefährte so veranstaltet, damit die beiden heimlich mit ihm Einverstandenen das Lager leicht finden könnten. Er saß mit dem Rücken gegen den Wald und schielte, während er sprach, sehr fleißig ins Gebüsch – nach den beiden Lauschern natürlich.
Uns gegenüber, also mit dem Gesicht nach Süden, saß jenseits des Feuers ein alter, hagerer, runzeliger Mann, dessen kräftiger Knochenbau aber noch Kraft und Ausdauer verriet. Er besaß ein sehr kräftiges Gebiß, welches ebenso wie das breite, massige, unten weit vorgebogene Kinn auf weniger hohe Instinkte schließen ließ. Die Lippen waren außerordentlich schmal und hatten kein Pigment, wie man es bei ausgesprochen geizigen Leuten zu beobachten pflegt. Die scharfgebogene Habichtsnase hätte einem armenischen Wucherer alle Ehre gemacht. Unter der von einem spärlichen, ergrauten Haarwuchse weit eingeengten Stirn blickte ein Paar kleiner, fast wimperloser Augen in steter Unruhe hin und her, und der höchst ärmlich gewachsene, ungepflegte Vollbart bemühte sich vergeblich, dem häßlichen, ganz und gar nicht Vertrauen erweckenden Gesichte ein ehrwürdiges Aussehen zu verleihen.
Dieser alte Mann war in einen festen, graubraunen Stoff gekleidet, trug lange Sporenstiefel, dazu einen breitkrempigen Hut und hatte ein Gewehr neben sich liegen, welches nicht seine einzige Bewaffnung bildete, denn in dem breiten Gürtel sah ich noch ein Messer und zwei Revolver stecken. Er war jedenfalls der Onkel, während der Neffe uns den Rücken zukehrte, sodaß wir sein Gesicht nicht sehen konnten. Ganz ebenso gekleidet und bewaffnet wie sein Verwandter, zeigte er mir bei den Wendungen seines Kopfes nur einen jungen Stoppelbart, welcher ihm, fern allen Barbieren der Vereinigten Staaten, während des Rittes bis hierher gewachsen war.
Eggly trug Lederhosen und ein dickes Wams über einer ebenso dicken Weste. Auch er hatte ein Gewehr, ein Messer und zwei Revolver, und an seinem Gürtel hingen mehrere Beutel, welche wahrscheinlich mit all den einem Westmann notwendigen Requisiten gefüllt waren. Ich erkannte in ihm augenblicklich jenen fremden Gast, den ich im Hotel zu Weston beobachtet hatte. Während ich ihn betrachtete, ließ sich ein unterdrücktes, heiseres Krächzen hören, welches ein Unerfahrener einem Geier oder einem Raben zugeschrieben hätte, dem ich aber anhörte, daß es aus dem uns gegenüberliegenden Gebüsch kam. Eggly machte eine Gebärde der Besorgnis und sagte:
»Ein Geier, der noch wach ist? Oder ist er aufgestört worden? Von wem? Das kann ein Mensch gewesen sein! Aber wir haben doch die ganze Gegend abgesucht und keine Spur gefunden! Dennoch wollen wir vorsichtig sein und das Feuer auslöschen!«
Diese Worte hätten einen erfahrenen Mann mißtrauisch gemacht, und zwar nicht auf einen sich heranschleichenden Menschen, sondern auf den Sprecher derselben. Ein Geier, dessen Stimme man hört, ist nahe, und so kann derjenige, welcher ihn aufgestört hat, auch nicht soweit entfernt sein, daß er das Lagerfeuer nicht schon gesehen hätte; das Verlöschen desselben wäre also eine unnütze, weil zu spät getroffene Maßregel gewesen. Ein Westmann hätte es nicht ausgelöscht und wäre auch nicht so ruhig sitzen geblieben, sondern schnell auf- und in den Wald gesprungen, um sich keiner Kugel auszusetzen und vielmehr im Schutze der dortigen Dunkelheit nach der Ursache der Störung zu forschen. Eggly aber that oder unterließ von alledem nichts; er brachte die brennenden Holzstücke durch Auseinanderschieben derselben zum Verlöschen und sagte dann:
»So! Jetzt sieht uns kein Mensch mehr, und wir können ruhig weiterreden.«
Das Krächzen war das verabredete Zeichen gewesen, und nun sollte das Ausforschen des Alten beginnen, welcher keine Ahnung davon hatte, daß sein Leben von den Antworten, die er jetzt gab, abhängig war.
»Kann es wirklich ein Mensch sein, der den Geier aufgestört hat?« erkundigte er sich.
»Ja, möglich ist es wohl, aber wahrscheinlich ganz und gar nicht. Wer sollte noch so spät in diese abgelegene Gegend kommen! Jedermann sucht seinen Lagerplatz, so lange es noch Tag ist. Ich habe nur ausgelöscht, weil es so eine Gewohnheit von mir ist, vorsichtig zu sein. Wir können ja ein kleines Scheit brennen lassen, um das Feuer später wieder groß zu machen. Ich glaube, der Geier, oder was es eigentlich war, hat bloß im Traume gekrächzt, denn dieses Viehzeug träumt auch zuweilen, wie Ihr vielleicht wißt, Mr. Lachner.«
»Ich weiß nur, daß Hunde und Stubenvögel träumen und da zuweilen einen Ton hören lassen; warum sollten Geier dies nicht auch thun. Mir ist es nur um Mr. Sheppard und Mr. Corner!«
»Warum?«
»Weil die nun, wenn sie kommen, in der Dunkelheit herumirren, ohne uns finden zu können.«
»Das ist freilich wahr! Wir werden also doch bald wieder anbrennen müssen.«
»Ich bin neugierig, ob sie den Elk gefunden haben!«
»Ich bezweifle es. So ein Wild läuft meilenweit, ehe es einmal Halt macht, und dann ist es noch die Frage, ob es in einer Gegend steht, wo man herankommen kann. Unsere Gefährten haben nur einige Stunden erübrigen können und uns nicht zu weit vorankommen lassen dürfen. Ich bin überzeugt, daß sie nichts geschossen haben.«
»Ist eigentlich auch nicht nötig, denn wir haben ja noch Fleisch genug. Sie hätten den Elk laufen lassen sollen. Man sitzt ohne sie ganz ohne Unterhaltung da!«
»So – –? Bin denn ich nicht hier?«
»Ja, Ihr seid freilich hier!«
»Und habe ich jetzt nicht immerfort mit Euch gesprochen? Ist das keine Unterhaltung gewesen?«
»Ja doch! Aber ich will nun einmal nur von dem Finding-hole reden.«
»Das könnt Ihr auch mit mir!«
»Ich will dies nicht bestreiten; aber Mr. Corner und Mr. Sheppard wissen mehr davon als Ihr.«
»Sie wissen auch nicht mehr, als ich weiß. Ihr scheint aber zu ihnen mehr Vertrauen zu besitzen als zu mir.«
»Mehr Vertrauen nicht, denn das besitzt ihr alle in gleicher Weise; aber Mr. Sheppard war es, der zuerst von dem Finding-hole zu mir gesprochen hat, und mit Mr. Corner habe ich den Kontrakt abgeschlossen; da versteht es sich doch ganz von selbst, daß ich mich an diese beiden mehr halte, als an Euch. Es ist eine große Summe, welche ich geboten habe.«
»Habt Ihr Sorge um sie?«
»Sorge? Hm! In einer Beziehung nur.«
»In welcher?«
»In der, daß Ihr Euch getäuscht habt, daß das Goldloch also kein Gold enthält.«
»Sonst nicht?«
»Nein.«
»Wirklich nicht?«
»Warum fragt Ihr so? Welche Sorge sollte ich sonst haben?«
»Hm! Ich will Euch einmal etwas sagen; aber wollt Ihr mir versprechen, daß Ihr mich nicht verraten werdet?«
»Ja. Was ist es? Ihr macht mich neugierig!«
»Ist Euch mein Abkommen mit Sheppard und Corner bekannt?«
»Nein.«
»Gar nicht?«
»Ich weiß nur soviel, daß Ihr an der Summe, welche ich bezahle, teilhaben werdet.«
»Well! Aber Ihr wißt auch, daß ich noch nicht mit oben am Hole gewesen bin?«
»Nein, das weiß ich nicht. Also Ihr wart noch gar nicht oben?«
»Noch nicht. Ich bin nur zur Begleitung engagiert worden, weil ihr beide keine Westleute sind und es doch immer besser ist, wenn sich mehr erfahrene als unerfahrene Männer bei einer solchen Gesellschaft befinden. Ich bekomme für diese meine Begleitung vielleicht eine gewisse Summe, vielleicht auch eine Extragratifikation, wenn alles glücklich abläuft, mehr aber nicht. Die Nuggets, welche da oben liegen sollen, gehen mich also eigentlich gar nichts an.«
»So, so ist es?«
»Ja. Und da habe ich so meine Gedanken gehabt. Ist es nicht möglich, daß Corner und Sheppard unehrliche Absichten gegen Euch haben?«
»Unehrliche? Wieso?«
»Nun, so, daß – – daß im Hole gar keine Nuggets sind?«
»Seid Ihr des Teufels, Sir?!«
»Ganz und gar nicht, Mr. Lachner!«
»Oh doch! Wozu sollten diese beiden Männer ein Geschäft mit mir abgeschlossen haben, wenn es keine Nuggets gäbe?«
»Um zu Eurem Gelde zu kommen.«
»Hört, Ihr seid verrückt!«
»Gut für Euch, wenn Ihr das denkt!«
»Aber nicht gut für Euch, Mr. Eggly! Haltet Ihr mich für so dumm, daß ich einen Kontrakt unterschreibe, ohne zu wissen, daß ich dabei sichergehe?«
»Das freilich nicht.«
»Ich habe die Nuggets gesehen. Es waren welche von der Größe eines Taubeneies dabei.«
»Wirklich? Also doch?«
»Ja. Also Gold giebt es, und zwar genug. Und ich zahle nicht eher, als bis ich mich überzeugt habe, daß es noch da ist. Kann ich da betrogen werden?«
»Nein.«
»Also!«
»Aber warum verkaufen Sheppard und Corner das Hole; warum holen sie die Nuggets nicht selbst heraus?«
»Weil sie vom wilden Westen nichts mehr wissen, sondern sich zur Ruhe setzen wollen. Übrigens wundert es mich, daß Ihr als Westmann die Gepflogenheiten der Goldsucher nicht kennt.«
»Welche Gepflogenheiten?«
»Daß sie oft ihre Fundorte verkaufen, um neue zu suchen.«
»Ja, ja; auch das ist richtig.«
»Ihr scheint eine Art von Mißtrauen gegen die beiden Gefährten zu haben?«
»Ich? Ich dachte vielmehr, Ihr hättet es.«
»Warum dachtet Ihr das?«
»Weil Ihr gestern und auch vorgestern einige Worte fallen ließet, welche wie Argwohn klangen.«
»Ist mir nicht eingefallen! Ihr habt da Worten, welche jedenfalls ganz unverfänglich gewesen sind, eine vollständig falsche Bedeutung beigelegt. Nein, von Mißtrauen kann keine Rede sein. Ich bin meiner Sache gewiß. Und wenn Ihr vielleicht dumme Gedanken habt, so laßt sie ja fallen. Mr. Corner und Mr. Sheppard sind Gentlemen; für sie stehe ich ein, und ich sage Euch, daß ich Menschenkenner bin und mich, was Geldsachen betrifft, nie habe täuschen lassen. Eigentlich ist es meine Pflicht, ihnen zu sagen, daß Ihr mich habt warnen wollen!«
Da stellte sich Eggly erschrocken und rief aus:
»Das werdet Ihr doch nicht thun, Mr. Lachner!«
»Ich sollte es!«
»Ich bitte Euch, zu schweigen! Ihr habt es mir doch versprochen!«
»Weil ich nicht wußte, was es war, was Ihr mir sagen wolltet.«
»Bedenkt doch, was Ihr mir dadurch für Schaden machen würdet!«
»Ja, Ihr würdet natürlich fortgejagt!«
»Und ich habe es doch nur gut mit Euch gemeint!«
»Das ist freilich Euer Glück! Wenn das nicht wäre, würde ich sie unbedingt vor Euch warnen. Ich will also schweigen und bin sogar bereit, Euch auch noch in anderer Weise für Euer Gutmeinen dankbar zu sein.«
»In welcher?«
»Ihr bekommt, wie Ihr gesagt habt, eine Bezahlung bloß für Eure Begleitung, und die Nuggets gehen Euch sonst gar nichts an. Ich will dafür sorgen, daß sie Euch doch etwas angehen.«
»Das wäre mir freilich lieb, außerordentlich lieb; nur weiß ich nicht, wie Ihr das meint, Mr. Lachner.«
»Ich meine es folgendermaßen: Ihr begleitet uns hinauf und dann wieder zurück, lernt also das Hole kennen. Sobald ich heimkomme, engagiere ich die nötigen Kräfte und kaufe die nötigen Werkzeuge oder Maschinen, um das Placer auszubeuten. Ich möchte Euch da auch mit engagieren. Habt Ihr Lust dazu?«
»Ich bin mit größtem Vergnügen dabei!«
»Well; so ist die Sache schon so gut wie abgemacht. Ihr habt jetzt also auch Interesse an den Nuggets und werdet später sagen, daß Ihr zu Eurem Glück mit mir zusammengetroffen seid.«
Der alte Geizhals wußte gar wohl, warum er Eggly diese Offerte machte. Eggly lernte, falls er es wirklich noch nicht kannte, das Finding-hole kennen. Er konnte es andern verraten oder sich auch selbst darüber hermachen, und wenn dann der wirkliche Eigentümer kam, der es bezahlt hatte, war das Nest ausgeleert. Um dies zu verhüten, sah Lachner sich gezwungen, ihn an sich zu binden, und konnte dies auf keine für ihn weniger kostspielige Weise thun, als daß er ihn engagierte. Der Alte war schlau. Es fiel ihm gar nicht ein, auf den Gedanken zu kommen, daß Eggly aber noch viel schlauer sei. Dieser sagte in einem Tone, als ob er sich außerordentlich freue:
»Ich werde Euch das stets hoch anrechnen, Mr. Lachner! Ich habe das Herumtreiben schon längst satt gehabt und mich danach gesehnt, eine feste, gut bezahlte Stelle zu finden. Nun ist mir mit einemmal und zwar so ganz unerwartet geholfen! Was ich zu leisten habe, und wieviel Ihr mir dafür bietet, das können wir ja später besprechen.«
»Ja, später. Erst wollen wir hinauf, um zu sehen, wie groß das Loch ist und wieviel Nuggets es enthält. Nicht wahr, Hermann? Wie?«
Diese Frage war an den Neffen gerichtet. Ich strengte mein Gehör doppelt an, um mir keinen Laut von seiner Antwort entgehen zu lassen. Es kam mir darauf an, ob ich seine Stimme an ihrer Klangfarbe erkennen würde. War es Carpio oder war er es nicht?
»Ja,« sagte er.
Dieses kurze Wort war leider nicht imstande, mir Aufklärung zu geben. Das Ja klang wie aus jedem andern Munde und genügte nicht für mich, eine Stimme, welche ich vor so vielen Jahren zum letztenmal gehört hatte, jetzt gleich wieder zu erkennen.
»Höre, was hast du schon wieder für Gedanken?« fragte der Alte. »Du bist nie bei der Sache. Woran hast du jetzt gedacht? Ich will es wissen!«
Das klang außerordentlich streng. Wenn das der Ton war, in welchem er stets mit seinem Neffen verkehrte, so konnte für diesen letzten das Verhältnis zwischen ihnen kein sehr erfreuliches sein!
»Ich dachte an meine Sporen,« lautete die Antwort.
»An deine Sporen? Wie kommst du denn auf die dumme Idee, grad an deine Sporen zu denken?«
»Sie sind weg!«
»Weg? Wieso? wie meinst du das? Ich begreife es nicht. Sie können doch nicht weg sein!«
»Sie sind trotzdem weg!«
»Von den Füßen?«
»Ja.«
»Damned! Es ist doch ganz unmöglich, daß die Sporen von den Füßen, von den Stiefeln verschwunden sind!«
»Sie sind aber trotzdem nicht mehr dran!«
»Mensch, deine Zerstreutheit geht über alle Begriffe! Ein so verfahrenes Subjekt, wie du bist, kann es zum zweitenmal gar nicht geben! Greif doch an die Fersen; sie werden schon noch dran sein!«
»Das habe ich schon gethan, soeben erst, und da fühlte ich gleich, daß die Sporen weg sind. Ich muß sie heruntergemacht und dir gegeben haben, um sie aufzuheben. Du bist aber so außerordentlich vergeßlich, lieber Onkel. Greif nur einmal in deine Taschen; da werden sie sich gleich finden!«
»Den Teufel habe ich in meinen Taschen, aber deine Sporen nicht! Erst vorgestern hat der Kerl mit mir gestritten, daß mein Gewehr das seinige sei; gestern hat er meine ganze Portion Fleisch nach der seinigen aufgefressen und sich dann noch darüber beklagt, daß er zuviel bekommen habe, und heut sind ihm gar die Sporen davongeritten! Wem das nicht zu toll wird, der hat keine Galle mehr!«
»Ich höre, daß du die deinige noch hast. Beruhige dich nur, lieber Onkel, und suche in deinen Taschen nach! Du mußt sie haben, denn wem soll ich sie sonst gegeben haben, als nur dir!«
»Ich habe sie nicht!« brauste der Alte auf. »Wie kommst du denn überhaupt dazu, die Sporen herunter zu machen?«
»Ich besinne mich, daß mein Pferd sehr kitzlich ist. Man kann doch die Sporen nicht immer nach auswärts halten, und wenn ich es ja einmal mit ihnen berühre, geht es gleich in die Luft.«
»Weil du die Beine nie stillhalten kannst, sondern wie ein Hanswurst mit ihnen um dich wirfst!«
»Da habe ich die Sporen lieber gleich ganz heruntergemacht und sie dir zur Aufbewahrung übergeben. Wenn sie nicht in deinen Taschen sind, hast du sie verloren.«
»Ich?! Da hört nun alles, alles auf! Kerl, es ist ja gar nicht mehr zum Aushalten mit dir!«
»Bitte, lieber Onkel, rege dich nicht unnötig auf! Du kannst ja nicht dafür, daß du zuweilen zerstreut bist, ohne es zu wissen. Es muß das so in der Verwandtschaft, in der Familie liegen, denn meine Schwestern litten an ganz demselben Fehler. Ich weiß, daß sie – –«
»Komme mir nicht so oft mit deinen Schwestern! Du hast mir das alles schon hundertmal erzählt, und ebenso oft habe ich dir nicht bloß gesagt, sondern unwiderleglich bewiesen, daß deine Schwestern ganz brave und umsichtige Ladies gewesen sind, während du allein der Hohlkopf warst, der alle diese Dummheiten beging, welche sie begangen haben sollen! Ich habe eure Schulden bezahlt und dich herüberkommen lassen, um einen brauchbaren Menschen aus dir zu machen: das ist aber bloß zu meinem Ärger geschehen, weil Hopfen und Malz an dir verloren sind!«
»Lieber Onkel, wirf mir doch nicht immer die kleine Summe vor, welche du damals meinem Vater schicktest! Du weißt doch, daß mich das tief betrübt!«
»Eine kleine Summe nennst du das? Zweihundert Dollars eine kleine Summe! Ja freilich, wer so wie du als Habenichts und armer Gymnasiast einer Vagabundin zwanzig Thaler und auch noch, ich weiß nicht, wieviel Gulden schenkt, der kann allerdings vom Werte des Geldes nicht den mindesten Begriff besitzen!«
»Das bin nicht ich, sondern mein Freund Sappho ist es gewesen.«
»Freund? Ich danke für einen solchen Freund! Die Gulden waren doch auch mit dein Eigentum! Du hast es mir ja wiederholt erzählt, denn du hängst noch heut an diesem Taugenichts, diesem Luftikus, welcher nicht dein Freund, sondern dein Verführer gewesen ist!«
Da fuhr der Neffe zornig auf:
»Höre, Onkel, taste mir meinen Sappho nicht in dieser Weise an! Du weißt, daß dies ein Punkt ist, den du nicht berühren darfst. Hätte ich länger mit ihm verkehren können, so irrte ich jetzt nicht hier im wilden Westen herum, während er daheim eine jedenfalls sehr gute Anstellung bekleidet. Wir haben einander aus den Augen verloren, aber im Herzen halte ich ihn grad so fest wie in damaliger Zeit, die niemals wiederkommt!«
Er sprach in seiner Erregung so laut, daß Eggly jetzt in scharfem Tone zu ihm sagte:
»Brüllt nicht in dieser Weise, junger Mann! Ihr befindet Euch hier in keiner Niggerversammlung, wo jeder schreit, wie es ihm beliebt! Euer Onkel hat recht! Ihr habt Eure Gedanken niemals beisammen und werdet uns mit Eurer Zerstreutheit noch die größten Unannehmlichkeiten zuziehen. Das albernste dabei ist, daß Ihr die Schuld dabei stets auf andere werft. Ich habe Euch den Namen Old Jumble gegeben, und Ihr verdient ihn im vollsten Maße!«
»Ich muß ihn mir aber verbitten! Ihr habt kein Recht, mir einen Namen zu geben, der mich beleidigen muß. Ich nenne Euch Mr. Eggly und verlange die gleiche Höflichkeit von Euch!«
»Schweigt, Old Jumble! Ich will Euch jetzt nur das Eine sagen, daß die Sporen, welche Ihr heut verloren habt, uns in die heilloseste Verlegenheit bringen können. Wenn sie ein Indsman oder sonst ein Halunke findet und durch sie auf unsre Spur gerät, kann unser ganzer, schöner Plan ein schlimmes Ende nehmen! Ihr könnt nicht reiten, könnt nicht schießen, könnt überhaupt gar nichts von allem, was man hier können, wissen und verstehen muß, und wenn Ihr nun gar noch solche Unsinnigkeiten treibt, wie heut mit den Sporen, so werdet Ihr uns gradezu gefährlich, während Ihr uns bisher bloß lästig gewesen seid. Für ein gefährliches Mitglied aber müssen wir danken! Die Sporen heruntermachen und verlieren! So etwas hat man noch nie erlebt! Wenn Ihr Euch nicht besser zusammennehmt, werden wir uns gezwungen sehen, Euch irgendwo sitzen zu lassen und ohne Euch weiterzureiten. Ihr werdet doch nur ein Fraß für die Geier, weiter nichts!«
»Mr. Eggly, ich habe Euch ruhig angehört, muß aber bitten, daß nun auch Ihr mit derselben Gelassenheit – –«
»Schweigt!« unterbrach ihn der Angeredete zornig. »Wir wissen, was Ihr wart, und Ihr wißt nun, woran Ihr mit uns seid; weiter braucht kein Wort gesagt zu werden! Wir werden jetzt das Feuer wieder anbrennen, denn wenn das Krächzen des Vogels eine unwillkommene Störung für uns bedeutet hätte, wäre sie schon längst eingetreten. Ich bin überzeugt, daß niemand Fremdes in der Nähe ist, und wir müssen nun wieder eine hohe Flamme haben, damit unsere Kameraden, wenn sie kommen, uns finden können.«
Er beeilte sich aber mit dem Wiederanzünden des Feuers nicht allzu sehr, denn er wollte Corner und Sheppard Gelegenheit lassen, sich in dem jetzt noch herrschenden Dunkel unbemerkt zurückzuziehen. Wir machten natürlich von dem dadurch auch uns gebotenen Vorteile ebenso Gebrauch.
Welch ein Zusammentreffen! Mein Carpio, mein alter, guter, lieber Carpio hier am Lake Jone, auf der Hochebene des wilden Westens! Ja, wir hatten uns leider aus den Augen verloren! Er war trotz aller Mühe, die ich mir mit ihm gegeben hatte, nicht vorwärts gekommen, und als ich das Gymnasium verließ, nahm ich die Überzeugung mit, daß all sein Würgen erfolglos sein werde. Als Handwerker hätte er es wahrscheinlich eher zu etwas gebracht; Handwerk hat einen goldenen Boden, und wer den Mann, der auf diesem ehrenwerten Boden steht, verachtet, der verdient an sich das, was er thut. Aber Carpio war eines der vielen, vielen Opfer der landläufigen und doch so falschen Ansicht vieler studierter Väter, daß es eine Schande für sie sei, einen nicht studierten Sohn zu haben. Auch Väter, welche es zu einer guten Lebensstellung brachten, ohne eine höhere Schule besucht zu haben, und die nun doch wissen sollten, daß es viele Wege giebt, sich zu einer sogenannten, aber auch nur sogenannten, »bessern Existenz« emporzuarbeiten, setzen einen Trumpf darauf, wenigstens einen ihrer Söhne irgend einer Alma mater womöglich mit Gewalt in die widerstrebenden Arme zu treiben. Die Folgen bleiben niemals aus; die Enttäuschung läßt nicht auf sich warten, und wenn man zehn Menschen in die berühmte Klage vom »verfehlten Leben« einstimmen hört, so kann man getrost behaupten, daß acht oder neun von ihnen Söhne solcher Väter sind.
Carpio war auch ein solches Unglückskind. Ich hatte das vorausgesehen und aus Freundschaft für ihn einmal das Wagnis unternommen, im Laufe eines Gespräches mit seinem Vater in ganz unauffälliger Weise eine darauf bezügliche Bemerkung zu machen, hatte aber den sofortigen Erfolg gehabt, in einer Weise, so was man sagt, abgeblitzt zu werden, daß ich ganz still von dannen ging. Ich hatte da Ausdrücke wie »knabenhafte Ansichten, unreife Urteile und unerbetene Einmischung in Angelegenheiten, von denen man gar nichts verstehen kann,« zu hören bekommen und später dann bemerkt, daß mein Verkehr mit dem Sohne nicht nur passiv nicht mehr gern gesehen, sondern auch in aktiver Weise möglichst verhindert wurde. Das war auch der eigentliche Grund, daß unser schriftlicher Verkehr, den wir nach meinem Fortgange noch einige Zeit unterhielten, nach und nach einschlief. Man glaubte, daß ich diesen Verkehr benutzen werde, Carpio zu bewegen, meiner gegen seinen Vater geäußerten Ansicht Folge zu leisten.
Ich wußte also nicht eigentlich, was aus ihm geworden war, und hätte eher alles aber nur das nicht erwartet, den zerfahrenen und unbeholfenen einstigen Freund hier im Wildwest wiederzusehen, wo mit größerer Bestimmtheit als irgend anderswo an den Mann die Forderung tritt, nicht nur ein Mann zu heißen, sondern auch wirklich einer zu sein. Hätte er, als von mir gesprochen wurde, gewußt, daß sein Sappho, dieser »Taugenichts und Luftikus« hinter seinem Rücken lauschend zwischen den Büschen steckte! Ich kannte schon jetzt sein Verhältnis zu seinem Verwandten so genau, daß er mir später gar nichts darüber zu sagen brauchte. Der alte Gurgelabschneider hatte ihn als einstigen Gymnasiasten zu hoch abgeschätzt, ihn für einen recht brauchbaren jungen Mann gehalten und ihn zu sich nach Amerika kommen lassen, um ihn ohne entsprechende Bezahlung ganz gehörig auszunützen. Da er aber doch sehr bald hinter diesen seinen Irrtum hatte kommen müssen und es ihm ohne weiteres zuzutrauen war, sich von dem seinen Erwartungen nicht genügenden Neffen einfach loszusagen und ihn hilflos sitzen zu lassen, kam es mir unbegreiflich vor, daß er dies nicht gethan, sondern ihn bei sich behalten und sogar auf dem jetzigen Ritte mitgenommen hatte. Es mußte da irgend eine Absicht vorliegen, die ich jetzt noch nicht erraten konnte, hinter welche ich aber schon noch zu kommen hoffte.
Am liebsten wäre ich jetzt vorgetreten, um dem lieben Onkel meine Meinung so recht aus dem Herzensgrunde zu sagen; aber das durfte ich nicht; ich mußte Winnetou folgen, welcher schon bei Egglys letzten Worten sich aus dem Gebüsch zurückgeschoben hatte, um sich zu entfernen, ehe das Feuer wieder hell zu brennen begann. Ich holte ihn bald ein, und dann huschten wir so schnell wie möglich zwischen den Bäumen hin, um Corner und Sheppard zuvorzukommen und vielleicht noch einige Worte von ihnen zu erlauschen.
Sie kehrten selbstverständlich jetzt zu ihren Pferden zurück. Wir schlichen, um schneller vorwärts zu kommen, uns möglichst bald aus dem Walde heraus, eilten am Rande desselben hin und hielten an einer vorspringenden Ecke des ihn begleitenden Gebüsches, wo sie vorüberkommen mußten, an und duckten uns da nieder. Wir waren da so weit vom Feuer entfernt, daß man von dort aus nicht gehört werden konnte, und so glaubten wir, daß sie, voraussichtlich miteinander redend, sich keine besondere Mühe geben würden, leise zu sprechen. Wie gedacht, so geschehen! Sie kamen bald, und wir hörten, daß Corner zu Sheppard sagte:
»– – es also nicht nötig, den Alten umzubringen. Er hat ein unerschütterliches Vertrauen zu uns und hält uns sogar für Gentlemen!«
»Aber der Junge! Die Sporen zu verlieren! So etwas ist doch gar nicht zu denken! Was thun wir mit dem Kerl?«
»Haben wir ihn bis hierher geschleppt und uns über ihn geärgert, ohne daß wir daran gestorben sind, so wird es wohl die wenigen Tage bis hinauf zum Finding-hole auch noch auszuhalten sein!«
»Well! Aber dann giebt's keine Rücksicht und kein Schweigen mehr. Ich habe es satt, Zeuge von Laffereien zu sein, die in die Kinderstube aber nicht hier herauf in die Rocky-Mountains gehören! Wir reiten jetzt zu ihnen hin, erzählen, daß der Elk uns nicht – –«
Weiter konnten wir nichts hören, denn sie waren nun an uns vorüber. Wir warteten einige Augenblicke und gingen langsam hinterher. Nach kurzer Zeit hörten wir an dem im weichen Grase dumpf klingenden Hufschlage ihrer Pferde, daß sie ihr Versteck verlassen hatten und ein Stück hinaus in die Prairie ritten, um sich den Lachners gegenüber den Anschein zu geben, als ob sie erst jetzt am See ankämen.
Als wir zu Rost zurückkehrten, wunderte er sich, uns so bald wiederzusehen. Er hatte infolge unserer Warnungen erwartet, uns viel später wiederzusehen, freute sich aber darüber, daß er nun nicht länger in der tiefen und für ihn unheimlichen Stille der Nacht so allein zu sein brauchte. Nachdem wir die nächstliegende Aufgabe gelöst hatten, galt es, unsere Pferde trinken zu lassen. Wir ritten also ein großes Stück längs des sich am nördlichen Seeufer hinziehenden Waldes hin und führten dann die Pferde nach dem Flusse, welcher mit dem See in Verbindung stand. Als sie sich sattgetrunken hatten, suchten wir eine zum Aufenthalte während der Nacht passende Stelle, hobbelten da die Tiere an und breiteten unsere Decken aus, um es uns auf ihnen bequem zu machen.
Wir lagen da eine ganze Weile, ohne daß einer von uns ein Wort sagte. Das machte mir heimlich Spaß, denn es war zu denken, daß Rost vor Neugierde brannte, zu erfahren, was wir gesehen und gehört hatten. Er setzte sich bald auf, bald legte er sich wieder nieder, drehte sich bald nach rechts, bald nach links und konnte seine Unruhe je länger desto weniger verbergen. Er wollte aber auch nicht gern für zudringlich gelten. An Winnetou getraute er sich schon gar nicht; darum war ich es, an den er endlich doch das Wort richtete, als er die Ungewißheit nicht länger aushalten konnte:
»Mr. Shatterhand, Ihr liegt so ruhig. Schlaft Ihr vielleicht schon?«
»Nein,« antwortete ich.
»Gott sei Dank! Ich hätte Euch sonst wahrscheinlich aufwecken müssen.«
»Warum?«
»Weil ich doch, so zu sagen, auch ein Geschöpf mit menschlichen Gefühlen und Bedürfnissen bin.«
»Und solche menschliche Gefühle und Bedürfnisse habt Ihr eben jetzt, Mr. Rost? Welche denn wohl?«
»Ach, jetzt seid Ihr endlich das, was ich schon lange bin!«
»Was?«
»Neugierig.«
»Ich habe nicht aus Neugierde, sondern aus Teilnahme für Euch gefragt. Ihr fahrt fortwährend auf und nieder und wendet Euch hin und her, als ob die Gefühle, von denen Ihr redet, recht schmerzliche für Euch seien.«
»Schmerzlich wohl nicht, aber höchst unangenehm. Wenn man das Gefühl hat, ein überflüssiger Mensch zu sein, so empfindet man das dringende Bedürfnis nach dem wohlthuenden Beweise, daß man es wenigstens nicht ganz ist!«
»Überflüssig? Wieso?«
»Das fragt Ihr noch? Hört, Mylord, ich kann gar wohl den rautenförmigen vom Kaputzenmuskel unterscheiden, aber Dinge zu sehen und zu hören, die in der Entfernung von einer englischen Meile oder noch weiter von mir geschehen, das kann ich leider nicht.«
»Wird Euch auch nicht zugemutet, Mr. Rost!«
»Doch! Es wird mir zugemutet, denn wenn Ihr diese Zumutung nicht an mich stelltet, so würdet Ihr die Gewogenheit haben, mir zu erzählen, ob und wie das Anschleichen Euch gelungen ist.«
»Well! Wenn das Euer einziger Schmerz ist, so kann ich Euch davon befreien. Ihr sollt erfahren, was Ihr wissen wollt. Also ob: Ja, es ist uns gelungen. Und wie: Es ist uns sehr gut, über alles Erwarten gut gelungen.«
»Bitte, weiter!«
»Was, weiter? Eure Fragen sind doch beantwortet worden!«
»Aber in was für einer Weise! Haltet mich nicht für einen gewöhnlichen Neugierigen! Hier oben in den Rocky-Mountains, wo die geringste Kleinigkeit zur größten Wichtigkeit werden kann, ist es wohl selbstverständlich, daß ich nicht in Unwissenheit bleiben möchte über das, was Ihr erfahren habt. Ich bitte um Eure freundliche Erlaubnis, Mylord, daß mir meine innere Stimme –«
»Gut! Ich erlaube es Euch,« fiel ich ihm in die Rede, »daß Euch Eure innere Stimme alles sagt, was Ihr so gern wissen wollt.«
»Ihr seid grausam! Meine innere Stimme ist in diesem Augenblicke ebenso unwissend, wie ich selber bin. Darf ich denn nicht wenigstens erfahren, wer die fünf Personen sind, und ob sie auch wirklich, so wie Ihr vermutetet, zusammengehören?«
»Ja, Ihr sollt, Ihr müßt es sogar erfahren. Ich spannte Euch nur ein wenig auf die Folter, weil ich bei guter Laune bin.«
»Ich danke! Also wenn Ihr guter Laune sind, macht Ihr Euch das Vergnügen, andere Leute auf die Folter zu spannen? Erlaubt, daß ich Euch bisher für einen menschenfreundlicheren Herrn gehalten habe!«
»Die Qualen dieser Folter sind nicht so bedeutend, daß sie Eure Gesundheit in Frage stellen werden. Ich kann Euch durch höchst interessante Neuigkeiten entschädigen. Der Prayer-man ist da.«
»Wer – – wie – – was – – – wo?!« fuhr er vor Erstaunen in die Höhe. »Der Prayer-man?«
»Ja.«
»Das ist doch – – im höchsten, höchsten Grade bewundernswert!«
»Ich bewundere es nicht, denn ich habe erwartet, ihn hier oben zu treffen. Ferner ist noch jemand da, den Ihr im Hotel nicht nur gesehen, sondern auch bedient habt. Nämlich der Fremde, welcher mit vier oder fünf Westonleuten am Fenstertische saß.«
»Ich erinnere mich; ich weiß, wen Ihr meint, Mr. Shatterhand. Ich dachte, er werde bei uns logieren wollen; er that es aber nicht.«
»Das ist ihm gar nicht zu verdenken. Er wollte nur etwas holen und sich dann damit schnell aus dem Staube machen.«
»Was?«
»Watters Nuggets.«
»Was Ihr sagt, Mylord! Ein Mitdieb des Prayer-man also? Nicht?«
»Ja. Es ist dieselbe Person, welche mit dem Prayer-man im Zimmer neben dem meinigen gewesen ist. Ihr wolltet das nicht zugeben; ich hatte mich aber nicht geirrt.«
»Also doch, doch! Wißt Ihr, was diese beiden Männer miteinander gesprochen haben?«
»Ja.«
»Was?«
»Das werdet Ihr später erfahren. Es ist noch jemand da.«
»Wer?«
»Der Dieb, welcher – doch, ich will es kurz machen, es sind alle drei Diebe da, der Prayer-man, der die Gelegenheit schaffte, der Einbrecher, der den Goldkasten öffnete, und der Mann, der die Nuggets unten im Hofe in Empfang nahm.«
»Das ist ja ein ganz außerordentlicher Zufall, eine Begegnung, wie wir sie uns gar nicht schöner wünschen können! Wißt Ihr, was mir meine innere Stimme sagt?«
»Etwas Kluges wohl nicht!«
»Oh doch! Diesesmal ist sie nicht ganz so unwissend wie ich selber. Sie sagt mir nämlich, daß diese Diebe die Nuggets mithaben.«
»Ah so!«
»Ja. Wir nehmen sie ihnen ab und geben sie dem rechtmäßigen Eigentümer wieder!«
»Das klingt wunderbar schön und geläufig. Nur schade, daß die Nuggets schon längst verkauft worden sind!«
»Wo?«
»Das weiß ich nicht. Wahrscheinlich in St. Louis.«
»Sie haben sie also nicht mit?«
»Fällt ihnen nicht ein! Wie kommt Ihr überhaupt auf die sonderbare Idee, daß die Diebe das schwere Gold mit hierherauf geschleppt haben? Das wäre doch wohl das Allerverkehrteste, was sie machen könnten. Jeder Goldfinder ist froh, wenn er sein Metall glücklich von hier fortgebracht hat, und diese sollten das ihrige hierher tragen? Jeder Dieb ist vor allen Dingen bemüht, seinen Raub zu Geld zu machen, und diese drei durchtriebenen Schurken haltet Ihr für so blödsinnig, einen halben Centner Nuggets mit sich zu führen, damit man ihnen den Diebstahl beweisen und das Gold wieder abnehmen könne?«
»Ihr habt recht, sehr recht, Mylord! Ich bin vor Überraschung, daß wir die drei Kerle hier beisammenhaben, ganz konfus geworden. Aber, was Ihr mit ihnen thun werdet, das weiß ich doch!«
»Ich bezweifle es.«
»Oh nein, ich weiß es gewiß!«
»Nun, was?«
»Ihr werdet sie ergreifen und hinunter nach Weston schaffen.«
»Fällt uns nicht ein!«
»Was? Nicht? Warum denn nicht?«
»Es giebt mehrere Gründe; der Hauptgrund aber ist der, daß wir keine Zeit dazu haben, weil wir zu den Schoschonen wollen. Sodann beabsichtigen die drei Personen eine neue Schandthat, die wir zwar durch ihre Festnahme verhüten könnten, die uns aber, wenn wir es klug anfangen und uns nicht an ihnen vergreifen, zur Entdeckung eines Finding-hole führen wird. Sie haben zwei Männer, einen alten und einen jungen, heraufgelockt, die Ihr morgen bei ihnen sehen werdet.«
»Was beabsichtigen Sie mit diesen?«
»Auch das werdet Ihr nicht jetzt, sondern später erfahren. Für diesen Augenblick wißt Ihr genug. Ich habe es Euch gesagt, um Euch darauf vorzubereiten, daß der morgende Tag für uns ein höchst interessanter sein wird. Was Ihr da zu thun, und wie Ihr Euch dabei zu benehmen habt, das werde ich Euch morgen unterwegs mitteilen.«
»Unterwegs? Wann geht es fort?«
»Beim Morgengrauen.«
»Mit diesen fünf?«
»Nein.«
»Also hinter ihnen her?«
»Nein, vor ihnen.«
»Ich denke, Ihr müßt ihnen folgen, um ein Finding-hole zu entdecken!«
»Ja; aber morgen werden wir eine Ausnahme machen und ihnen voran reiten, um sie zu erwarten.«
»Kennt Ihr denn den Weg, den sie einschlagen werden?«
»Ja. Doch nun ist's genug für heute. Versucht es, einzuschlafen! Wir werden Euch früh wecken.«
»Kommt heut die Wache nicht mit an mich?«
»Nein. Wir haben gefährliche Menschen in der Nähe; da können wir uns nur auf uns selbst verlassen. Gute Nacht!«
»Gute Nacht, Mylord! Aber schlafen kann ich jetzt noch lange nicht, vielleicht gar nicht bis früh!«
Er legte sich lang und wickelte sich in seine Decke. Ich begriff es leicht, daß ihn eine Art Lampenfieber gepackt hatte. Es war ja das erste bedeutende Abenteuer, welches wir auf diesem Ritte erlebten; die Aufregung darüber brachte ihn um den Schlaf.
Winnetou hatte kein einziges Wort gesagt. Zwischen uns beiden wäre eine besondere Aussprache überflüssig gewesen. Wir kannten uns genau, und wenn uns bestimmte Verhältnisse gegeben waren, so wußte jeder von uns beiden, was der andere davon dachte und dabei zu thun beabsichtigte. Wir waren in unsern Gefühlen, Gedanken und Entschlüssen durch das lange Zusammenleben einander so ähnlich geworden, daß nur in zweifelhaften Fällen eine Frage nötig wurde.
»Gute Nacht, Winnetou!« sagte ich und stand auf.
»Gute Nacht, Scharlih!« antwortete er. »Mein Bruder wacht zuerst, weil er mit seinen Gedanken sprechen muß.«
Das war wieder ein Beweis, wie genau er mich zu beurteilen wußte! Ich entfernte mich eine kleine Strecke und ging dann in der Nähe unseres Lagerplatzes langsam auf und ab. Seit ich Carpio hier wußte, wäre es mir ganz unmöglich gewesen, dem Apatschen die erste Wache zu überlassen und mich schlafen zu legen. Die arbeitsvolle, arme und doch so liebe, schöne Jugendzeit war vor mir aufgestiegen und ließ alle ihre Gestalten, ihre Sorgen und Kümmernisse, ihre Leiden und Freuden an mir vorüberziehen. Der Mensch ist eine gehende Pflanze, deren Wurzeln doch nirgends anders als in der Jugendzeit ruhen. Aus ihr holt er sich noch im spätesten Alter, vielleicht ohne es zuzugeben oder es auch nur zu wissen, eine Menge geistiger Nahrungsstoffe, ohne welche sein Gemüt verdorren müßte!
So patrouillierte ich hin und her bis weit nach Mitternacht; dann weckte ich den Häuptling. Er machte mir Vorwürfe:
»Warum hat mich mein Bruder erst jetzt geweckt? Wir müssen in zwei Stunden aufbrechen! Howgh!«
Ich legte mich nieder und war dank des glücklichen Umstandes, daß man doch schließlich kann, was man will, bald eingeschlafen. Als ich geweckt wurde, standen die Pferde bereit, obgleich der Morgen nur einen kaum bemerkbar leisen Schimmer aus dem Osten herüberwarf. Wir stiegen auf und ritten nordwärts am Flusse hin, bis eine Furt kam, welche wir genau kannten. Dort ging es hinüber nach dem andern Ufer.
Auf diesem Wege hatten wir uns zwar von der Richtung entfernt, welche Corner mit seinen Begleitern jedenfalls einzuschlagen beabsichtigte, aber wir entgingen dadurch der Gefahr, daß unsere Spur von ihnen bemerkt wurde, und waren überzeugt, daß wir diesen Umweg mit Leichtigkeit quitt machen würden.
Uns auch ferner immer nördlich haltend, bis wir uns ungefähr in gleicher Breite mit den allerdings sehr fernen Squaw-Mountains befanden, bogen wir nach Westen um und ließen nun unsere Pferde tüchtig ausgreifen, denn es galt, den Medicine-Bow noch vor den Finding-hole-Suchern zu erreichen. Es war um die Mittagszeit, als wir dort ankamen, und Winnetou lenkte, nachdem wir die Pferde im Creek getränkt und durch ein Bad erfrischt hatten, nach den steilen Höhen des Tutsil ein.
Wir wollten nicht etwa ganz hinauf, sondern nur so weit, bis wir einen für unsere Zwecke genügenden Ausblick über die weite Ebene hatten; dann stiegen wir ab und gaben die Pferde frei, daß sie nach Belieben weiden konnten. Während ich mich mit Rost unter einen Baum setzte, entfernte sich Winnetou. Er nahm das Gewehr mit, und so wußte ich, daß er Fleisch holen wollte. Es dauerte auch gar nicht lange, so hörten wir zwei Schüsse, und als er dann kam, brachte er zwei so große Berghühner, daß wir für einen vollen Tag zu essen hatten. Sie wurden abgezogen und an einem schwachen Feuer gebraten, bei welcher Arbeit wir aber nicht versäumten, fleißig nach den erwarteten fünf Reitern auszublicken.
Grad als wir gegessen hatten, sahen wir sie kommen. Sie befanden sich noch weit draußen am Horizonte, doch erkannten wir schon nach kurzer Zeit die Richtung, welche sie nahmen, und konnten nun nach der Beschaffenheit des hiesigen Terrains ganz genau den Punkt bestimmen, an dem wir ihnen am besten entgegenzutreten vermochten. Dorthin ritten wir, nachdem wir unsere Pferde erst wieder den Berg hinabgeführt hatten.
Sie kamen den Bow-Creek entlang. Wir hatten eine Stelle gewählt, wo sie einen langen, schmalen Rasenstreifen überschreiten mußten, der links vom Flusse und rechts von dicht stehenden Erlenbäumen eingefaßt wurde. Winnetou sollte ihnen wie zufällig begegnen; er blieb also zurück; ich aber ritt mit Rost, um auf dem Grase keine Spur zu machen, von hinten in das Erlendickicht hinein und drang darin bis zum vordern Rande vor. Von hier aus mußten wir das Zusammentreffen Winnetous grad vor Augen haben. Während wir hier warteten, unterrichtete ich Rost, wie er sich zu verhalten habe. Er war voll Begierde, dem Prayer-man eine Rede zu halten, von der ich erwartete, daß sie weniger fromm ausfallen werde, als die Ausdrucksweise des salbungsvollen Schriftenhändlers in Weston gewesen war.
Hierbei muß ich erwähnen, daß Sheppard gestern abend, als wir ihn und Corner belauschten, sich nicht etwa dieser gewählten Redeweise bedient hatte; seine Ausdrücke waren im Gegenteile genau so ordinär wie die Corners, so daß es mir unmöglich gewesen ist, sie wiederzugeben. Wer sie hörte, mußte schon gleich nach den ersten Sätzen zu der Überzeugung kommen, daß diese beiden Menschen auf der niedrigsten Stufe moralischen Wertes oder vielmehr Unwertes standen.
Wir brauchten nicht allzulange zu warten, so verrieten uns ihre lauten Stimmen, daß sie kamen. Sie hatten um eine Krümmung des Creek zu biegen, bis wir sie sahen. Der Prayer-man ritt mit Corner voran; ihnen folgte Eggly mit dem alten Lachner, und hinter diesen kam Carpio allein.
Wenn ich nicht gewußt hätte, wer es war, so glaube ich nicht, daß ich ihn auf den ersten Blick erkannt hätte. Ja, es waren seine Gesichtszüge, aber viel, viel älter, älter nicht bloß im Vergleich mit seinem damaligen jugendlichen Gesichte, als ich ihn zum letztenmal gesehen hatte, sondern auch älter, als er eigentlich jetzt nach seinen Jahren war. Die Augen lagen tief in ihren Höhlen; die Wangen waren eingefallen, und seine Haltung war eine so müde, als ob er mehrere Tage lang nicht aus dem Sattel gekommen wäre. Übrigens werde ich mich wohl hüten, von der Art und Weise zu sprechen, wie er auf dem Pferde saß. Ich habe meinen guten Carpio noch heute viel zu lieb, als daß ich so rücksichtslos sein möchte, ihn in den Augen meiner lieben Leserinnen und Leser so schmählich herabzusetzen, zumal ja auch ohnedies bei jedem Schritte des Pferdes zu befürchten war, daß es ihn herabsetzen werde. Man hatte ihm den schlechtesten Gaul gegeben, bei dessen stoßendem Gange es kein Wunder war, wenn dem ungeschulten Reiter alle Knochen im Leibe schmerzten. Er sah so elend, so mitleiderweckend aus, daß ich am liebsten hinausgesprungen wäre, um ihn an das Herz zu drücken, die andern aber alle gleich mit den Fäusten niederzuschlagen! Diese andern waren gar nicht übel beritten; zumal Corner saß auf einem Fuchse, den zu reiten auch ich mich nicht geschämt hätte.
Als sie beinahe in gleicher Linie mit uns waren, stutzten sie. Corner hielt sein Pferd an und rief:
»Hallo, ein Indianer! Paßt auf! Ah, es scheint doch nur einer zu sein!«
Die andern vier hielten auch an. Ich hatte auch jetzt nur Carpio im Auge und sah, wie der Ausdruck seines Gesichtes beim Anblick Winnetous Bewunderung verriet. Dieser kam langsam von rechts her geritten; er hielt sein Pferd an, überflog die Weißen mit einem beleidigend gleichgültigen Blicke und sagte:
»Fünf Bleichgesichter! Uff! Sie mögen zur Seite weichen, daß ich vorüber kann!«
»Ausweichen?« lachte Corner. »For shame! Vor einem roten Halunken im ganzen Leben nicht! Mach dich von dannen, Rothaut, sonst bekommst du die Faust in das Gesicht!«
»Pshaw!« war die kurze aber unendlich verächtlich klingende Antwort des Apatschen.
»Hund, du antwortest mir mit einem Pshaw?« schrie Corner. »Da hast du deinen Lohn!«
Er gab seinem Pferde die Sporen, um es mit einigen raschen Sätzen an Winnetou vorüberzutreiben, und erhob die Faust zum Schlage dabei.
»Tschah!« rief Winnetou seinem Hengste zu.
Dieser that einen mächtigen Sprung zur Seite, prallte mit dem Fuchse zusammen, und im nächsten Augenblicke wälzte sich dieser mit seinem Reiter an der Erde. Das Pferd sprang schnell wieder auf; Corner aber kam viel langsamer wieder auf die Beine. Er hatte sein Gewehr verloren und wollte nach dem Revolver greifen; da aber hatte Winnetou schon seine beiden in den Händen und drohte blitzenden Auges:
»Da sind fünf Bleichgesichter und hier in meinen Händen zwölf Schüsse. Welches Bleichgesicht die Hand nach einer Waffe bewegt, bekommt sofort eine Kugel!«
Die Weißen kannten die Gesetze und Gebräuche des wilden Westens: Wer die Schußwaffe am schnellsten in der Hand hält, hat gewonnen. Es fiel Winnetou nicht ein, das gewöhnliche »Hands up!« zu befehlen; er war seiner Sache gewiß, auch ohne die fünf Weißen zu zwingen, ihre Hände hochzuhalten. Seine gebieterische Haltung wirkte ebenso wie sein Revolver; Corner ließ die Hand vom Gürtel, sagte aber drohend:
»Mensch, du hast mich umgeritten! Weißt du, was das heißt?«
»Mann, du hast mich schlagen wollen! Weißt du, was das heißt?« antwortete Winnetou.
»Pshaw! Einen Indianer schlagen! Diese Kerle verdienen nichts als Hiebe!«
»Auch Winnetou, der Häuptling der Apatschen?«
Bei diesem Namen horchten alle fünf hoch auf.
»Alle Teufel! Soll das vielleicht heißen, daß du Winnetou, der Apatsche, bist?« fragte Corner.
»Ich bin es!«
»Wenn das die Wahrheit ist, so lasse ich mich – – – Donnerwetter! Ja, er ist es! Das ist ja die berühmte Silberbüchse! Und dieses Pferd ist Iltschi, der schwarze Hengst! Ja, das ist etwas anderes; du kannst deinen Weg fortsetzen. Wir thun dir nichts!«
»Uff! Ihr thut Winnetou, dem Häuptling der Apatschen, nichts?« fragte er mit einer verächtlichen Handbewegung. »Zwölf Kugeln sind gegen euch gerichtet, und dieses Bleichgesicht ist so gnädig, zu versichern, daß mir nichts geschehen soll! Winnetou reitet, wann und wohin er will; jetzt aber bleibt er hier, denn er hat mit euch zu sprechen. Du hast die Hand gegen ihn erhoben und ihn einen Hund genannt! Was bist denn du? Was kann überhaupt ein Bleichgesicht sein, wenn es Corner heißt?«
»Was? Du kennst meinen Namen?«
»Pshaw! Winnetou kennt alle fünf! Wer Corner, Eggly und Sheppard heißt, der stiehlt fremde Nuggets und tötet ihre Besitzer! Ihr seid stinkende Coyoten! Für euch sind meine Kugeln nicht, weil ich sie nur für ehrliche Menschen habe. Euch reite ich mit den Hufen meines Rosses in die Erde!«
Er steckte beide Revolver in den Santillogürtel zurück. Nun sie in seinen Händen keine Waffe mehr sahen, bekamen die Kerle Mut.
»Was sollen wir sein, und was haben wir gethan?« rief der gewesene Prayer-man. »So eine Beleidigung dulden wir selbst von Winnetou nicht! Wir haben auch Gewehre und Revolver!«
Er wollte sein Gewehr von der Schulter nehmen; da deutete der Apatsche mit überlegenem Lächeln zu den Erlen herüber und drohte:
»Das Bleichgesicht Sheppard mag sein Gewehr ruhen lassen, denn dort blickt der Henrystutzen meines Bruders Shatterhand heraus!«
Aller Augen richteten sich nach der Stelle, wo ich den Lauf des Stutzens durch das Gesträuch hielt.
»Donner!« schrie Corner. »Das scheint ein regelrechter Überfall zu sein! Winnetou nimmt uns von vorn, und Old Shatterhand von der Seite. Sie haben schon lange hier gesteckt, um auf uns zu warten. Was wollt ihr von uns?«
Da trieb auf meinen Wink Rost sein Pferd aus dem Versteck hinaus und sagte:
»Was wir von euch wollen, brauchen wir euch doch wohl nicht erst zu sagen! Der Prayer-man wird wohl wissen, wer ich bin!«
Der Genannte starrte ihn einige Zeit wie abwesend an, schlug dann eine forcierte Lache auf, die sehr verlegen klang, und sagte:
»Der Kellner aus Weston; wahrhaftig der Kellner ist's! Was hat denn Euch hier in diese Berge getrieben, Mr. Rost?«
»Ich suche Mr. Watters Nuggets,« antwortete dieser.
»Sind die hier oben? Er hat sie wohl vergessen gehabt und dann gedacht, daß sie ihm gestohlen worden seien?«
»Laßt Euern Witz! Wir wissen, woran wir sind!«
»Wir? Wen meint Ihr da? Etwa Euch?«
»Nein, sich nicht allein, sondern auch mich,« antwortete ich nun, indem ich die Erlen auch verließ. »Herunter von den Pferden!«
Ich hatte den Stutzen wieder umgehängt und jetzt die Revolver in den Händen. Es trat eine kurze, tiefe Stille ein; dann schrie der Prayer-man mit vor Erstaunen hoher Fistelstimme:
»Das – – das – – das ist ja der famose Mr. Meier, welcher so schöne Weihnachtsverse macht! Und in einem solchen Anzuge – –! Da denkt man doch gleich – –«
»Herunter von den Pferden!« wiederholte ich, ihn unterbrechend.
Corner stand schon oder vielmehr noch unten. Eggly hatte die Situation begriffen und stieg ab. Sheppard aber machte keine Anstalt, meinem Befehle zu gehorchen; da nahm ich meinen Rappen fest zwischen die Schenkel, schoß in zwei schlanken Lanzaden auf ihn zu und an ihm vorüber und schlug ihn dabei mit der Faust an den Kopf, daß er die Bügel verlor. Den in der rechten Hand gehaltenen Revolver hatte ich natürlich mit in die linke genommen. Sein Pferd bäumte sich und warf den halb Besinnungslosen in das Gras.
Meinen Hengst wieder umdrehend, hatte ich Carpio vor mir. Seine Augen waren aus weit aufgerissenen Lidern auf mich gerichtet, als ob sie aus ihren Höhlen treten wollten.
»Du bist – – bist – – bist – – Ihr seid – – seid Old Shatterhand?« stotterte er in seinem Schulbuch-Englisch.
»Ja, ich bin Old Shatterhand,« antwortete ich, um das, was jetzt vor allen Dingen notwendig war, nicht durch eine Erkennungsscene aufzuheben. »Setzt euch in das Gras, ihr drei, und legt die Waffen hinter euch! Schnell gehorcht, sonst reite ich euch zu Brei zusammen!«
Eggly setzte sich nieder und legte sein Messer und die Revolver hinter sich. Corner that dasselbe. aber zähneknirschend. Dann hinkte auch Sheppard herbei und setzte sich zu ihnen.
»Nun möchte ich aber doch wissen, was diese Komödie eigentlich bedeuten soll?« fragte Corner mit jener verwegenen Frechheit, welche das letzte Mittel der Verteidigung ist.
»Das werdet ihr sogleich erfahren,« antwortete ich, indem ich nun auch vom Pferde stieg. »Ich möchte euch eine Frage vorlegen. Ihr drei habt in Weston Watters Nuggets gestohlen?«
»Fällt uns nicht ein!«
»Well! Ganz wie ihr wollt. Ich bin weder der Bestohlene noch der Sheriff oder gar der Richter. Behaltet also, was ihr wißt, für euch. Aber mit diesem alten Mr. Lachner habe ich ein desto notwendigeres Wort zu reden.«
Der Alte war, ebenso wie Carpio, auch abgestiegen; ich wendete mich an ihn:
»Mr. Lachner, Ihr befindet Euch in schlechten Händen. Wie kommt es, daß Ihr Euch mit Mördern und Dieben verbündet habt?«
»Mördern und Dieben?« fragte er. »Ihr irrt Euch, Sir! Diese Gentlemen sind die ehrlichsten Leute, die es in den Staaten geben kann!«
»Da seid Ihr es, der sich irrt. Ich kenne sie besser. Diese drei hartgesottenen Sünder, welche Ihr Gentlemen zu nennen beliebt, haben, von noch andern Verbrechen ganz abgesehen, einen gewissen Welley, welcher für zwanzigtausend Dollars Nuggets den Platte hinunter mit sich führte, erschossen und sich seines Goldes bemächtigt. Sie sind dann seinem Gefährten nach Weston gefolgt und haben ihm einen halben Centner Gold gestohlen. Sie sind dort auch bei einem Händler und in Plattsburg bei einem Advokaten eingebrochen. Von der Polizei verfolgt, so daß sie sich im Staate Missouri nicht mehr sehen lassen können, führen sie nun Euch in die Berge, um Euch Euer Geld abzunehmen.«
Die drei Beschuldigten erhoben laut schreiend Widerspruch; ein ernster, drohender Wink von Winnetou aber brachte sie schnell zum Schweigen.
»Ich rate Euch, von ihnen abzulassen!« fuhr ich fort. »Ihr dürft Euch doch nicht mit solchen Halunken abgeben!«
»Seid Ihr dabei gewesen, als sie den Mann im Plattefluß erschossen?« fragte der Alte.
»Nein.«
»Habt Ihr sie bei den Einbrüchen in Weston und Plattsburg beobachtet?«
»Nein.«
»Seid Ihr zugegen gewesen, als ich mein Geschäft mit ihnen abgeschlossen habe?«
»Nein,« antwortete ich auch jetzt. Ich durfte ja nicht alles verraten, was ich wußte, weil ich da meine Waffen gegen sie aus der Hand gegeben hätte.
»So ist es Euch also unmöglich, Eure Anschuldigungen zu beweisen. Wenn Ihr Old Shatterhand seid, so seid Ihr ein berühmter West-, aber kein berühmter Geschäftsmann, von dem ich einen Rat annehmen würde. Diese drei Herren sind Gentlemen; ich kann das beschwören und werde nicht von meiner Verbindung mit ihnen weichen. Wie kommt es überhaupt, daß Ihr glaubt, Euch meiner Sache annehmen zu müssen?«
»Ich bin der Freund eines Verwandten von Euch.«
»Wer ist dieser Verwandte?«
»Euer Neffe Hermann, da neben Euch.«
»Ihr? Sein Freund?«
Ehe ich antworten konnte, antwortete Carpio an meiner Stelle. Er hatte noch immer kein Auge von mir gelassen, und in seinem Gesichte arbeitete es immer fort; der Zweifel stand im Kampfe mit der Hoffnung, sich dennoch nicht zu täuschen. Als er jetzt meine Worte hörte, schrie er förmlich auf:
»Sappho! Du bist's; du bist es wirklich? Ich habe mich also nicht geirrt?«
»Nein, lieber Carpio, ich bin dein alter, treuer Mitschüler und Ferienkamerad.«
Da wankte er auf mich zu, schlang die Arme um mich und weinte bitterlich, als ob ihm das Herz brechen wolle. Und aus dem aus der Tiefe kommenden Schluchzen heraus hörte ich die halblaute Bitte:
»Verlaß mich nicht, Sappho, verlaß mich nicht! Ich gehe sonst zu Grunde. Der Onkel mag mich nicht leiden, und die andern trachten mir gar nach dem Leben!«
»Fürchte dich nicht!« beruhigte ich ihn. »Wenn du bei mir bist, befindest du dich in guter Hut.«
»Ja, bei dir, wie damals, als ich auch nur immer dich allein hatte!«
Der Alte mochte doch einige der halblauten Worte verstanden haben, denn er fragte mich in giftigem Tone:
»Was hat er gesagt? Was meinte er von nach dem Leben trachten?«
»Euch hat er nicht gemeint!«
»Wen denn? Er gehört zu mir. Ich bin sein Oheim und folglich derjenige, der über ihn zu bestimmen hat. Auf Eure ›gute Hut‹ kann er verzichten! Laßt ihn los!«
»Mr. Lachner, Ihr seid nicht mein Onkel! Ich thue, was ich will. Hermann ist jetzt bei mir, und wo er ist, da wird er bleiben, so lange es ihm gefällt!«
»Oho! Her mit ihm!«
Er wollte uns auseinanderreißen; ich hinderte ihn aber daran, schob ihn von uns ab und sagte:
»Euer Neffe ist mündig; Ihr habt ihm nichts zu befehlen!«
»Ihr mir auch nicht!« fuhr er mich grimmig an.
»Hier an dieser Stelle doch, denn da sind wir die Herren, wie wir Euch bewiesen haben. Ich habe Euch vor Euern drei Gefährten gewarnt und also meine Pflicht gethan. Wollt Ihr nun also wirklich weiter zu ihnen halten?«
»Ja. Wie ich jetzt vermute, seid Ihr jener Schüler, mit dem mein Neffe eine Weihnachtsreise gemacht hat?«
»Ja.«
»Und doch seid Ihr jetzt Old Shatterhand? Hört, einen größern Bock konnte das Schicksal gar nicht schießen! Ich habe diesen Old Shatterhand stets für einen tüchtigen Kerl gehalten; jetzt aber bin ich anderer, ganz anderer Meinung geworden. Wer schon als Knabe ein so unsinniger Leichtfuß gewesen ist, aus dem kann nun unmöglich ein Mann geworden sein, der mir gute Lehren geben darf. Nun grad, weil Ihr sie so verleumdet, werde ich erst recht zu diesen Herren halten!«
»Well! Wenn Ihr auf Eurem Willen bestehen wollt, so bin grad ich der allerletzte, der etwas dagegen haben wird. Wir sind, so hoffe ich, mit einander fertig!«
»Ja, und zwar für immer! Ich reite fort!«
Er trat von mir zurück. Da rief der Prayer-man:
»Und was wird mit uns? – Wir reiten natürlich mit?«
»Ja, Ihr reitet mit,« antwortete ich. »Ich habe gesagt, daß ich nicht Euer Richter bin, und weil ich auch keine Polizeigewalt besitze, so kann ich Euch nicht festhalten.«
»Fort also!«
Er wollte aufstehen.
»Wartet noch eine Weile!« hinderte ich ihn. »Wir sind nämlich noch nicht ganz fertig mit einander. Ich habe zwar jetzt, aber auch nur jetzt, keine Gewalt über Euch; aber sobald Ihr nur die geringste Feindseligkeit gegen uns zeigt, treten die Gesetze der Prairie in ihre Rechte, und dann sind wir Polizei, Jury und Vollstrecker des Urteiles zu gleicher Zeit. Hütet Euch also! Ihr habt mich schon in Weston kennen gelernt! Und nun noch eins. Der junge Mr. Lachner geht nicht mit Euch; er bleibt bei uns, und – –«
»Oho!« rief der Onkel. »Er geht mit mir, und sollte ich meine alten Fäuste selbst an diesem Old Shatterhand – –«
»Schweigt!« fiel ich ihm in die Rede. »Ich habe Euch gesagt, daß wir hier die Herren sind, und dabei hat es zu bleiben!«
»Meint Ihr? Da will ich Euch doch zeigen, wer der Herr ist, Ihr oder ich!«
Er drang auf mich ein. Es widerstrebte mir, mit einem alten und noch dazu mir so widerwärtigen Manne zu ringen, aber um einen langen Wortstreit zu vermeiden und die Sache kurz zu machen, packte ich ihn hüben und drüben fest, hob den wütend mit Händen und Füßen um sich Stoßenden und Schlagenden empor, trug ihn die wenigen Schritte bis hin an den Creek und legte ihn da, so lang er war, ins kalte Wasser, wobei ich seinen Kopf einigemal untertauchte; dann ließ ich es geschehen, daß er heraussprang und jammernd und schimpfend zu seinem Pferde eilte. Er nahm es am Zügel, zog es mit sich fort und rief:
»Ich gehe; ich gehe weiter! Wir sind jetzt die Besiegten; aber wenn ich diesem Taugenichts, von dem man gar nicht weiß, wie er zu dem Namen Shatterhand gekommen ist, wieder einmal begegne, rechne ich mit ihm ab. Hundert Prozent Zinsen wenigstens muß er bezahlen!«
Dieser hohe Zinsfuß war ihm, dem Gurgelabschneider, freilich eine geläufige Sache! Ich sagte mir jedoch, daß nicht die Abneigung gegen mich, sondern der Geiz, die Habsucht es war, was ihn bestimmte, den offenbaren Verbrechern treu zu bleiben. Er stand ja in moralischer Beziehung ebenso tief wie sie.
Als er fort war, wendete ich mich wieder zu ihnen:
»Winnetou, der Häuptling der Apatschen, ist doppelt beleidigt worden; das darf nicht ungeahndet hingehen, doch soll die Strafe eine milde sein und zugleich dem, den ihr bis jetzt gepeinigt habt, Nutzen bringen. Auf diese Weise tragt ihr einen Teil eurer Schuld an ihn ab. Mr. Lachner hier hat nämlich kein gutes Pferd; er darf aber kein schlechtes haben, weil er bei uns bleiben soll. Darum wird er von jetzt an Corners Fuchs reiten. Auf seinen bisherigen Klepper kann sich setzen, wer von euch Lust hat. Für solche ›Gentlemen‹ ist er gut genug!«
Diese Entscheidung rief bei Corner einen wahrhaft vulkanischen Ausbruch des Zornes hervor. Er schleuderte mit Ausdrücken um sich, für welche kein gewöhnlicher und noch viel weniger ein gebildeter Mann eine Wiederholung hat. Der Teufel in ihm zeigte sich in seiner ganzen Gestalt, und seine zwei Gefährten stimmten in die Flüche und Verwünschungen ein, welche er mir entgegenwarf.
»Mein Bruder Scharlih mache es kurz mit ihm!« rief Winnetou, dem es auch unmöglich war, die Schmähungen länger anzuhören.
»Ja, kurz,« sagte ich. »Wenn nicht augenblicklich Stille eintritt, fliegt auch Ihr ins Wasser, kommt aber nicht so leicht wieder heraus!«
»Wirf mich hinein, Schurke, wenn du es wagst!« schrie Corner. »Ein Lump, der die Nuggets in Weston selbst gestohlen hat und nun die Schuld auf andere schiebt, hält es freilich nicht für eine Schande, mir mein Pferd zu stehlen. Ich speie dich an!«
Er führte diese Drohung wirklich aus. Das war mir denn doch zu viel. Ich warf mich auf ihn nieder, um ihn zu fassen, und das war mein Glück, denn in diesem Augenblicke krachte ein auf mich gezielter Schuß, der mich getroffen hätte, wenn ich nur einen Moment länger stehen geblieben wäre. Das zeigte sich später, als wir sahen, daß die Kugel den Hals des hinter mir stehenden Pferdes von Eggly gestreift hatte. Und nun gab es eine kurze aber höchst anstrengende Scene. Die drei Kerle griffen nach ihren Revolvern hinter sich. Corner hatte ich fest unter mir, doch gelang es ihm auch, seine Waffe zu erfassen. Sheppard und Eggly richteten die Läufe auf mich; dem letzteren schlug ich die Hand weg, und den ersteren riß Rost zurück. Winnetou, welcher erst dem alten Lachner, denn dieser hatte auf mich aus dem Hinterhalte geschossen, nacheilen wollte, wendete sich schnell um und kam uns zu Hilfe. Er drückte Eggly zu Boden und hielt ihn fest. Ich schlug Corner an den Kopf, daß er wie tot zurückfiel. Sheppard rang noch mit Rost; ich gab ihm meinen Jagdhieb mit demselben guten Erfolge, und inzwischen war der Apatsche mit Eggly fertig geworden; er hatte ihm die Luftröhre zusammengedrückt, daß ihm die Besinnung vergangen war. Zwei Minuten später waren alle drei gefesselt.
Carpio stand wie im Traum da; er bewegte sich nicht, klagte aber nun mit bebender Stimme:
»Mein Gott! Ist es denn wirklich möglich, daß solche Dinge geschehen können? Ich habe geglaubt, daß sie nur in blutrünstigen Romanen vorkommen!«
»Im Leben kommen sie so vor, wie sie hier geschehen sind,« antwortete ich. »Ein Romanschreiber aber würde von uns acht Personen wenigstens fünf bis sechs in dieses schöne Gras haben beißen lassen.«
»Uff!« ließ sich Winnetou hören, indem er flußabwärts zeigte, wo man den fliehenden Alten reiten sah.
»Laß ihn!« antwortete ich. »Er nimmt die Strafe mit sich fort; sie läßt ihn doch nicht los!«
»Ich sah ihn dort hinter dem Strauche am Ufer stehen und auf Euch schießen,« erklärte Rost.
»Er hat mich nicht getroffen; die Folgen aber werden ihn selbst desto sicherer treffen. Ich wiederhole, laßt ihn fliehen!«
Das Zusammentreffen mit diesen Leuten hatte sich ganz anders entwickelt, als von uns beabsichtigt gewesen war. Ich hatte nur Carpio und wo möglich auch seinen Oheim retten, nicht aber es zu einem Kampfe kommen lassen wollen; er hatte dennoch stattgefunden, glücklicherweise ohne Blutvergießen, denn die wenigen Tropfen, die aus der sehr leichten Streifwunde des Pferdes rannen, waren doch nicht zu rechnen. Nun fragte es sich, was jetzt geschehen solle. Ich warf einen fragenden Blick auf Winnetou. Er deutete stumm auf die Waffen der Überwundenen und dann auf diese selbst, wobei er die mit der Fläche nach unten gerichtete Hand schwer niedersinken ließ. Ich verstand diese Zeichen genau und sagte zu Rost und Carpio:
»Diese drei bleiben gefesselt hier liegen. Dein Oheim, Carpio, wird sicher wiederkommen und sie losbinden. Ihre Revolver nehmen wir mit; die Messer und Gewehre aber lassen wir ihnen.«
»Warum nehmen wir diese nicht auch?« fragte Rost.
»Weil wir sie dadurch dem Hungertode überliefern würden; sie könnten sich kein Fleisch verschaffen. Den alten Gaul vertauschen wir gegen den Fuchs; dann reiten wir fort.«
»Wohin?« fragte Carpio. »Doch heim?«
»Was nennst du heim?«
»Ich weiß es nicht. Wo aber wohnst denn du?«
»Überall und nirgends.«
»Hast du keine Anstellung?«
»Nein.«
»Wie jammerschade! Warum denn nicht?«
»Ich mochte keine.«
»Du mochtest keine!« wiederholte er. »Und ich, ich armer Teufel, wäre mit der geringsten zufrieden gewesen! Ich glaubte dich in irgend einem schönen Amte und habe erst gestern zu meinem Onkel gesagt, daß – –«
»Daß du hier im wilden Westen herumirren mußt, während ich daheim eine jedenfalls sehr gute Anstellung bekleide,« fiel ich schnell ein.
»Das – – ja, so habe ich gesagt, genau so! Aber, Sappho, woher kannst du das wissen?«
»Von dir selbst.«
»Wie ist das möglich? Ich verstehe dich nicht.«
»Als du es sagtest, lag ich mit Winnetou hinter dir im Gebüsch. Wir belauschten euch.«
»Aber – aber, lieber Sappho, das ist doch ganz genau so, wie man es in Indianerbüchern liest!«
»Und wie man es noch plastischer im wilden Westen selbst erleben kann. Wir werden darüber noch mehr sprechen, als jetzt möglich ist.«
»So bist du ein Westmann, ein wirklicher Westmann geworden?«
»Ja.«
»Wie wunderbar, wie wunderbar! Aber wie bist du denn auf den tollkühnen Gedanken gekommen, dich hier im Blute der roten Rasse zu baden? Du warst doch sonst ein so lieber, guter und mitleidiger Mensch!«
»Zunächst diene dir zur Beruhigung, daß ich mich nicht in diesem Blute bade; ich bin vielmehr als Indianerfreund bekannt. Und sodann bemerke ich, daß der Westmann, der ich bin, nur ein Teil von mir ist. Ich bestehe nämlich noch aus einigen anderen Existenzen.«
»Höre, du bist mir ein Rätsel, ein großes Rätsel geworden! Du scheinst ja mitten in lauter Geheimnissen zu stecken!«
»Vielleicht ist es umgekehrt: die Geheimnisse stecken in mir oder vielmehr in meinen Taschen. Da in meiner rechten Jagdrocktasche habe ich zum Beispiel eins, welches sich auf dich bezieht.«
»Auf mich? Ein Geheimnis? Du machst mich neugierig. Darf ich es erfahren?«
»Ja. Kennst du das?«
Ich gab ihm die gestern im Moose gefundenen Sporen; er betrachtete sie und sagte:
»Wie kommst du zu diesen Sporen? Ich kenne sie.«
»Ich habe sie im Walde, ganz in der Nähe eures Lagerplatzes gefunden.«
»Dort? Also habe ich doch recht gehabt!«
»Womit?«
»Mit meiner Behauptung, welche der Onkel nicht glauben wollte. Das hier sind seine Sporen.«
»Nicht die deinigen?«
»Nein.«
»Ganz gewiß nicht?«
»Ganz gewiß! Ich werde doch meine Sporen von denen meines Onkels unterscheiden können! Ich hatte die meinigen heruntergemacht, weil sie mein Pferd, dessen Seiten sehr gefühlvoll waren, unaufhörlich kitzelten. Ich gab sie dem Onkel; er sollte sie aufbewahren; das ist ihm sehr willkommen gewesen, und er hat sie angesteckt, weil er die seinigen verloren hatte.«
»Lieber Carpio, ist das nicht vielleicht eine Verwechslung?«
»Verwechslung? Bitte, wie kannst du eine solche unmotivierte Frage aussprechen! Du kennst mich doch von früher ganz genau, genauer, als jeder andere Mensch mich kennt, und mußt also wissen, daß mir dergleichen Schwächen und Unbegreiflichkeiten himmelweit fernliegen. Ich kann mich ohne Überhebung rühmen, daß ich mich einer Verwechslung oder sonstigen Zerstreutheit in meinem ganzen Lebens niemals schuldig gemacht habe. Bei mir geht alles seinen richtigen, logisch vorgeschriebenen und unfehlbaren Gang. Ich bin vielleicht sogar zu logisch für das Leben und habe es nur deshalb noch zu nichts gebracht. Leider hat das Geschick grad mich dazu aus ersehen, immer und immerwährend unter den Gedankenlosigkeiten meiner Mitmenschen zu leiden. Ich mag hinkommen, wo es nur immer sei, stets treffe ich eine Person, welche eine Konfusion anrichtet. Sogar dich kann ich nicht davon ausnehmen, obgleich du mir teurer als jeder andere bist.«
»Mich?« fragte ich erstaunt.
»Ja, du brauchst dich nicht zu wundern, und auch ich wundere mich ganz und gar nicht darüber, daß du es nicht zugeben willst, denn grad alle diese verworrenen Menschen halten sich geradezu für wahre Muster der Ordnungsliebe und Regelmäßigkeit; du jedenfalls auch!«
»Ich will meine Fehler ja gern eingestehen, wenn du sie mir bezeichnen kannst. Erinnerst du dich einer solchen Konfusion von mir?«
»Einer großen, außerordentlichen Verwechslung, unter welcher meine Ehre sehr zu leiden hatte. Ich habe aber damals geschwiegen und alles auf mich genommen, um dich nicht zu kränken.«
»Nun, bitte!«
»Erinnerst du dich unsers Nachtlagers bei dem Wirte Franzl in Falkenau?«
»Ja.«
»Du hattest damals sehr starke Cigarren geraucht und infolgedessen nichts gegessen. Es kam wohl auch ein kleiner Weinrausch dazu; kurz und gut, du konntest nichts genießen und bekamst darum mitten in der Nacht einen solchen Heißhunger, daß du eine ganze große Magenwurst aufgegessen und dann, um dies zu verbergen, die leere Haut voll Bettfedern gestopft hast. Erinnerst du dich noch?«
»Hm, ja!«
»Damit nicht genug, hast du auch noch einen ganzen Kuchen verzehrt; ich kann es jetzt nicht mehr behaupten, ob es ein Quark- oder ein Apfelkuchen gewesen ist. Am andern Tag warst du natürlich zum Zerplatzen voll und so magenkrank, daß du dich kaum im Schlitten aufrecht halten konntest. Ich habe dein trübseliges Gesicht noch heute so genau und deutlich wie damals vor meinen Augen. Natürlich wurde das Fehlen eines Kuchens und einer Wurst bemerkt, und da ein Schwerkranker, welcher du doch warst, unmöglich soviel Wurst und Kuchen verzehren kann, fiel der Verdacht auf mich, und ich habe ihn in stiller Ergebung getragen. Bist du nun überzeugt, lieber Sappho?«
Armer, armer Carpio! Also so weit war es schon mit ihm gekommen! Ich mußte mir alle Mühe geben, meinen Blick nicht in sein Gesicht, sondern auf die Erde zu richten, wie einer, der seine Schuld erkennt. Dann antwortete ich:
»Ja, leider war der Heißhunger gar so groß! Ich bin dir heut noch dankbar für deine damalige Aufopferung.«
»Sprich nicht von Dank, ich habe es gern gethan! Du hast aber damit einen höchst eklatanten Beweis, daß ich wirklich dazu prädestiniert bin, das Unheil, welches andere anrichten, auf mich zu nehmen. Ich bin das so gewohnt, daß ich es für ganz selbstverständlich halte. Was will dieser Gentleman? Er greift in meine Taschen!«
Rost wollte nämlich den Inhalt von Carpios bisherigen Satteltaschen in die Taschen des auf dem Fuchse liegenden Sattels thun; ich sagte das Carpio.
»Das muß ich selber machen,« meinte er. »Ich lasse nicht gern andere Leute in meine Sachen greifen; sie richten nur Unordnung und Verwirrung an!«
Er ging zu dem Gaule, um sich selbst über die Taschen zu machen. Winnetou untersuchte die Fesseln der drei Männer, welche wieder zum Bewußtsein gekommen waren, aber es für geraten hielten, so zu thun, als ob sie noch ohnmächtig seien; ich hob die Revolver auf, um sie unter uns zu verteilen. Da hörte ich einen Ausruf Carpios. Mich zu ihm wendend, sah ich, daß er eine Tabakspfeife, welche die Form eines Kalumets hatte, kopfschüttelnd in den Händen hielt. Als er bemerkte, daß ich ihn beobachtete, kam er zu mir und sagte:
»Da hast du gleich wieder einen solchen Beweis. Das ist nämlich die Tabakspfeife meines Onkels. Was hat die in meiner Tasche zu suchen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Ich aber auch nicht.«
»Gehört sie wirklich ihm?«
»Ja.«
»Nicht dir?«
»Mir? Höre, lieber Freund, du mußt dein Gedächtnis besser üben! Es läßt Erinnerungen fallen, welche mir für das ganze Leben treu bleiben werden. Als du damals so stark geraucht und getrunken hattest, machte dein beklagenswerter Zustand einen so abschreckenden Eindruck auf mich, daß ich mir vornahm, nie zu rauchen und alle Spirituosen nur als Arzneien zu betrachten. Ich habe Wort gehalten, ich rauche nie. Also kann diese Pfeife nicht mir gehören, und doch stak sie in meiner Tasche.«
»Wer hat sie hineingethan?«
»Der Onkel natürlich! Der ist ja stets so in Gedanken, daß er alles mögliche verwechselt. Er rauchte gestern, als wir am Feuer saßen; dann gab er mir die Pfeife mit der Weisung, sie in seine Satteltasche zu stecken, was ich auch sofort gethan habe.«
»Nun steckt sie aber in der deinigen!«
»Ganz selbstverständlich, weil der Onkel so ein Wirrkopf ist! Er hat dann seinen Sattel für den meinigen gehalten und geglaubt, daß ich im Irrtum gewesen sei; um dieses vermeintliche Versehen auszugleichen, hat er die Pfeife aus der einen Satteltasche genommen und in die andere gethan; so ist sie in die meinige gekommen; auf eine andere Weise ist es gar nicht denkbar! Nun wird er sie vermissen. Soll ich ihm nachreiten, um sie ihm zu geben?«
»Nein, nein! Erstens haben wir mit ihm zunächst nichts mehr zu thun, und zweitens würde er dich nicht zu uns zurückkehren lassen.«
»Das ist freilich sehr wahrscheinlich. Ich werde sie also behalten müssen, bis ich ihn wieder treffe. Wohin reiten wir?«
»Wenn es möglich ist, werden wir wahrscheinlich die Einmündung des Medicine-Creek in den Nordplattefluß als Endpunkt des Rittes nehmen. Wir sind übrigens hier fertig und werden gleich aufbrechen. Hast du einen Wunsch?«
»Zunächst nur den einen Wunsch, mein lieber, mein einziger Freund: Verlaß mich nicht in der schrecklichen Lage, in welcher ich mich befinde! Sei der alte, liebe, treue Kamerad wieder gegen mich, der du in der Jugend für mich gewesen bist!«
»In dieser Beziehung brauchst du keine Sorge zu haben, Carpio; du bist bei uns gut aufgehoben. Unser jetziges Beisammensein wird sich freilich ganz anders als das frühere gestalten, aber da wir uns einmal hier im far-west getroffen haben, mußt du die Mühseligkeiten, die er bietet, auf dich nehmen. Ich bitte dich nur, dich in allen Dingen, welche sich ereignen werden, ganz genau nach Winnetou und mir zu richten!«
»Oh, was das betrifft, so wirst du sehen, daß ich meinen Mann zu stehen weiß. Ich habe alle möglichen Indianerbücher gelesen und aus ihnen eine solche Menge von Kenntnissen geschöpft, daß ich getrost behaupten darf, es mit dem besten Westmann aufnehmen zu können.«
Wäre er ein anderer gewesen, so hätte ich ihn entweder ausgelacht oder ihm in ganz energischer Weise mitgeteilt, daß ich anderer Meinung sei; er aber sah mir dabei mit so kindlich treuherzigen Augen in das Gesicht und stand überhaupt wie die personifizierte Hilflosigkeit vor mir, daß ich nur eine milde Andeutung über die Lippen brachte:
»Lieber Carpio, ich habe wenigstens ebenso viele solche Schwarten gelesen und gar, aber auch gar nichts aus ihnen gelernt!«
»Ja, das bist auch du! Du hast stets mit deinen vielen fremden Sprachen zu thun gehabt und nie derartige Unterhaltungsbücher geliebt; ich aber habe es verstanden, die Geistesnahrung, welche sie enthalten, herauszuziehen und in mir aufzunehmen. Du hast deine freien Stunden damit vergeudet und deinen letzten Pfennig dafür hergegeben, um reiten, schießen, fechten, ringen, turnen und schwimmen zu lernen; ich aber habe alle meine Muße auf diese Bücher verwendet, und du wirst sehr bald Gelegenheit finden, dich zu überzeugen, daß mir das grad jetzt sehr großen Nutzen bringt. Von allen diesen Übungen habe ich es nur mit dem Schwimmen gehalten, und du wirst dich erinnern, daß ich dir im Tauchen überlegen war.«
Er ahnte natürlich nicht, daß grad seine Fertigkeit im Tauchen, von welcher Corner auf irgend eine Weise gehört haben mußte, mit zu den Ursachen gehörte, daß man ihn nebst seinem Verwandten nach den Rocky-Mountains geschleppt hatte. Ich hätte ihm dies wohl sagen können, hielt es aber bei seiner Unzuverlässigkeit für besser, darüber zu schweigen. Ich nahm mir überhaupt vor, ihn vollständig in Unkenntnis über die Gefahr zu lassen, welcher er so ahnungslos entgegengegangen war. Warum sollte ich den lieben Kerl beunruhigen, da sie doch, wie ich hoffte, nun vorüber war!
Die Gefangenen hatten sich still verhalten; aber als wir uns jetzt zum Aufbruche fertig machten und Carpio den Fuchs bestieg, zeigte Corner, daß er nicht mehr bewußtlos war. Er brach in eine Flut von Schimpfworten aus, die wir aber nicht beachteten, und rief uns drohend nach:
»Wir wünschen euch viel Glück mit Old Jumble, diesem unnützen Fratz. Denkt ja nicht, daß wir euch nicht wiedersehen! Dann aber rechnen wir mit euch ab. Mein Pferd bekomme ich wieder, und wie man hier im Westen Pferdediebe bestraft, dies zu wissen, seid ihr ja zu dumm; ihr werdet es aber erfahren. Aufgeknüpft werdet ihr alle, alle, aufgehängt – – aufgehängt – –!«
Als wir dem Laufe des Creek eine Viertelstunde lang gefolgt waren, sahen wir den alten Lachner, welcher seitwärts draußen halten geblieben war und beobachtend zurückschaute. Es wäre Winnetou und mir leicht gewesen, ihn in fünf Minuten zwischen uns zu bekommen und für seinen Mordanschlag zu bestrafen; es fiel uns aber gar nicht ein, seinetwegen einen Schritt von unserm Wege abzuweichen. Als er sah, daß wir uns nicht um ihn bekümmerten, ritt er nach der Stelle zurück, wo seine Reisegefährten lagen. Es war ganz natürlich, daß er sie losbinden und uns mit ihnen folgen würde. Daß uns das aber keine besondere Sorge machte, verstand sich auch ganz von selbst.
Der Medicine-Bow-River blieb auch ferner unser Führer; er sollte es überhaupt bis zu seiner Mündung bleiben, weil man in einem Flußthale trotz der Windungen, welches es macht, doch schneller vorwärts kommt, als wenn man in gerader Linie über steile Berge reitet und durch unwegsame Wälder dringen muß. Leider aber mußten wir sehr bald einsehen, daß wir die Mündung dieses Flusses in den North-Platte nicht bis zum Abend erreichen würden. Der Fuchs machte Carpio zu schaffen, er war zu feurig für ihn; und als wir Rost veranlaßten, seinen Braunen mit ihm zu tauschen, wurde es nicht viel besser. Carpio war ein Hindernis, selbst wenn er auf dem besten Pferde saß.
Winnetou hatte zu meinem Entschlusse, den so unerwartet hier getroffenen Jugendfreund mit uns zu nehmen, nichts gesagt; wir konnten ja gar nichts anderes thun, wenn er aus der Gefahr, in welcher er sich befand, befreit werden sollte. Das immerwährende Haltenbleiben mußte dem Häuptling aber unbedingt ärgerlich werden, und da er aus Rücksicht auf mich auch dazu schwieg, so konnte ich nicht anders als nun meinerseits das Wort ergreifen, um sein Interesse in der Weise für Carpio zu vertiefen, daß er dessen Fehler mit Großmut übersah. Ich erzählte ihm also von unserer Jugendfreundschaft und schilderte den einstigen Genossen mit der innigen Teilnahme, welche ich einst für ihn gefühlt hatte, heut wieder empfand und die er wirklich auch verdiente. Als ich zu Ende war, blieb Winnetou eine Weile in sich gekehrt; dann sagte er:
»Uff! Das Leben der Bleichgesichter ist ein fast unbegreiflich sonderbares! Unter den Söhnen der roten Männer könnte es niemals einen geben, wie der ist, für welchen du das Mitleid meines Herzens erwecken willst. Eure Väter haben das Recht, das Gehirn ihrer Kinder durch den Zwang, etwas werden zu sollen, was sie nicht werden können, zu morden und sie um das Glück ihres Lebens zu bringen. Und wenn dieses Gehirn sodann den Dienst versagt, klagen sie über ungeratene Söhne! Dein Schützling ist nicht nur krank am Geiste, sondern auch krank am Körper; ich habe es ihm angesehen, gleich als mein Auge auf ihn fiel. Wie der Zwang, ein gelehrter Mann zu werden, an seinem Geiste gezehrt hat, grad wie der Kinnikinnick die Kraft des Bodens verzehrt, so daß nichts neben ihm gedeiht und er dann selbst untergeht, so hat die erzwungene Arbeit über den Büchern und die darauf folgende Verstoßung aus der Heimat auch die Kräfte seines Körpers aufgefressen. Wir werden ihn vor dem Tode im eisigen Wasser des Finding-hole bewahren, aber dennoch wird er weder das Land seiner Vorfahren noch auch nur die grünen Prairien des Kansas oder die häuserstarrenden Städte des Ostens wiedersehen, denn der Schnee des Westens wird auf die Stelle fallen, wo das Erbarmen der Erde ihn willkommen heißt. Mein Bruder Scharlih mag mild und nachsichtig mit ihm verfahren, denn ein guter Mensch darf nicht den Vorwurf auf sich laden, die letzten Stunden eines Sterbenden schwergemacht zu haben. Wenn die Sonne hinunter sinkt, umkleidet sich der Himmel mit Farben von Gold und Silber; so soll der Heimgang deines armen Bruders verklärt und erleichtert werden durch das vor ihm verborgene Mitleid unserer Herzen, welches uns gebietet, lind mit ihm zu sein. Wozu wäre die Liebe auf Erden, wenn sie sich nicht bereit zeigte, die unverschuldeten Leiden und Schwächen der Brüder und Schwestern tragen zu helfen. Howgh!«
Welch ein herrlicher Mann! So fühlte, so dachte und so sprach ein Indianer, also ein sogenannter Wilder! Ich habe überhaupt mehr sogenannte als wirkliche Wilde getroffen, ebenso, wie man sehr leicht dazu kommen kann, mehr sogenannte als wirkliche Christen kennen zu lernen.
Was Winnetou jetzt in Worten aussprach, hatte auch ich gleich beim ersten Anblicke Carpios empfunden, über dessen leidendes Aussehen ich schon eine Andeutung gemacht habe. Er war schon früher zerstreut gewesen, ja, aber doch jugendlich lebhaft dabei; ich hatte, wie man noch wissen wird, schon damals die Ansicht gehabt, daß diese Zerfahrenheit sich vergrößern und ihm in seinem Fortkommen hinderlich sein werde, und diese Befürchtung war nun eingetroffen; die Verwechslung meiner Person mit der seinigen in Beziehung auf seinen damaligen »Heißhunger« bewies das zur Genüge. Auch von seiner früheren Munterkeit war keine Spur mehr vorhanden. Bei oberflächlicher Beurteilung hätte man ihn als schwermütig bezeichnen mögen, aber er war mehr als das. Er war körperlich in so geradezu unverantwortlicher Weise angestrengt und übermüdet worden, daß ihn nur die größte Schonung retten konnte; er bedurfte einer langen, langen Ruhe, die ihm zu bieten, uns leider ganz unmöglich war. Und noch größer als seine körperliche war seine geistige Ermattung. Er hatte die Kraft des innern Antriebes vollständig verloren; er besaß nicht die geringste Spur mehr weder von Initiative noch von Energie. Sein Gesicht war ausdruckslos, ich möchte noch lieber sagen ausdrucksleer, und wenn man dennoch nach etwas suchte, was sich in demselben aussprach, so konnte man nur von einer hilflosen Gleichgültigkeit reden, die alles ohne Widerstand mit sich machen ließ. Er war für die Absichten Corners und seiner Genossen ein Opfer, ein Werkzeug gewesen, wie sie es sich gefügiger gar nicht hätten denken können. Es that mir nicht nur leid sondern weh, unendlich weh um ihn, aber ich konnte nicht anderer als ganz derselben Meinung mit Winnetou sein, nämlich daß es uns bei den jetzt gegebenen Verhältnissen nicht gelingen werde, seinen körperlichen und geistigen Verfall aufzuhalten. Wir hätten ihn der ihm so nötigen Ruhe wegen entweder in guten Händen hier zurücklassen oder ihn nach dem Osten bringen müssen, und da dies beides zu den Unmöglichkeiten gehörte, so konnte es für uns nur die Überzeugung geben, daß »das Erbarmen der Erde ihn hier im wilden Westen willkommen heißen werde«, wie Winnetou sich so poetisch schön ausgedrückt hatte, mit andern, nicht so blumenreichen Worten gesagt, daß wir gezwungen sein würden, ihn hier auf den Höhen des Felsengebirges zu begraben. Der Häuptling hätte mich gar nicht aufzufordern brauchen, aus diesem Grunde Nachsicht mit meinem armen Carpio zu üben, denn ich fühlte für denselben ein so großes Mitleid und Bedauern, daß mir ein auch nur einigermaßen scharfes Wort zu ihm unmöglich gewesen wäre.
Ich hatte ihm natürlich gesagt, wer Rost war und welche Absichten dieser mit dem jetzigen Ritte verfolgte; aber weder die Person noch das Vorhaben dieses neuen Bekannten konnte ihn aus seiner Gleichgültigkeit reißen; er ritt teilnahmslos neben ihm her, ohne auf eine Unterhaltung mit ihm einzugehen. An Winnetou wagte er sich nicht, und so war ich es nur, dem es gelang, ihn von Zeit zu Zeit aus seiner Versunkenheit zu reißen. Bei einer dieser Gelegenheiten erkundigte ich mich nach einigen Bekannten aus der Jugendzeit. Er antwortete in seiner teilnahmslosen Weise:
»Die gehen mich schon seit langer Zeit nichts mehr an. Als du fort warst, hat sich fast kein Mensch mehr um mich gekümmert, und da ist es mir nicht eingefallen, irgend jemand um die Gnade, mit mir zu verkehren, anzubetteln. Du weißt, ich kann es nicht vertragen, wenn andere in ihrer Zerstreutheit Dummheiten begehen und sich dann, indem sie die Schuld auf mich werfen, über mich lustig machen.«
»Weißt du nicht, wie es meinem alten Kantor geht, der mir Unterricht im Generalbaß gab?«
»Nein; aber ich glaube, einmal gehört zu haben, daß er noch lebt.«
»Und Krüger, dem ich es zu verdanken hatte, daß der Kantor meine fehlerhafte Motette drucken ließ?«
»Du, das kann ich dir ganz genau sagen, denn ich habe später einmal mit ihm gesprochen. Denke dir, er war Clown und hat die Schwester eines Zirkusmusikanten geheiratet.«
»Hm! Vielleicht willst du sagen, daß er Zirkusmusikant war und die Schwester eines Clown geheiratet hat?«
»Nein! Beleidige mich nicht! Ich will gar nichts anderes sagen, als was ich sage, und du mußt ganz genau wissen, daß ein solcher Irrtum ein für allemal bei mir ausgeschlossen ist. Also frage mich lieber nicht nach Leuten, mit denen ich nichts zu thun haben mag!«
»Gut! Wollen also von dir reden! Das erlaubst du doch?«
»Ja, denn ich sehe ein, daß du gern wissen möchtest, wie es mir ergangen ist. Ich kann dir da freilich nicht viel Erfreuliches erzählen. Es muß meinem Vater von einem bösen Geiste eingegeben worden sein, daß ich partout studieren sollte, obgleich mir nichts weniger als alles dazu fehlte. Ich wollte Kunsttischler oder auch Kunstschlosser werden, und hätte ich das gedurft, so wäre ich jetzt wohl ein anderer Mensch! Es ist von frühester Kindheit an mein größtes Vergnügen gewesen, zu schneiden und zu schnitzen, und daß ich kein ganz übles Geschick dazu hatte, kann dir jenes von mir konstruierte Sicherheitsschloß beweisen, welches ich mit auf unsere Weihnachtswanderung nahm. Leider warst du schuld, daß wir es nicht in Anwendung bringen konnten.«
»Ich? wieso?«
»Weil du die dazu gehörigen Schrauben verloren hattest. Ich habe seitdem keinem Menschen wieder etwas wichtiges in Verwahrung gegeben. Da ich dich aber nicht kränken mag, wollen wir lieber davon schweigen. Als ich dich nicht mehr hatte, wurde mir das Lernen doppelt schwer. Latein und Griechisch waren mir ein Greuel; ich kam auch in andern Fächern nicht vorwärts und blieb infolgedessen sitzen. Ich bat den Vater oft unter Thränen, dieser Qual ein Ende zu machen; er aber bestand auf seinem Willen, bis er sich schließlich durch die ernsten Vorstellungen meiner Lehrer gezwungen sah, mich vom Gymnasium wegzunehmen; aber von der Erlernung eines Handwerks durfte ich auch jetzt nicht sprechen. Er entschied sich für den Verwaltungsdienst, und ich kam als jüngster Schreiber in das städtische Amt, wo ich es wegen der unbegreiflichen Zerstreutheiten meiner Vorgesetzten nicht länger als zwei Monate aushalten konnte. Nun wurde ich in das Bureau eines Advokaten gesteckt, wo ich von früh bis abends zu kopieren und zu mundieren hatte, daß mich dieses ewige Einerlei gewiß verrückt gemacht hätte, wenn ich ein weniger gesammelter Kopf gewesen wäre. Unglücklicherweise hatte der Bureauchef, welcher überhaupt kein zuverlässiger Mensch war, einmal die Nummern und Aufschriften zweier sehr wichtiger Aktenstücke verwechselt; er schob aber die Schuld auf mich, und ich wurde entlassen. Dann kam ich als Schreiber an den Bahnhof, dessen Vorstand von Adel und ein Freund meines Vaters war, später zu einem Kaufmanne, einem Baumeister, in eine Buchhandlung, eine Schokoladenfabrik – – kurz, ich wurde von einem Menschen nach Hause und von da aus wieder einem andern zugeschoben, bis die unausbleiblichen Folgen eintreten mußten: ich hielt es nirgends mehr aus! Nun sagte sich Vater von mir los. Ich versuchte alles, was man versuchen kann, wenn man nichts gelernt hat und nichts ist, und brachte es schließlich bis zum Kolporteur. Als solcher fristete ich mich durch mehrere Jahre hin, obgleich es gewiß kein glücklicher Beruf ist, sich immerwährend mit vergeßlichen Abonnenten herumzustreiten, welches Blatt oder Buch sie zu bekommen haben oder welches nicht.«
»Aber dein reicher Verwandter in Amerika?« fragte ich, als er jetzt eine Pause machte. »Wandtest du dich denn nicht an ihn?«
»Oh doch! Meine Briefe blieben lange, lange ohne Antwort, bis sich auch mein Vater einmal um Geld an ihn gewendet hatte; da schickte er diesem zweihundert Dollars und mir den Betrag zur Fahrt nach Pittsburg, wo er damals wohnte. Ich kam herüber und wurde von ihm gegen freie Station als Schreiber angestellt; Gehalt bekam ich nicht. Das bißchen Englisch, welches ich von früher her noch nicht vergessen hatte, kam mir dabei zu statten; was ich nicht verstand, das wurde mir von ihm diktiert. Er ist reich, sehr reich, aber Millionen scheint er doch nicht zu besitzen; das merkte ich doch mit der Zeit. Ein Eldorado war diese Stellung nicht für mich!«
»Was trieb oder treibt er eigentlich für ein Geschäft?«
»Darüber bin ich mir im ganzen unklar geblieben; es müssen Geldgeschäfte sein. Ich hatte oft längere Zeit gar nichts zu thun, und dann gab es wieder Schreibereien, deren Zweck und Inhalt mir nicht ganz verständlich war. Wir mußten plötzlich schnell von Pittsburg fort und zogen nach St. Louis, wo wir nun seit über einem Jahre wohnen. Vor einiger Zeit kam erst Sheppard und dann Corner zu uns; es wurden heimliche Verhandlungen gepflogen, und dann sagte mir der Onkel, der eigentlich nur ein weitläufiger Vetter aber nicht Onkel ist, daß wir nach dem Westen reiten würden, um eine ungeheure Menge von Gold zu holen.«
»Warst du denn gleich bereit, mitzugehen?«
»Warum sollte ich nicht? Ich kann weder Corner noch Sheppard leiden; beide sind mir verhaßt; aber Gold ist's, was ich brauche, und man hat mir versprochen, daß mein Anteil ein ganzes Vermögen betragen wird. Jetzt freilich traue ich der Sache nicht mehr recht. Ich kann zwar nichts Bestimmtes sagen, aber ich bin unterwegs fast wie ein Hund behandelt worden und habe dieses schauderhafte Leben satt, satt, so satt, wie ich es dir gar nicht sagen kann! Wie oft habe ich gewünscht, vom Pferd zu fallen und gleich tot zu sein! Es ist mir sogar der Gedanke gekommen, mir eine Kugel durch den Kopf zu schießen, und ich hätte das gewiß auch gethan, wenn ich nicht wüßte, was das für eine große, große Sünde ist! Denn, sage ich dir: wenn mir alles, alles verloren gegangen ist, meinen Glauben an den Herrgott habe ich fest gehalten, und wenn ich alles, alles, was ich früher lernte, vergessen habe, dein Weihnachtsgedicht kann ich noch heut auswendig, und so oft die Versuchung an mich trat, meinem Elende ein schnelles Ende zu machen, mußte ich an deine Mahnung denken:
»Hat der Herr ein Leid gegeben,
Giebt er auch die Kraft dazu;
Bringt dir eine Last das Leben,
Trage nur, und hoffe du!«
Vielleicht würden diese Worte mich nicht so gestärkt haben, wenn sie von einem andern stammten; aber ich bin früher gewohnt gewesen, auf alles, was du sagtest, doppelt Wert zu legen, weil deine Meinung stets die richtige war, und wenn mir diese Strophe einfiel, war es mir immer so, als ob du persönlich vor mir ständest und ich deine liebe Stimme hörte. Weißt du, wenn ich an meine Jugendzeit zurückdenke, so kommt es mir grad so vor, als ob ich in einen regnerisch trüben Tag hineinsähe; es giebt nichts darin, was mich erfreut, nichts, gar nichts, als nur eine einzige Gestalt, an die ich gern denke und auch gern denken darf, weil sich an sie kein Leid, kein Vorwurf für mich knüpft. Diese Gestalt ist mein guter Sappho, der sich soviel Mühe mit mir gegeben hat, ohne etwas aus mir machen zu können. Jetzt bist du wieder bei mir und kannst dir wohl denken, was das für mich heißt! Ich frage nicht, wie du es anfangen und ob du es fertig bringen wirst, aber ich weiß, daß meine Rettung mit dem Augenblicke begonnen hat, an welchem du mich heute zu dir nahmst. Rette mich, Sappho, rette mich! Ich kann dir freilich dabei gar nicht helfen, denn ich bin so unwissend und so schwach, daß ich nach dir greifen muß, wie ein kleines Kind sich an die Rockfalten seiner Mutter hängt. Wir wollen wieder einmal jung sein und mit einander in die Berge wandern!«
Er reichte mir weinend seine Hand; ich drückte sie ihm tief bewegt, versuchte aber, ihn durch einige heitere Worte anzuregen:
»Ja, wollen in die Berge wandern! Wir sind ja schon mitten drin. Weißt du vielleicht, welchen Kurs heut der Gulden hat?«
»Gar keinen mehr, denn ich bin der Gulden, für den man keinen Pfennig zahlt. Wenn es dir nicht gelingt, mich wieder in Kurs zu bringen, ist es für immer mit mir aus!«
Er ließ den Kopf sinken und fiel in seine frühere Teilnahmlosigkeit zurück.
Ich mußte wieder bei mir denken: Armer, armer Carpio! Es hatte während seiner langen Rede geschienen, als ob doch noch ein wenig Energie in ihm vorhanden sei – aber auch nur geschienen! Seine Worte klangen tonlos, und seine Augen blieben unbelebt. Sein Leben war ein Jammer, ein fortgesetzter Jammer gewesen, ein fortgesetztes Fallen aus einem in den andern Mißerfolg. Und die einst so berühmten drei Blitze – Eldorado, Millionär, Universalerbe – sie hatten ihm auch kein Heil gebracht; er war das bewußt- und willenlose Werkzeug seines gewissenlosen Verwandten geworden und mußte es noch als ein Glück betrachten, daß dieser, als er in Pittsburg unmöglich geworden war, ihn dort nicht einfach sitzen ließ, sondern mitgenommen hatte, jedenfalls um seine Harmlosigkeit noch weiter auszubeuten.
»Uff!«
Dieser plötzliche Ausruf Winnetous riß mich aus meinen Gedanken. Wir ritten an einem langgestreckten Waldstreifen hin; ein Indianer war zwischen den Bäumen hervorgetreten und stand in kerzengerader Haltung da, den Blick auf uns gerichtet, doch ohne ein Wort zu sagen.
»Teeh!« rief auch ich verwundert aus, sobald ich ihn erblickte.
»Teeh sagt Winnetou, dem berühmten Häuptling der Apatschen, und Old Shatterhand, dem unüberwindlichen Krieger der Bleichgesichter, seinen Gruß,« antwortete nun der Rote, nachdem er ehrerbietig gewartet hatte, bis er von uns angesprochen worden war. Teeh war einer der verwegensten Schoschonen. Sein Name bedeutet »Hirsch«; er hatte ihn seiner außerordentlichen Schnelligkeit wegen erhalten, und es versteht sich ganz von selbst, daß sein so unerwartetes Erscheinen hier an dieser Stelle ein Ereignis für uns war. Es konnten ihn nur wichtige Gründe hierhergeführt haben, Gründe, welche mit den zwischen den Schoschonen und den Crows zu erwartenden Feindseligkeiten in Verbindung standen. Jedenfalls war er, der zu den zuverlässigsten Kriegern der Schoschonen gehörte, von dem Häuptlinge dieses Stammes als Kundschafter ausgeschickt worden.
Wir waren natürlich halten geblieben. Winnetou sah ihn mit einem prüfenden Blicke an, ließ hierauf sein Auge über den Waldstreifen und die daran grenzende Prairie gleiten und fragte dann:
»Mein roter Bruder ist von Avaht-Niah, dem tapfern Häuptling der Schoschonen, als Späher gesandt worden, die Absichten der feindlichen Krähen zu erkunden?«
»Winnetou, der große Krieger, hat das Richtige erraten,« antwortete der Gefragte. »Yakonpi-Topa, der Häuptling der Kikatsa, will den Kampf mit uns beginnen; er hat zu den andern Krähen vom Stamme der Ahwahaways und der Allakaweahs gesandt, ihm beizustehen, und außerdem wollen die Krieger der Blutindianer vom Volke der Schwarzfüße zu ihm stoßen, um ihm zu helfen. Das sind vier Stämme, welche gegen uns ziehen. Darum hat Avaht-Niah vier Kundschafter ausgesandt, gegen jeden dieser Stämme einen; ich wurde zu den Blutindianern geschickt.«
»Der Häuptling dieser Roten ist Peteh, ein Feind von mir und Old Shatterhand. Wir sind gekommen, den Kriegern der Schoschonen unsern Rat zu erteilen. Ist mein Bruder auf seinem Wege glücklich gewesen?«
»Der große Manitou hat meine Augen und Ohren offen gehalten, daß ich unentdeckt geblieben bin und alles gesehen und gehört habe, was ich wissen wollte.«
»Teeh mag uns sagen, was er erfahren hat!«
»Winnetou und Old Shatterhand sind Freunde der Schoschonen. Der Häuptling der Apatschen hat soeben gesagt, daß sie uns raten wollen; was er sagt, das thut er auch, denn in seinem Munde ist noch nie das Gift der Unwahrheit gefunden worden, und darum darf ich ihm mitteilen, was ich entdeckt habe. Peteh, der Häuptling der Blutindianer, kommt mit zehnmal zehn Kriegern vom Elk Creek herübergezogen, um zu den Krähen zu stoßen.«
»Welche Richtung hat er genommen?«
»Wenn er sie nicht ändert, wird er nach der Mündung des Medicine-River reiten, wo der Häuptling der Apatschen vorsichtig sein muß, nicht von ihm gesehen zu werden. Ich bin mehr rechts geblieben, damit Peteh meine Fährte nicht bemerken möge, und werde unterhalb der Seminole-Berge durch den Platte schwimmen.«
»Mein Bruder hat sein Pferd hier im Wald versteckt?«
»Ja. Ich sah vier Reiter kommen, und da ich wissen mußte, wer sie seien, ritt ich in den Wald, band mein Pferd dort an und versteckte mich hinter die ersten Bäume. Als sie herankamen, erkannte ich Winnetou und Old Shatterhand, unsere Freunde, mit noch zwei Bleichgesichtern. Meine Freude darüber war groß, und ich trat unter den Bäumen hervor, um mich ihnen zu zeigen. Werden unsere berühmten Brüder zu Avaht-Niah, unserm Häuptling, reiten?«
»Ja, wir wollen zu ihm. Wo befindet er sich?«
»Er will jenseits der Gros Ventre Range, da wo das Schwefelwasser in den Hobacksfluß mündet, auf die vier Kundschafter warten.«
»Weiß mein Bruder, wo sich die drei Stämme der Krähen vereinigen werden?«
»Nein. Doch als ich unser Lager verließ, wurde angenommen, daß dies wahrscheinlich jenseits des South-Passes in der Gegend des Pacific- oder Mortonwassers geschehen werde.«
»Wenn das geschähe, würden die beiden einander feindlich gesinnten Lager drei gute Tagesreisen voneinander entfernt liegen, und da wir nach dem Fremonts-Peak wollen, wären wir von dort aus nur einen Tagesritt von euch entfernt. Wird mein roter Bruder sich unterwegs verweilen?«
»Nein. Ich habe sehr schnell und ohne Aufenthalt zu Avaht-Niah zu reiten.«
»So bitte ich meinen Bruder, diesem unserm tapfern Freunde zu sagen, daß er uns hier getroffen habe und daß wir zwar nach dem Fremonts-Peak wollen, dies aber vielleicht aufschieben werden, um zu ihm zu kommen. Wenn er uns binnen fünf Tagen nicht bei sich sieht, sind wir entweder von den Feinden abgehalten worden oder wir befinden uns am Stihi-Creek, wo wir nicht fortkönnen, weil wir eine böse That verhüten müssen. Auf alle Fälle werden wir, wenn wir mit den Krähen oder den Blutindianern zusammentreffen, als Freunde der Schoschonen handeln und dann euch aufsuchen. Kommen wir nicht, so befinden wir uns in Not, und Avaht-Niah mag uns bei den Feinden suchen oder nach dem Stihi-Creek kommen, um uns beizustehen. Hat mein Bruder Teeh sich alle meine Worte gemerkt?«
»Was Winnetou, der große Häuptling der Apatschen, sagt, kann nie vergessen werden. Es wird kein Wort von seiner Rede fehlen, wenn ich sie meinem Häuptling wiedersage.«
Er zog sich in den Wald zurück, kam einige Augenblicke später auf seinem Pferde wieder heraus, grüßte ehrerbietig mit der Hand und ritt im Galopp davon.
Es war für uns ein sehr günstiger Umstand, mit diesem Kundschafter hier zusammengetroffen zu sein, denn erstens hatten wir von ihm erfahren, wo die Schoschonen zu suchen waren und daß sich feindliche Blutindianer hinter uns befanden, und zweitens war diese Gelegenheit von Winnetou in seiner um- und voraussichtigen Weise dazu benutzt worden, uns, falls uns eine Gefahr zustoßen sollte, die Hilfe der Schlangenindianer zu sichern. Wie klug es von ihm gewesen war, dies zu thun, das sollten wir später zu unserm Glück erfahren.
Als der Kundschafter sich entfernt hatte, setzten wir unsern Weg fort und kamen, als es dunkel zu werden begann, an die Stelle, wo der Tokoah-Peh in den Medicine-River mündet. Die Utah-Indianer pflegten hier auf der westlichen Laramie-Prairie erjagtes Fleisch zu dörren, woher der Nebenfluß den Namen Fleischwasser erhielt. Das Wort Tokoah-Peh gehört der Utahsprache an.
Es war Zeit, Lager zu machen. Wenn die Blutindianer ihre von dem Kundschafter beobachtete Richtung beibehielten, waren wir heute vor ihnen sicher; hatten sie dieselbe aber aus irgend einem Grunde geändert, so trafen sie auf Corners Fährte oder gar mit diesem und seinen Begleitern zusammen und erfuhren in diesem Falle ganz gewiß, daß wir uns hier am Medicine-Flusse befanden. Sie betrachteten Winnetou und mich als Feinde, weil wir uns früher einmal gegen einige von ihnen unserer Haut hatten wehren müssen, und so konnten wir mit Bestimmtheit annehmen, daß sie sich wie Bluthunde auf unsere Spur werfen und uns verfolgen würden, um uns lebendig oder tot in ihre Hände zu bekommen. Darum blieben wir nicht diesseits des Fleischwassers, sondern wir gingen über dasselbe an das andere Ufer, wo wir eine zum Lagern sehr gut geeignete Stelle fanden, von welcher aus wir das östliche Ufer, von dem wir herübergekommen waren, zwar nicht sehen, aber das Geräusch einer dort ankommenden Reiterschar doch hören konnten. Das Wasser begrenzte ein fast undurchdringliches Buschwerk, hinter welchem es eine halbkreisförmige, freie Grasstelle gab, wo wir unsere Pferde anhobbelten und uns niederlegten. Die Vorsicht verbot uns, ein Feuer anzustecken, was uns aber in Beziehung auf das Abendessen zu keinem Verzichte zwang, weil wir vom Mittag her Fleisch übrig hatten. In anderer Beziehung hätten wir freilich sehr gewünscht, ein Feuer brennen zu dürfen, weil hier oben die Nächte in dieser vorgeschrittenen Jahreszeit schon recht kalt waren. Wenigstens für Carpio wäre es wünschenswert gewesen, daß er sich hätte wärmen können. Er war so müde, daß er, sobald er gegessen hatte, sofort einschlief.
Wir andern blieben noch ungefähr zwei Stunden wach; dann mußten wir auch an die notwendige Ruhe denken. Da eine doch vielleicht nahende Gefahr jetzt noch nicht zu erwarten war, sollte Rost die erste Wache übernehmen und dann die ganze Nacht schlafen dürfen, in die ich mich mit Winnetou teilen wollte. Wir beide wickelten uns also in unsere Decken und schliefen auch schnell ein.
Nach Rost war ich an der Reihe. Als er mich weckte, sagte er mir, daß er auch nicht das geringste verdächtige Geräusch gehört habe. Ich verließ mich aber nicht ganz auf diese seine Versicherung und suchte die Umgebung des Lagers sorgfältig ab, leider bloß die nächste Umgebung. Warum leider, das sollte sich bald darauf zeigen.
Weil es kalt war, setzte ich mich nicht nieder, sondern ging im weichen Grase leise hin und her. Es mochte eine halbe Stunde vergangen sein, als ich den Klang von Stimmen hörte, welche vom andern Ufer herüberschallten. Ich weckte Winnetou. Wir lauschten. Es waren indianische Laute, doch konnten wir nicht verstehen, welcher Sprache sie angehörten. Es war unbedingt notwendig, uns hinüber zu begeben, um diese Indsmen zu beschleichen. Die Möglichkeit, daß es freundliche Schoschonen waren, konnte nicht als ausgeschlossen betrachtet werden. Hatten wir es aber mit Blutindianern zu thun, so waren wir zum augenblicklichen Aufbruche gezwungen.
Da es bei der jetzigen Kälte keine Annehmlichkeit war, bis unter die Arme im Wasser zu gehen, entschieden wir uns dafür, durch den Fluß zu reiten. Natürlich mußten wir dazu eine so weit aufwärts liegende Stelle suchen, daß das von den Pferden verursachte Stampfen und Plätschern nicht gehört werden konnte. Wir weckten also Rost und Carpio, was wir wegen der Nähe der Gefahr nicht unterlassen durften, schärften ihnen ein, sich ganz ruhig zu verhalten und sich auf keinen Fall zu entfernen, und führten dann unsere Pferde leise fort, um erst in sicherer Entfernung aufzusteigen. Dann ritten wir noch eine Strecke weiter, worauf wir sie ins Wasser trieben und glücklich jenseits anlangten. Dort banden wir sie an und schlichen uns nun längs der das Wasser besäumenden Büsche wieder abwärts. Ich muß hierbei bemerken, daß wir unsere Gewehre nicht mitgenommen, sondern zurückgelassen hatten.
Zu unserm Unglücke war es so dunkel, daß wir die Spuren unserer eigenen Füße nicht sehen konnten, sonst hätten wir an den zahlreich vorhandenen Eindrücken bemerken müssen, daß unser Lagerplatz schon entdeckt worden war.
Als wir soweit gekommen waren, daß wir die lautsprechenden Roten verstehen konnten, hielten wir an, um zu lauschen. Es waren nur drei oder vier Personen, welche sich unterhielten. Daß sie das so laut thaten, gab uns die Überzeugung, daß sie sich unbeobachtet wußten. Sie glaubten, sich allein hier am Fleischwasser zu befinden. So vermuteten wir; leider aber war das eine Täuschung, welche sich bitter an uns rächen sollte. Grad dieses laute Sprechen war darauf berechnet, uns sicher zu machen.
Wir legten uns nieder und krochen näher. Wir verstanden jedes Wort, konnten aber nicht klug werden, welcher Nation die Sprechenden angehörten, denn sie sprachen alle möglichen Mundarten durcheinander. Das erregte endlich doch unsern Verdacht. Wenn sie durch diesen Mischmasch ihre Stammesangehörigkeit verbergen wollten, mußten sie annehmen, daß sie belauscht wurden. Und war dies der Fall, so hatten sie Kenntnis von unserer Anwesenheit. Es galt also, doppelt vorsichtig zu sein. Eben wollte ich Winnetou diese meine Ansicht mitteilen, da stieß er mich an und flüsterte mir zu:
»Wir sind in Gefahr. Mein Bruder Scharlih mag sofort zu unsern Gefährten zurückkehren, um sie, wenn es nötig werden sollte, zu beschützen, bis ich nachfolge.«
»Du gehst nicht mit?«
»Nein. Winnetou wird diese listigen Männer umschleichen, bis er weiß, wer sie sind und warum sie sich verstellen.«
»So bitte ich aber, dich ja dreifach in acht zu nehmen!«
»Uff!« antwortete er nur, dann war er verschwunden.
Sein verwundertes »Uff!« war sehr begründet, denn einen Winnetou zur Vorsicht zu mahnen, das konnte nur als eine geradezu lächerliche Überflüssigkeit bezeichnet werden.
Ich ging zurück, bis ich unsere Pferde erreichte. Winnetous Iltschi mußte ich für ihn stehen lassen; meinen Hatatitla band ich los, stieg auf und durchquerte den Fluß. Drüben ritt ich ein Stück abwärts und stieg dann wieder ab, um ihn leise bis dahin zu führen, wo er vorher angehobbelt gewesen war. Die beiden andern Pferde standen ruhig grasend da, und Rost und Carpio saßen an ihren Stellen; es gab nichts, was mich auf die Vermutung hätte bringen können, daß für den Augenblick eine Gefahr vorhanden sei.
»Ist etwas geschehen?« erkundigte ich mich.
»Nein, nein,« antworteten beide.
»Es gab kein verdächtiges Geräusch?«
»Nein,« antwortete Rost.
Und Carpio sagte:
»Setz dich her zu mir! Ich habe dir etwas zu sagen.«
»Was?«
»Etwas, worüber du dich freuen wirst. Komm nur her!«
»Gut! Vorher aber muß ich euch sagen, daß diese Gegend nicht so ungefährlich ist, wie wir dachten. Sprecht ganz leise! Also, was hast du mir zu sagen, lieber Carpio?«
Wahrend ich diese Worte sprach, setzte ich mich neben ihn nieder. Kaum aber war dies geschehen, so bekam ich einen Hieb auf den Kopf, daß ich vollends hintenüberflog.
»Schi motahr ho tli!« konnte ich noch mit schriller Stimme rufen, dann schwand mir die Besinnung.
Diese apatschischen Worte bedeuten ungefähr »Mir naht der Tod!« Das war der zwischen Winnetou und mir verabredete Ruf, falls sich einer von uns in Todesgefahr befinden sollte. Er hatte ihn gehört und sich darnach verhalten, wie ich später erfuhr. Er hatte höchst wahrscheinlich diesem Hilferufe seine Freiheit zu verdanken.
Als ich wieder zu mir kam, sah ich trotz der Dunkelheit eine Menge Menschen um mich her; einige von ihnen waren bemüht, ein Feuer anzuzünden. Ich fühlte, daß man mich an Händen und Füßen gebunden hatte.
Das Feuer flackerte auf, und bei seinem Scheine bemerkte ich, daß ich zwischen Rost und Carpio lag, die auch gefesselt waren. Wir lagen am Rande des Gebüsches. Vor uns saß ein Halbkreis von Indianern. Seitwärts von uns lagen noch andere Gefangene, auch Weiße, wie es schien; ihre Gesichter konnte ich nicht erkennen. Neben Carpio sah ich meinen Bärentöter, den Henrystutzen und Winnetous Silberbüchse im Grase; diese Gewehre waren noch gar nicht beachtet worden. Winnetou war nicht gefangen, hatte aber seine Büchse nicht! Eben dachte ich, wie jammerschade es sei, daß – –
»Uff, uff, uff, uff, uff!« erscholl es da von allen indianischen Lippen. Die Indsmen sprangen auf und wollten zugreifen, kamen aber zu spät. Mein unvergleichlicher Winnetou hatte sich herbeigeschlichen und mit einem kühnen Sprunge in den Halbkreis geschnellt. Die drei Gewehre fassen und mit ihnen wieder durch die Roten fort, das war für ihn das Werk eines Augenblickes. Alles schrie und rannte hinter ihm her, doch ohne ihn zu erreichen. Er hatte sein Pferd in die Nähe gebracht, schwang sich auf und jagte, indem er den Siegesruf der Apatschen erschallen ließ, in die westliche Prairie hinein. –-