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Die Vorlesung wurde täglich fortgesetzt. Sie bewirkte Wunder. Ihre größte Wirkung war die, daß Young Surehand und Young Apanatschka stets die ersten waren, die sich einstellten. Sie konnten das Folgende kaum erwarten. So große Freude uns dies machte, so taten wir doch, als ob wir gar nicht darauf achteten. Und sie ihrerseits versäumten trotz dieses großen Interesses für unseren seelischen Winnetou doch keineswegs, den Aufbau ihres steinernen Bildes am Schleierfall so viel wie möglich zu fördern. Es wuchs zusehends empor, weil die einzelnen Teile schon fertig behauen waren und nur noch zusammengesetzt zu werden brauchten. Es war, als ob ein Wettstreit herrsche, welche Figur am ersten fertig sein werde, ihre steinerne oder unsere rein geistige, die sich in den Vorleseabenden in immer größerer Höhe und Schönheit entwickelte.
Am Abend des dritten Tages, nachdem die Gebrüder Enters bei mir gewesen waren, wurde ich von Hariman, dem einen Bruder aufgesucht. Er hatte, um nicht gesehen zu werden, zu diese heimlichen Visite die späte Zeit der Dunkelheit gewählt. Es hatte Abend neue Ankömmlinge gegeben, die in der Unterstadt waren. Nach der Aufregung, die ihre Ankunft dort verursachte, schienen wichtige Personen dabei zu sein, deren Namen wir aber nicht erfahren hatten. Nun kam Hariman Enters, sie uns zu nennen. Ich empfing ihn in Gegenwart meiner Frau.
»Wißt ihr, Mr. Shatterhand, wer gegen Abend hier angekommen ist?« fragte er.
»Nein«, antwortete ich.
»Eure Todfeinde, die vier Häuptlinge.«
»Ah? Wirklich? Allein?«
»Mit nicht viel über dreißig Mann Begleitung, mehr nicht.«
»Keine Unterhäuptlinge?«
»Nein.«
»Wie unvorsichtig von ihnen! Daraus ist doch auf das zu schließen, was sie vorhaben! Die Unterhäuptlinge gehören unbedingt zu ihnen. Fehlen sie, so bedeutet das Gefahr. Sie sind natürlich bei den viertausend Reitern, die man nach dem ›Tal der Höhle‹ beordert hat?«
»Ganz sicher! Aber das ist jetzt Nebensache. Hauptsache ist, daß man Euch morgen zum Zweikampf herausfordern wird.«
»Uff! Höchst interessant!«
Da aber fiel das Herzle schnell ein:
»Das ist ganz und gar nicht höchst interessant, sondern höchst unverschämt und höchst gefährlich! Wer ist der Mensch, der sich vorgenommen hat, meinen Mann umzubringen?«
Diese Frage war an Enters gerichtet. Er antwortete.
»Es ist nicht nur einer, sondern es sind vier.«
»Wie? Höre ich recht? Vier? Wer sind denn diese vier?«
»Kiktahan Schonka, Tusahga Saritsch, Tangua und To-kei-chun.«
»Wollen sie etwa alle vier zu gleicher Zeit auf einmal auf meinen armen Mann hineinhauen, hineinstechen oder hineinschießen?«
»Nur schießen, weiter nichts.«
»So! Weiter nichts! Als ob das gar nichts wäre! Und alle vier zu gleicher Zeit?«
»Nein, sondern einer nach dem andern.«
»Das verbitte ich mir! So hübsch einer nach dem andern! Etwa wie drüben in Deutschland beim Scheiben- oder Vogelschießen! Wenn der eine nicht trifft, trifft der andere! Danke! Da kann doch kein Mensch lebendig davon kommen!«
»Das meinen sie eben auch! Old Shatterhand muß unbedingt fallen. Dann ist nicht nur ihrer Rache Genüge geschehen, sondern auch der steinerne Winnetou gerettet. Man meint nämlich, daß er der einzige wirklich gefährliche Gegner des Denkmalbaues ist. Ist er tot, so ist mit Hilfe der viertausend Reiter alles durchzusetzen – – –«
»Oho!« fiel ihm das Herzle zornig in die Rede. »Er wird aber nicht tot sein! Ehe ich mir ihn erschießen lasse, schlage ich diese viertausend alle tot, auch einen so ganz hübsch nach dem andern, und dann – – –«
Sie hielt inne. Sie bemerkte, was sie da eigentlich gesagt hatte, und brach in ein fröhliches Gelächter aus, in welches ich einstimmte. Dadurch glättete sich ihre Erregung, und wir konnten in Ruhe weitersprechen.
Es war richtig, daß die vier unversöhnlichen Häuptlinge beschlossen hatten, mich zu einem echt indianischen Kampf auf Leben und Tod zu fordern. Daß sie dabei ihre Bedingungen derart stellten, daß ich unmöglich entkommen konnte, verstand sich ganz von selbst. Jetzt, heute abend, ließ sich da weder etwas beschließen noch etwas tun. Man mußte die Bedingungen kennenlernen. Es war beschlossen, daß Pida, der Sohn Tanguas, mir die Forderung zu überbringen hatte. Er war mir, wie man weiß, freundlich gesinnt, und so ließ sich hoffen, daß es mir mit seiner Unterstützung gelingen werde, alles für mich Gefährliche abzuwenden.
Als ich das dem Herzle vorstellte, beruhigte sie sich ganz. Sie erhob sich sogar zu folgender Betrachtung:
»Die Sache ist allerdings nicht im geringsten gefährlich, sondern einfach lächerlich. Die vier Halunken werden riesenhaft blamiert. Du brauchst nur Mann zu sein, weiter nichts!«
»Hm! Wie meinst du das?« erkundigte ich mich.
»Sehr einfach: Du bist doch Duellgegner?«
»Sogar sehr!«
»Nun also! Wenn diese Kerle dich fordern lassen, sagst du: Ich bin Duellgegner und mache nicht mit! Da schleichen sie davon und müssen sich schämen!«
»Hm, hm!« lächelte ich. »Und da sagst du, ich hätte nur Mann zu sein?«
»Ja! Oder ist es etwa nicht männlich, seine Duellgegnerschaft offen und ehrlich zu bekennen?«
»O gewiß! Ich bin ja auch ganz gern bereit, mich als Mann zu zeigen, sogar als Doppelmann!«
»Doppelmann?« fragte sie. »Du, das klingt verdächtig! Wenn du in dieser Weise kommst, ist ganz gewiß etwas nicht richtig! Ich schöpfe Verdacht!«
»Verdacht? Kannst du nichts Besseres schöpfen, wenn überhaupt geschöpft werden muß? Ich werde diesem Pida sehr männlich gestehen, daß ich Duellgegner bin. Und ich werde dann ebenso männlich hinzufügen, daß ich trotzdem sehr gerne bereit bin, mich mit den vier Häuptlingen zu schießen. Ist das nicht doppelt Mann?«
»Nicht doppelt Mann, sondern doppelt falsch! Ich hoffe, daß du scherzt!«
»Ich scherze allerdings, und dennoch nehme ich es ernst, beides zugleich. Offen gesagt, ich nehme diese Forderung einfach als Faxe und werde sie als Faxe behandeln, obwohl sie von feindlicher Seite blutig ernst gemeint ist. In welcher Weise ich das tue, und wozu ich mich überhaupt entschließe, das kann ich jetzt nicht wissen. Laß Pida kommen, dann wirst du hören, was ich ihm antworte!«
»Du hältst die Sache also nicht für gefährlich?«
»Nein.«
»Und glaubst, heiler Haut davonzukommen?«
»Unbedingt!«
»Daran haben die Häuptlinge auch gedacht«, fiel da Harirman Enters ein. »Sie trauen Eurer List und Findigkeit nicht. Darum ließen sie mich und meinen Bruder kommen und teilten uns ihren Plan mit, Euch im Zweikampfe umzubringen. Falls Ihr dem Tod in irgendeiner Weise entgehen solltet, bin ich mit meinem Bruder von ihnen beauftragt, Euch auf die Seite zu schaffen, Euch und Eure Frau – – –«
»Auch mich?« fiel ihm das Herzle in die Rede. »Seid Ihr darauf eingegangen?«
»Ganz selbstverständlich!«
»Aber nur zum Schein?«
»Nur zum Schein!« nickte er. »Es fällt uns nicht ein, uns an Euch zu vergreifen. Wir sind Euch treu. Wir werden Euch beschützen, nicht aber ermorden!«
»Das glaube ich Euch!« versicherte sie in schneller, aber aufrichtiger Herzensregung.
»Ist es wahr? Glaubt Ihr das wirklich?« fragte er, indem sein Gesicht sich froh erhellte.
»Es ist wahr«, antwortete sie.
»Und Ihr, Mr. Shatterhand?«
»Auch ich glaube es«, bestätigte ich.
»Das freut mich! Das freut mich ungemein! Ich kann Euch sogar beweisen, daß wir es ehrlich meinen. Ich habe dafür gesorgt, daß ich es kann. Ich bringe den Beweis, den unumstößlichen Beweis. Ich habe eine Art von Kontrakt.«
»Etwa einen geschriebenen?« fragte ich.
»Ja.«
»Unglaublich! Von wem ausgestellt?«
»Von den vier Häuptlingen ausgestellt und von Mr. Evening und Mr. Paper als Zeugen unterschrieben. Hier habt Ihr ihn.«
Er gab ihn mir. Es war kein Kontrakt, sondern ein Zahlungsversprechen, dessen Ausstellung nur dadurch denkbar und möglich war, daß sowohl die beiden Brüder als auch die beiden Unterzeichneten von den Häuptlingen betrogen werden sollten. Daß diese Schrift auf absichtlichem Weg in die Hände eines Gegners gelangen könne, war für die Aussteller eine Unmöglichkeit gewesen. Sie hatte den Brüdern nur für eine kurze Zeit ausgestellt, dann aber wieder abgenommen werden sollen. Nachdem ich sie gelesen hatte, wollte ich sie Hariman Enters zurückgeben; er aber sagte:
»Kann sie Euch nützen, wenn Ihr sie behaltet?«
»Sogar viel«, antwortete ich.
»So mag ich sie nicht wieder. Betrachtet sie als Euer Eigentum!«
»So danke ich Euch. Damit habt Ihr allerdings bewiesen, daß Ihr es ehrlich meint. Warum brachtet Ihr Euren Bruder nicht mit?«
»Weil niemand etwas wissen soll und zwei viel eher beobachtet und entdeckt werden als einer. Sobald wieder etwas zu melden ist, mag er es tun. Jetzt aber bitte ich, mich zu entlassen.«
»Er ist wirklich treu«, sagte das Herzle, als er fort war »Ob aber auch sein Bruder?« fragte ich.
»Ich glaube nicht, daß er mir etwas Böses zufügt.«
»Ja, dir! Aber mir? Mich liebt er nicht. Das ist gewiß. Ich fühle mich nur darum vor ihm sicher, weil alles Böse, was er mir zufügen könnte, ganz unbedingt auch dich mittreffen muß. Ich stehe also, wie überall, auch hier unter deinem Schutz!«
»Den hast du allerdings auch nötig!« scherzte sie mit. »Besonders morgen, wenn vier Häuptlinge auf dich schießen, so recht hübsch einer nach dem andern! Sei ja nicht etwa leichtsinnig! Dein Leben muß auf alle Fälle erhalten werden. Du gehörst nicht dir allein, sondern auch mir!« –
Am nächsten Morgen stellten sich zwei Kiowa-Indianer ein, die mir meldeten, daß Pida, ihr Häuptling, mich zu sprechen habe. Ich solle ihm durch sie mitteilen, wann ich ihn empfangen wolle. Ich bestellte ihn auf Punkt die Mittagszeit. Als sie sich entfernt hatten, ließ ich durch Intschu-inta alle die Person, die zur Vorlesung zu erscheinen pflegten, so einladen, daß sie eine Viertelstunde vor Mittag bei mir einzutreffen hatten. Sie kann ich teilte ihnen in Kürze mit, um was es sich handelte. Ich wünschte, daß bei der Forderung soviel Zeugen wie möglich vorhanden seien.
Pida kam in großer Begleitung angeritten, wurde aber nur allein vorgelassen. Die bei ihm waren, standen nicht im Häuptlingsrang. Er suchte es zu verbergen, aber man sah es ihm doch an, überrascht war, mich nicht allein, sondern so viel andere bei sehen. Das Herzle, Aschta und Kolma Putschi waren auch mit da. Als er eingetreten war, stand ich von meinem Platz auf, ging ich ihm einige Schritte entgegen und sprach:
»Pida, der Häuptling der Kiowa, hat einst mein Herz gewonnen besitzt es auch heute noch. Doch weiß ich nicht, ob ich in der Sprache, des Herzens mit ihm reden darf oder nicht. Er sage mir, in welcher. Eigenschaft er zu mir kommt, ob als Gast, mich zu begrüßen, oder als Bote seines Vaters, der mir den kleinsten Gruß verweigern würde!«
Er war damals Jüngling gewesen, jetzt aber ein Fünfziger. Sei Gesicht war jetzt schärfer geschnitten als früher, aber noch immer, sympathisch. Sein Auge ruhte mit freundlichem Blick auf mir, doch klang seine Stimme ernst, als er mir antwortete:
»Old Shatterhand weiß, ob Pida ihn liebt oder haßt. Ich komme als Bote meines Vaters und seiner Verbündeten.«
»So mag Pida sich setzen und dann sprechen!«
Indem ich das sagte, kehrte ich nach meinem Platze zurück und deutete ihm durch eine Handbewegung an, sich vor mir niederzulassen. Er aber lehnte ab, indem er fortfuhr:
»Pida muß stehen. Nur der Friede darf sich niederlassen und ruhen. Old Shatterhand sieht in mir den Boten von vier der berühmtesten Krieger. Ich nenne ihre Namen: Tangua, der Häuptling der Kiowa, To-kei-chun, der Häuptling der Racurroh-Komantschen, Tusahga Saritsch, der Häuptling der Kapote-Utahs, und Kiktahan Schonka, der Älteste Häuptling der Sioux. Es ist lange her, viele Sommer und viele Winter, daß diese Häuptlinge von Old Shatterhand gezwungen wurden danach zu trachten, daß er ausgelöscht werde aus der Reihe der Lebenden. Er entkam ihnen. Er lebt noch. Aber auch seine Schuld besteht noch, sie ist ungesühnt. Er hat sie vergessen. Er hat geglaubt, sie sei auch von ihnen vergessen. Er hat es gewagt, in ihr Land zu kommen und die Pfade zu betreten, die seinem Fuß verboten sind. Dadurch hat er sich ihnen ausgeliefert. Er ist ihr Eigentum. Er muß sterben. Aber die Zeiten des Marterpfahles sind vorbei, und die Häuptlinge gedenken, edel und gütig zu sein. Sie wollen ihm Gelegenheit geben, sich vom wohlverdienten Tod zu erretten. Sie wollen mit ihm kämpfen. Ich bin gekommen, ihn zu diesem Kampf einzuladen und aufzufordern. Was antwortet er mir?«
Da stand ich auf und sprach:
»Nicht nur die Zeiten des Marterpfahles, sondern auch die Zeiten der langen Reden sind vorüber. Was ich zu sagen habe, ist kurz. Ich bin der Feind keines einzigen roten Mannes gewesen. Ich habe weder Haß noch Tod verdient. Ich wandle auch heute nicht auf verbotenen Wegen und fühle mich den Häuptlingen keineswegs ausgeliefert. Auch die Zeiten der Mordtaten, der Faust- und der Zweikämpfe sind vorüber. Ich bin alt und bedachtsam geworden. Ich verdamme jedwedes Blutvergießen. Ich bin ein Gegner des Zweikampfes – –«
Da stieß mich das Herzle heimlich an und flüsterte mir zu:
»Recht so, recht so! Sei ein Mann!«
Sie konnte das tun, weil ich ganz dicht neben ihr stand. Ich aber fuhr fort:
»Aber weil ich die Berühmtheit der Häuptlinge kenne und ihr weißgewordenes Haar achte, will ich es vermeiden, sie durch eine Absage zu beleidigen. Ich bin also bereit, mit ihnen zu kämpfen.«
»Bist du toll?« flüsterte mir das Herzle zu.
Hierauf ergriff Pida wieder das Wort:
»Old Shatterhand ist der alte. Er hat nie Furcht gekannt. Aber er sehe sich vor! Die Bedingungen, welche die Häuptlinge stellen, sind scharf, sind unerbittlich. Er wird dann zwar auch die seinigen stellen, aber es steht nicht zu erwarten, daß – – –«
»Ich stelle keine«, unterbrach ich ihn schnell. »Ich gehe auf alles ein, was die Häuptlinge von mir verlangen.«
Da sah er mich ungewiß an und fragte:
»Spricht Old Shatterhand im Scherz oder im Ernst?«
»Im Ernst!«
»So sage er das, was ich jetzt hörte, noch einmal. Vorher aber höre er, was die Häuptlinge fordern. Die Waffe sei das Gewehr. – – – Er hat mit einem jeden der vier Häuptlinge zu kämpfen. – – – Die Reihenfolge wird durch das Los bestimmt. –-- Geschossen wird im Sitzen. – –Es gibt für jeden nur einen einzigen Schuß. – – – Die Gegner sitzen einander gegenüber, nur sechs Schritte voneinander entfernt. – – – Den ersten Schuß hat stets der ältere. – – – Der zweite Schuß fällt genau eine Minute nach dem ersten. – – – Es wird gekämpft bis zum Tod. – – – Wenn die vier Gänge mit den vier Häuptlingen vorüber sind und Old Shatterhand ist noch nicht tot, werden sie von vorn angefangen. Das sind die Bedingungen. Old Shatterhand mag sie erwägen!«
Er hatte immer da, wo die Gedankenstriche stehen, eine Pause gemacht und mich prüfend, ja beinahe besorgt angesehen. Jetzt antwortete ich:
»Sie sind bereits erwogen. Wer kommandiert die Schüsse?«
»Der erste Vorsitzende des Komitees.«
»Wie lange hat der zweite Schuß zu warten, wenn der erste nicht fällt?«
»Nicht fällt? Die Häuptlinge sind älter als Old Shatterhand, der noch nicht siebzig Jahre zählt. Keiner von ihnen wird zögern. Sie werden schießen, sobald das Kommando fällt.«
»Wer kann das behaupten? Ich sah schon manches, was man für unmöglich hält, möglich werden. Also, ich frage: Die Häuptlinge haben jeder den ersten Schuß. Ich aber habe den zweiten. Wenn der erste Schuß nicht fällt, wann darf ich schießen?«
»Genau eine Minute, nachdem der erste hätte fallen sollen!«
»Einverstanden. Wohin soll geschossen werden?«
»In das Herz, genau in das Herz.«
»Nach gar keiner anderen Körperstelle?«
»Nach keiner andern!«
»Wo findet der Kampf statt?«
»Auf der Scheide zwischen der Oberstadt und der Unterstadt. Der Platz wird abgesteckt.«
»Wann?«
»Eine Stunde, bevor die Sonne hinter dem Mount Winnetou verschwindet.«
»Wer sorgt dafür, daß diese Bedingungen eingehalten werden?«
»Zwei Personen auf jeder Seite. Die Häuptlinge haben hierzu den Agenten William Evening und den Bankier Antonius Paper gewählt. Old Shatterhand wähle ebenso zwei!«
»So nenne ich hierzu meinen Freund und Bruder Schahko Matto, den Häuptling der Osagen, und meinen Freund Wagare-Tey, den Häuptling der Schoschonen. Sie werden zu meinen Seiten stehen und jeden Häuptling sofort erschießen, der sein Wort bricht, indem er nach einer anderen Stelle als nur auf mein Herz zielt. Ist Pida, der Bote meiner Feinde, einverstanden?«
»Ich bin es«, antwortete er. »Und Old Shatterhand?«
»Ich nehme den Kampf an, zu den Bedingungen, welche soeben besprochen wurden.«
»Um Gottes willen!« raunte mir das Herzle so laut zu, daß alle es hörten. »Ich gebe es nicht zu! Du bist verloren!«
Es war ein Glück, daß sie deutsch gesprochen hatte, so daß niemand es verstand.
»Hat Old Shatterhand mir noch etwas mitzuteilen?« erkundigte sich Pida.
»Nur daß ich mich mit meinem Gewehr pünktlich einstellen werde, weiter nichts. Pida, der Häuptling der Kiowa, hat seine Botschaft ausgerichtet. Er kann gehen!«
Er machte eine grüßende Handbewegung und drehte sich um, sich zu entfernen. Aber noch unter der Tür blieb er stehen, besann sich, kehrte um, kam schnellen Schrittes auf mich zu, ergriff meine beiden Hände und sagte, indem sein Gesicht ein ganz anderes wurde:
»Pida liebt Old Shatterhand. Er will nicht, daß Old Shatterhand sterbe, sondern daß er lebe, und daß er glücklich sei. Kann Old Shatterhand an diesem Kampf, der doch unbedingt zu seinem Tod führen muß, nichts ändern?«
»Ich könnte wohl, aber ich will nicht«, antwortete ich. »Pida ist mein Bruder, und ich bin der seine. Dieser Kampf wird nicht zu meinem Tode führen. Old Shatterhand weiß stets, was er sagt. Pida glaube auch jetzt an mich, wie er früher an mich glaubte! Kein Komantsche, kein Kiowa, kein Utah und kein Sioux wird mich töten! Nur noch kurze Zeit, so werden sie alle unsere Freunde sein. Ich bitte dich, das zu glauben!«
»Ich glaube es, und ich wünsche es«, versicherte er. »Old Shatterhand spricht in Geheimnissen; aber jedes Wort hat bei ihm seinen Grund und seine Absicht. Er sieht und hört, was andere weder sehend noch hören. Darum weiß er voraus, was andere nicht wissen können. Ich habe gesprochen. Ich gehe!«
Ich schüttelte ihm die Hände und küßte ihn auf die Stirn. Seine Augen strahlten. Er grüßte und schritt erhobenen Hauptes hinaus.
Es läßt sich wohl denken, daß ich nun mit Fragen überschüttet wurde. Es war mir unmöglich, so zu antworten, wie man wünschte. Wollte ich nicht den ganzen Erfolg auf das Spiel setzen, mußte ich über das, was ich vorhatte, schweigen. Darum wuchs Spannung der Anwesenden immer mehr und wurde, als sie sich dann entfernten, hinunter in die Stadt getragen und dort verbreitet. Meinem Herzle gegenüber durfte ich freilich nicht schweigen. Ich mußte sie beruhigen. Ich sagte ihr, daß ich im Besitz von vier kugelfesten Panzern sei, durch die kein Schuß zu dringen vermöge. Diese Panzer waren die Medizinen, die wir vom ›Haus des Todes‹ mitgebracht hatten. Keinem Indianer kann es jemals einfallen, seine eigene Medizin zu verletzten. Er gibt sich lieber den Tod, als daß dieses tut. Die Medizin des alten Kiktahan Schonka bestand seinem Gürtel und aus den Hundepfötchen, die ich damals auf Stufen gefunden hatte. Was die Medizinen der drei anderen Häuptlinge vorstellten, das konnte man nicht sehen, weil sie in lederne Medizinbeutel eingenäht waren. Ich knotete die an ihnen vorhandenen Riemen derart, daß die Medizinen, wenn ich sie mir um den hing, grad auf das Herz zu liegen kamen. Das war die gar Vorbereitung, die ich für den so gefährlich erscheinenden Zweikampf zu treffen hatte. Als das Herzle das hörte, war sie sofort beruhigt. sie begann sogar, sich auf dieses »Duell« zu freuen.
Nicht lange, so war die Aufregung zu sehen, die sich Lager verbreitete. Man steckte den Kampfplatz ab, und besorgt um Plätze für Hunderte von Zuschauern. Es herrschte sowohl in der Unter- als auch in der Oberstadt eine lebhafte Bewegung. Man suchte einander auf. Man sprach von nichts anderem als bevorstehenden Kampf auf Leben und Tod zwischen Old Shatterhand und den vier berühmten Häuptlingen. Man sagte, daß es von ersterem geradezu wahnsinnig sei, auf so blutrünstige Bedingungen einzugehen – Aber man hielt dem entgegen, daß er oft ganz anders denke und ganz andere Wege gehe als andere Menschen und daß man darum auch jetzt nicht voreilig urteilen dürfe, sondern einfach den Ausgang des Kampfes abzuwarten habe. Kurz, das Abenteuer war in aller Mund, und es verstand sich ganz von selbst, daß auch Tatellah-Satah davon hörte, obwohl ich es unterließ, ihn zu benachrichtigen. Es war nach dem Mittagessen; da suchte er mich auf. Ich war mit dem Herzle allein. Er setzte sich nicht. Er sagte, er beabsichtige, gleich wieder zu gehen. Er sah mir forschend in das Gesicht und fragte dann:
»Du wirst dich mit den Häuptlingen schießen?« »Nein«, antwortete ich.
Da ging ein frohes Lächeln über sein Gesicht, und er fuhr fort:
»Ich dachte es! Old Shatterhand ist kein Selbstmörder! Aber du wirst pünktlich erscheinen?«
»Ja.«
»So frage ich nicht, was du vorhast. Du bist dein eigener Herr und hast keinen anderen Menschen um Erlaubnis zu fragen. Aber ich komme auch!«
»Allein? Oder mit deinen Winnetous?«
»So, wie du es wünschest.«
»So komm allein! Man soll erfahren, daß wir nicht durch große Kriegerscharen, sondern durch uns selbst zu siegen wissen.«
»Liest du heute abend vor?«
»Ja. Es ist ein Tag wie jeder andere. Das Duell ist eine Faxe, ein Schwank, wenn auch mit sehr ernstem Hintergrund, weiter nichts.«
»Wünschen wir, daß dieser Schwank nicht anders ende, als du denkst!«
Er reichte uns beiden die Hand und ging. Einige Zeit darauf sahen wir ihn unten im Lager. Er nahm den abgesteckten Platz in Augenschein und schien Befehle zu erteilen. Die uns befreundeten Häuptlinge hatten sich ihm zugesellt. Hierauf machte ich mit meiner Frau einen Spaziergang, aber nicht nach der Lagerstadt, sondern nach dem Binnental und dem Schleierfall hinunter. Auch dort gab es ein reges Leben, wenn auch in anderer Weise und zu einem anderen Zwecke. Man schlug hohe Pfähle ein. Man zog zahlreiche Schnüre und Drähte. Wir sahen ganze Haufen Papierlaternen liegen. Es gab elektrische Kabel, Lichtbirnen, Tulpen, Kugeln und andere derartige Glasformen. Hier und da hantierte man mit photographischen Apparaten. Ein Ingenieur, aber auch Indianer, schien die Aufgabe zu haben, einen großen Projektionsapparat am Felsen der Teufelskanzel anzubringen. Das interessierte das Herzle im höchsten Grad. Sie photographiert so gern. Sie ist da stets bereit, zum Alten Neues hinzuzulernen. Ich aber habe viel weniger Interesse für die Abbildungen als für die Gegenstände selbst. Darum nehme ich in ihrer photographischen Hochachtung keineswegs eine hervorragende Stelle ein. Sie weiß, sie ist mir über. Das genügt ihr. Und es ist ihr eine höchst angenehme Beruhigung, zu wissen, daß ich niemals die Absicht habe, mich in ihre lichtbildnerischen Geheimnisse einzudrängen. Sie ist da sehr resolut. Sie tut, als sei ich gar nicht vorhanden. Sie gibt mir da sehr leicht und auch sehr gern Gelegenheit, mich auf mich selbst und auf meine anderen Vorzüge zurückzuziehen. So ließ sie mich auch jetzt ganz einfach stehen und eilte in großen Schritten zu dem Ingenieur hin, um ihn – in das Verhör zu nehmen, denn anders kann man das bei ihr nicht nennen. Was sie erfahren will, das bringt sie heraus, unbedingt heraus! Ich setzte mich inzwischen für mich nieder und beobachtete das rege Treiben rund umher.
Was hatte das für einen Zweck? Es war mir, wie schon gesagt, mitgeteilt worden, daß man den steinernen Winnetou beleuchten und illuminieren wolle, um die Zuschauer für das Denkmalprojekt zu gewinnen. Ich hatte da gesagt, daß das Denkmal viel eher in die Erde versinken werde, als daß ich dazu zu bringen sei, eine solche Entwürdigung meines Winnetou zuzugeben. Sollte das, was ich hier sah, etwa schon die Vorbereitung zu dieser Illumination sein? Aber die Figur war noch gar nicht fertig! Sie war erst bis zur Schulter gediehen. Hals und Kopf fehlten. Und sonderbar! Indem ich das dachte und mein Blick dabei an der Figur auf- und niederglitt, war es mir, als ob sie nicht mehr gerade stehe, sondern schief. Ich legte das Auge an verschiedene Stellen an und kam zu immer demselben Resultate. Man wird sich erinnern, daß ich die Figur am letzten Mal von der Straßenbiegung aus betrachtet hatte. Da war es mir erschienen, als ob alle Gerüstträger senkrecht gestanden hätten, nur einer von ihnen nicht. Ich ging jetzt zu dieser Stelle. Wahrhaftig, Gerüst und Figur hatten sich bewegt, hatten sich nach der einen Seite gesenkt, wenn auch nicht viel, aber doch so, daß ich es deutlich bemerkte. Es war kein Zweifel möglich. Der Pfosten, der erst schief gestanden hatte, stand jetzt gerade, und die anderen, welche gerade gestanden hatten, waren ganz zweifellos nach rechts geneigt.
Ich erschrak, als ich das sah. Ich dachte an die Risse und Sprünge, die ich da unten an der Höhlendecke bemerkt hatte, an das Streuen, Sieben und Niederbröckeln des Gesteins. War die Last der Figur für die ausgehöhlte Erdunterlage zu groß? Konnte diese Unterlage das so viele Zentner schwere Bild nicht tragen? Welch eine Katastrophe stand uns da allen bevor! Indem ich das dachte, kam das Herzle zurück. Sie hatte den Ingenieur ausgefragt. Es handelte sich einstweilen nur um eine Probebeleuchtung, die morgen abend vorgenommen werden sollte. Man hatte vor, alle Anwesenden hierzu zu laden.
»Und was sollte der riesenhafte Projektionsapparat?« fragte ich.
»Er enthält die Bilder von Young Surehand und Young Apanatschka, welche auf der Spiegelfläche des Wasserfalles zu beiden Seiten des Denkmales erscheinen sollen. Die Schöpfer der Winnetougestalt, rechts und links neben ihrem Werk!«
»Das dulde ich nicht!« rief ich aus.
»Was willst du dagegen machen?« fragte sie.
»Es verbieten! Das genügt!«
»Ja, allerdings! Selbst wenn man deinen Willen nicht respektieren wollte, würdest du ihm Nachdruck zu geben verstehen. Aber bedenke, es ist nur erst zur Probe! Ist es nicht ratsam, diese Probe ungestört vorüber zu lassen, um zu warten, bis sie zur wirklichen Ausführung kommen soll?«
»Ja, vielleicht ist das richtiger. Aber ich glaube, wir haben diese Sache nicht mehr in unseren Händen. Es hat sich eine Gewalt ihrer angenommen, der wir nicht gewachsen sind.«
»Wie meinst du das?«
»Schau genau hin, und sag: Steht die Figur gerade oder schief?«
Sie prüfte und antwortete dann:
»Sie steht gerade. Man wird sie doch wohl nicht schief aufstellen!«
»Absichtlich gewiß nicht. Aber sie steht dennoch schief. Du merkst das nicht, weil dein Auge nicht so geübt ist wie das meine und weil die Abweichung von der senkrechten Linie noch nicht so bedeutend ist, daß sie dir notwendigerweise auffallen müßte. Vergleiche einmal genau mit der Fallrichtung des Wassers, und sag mir – – –«
Da fiel sie mir in die Rede:
»Sie steht schief, ja sie steht schief! Herrgott! Welch ein Gedanke! Meinst du, daß sie versinkt?«
»Ob ja oder nein, das kann man jetzt noch nicht sagen. Man hat abzuwarten, ob und wie sehr die Abweichung steigt. Heut habe ich keine Zeit. Aber morgen werde ich hinunter in die Höhle steigen, um nachzusehen, ob die Decke noch bröckelt.«
»Ist das nicht lebensgefährlich?«
»Nein.«
»Aber du hältst es doch für möglich, daß alles zusammenbricht!«
»Nicht nur für möglich, sondern sogar für wahrscheinlich. Aber so schnell, daß der Zusammenbruch schon heute oder morgen erfolgt, geschieht das nicht. Da müßte die Senkung vorher eine bedeutend größere werden. Aber bitte, halte alles geheim!«
»Gegen jedermann?«
»Ja.«
»Auch gegen Tatellah-Satah?«
»Auch gegen ihn. Ich möchte diese Situation allein beherrschen. Es soll mir kein anderer dreinkommen und mich stören oder die Sache gar verderben!«
»Weißt du aber, was du da auf dich nimmst?«
»Ja. Es ist viel, sehr viel. Aber ich glaube, es verantworten zu können. Doch nun komm, Herzle! Wir müssen heim. Ich darf kein Minute zu spät zum Kampf erscheinen.«
»Leider bin ich da nicht ganz ohne alle Sorge!« seufzte sie.
»Das ist überflüssig, vollständig überflüssig. Du hast viel mehr Veranlassung, zu lächeln, als bange zu sein!«
Als wir droben auf dem Schloß angekommen waren, ließ Tatellah-Satah uns sagen, daß er uns abholen werde. Von den Häuptlingen kam ein Bote, der mir meldete, daß auch sie sich einstellen würden, um mich hinunter zu begleiten. Ich ließ sie aber bitten, dies nicht zu tun, die Sache sei einer solchen Mühe gar nicht wert. Ich war verpflichtet, bei dieser Gelegenheit den Häuptlingsanzug zu tragen und lud den Henrystutzen, obgleich ich annahm, daß es wahrlich zu keinem einzigen Schuß kommen werde. Die vier Medizinen durfte ich nicht tragen. Das Herzle nahm sie in ihren Reisepompadour. Sie wollte, an meiner Seite sitzend, in dieser Weise an dem Zweikampf teilnehmen. Ich hatte nichts dagegen. Als die Zeit da war und wir in den Hof kamen, wo Intschu-inta unsere Pferde bereit hielt fanden wir den »jungen Adler« und unseren alten Pappermann vor, die es sich nicht nehmen ließen, mich nach dem Platz meines hoffentlichen Sieges zu begleiten. Zu gleicher Zeit erschien Tatellah-Satah auf seinem weißen Maultiere, ganz allein. Da setzten wir uns in Bewegung. Der »Bewahrer der großen Medizin«, das Herzle und ich voran, der »junge Adler« und Pappermann hintendrein.
Wir sahen schon von oben, daß alles, was in der Ober- und der Unterstadt bisher zerstreut gewesen war, sich jetzt um den Kampfplatz eng zusammengezogen hatte. Es war eine Versammlung vieler, vieler Menschen, doch gab es keine Spur jener bekannten Unzuträglichkeiten, die bei Zusammenhäufungen sogenannter »zivilisierter« Mengen unvermeidlich zu sein scheinen. Jedermann war schon da. Kein einziger, der hatte kommen wollen, fehlte. Wir waren die letzten, die allerletzten.
Meine vier Gegner saßen bereit. Als wir in den Kreis traten, standen sie auf – Nur Tangua blieb sitzen, denn er konnte nicht stehen. Tatellah-Satah hatte seinen Sitz so bestellt, daß er dann grad hinter mir saß und die vier Häuptlinge scharf im Auge hatte. Es wurde mir gesagt, daß der erste Vorsitzende des Komitees eine Rede halten werde. Hierauf werde jeder der vier Häuptlinge auch eine Rede halten. Zuletzt habe meine Rede zu kommen, worauf dann der Kampf beginnen könne. Da trat ich vor und äußerte mich so laut, daß jedermann, der im Kreis saß, es hören konnte:
»Old Shatterhand ist nicht gekommen, um zu reden, sondern um zu kämpfen. Wenn die Gefahr naht, reißt nur die Furchtsamkeit den Mund weit auf; der Mutige aber schweigt und handelt. Von all diesen Reden ist zwischen mir und Pida kein Wort erwähnt worden. Ich gestatte nur das, worauf ich eingegangen bin!«
Da vollführte der »erste Vorsitzende des Komitees« eine große, imponierend sein sollende Armbewegung und begann:
»Es wurde vom Komitee beschlossen, daß ich zu sprechen habe, und was vom Komitee beschlossen worden ist, das werde ich – – –«
»Schweig!« donnerte ich ihn an. »Beschlossen worden ist nur zwischen Pida und mir! Euer Komitee ist für mich nicht vorhanden. Dich dulde ich nur. Ich habe erlaubt, daß du die Schüsse der Häuptlinge und genau eine Minute darauf auch die meinigen kommandierst. Mehr ist dir nicht gestattet!«
»Aber ich stehe doch nicht etwa hier, um – –«
»Wenn du nicht stehen willst, so setz dich!« unterbrach ich ihn, indem ich schnell auf ihn zuschnitt und ihn mit einem Griff und einem Druck auf die Erde niedersetzte, wo er ganz erschrocken eine Weile sitzen blieb. Dann fuhr ich in demselben lauten, energischen Ton fort:
»Ich habe mit Pida meine berühmten Brüder Schahko Matto und Wagare-Tey gewählt, sich die Bedingungen des Kampfes genau zu merken und darauf zu sehen, daß sie ehrlich eingehalten werden. Sie mögen jetzt sprechen und diese Bedingungen aufzählen!«
Sie standen von ihren Sitzen auf und taten dies. Zwar hatten meine vier Gegner ihren William Evening und ihren Antonius Paper zu dem gleichen Zweck gewählt, aber es fiel mir gar nicht ein, dazu beizutragen, daß diese überhaupt in Aktion zu treten hatten. Darum ließ ich durch Schahko Matto und Wagare-Tey auch gleich die Lose besorgen, und die vier Häuptlinge fügten sich dem allem mit innerem Behagen, weil sie überzeugt waren, daß dies doch sicher meine allerletzte Willensverschwendung in diesem Leben sei. Das Los ergab, daß meine Gegner in folgender Reihe auf mich zu schießen hatten: Tusahga Saritsch, To-kei-chun, Kiktahan Schonka und Tangua. Sie nahmen in dieser Reihenfolge in einem Halbkreis meinem Sitz gegenüber Platz. Sie waren alle mit Doppelgewehren versehen, und in ihren Minen glänzte das Bewußtsein des sicheren Sieges. Ehe ich meinen Platz einnahm, ging ich nach der Stelle, wo Avaht-Niah, der hundertundzwanzigjährige Häuptling der Schoschonen, saß. Ich beugte mich zu ihm nieder, küßte ihm die alte Hand und sprach:
»Du bist der Älteste von allen, die hier atmen. Auf deinem Haupt ruht der Segen und die Liebe des großen Geistes, der dich nicht hierher geleitet hat, um das Blut derer, die dir lieb sind, fließen zu sehen. Du bist der Weiseste und der Erfahrenste von uns allen. Du wirst der erste sein, der aus dem Kampf, zu dem ich hier gezwungen werde, ersieht, daß jeder Kampf zwischen den Menschenkindern nichts weiter als eine Torheit ist, über die man lachen könnte, wenn ihre Folgen nicht so traurig wären.«
Er zog als Gegengruß nun auch meine Hand an seine Lippen und antwortete:
»Old Shatterhand mag uns diese Torheit zeigen, damit die, welche nach uns kommen, nicht mehr tun, was ihre Ahnen taten. Der Sieg sei dein!«
Nun ging ich zu der mir angewiesenen Stelle und setzte mich. Das Herzle ließ sich neben mir nieder. Da brauste Kiktahan Schonka zornig auf:
»Was soll die Squaw unter Kriegern? Fort, fort mit ihr!«
»Fürchtest du dich vor einer Squaw?« antwortete ich. »Dann geh! Sie aber fürchtet sich nicht; sie bleibt!«
»Ist Old Shatterhand ein Weib geworden, daß er die Beleidigung nicht fühlt, die ich als Krieger fühle?« fragte er.
»Als Krieger? Pshaw! Du fragst, was meine Squaw unter Kriegern solle? Glaubst du wirklich, daß ihr Krieger seid? Alte Weiber seid ihr, weiter nichts! Darum habe ich alle eure Bedingungen angenommen, ohne sie genauer zu betrachten. Es fällt Old Shatterhand nicht ein, mit euch zu kämpfen, denn er ist ein Mann. Er brachte euch seine Squaw, von der eine einzige Handbewegung genügt, einen jeden von euch zu vernichten. Fürchtet ihr euch vor ihr, so geht!«
»Sie bleibe!« rief Kiktahan Schonka ergrimmt. »Aber meine erste Kugel gilt dir, meine zweite ihr!«
»Ja, sie bleibe, sie bleibe! Sie falle und sterbe mit ihm!« stimmten die drei anderen bei. »Der Kampf beginne!«
Wir fünf Duellanten saßen in der Mitte des abgesteckten Platzes. Unsere Beigeordneten befanden sich in nächster Nähe. Tatellah-Satah saß, wie schon erwähnt, direkt hinter mir. Den ersten großen Kreis um uns bildeten die anwesenden Häuptlinge. Auch die zwölf Apatschenhäuptlinge waren da. Hinter ihnen kamen die Unterhäuptlinge und sonstigen Personen, welche eine Art von Rang besaßen. Und weiter hinaus gab es die gewöhnlichen Leute. Unter diesen fielen besonders die schon einmal erwähnten Arbeiter auf, welche in den Steinbrüchen und am Denkmalbau beschäftigt waren. Sie hatten ihre Arbeit verlassen, um das Schauspiel des Kampfes zu genießen, und betrugen sich als echte Rowdies, obgleich sie in Gegenwart so vieler Häuptlinge es nicht wagten, besonders laut zu werden. Bei den Häuptlingen saßen neben Kolma Putschi und den beiden Aschtas noch zwei andere Frauen, deren Gegenwart mir wichtig war, nämlich Pidas Frau und ihre Schwester, die jetzt weibliche Kleidung trug. Beide hatten es also durchgesetzt, mit nach dem Mount Winnetou genommen zu werden. Daß sie sich mit hier befanden, war für mich der sicherste Beweis, daß die viertausend Reiter sich unten in dem »Tal der Höhle« eingestellt hatten.
Daß die Augen aller dieser Menschen mit größter Spannung auf uns gerichtet waren, versteht sich ganz von selbst. Der Herr »Vorsitzende des Komitees«, den ich niedergesetzt hatte, besann sich jetzt seines Amtes. Er stand auf und stellte sich bereit, die Schüsse zu kommandieren. Schahko Matto und Wagare-Tey zogen ihre Revolver, spannten sie und versicherten drohend, daß sie jeden meiner vier Gegner, der etwas Nichterlaubtes tue, augenblicklich niederschießen würden. Sie waren fest entschlossen, diese Drohung auszufahren. Und nun ergriff auch Tatellah-Satah das Wort. Er sprach:
»Jeder Teil des vierfachen Kampfes kann erst dann beginnen, wenn ich die Hand erhebe, eher nicht. Wer die Schüsse kommandiert, darf dies nicht eher tun, als bis er mein Zeichen gesehen hat. Der erste ist Tusahga Saritsch, der Häuptling der Kapote-Utahs. Ist er bereit?«
Der Gefragte spannte sein Gewehr und antwortete:
»Ich bin bereit. Nun mag Old Shatterhand beweisen, daß eine einzige Handbewegung seiner Squaw genügt, einen jeden von uns zu vernichten. Sie tue das!«
Ich nickte dem Herzle zu. Schnell nahm sie die Medizin dieses meines ersten Gegners aus dem Reisepompadour und hing sie mir um den Hals. Mein Herz wurde von ihr bedeckt. Hierauf meldete ich dem »Bewahrer der großen Medizin«:
»Auch ich bin bereit. Der Kampf kann beginnen. Tusahga Saritsch mag schießen! Eine Minute später dann ich!«
Alles war still. Jedermann schaute auf den Beutel, den meine Frau mir umgehängt hatte. Niemand wußte sogleich, warum dies geschehen war. Da befahl Tatellah-Satah:
»Die Zeit ist da. Es beginne!«
Sofort erscholl das Kommandowort des Komiteevorsitzenden. Aber Tusahga Saritsch schoß nicht. Er hatte das Gewehr zur Hand, aber er hielt es gesenkt. Seine weit aufgerissenen Augen waren mit dem Ausdruck des Schreckens und der wachsenden Angst auf meine Brust gerichtet.
»Meine Medizin! Meine Medizin!« stammelte er.
»Schieß!« rief ich ihm zu.
»Auf meine eigene Medizin schießen?« jammerte er. »Wo hast sie her? Wer gab sie dir?«
»Frag nicht, schieß!« forderte ich ihn zum zweiten Mal auf.
Da ging es wie ein lauter, erlösender Atemzug über die Menge hin, in deren Mitte wir saßen. Man konnte zwar noch nicht begreifen, aber man sah nun doch, daß ich keineswegs so schutzlos war, wie man angenommen hatte. Die Gesichter meiner Freunde erhellten sich zusehends. Und die Stimme Tatellah-Satahs klang hell und froh, als er, die Hand zum zweiten Mal erhebend, sagte:
»Warum schießt Tusahga Saritsch nicht? Und warum wird das Kommando für Old Shatterhand nicht gegeben? Er hat nur eine einzige Minute zu warten, länger nicht! Beginnen wir noch einmal! Old Shatterhand ergreife sein Gewehr!«
Das tat ich. Das Kommando für meinen Gegner erscholl zum zweiten Mal. Er schrie auf:
»Ich kann nicht schießen! Ich darf nicht schießen! Wer seine eigene Medizin erschießt, erschießt sein ewiges Leben!«
»Die Minute ist vorüber!« rief Tatellsah-Satah.
Da ertönte das Kommando für mich. »Tusahga Saritsch, fahre in die ewigen Jagdgründe!« sagte ich und richtete den Lauf meines Stutzens auf seine Brust.
»Uff, uff!« brüllte er, so laut er brüllen konnte, sprang auf und rannte davon.
»Gott sei Dank!« raunte mir das Herzle zu. »Nun wird mir erst wieder wohl! Ich glaubte an dich und hatte trotzdem Angst!«
Es war lächerlich, den alten Häuptling mit der Schnelligkeit eines jungen Burschen davonspringen zu sehen; aber niemand lachte. Nach den alten, früher geltenden Gesetzen der Prärie war er nun ehrlos. Er hätte sich von mir erschießen lassen müssen.
Mein nächster Gegner war To-kei-chun. Der machte ein ganz eigenartiges, gar nicht zu beschreibendes Gesicht. Er wußte, daß und wo die vier Medizinen zusammengelegen hatten. Hatte ich die eine, so hatte ich höchstwahrscheinlich auch die andern, also auch die seine. Ich ließ ihn auch gar nicht lange in Ungewißheit. Ich ließ mir vom Herzle seine Medizin über die vorige hängen und meldete dann:
»To-kei-chun, der Häuptling der Racurrah-Komantschen, ist am Schuß. Ich bin bereit!«
Ich sah, daß ihm vor Entsetzen der Atem ausging, Er schnappte nach Luft. Seine Augen wurden klein und naß.
»Ist To-kei-chun fertig?« fragte Tatellah-Satah.
»Nein! Ich bin nicht fertig!« schrie der Gefragte, sprang auf und eilte ebenso schnell davon wie Tusahga Saritsch vorher.
Jetzt begann man schon zu lächeln.
»Nun kommt Kiktahan Schonka, Häuptling der Sioux«, sagte ich.
Der aber fuhr mich in seinem grimmigsten Ton an:
»Old Shatterhand ist ein räudiger Hund, ein Schuft, ein Schurke. Er stiehlt Medizinen! Hat er auch die meine?«
»Ja«, antwortete ich und ließ sie mir von meiner Frau auf die beiden anderen hängen, doch nur den Gürtel.
Er sah das, grinste mich höhnisch an und fragte:
»Glaubt Old Shatterhand etwa, daß auch ich ausreiße? Meine Kugel wird ihn sicher treffen, denn halbe Medizinen wirken nicht. Die Hälfte fehlt.«
»Die Medizinen, die ich habe, sind nicht halb, sondern ganz«, behauptete ich.
»Nein!« widersprach er. »Sie fehlt!«
»Sie fehlt nicht! Sie ist hier! Kiktahan Schonka mag sich überzeugen!«
Ich ließ mir die Hundepfötchen geben, hielt sie so, daß er sie deutlich sehen konnte, und hing sie dann dahin, wohin sie gehörten.
Er war zunächst starr vor Schreck. Dann zischte er mich in unbeschreiblich gehässiger Weise an:
»Sind räudige Hunde allmächtig? Wer gab dir das, was ich verloren habe?«
»Niemand gab es mir. Ich habe es gefunden.«
»Wo?«
»Auf der Teufelskanzel, auf welcher die Häuptlinge der Sioux und der Utahs sich über ihren Zug nach dem Mount Winnetou besprachen. Sie warteten dort auf Old Shatterhand, um ihn zu fangen. Während sie miteinander sprachen, erscholl die Stimme des großen Geistes. Sie erschraken und ergriffen die Flucht. Auf dieser Flucht verlorst du deine Skalpperücke und deine halbe Medizin. Die Perücke wurde dir nachgetragen. Die halbe Medizin aber steckte ich zu mir, um sie nun jetzt zur anderen Hälfte zu fügen.«
»So hast du uns belauscht? Dort auf der Teufelskanzel?«
»Ja.«
»Uff, uff!«
Er sah aus, als ob er sterben wolle. Er sank in sich zusammen, zwar so sehr, daß sein Gesicht auf die Kniee zu liegen kam.
»Ich bin bereit zum Kampf«, meldete ich dem »Bewahrer großen Medizin«.
Dieser fragte:
»Ist Kiktahan Schonka auch bereit?«
Da hob der Genannte den Kopf empor, schaute nach seinen Leute aus und gab ihnen einen Wink. Zwei von ihnen kamen herbei.
»Hebt mich auf und führt mich fort!« befahl er ihnen.
Sie taten es, halfen ihm auf sein Pferd und schritt nebenher, um ihn zu stützen.
Nun war nur noch Tangua, der Vater Pidas, übrig, der allergrimmigste und unversöhnlichste meiner Feinde. Er saß gelähmt an der Erde und hielt die Augen geschlossen, das Doppelgewehr in der Hand.Kein Zug seines Gesichtes verriet, was er dachte. Da sagte ich:
»Tangua, der älteste Häuptling der Kiowa, ließ mir schreiben: ›Hast Du Mut, so komm herüber nach dem Mount Winnetou! Meine einzige Kugel, die ich noch habe, sehnt sich nach Dir!‹ Ich bin gekommen. Hier sitze ich. Wo ist deine Kugel?«
Während ich das sagte, ließ ich mir vom Herzle seine Medizin umhängen. Er öffnete die Augen, schaute sie an und sprach:
»Ich dachte es! Auch die meinige ist da! Ich schieße nicht auf sie! Laß kommandieren! Ich verzichte auf meinen Schuß. Dich aber bitte ich: Gib mir nach deiner Minute eine Kugel in das Herz! Und bin ich tot, so leg mir meine Medizin in das Grab! Willst du das tun?«
»Nein!« antwortete ich.
»So habe ich mich in dir geirrt. Ich hasse dich, wie ich nie einen andern Menschen haßte. Ich will deinen Tod. Ich würde alles tun, alles, alles, ihn herbeizuführen. Aber ich habe dich für einen ehrlichen Feind gehalten!«
»Du irrst. Ich bin ehrlich, aber nicht dein Feind. Ich werde nicht auf dich schießen. Ich will nicht deinen Tod. Ich habe also nichts in dein Grab zu legen, auch nicht deine Medizin.«
»Was hat du mit ihr vor? Was soll mit ihr geschehen? Willst du sie vernichten?«
»Nein. Eure Medizinen gehören mir nicht. Ich behalte sie nicht. Aber wem ich sie gebe, das kann ich jetzt noch nicht sagen. Das werdet ihr selbst entscheiden.«
»Wir selbst? Wir vier?«
»Ja. Ich werde euch prüfen. Seid ihr es wert, so bekommt ihr eure Medizinen wieder. Seid ihr es nicht wert, so übergebe ich sie Tatellah-Satah. Er ist der Bewahrer der Medizinen und wird sie seinen Sammlungen einverleiben, damit die Kinder eurer Kindeskinder erfahren, was ihre Urväter für töricht böse Menschen waren. Also: Ich schenke dir dein Leben; aber ich schenke dir nicht deine Medizin. Verdiene sie dir! Ich habe gesprochen. Howgh!«
Ich stand auf. Das Herzle ebenso. Da erhob sich auch Tatellah-Satah und verkündete laut:
»Der Kampf ist zu Ende! Old Shatterhand hat gesiegt! Ein Sieg ohne Blut! Und darum ein zehnfacher Sieg!«
Wir gingen zu unsern Pferden und stiegen auf. Doch ehe wir den Platz verließen, ritt ich noch mal zu Tangua hin und sprach zu ihm:
»Ich bin der Freund von Tangua, dem Häuptling der Kiowa, ganz gleich, ob er mich haßt oder mich liebt. Aber um seinetwillen wünsche ich, daß er mir freundlicher gesinnt werde, als er es bis heute gewesen ist. Hat er mir hierüber nichts zu sagen?«
»Ich hasse dich und werde dich hassen, ohne aufzuhören!« antwortete er. »Ich werde dich verfolgen bis zu deinem Ende!«
»Oder bis zu dem deinigen!«
»Ganz gleich!«
»So bitte ich dich, auch wieder nur um deinetwillen, wenigstens nicht mit dem Komitee zum Denkmal verbunden zu bleiben und nichts gegen die, welche es bekämpfen, zu unternehmen!«
»Das verspreche ich nicht, sondern grad das Gegenteil!«
»Ich sage dir, das führt zu deinem Verderben und zum Untergang deines Stammes!«
Da richtete er sich so hoch auf, wie er konnte, nahm sein Gewehr zur Hand und rief in drohendem Ton:
»Schweig! Und entferne dich! Wenn du das nicht sofort tust, jage ich dir beide Kugeln durch den Kopf!«
»Wage es, das Gewehr nur anzuschlagen, so bist du eine Leiche!« antwortete ich, auf Pappermann deutend, der schnell zu ihm getreten war und ihm den Lauf seines Revolvers vor die Nase hielt. »Erst habt ihr euch untereinander verbunden, um gegen das Denkmal zu sein, und nun gesellt ihr euch zu dem Komitee, um gegen dessen Gegner zu sein. Ist das eines Häuptlings würdig? Handelt so ein ehrlicher Mensch? Du willst mein Verderben; ich aber warne dich trotzdem in herzlicher Aufrichtigkeit: Hüte dich vor dem ›Tal der Höhle‹ und vor allen Dingen vor der Höhle selbst!«
Da duckte er sich zusammen wie eine Katze, fauchte mich mit flackernden Augen an und fragte:
»Was ist mit der Höhle? Und was ist mit ihrem Tale?«
»Frage dich selbst. Du bist mir einst entgegengetreten und hast es büßen müssen, durch eigene Schuld! Dein Leben ist das eines Krüppels gewesen, nicht das eines Häuptlings, durch eigene Schuld! Nun trittst du mir am Schluß dieses deines elenden Lebens wieder entgegen, um Schuld zur Schuld zu häufen. Bedenke die Folgen! Du bist nicht Herr für dich! Die Folgen, welche deine Person treffen, magst du verantworten können; aber die Folgen, welche deinen Sohn, deine Familie und deinen Stamm treffen, wird Manitou dir vorhalten, wenn du in jenem anderen Leben erscheinst, welches ihr die ewigen Jagdgründe nennt. Man wird dich dort nach deiner Medizin fragen. Was kannst du antworten? So! Nun bin ich fertig. Howgh!«
Nun ritt ich fort, in derselben Begleitung, in der ich gekommen war. Die Freunde riefen mir von allen Seiten jubelnd zu. Die Feinde verhielten sich still. Nur als wir an der Menge der Arbeiter vorüberkamen, hörte ich Worte erklingen, welche sehr geeignet waren, meine Aufmerksamkeit zu erregen.
»Old Shatterhand! Schuft! Eindringling! Hund! Coyote! Feind! Rache! Erwürgen! Totschlagen!« das waren so einige der Drohungen, die ich da zu hören bekam.
Das verwundene mich. Das hatte ich nicht für möglich gehalten. Ich ersah keinen Grund zu solchem Haß. Als ich mich hierüber zu Tatellah-Satah und dem »jungen Adler« äußerte, erklärte unser alter Pappermann:
»Ja, die Arbeiter hassen Euch, Mr. Shatterhand. Sie sind ergrimmt über Euch, vom ersten bis zum letzten. Und sie machen gar kein Hehl daraus. Sie wissen, daß besonders Ihr gegen den Bau des Denkmales seid. Sie behaupten, daß Ihr sie um ihre lohnende Arbeit, um ihre Existenz bringen wollt. Sie halten seit einigen Tagen heimliche Versammlungen ab, in denen beraten wird, in welcher Weise man sich von Old Shatterhand und Tatellah-Satah befreien kann. Und bei diesen Versammlungen sind die Herren vom Komitee zugegen!«
»Ah! So! Das ist wichtig, hochwichtig!« gestand ich ein. »Woher wißt Ihr das?«
»Von Sebulon Enters!«
»Nicht von Hariman?«
»Nein, von Sebulon. Ich weiß, Ihr traut diesem noch viel weniger als seinem Bruder. Aber seit er erfahren hat, daß er nur betrogen werden soll, ist er Euch sicherer als jeder andere. Die Brüder kommen des Abends heimlich zu mir. Ich berate mit ihnen – –-«
»Ohne mich zu fragen?« fiel ich ein.
»Habt keine Sorge!« antwortete er. »Es gilt jetzt nur, Fühlung mit ihnen zu behalten. Sobald ich etwas Positives oder überhaupt Wichtiges höre, stelle ich mich ganz von selbst bei Euch ein. Am meisten wird über Euch in der Kantine gesprochen.«
»In welcher Kantine?«
»Ein Blockhaus bei den Steinbrüchen, in dem sich die Arbeiter verpflegen.«
»Kennt Ihr es, Mr. Pappermann?«
»Ja.«
»Ich noch nicht. Ich muß es sehen, und zwar sofort, noch ehe es Nacht wird. Reiten wir miteinander hin!«
»Im Häuptlingskostüm?« fragte das Herzle.
»Ja. Ich kann nicht erst mit nach dem Schloß, um mich umzukleiden. Den Federschmuck lege ich ab. Du nimmst ihn mit heim. Auch den Henrystutzen.«
»Ich denke, ich reite mit?«
»Diesesmal nicht, liebes Kind. Es handelt sich um eine kurze, sehr schnelle Rekognoszierung, die dich zu sehr anstrengen würde.«
»Ist Gefahr dabei?«
»Keine Spur!«
»So sei es dir erlaubt!«
Sie sagte das so ernst, daß ich diese »Erlaubnis« fast selbst auch ernst genommen hätte. Ich gab ihr den Federschmuck, dem »jungen Adler« das Gewehr, verabschiedete mich von Tatellah-Satah und bog dann mit dem alten Pappermann von unserem Weg ab, um an dem Schleierfall vorüber auf einem wenig betretenen Umweg nach den Steinbrüchen zu reiten.
Die Sonne war längst hinter dem Mount Winnetou verschv doch hatte es noch nicht begonnen, zu dunkeln. Wir ritten Galopp, kamen durch ein Seitentälchen aus dem Innental heraus und ritten dann am äußeren, nördlichen Fuß des Mount Winnetou Steinbruchs- und verschiedenen anderen Anlagen dahin, mit denen der herrlichen Natur hier so rücksichtslos Gewalt angetan worden war. Die Brüche sahen wie unheilbare Wunden aus, die man dem Brerg geschlagen hatte. Und die häßlichen Gerüste, Mauern, Drahtseile und Balken, mit denen man den jugendlichen Wasserfall eingefangen und gefesselt hatte, um seine Kraft in Elektrizität zu verwandeln, konnten nichts als nur das Gefühl des Bedauerns erwecken. Dort standen schmutzige Pferdeschuppen mit Reihen von schweren Lastwagen. Eine tannenmörderische Sägemühle kreischte. Zerfetzte Zelte krochen an der Erde hin. Niedrige Baracken lagen ordnungslos umher gestreut. Pappermann zeigte mir ein großes, langgestrecktes Blockhaus.
»Das ist die Kantine«, sagte er. »Der Wirt ist ein Riese. Er wird ›der Nigger‹ genannt.«
»Das ist für einen Indianer ein Schimpfwort, eine Beleidigung!« bemerkte ich.
»Er ist es gewohnt. Er nimmt es nicht übel, ist aber sonst ein sehr roher, gewalttätiger Mensch. Er ist kein reiner Indianer. Man sagt, daß seine Mutter eine Negerin gewesen sei. Die Brüder Enters verkehren bei ihm.«
»O weh! Warum?«
»Um ihn auszuhorchen. Er ist der eigentliche Führer der hiesigen Arbeiterschaft. Man sagt, daß sogar gewisse Häuptlinge ihm ihr Vertrauen schenken. Gewiß aber ist, daß er ein Liebling der Herren ›vom Komitee‹ ist. Man sagt, daß Mr. William Evening und Mr. Antonius Paper ganze Nächte lang im Trunk und Spiel bei ihm sitzen. Wollt Ihr ihn vielleicht einmal sehen?«
»Wenn es möglich wäre, ja.«
»Es ist möglich. Nur noch einige Minuten, dann ist es dunkel, und ich führe Euch an die besondere Stube, zu der nur seine Vertrauten Zutritt haben. Lassen wir uns nicht sehen! Reiten wir diese kurze Zeit spazieren!«
Wir waren bisher einem Gebüsch gefolgt, welches uns sehr gut verbarg. Wir konnten sehen, ohne selbst gesehen zu werden. Nun ritten wir unter derselben Deckung weiter, doch nicht, um noch ferneres zu entdecken, sondern nur, um die Zeit bis zur Dunkelheit vergehen zu lassen. Das dauerte nicht mehr lange. Die Dämmerung kam schnell. Sie ging ebenso schnell vorüber. Dann war es dunkel, vollständig dunkel, denn wir standen im neuen Mond, und die Sterne besaßen jetzt, so kurz nach Tag, noch keine leuchtende Kraft. Wir lenkten nach der Gegend um, in welcher die Baracke lag. Bei den letzten Büschen hielten wir an, stiegen ab, hobbelten unsere Pferde fest und geboten ihnen, sich zu legen. Sie taten es. Dann gingen wir vorsichtig dem Blockhaus zu, um unbemerkt an seine hintere Seite zu gelangen. Das war nicht schwer.
Dort angekommen, bemerkten wir Kisten und Fässer, welche längs der Hinterwand standen. Das gab uns gute Gelegenheit, uns, wenn es sein mußte, zu verstecken. Aber es wurde glücklicherweise nicht nötig. Im Innern der Baracke brannte Licht. Das ließ erkennen, daß sie aus mehreren Räumen bestand, einem sehr großen und mehreren kleinen. Nach einem der letzteren wurde ich von Pappermann geführt. Es gab da nur eine einzige Fensterluke, die nicht zu war, sondern offen stand. Unter ihr gab es eine schwere, starke Kiste, auf die man getrost steigen konnte, ohne befürchten zu müssen, daß sie ein verräterisches Geräusch von sich gebe oder gar zusammenbreche. Im Innern erklangen Stimmen.
»Das ist die Stube des Niggers«, sagte Pappermann leise. »Ich kenne sie. Die Enters haben sie mir genau beschrieben. Hört Ihr, daß man drin spricht?«
»Ja. Ich steige auf die Kiste und schaue nach.«
»Gut. Ich halte Wacht!«
Als ich mich hinaufgeschwungen hatte, konnte ich ganz bequem in die Stube sehen. Da standen zwei rohe Brettertische mit ebenso rohen Sitzen. Die Sprechenden waren fünf Männer, von denen ich vier sofort erkannte, nämlich die beiden Enters, Tusahga Saritsch und To-kei-chun. Man denke sich mein Erstaunen darüber, daß auch diese beiden letzteren sich hier befanden; der fünfte war jedenfalls der Wirt. Ein Riese von Person, mit indianischen Gesichtszügen, aber aufgestülpter Negernase und echter Mohrenhaut. Einen treffenderen Typ der Brutalität als ihn konnte man sich wohl kaum denken! Das Gespräch war ein sehr lebendiges, erregtes. Grad als ich den ersten Blick vom Fenster hinunter in die Stube warf, sagte der Nigger:
»Ich glaube, sie wissen es da oben selbst jetzt noch nicht, daß die beiden Medizinmänner entflohen sind. Verdammt sei dieser Old Shatterhand, daß er die Karte der Höhle erwischte! Glücklicherweise aber brauchen wir sie nicht. Die Medizinmänner wissen genug, um den Weg zu finden. Dieser Shatterhand ist trotz alledem ein Dumm.kopf. Als er nach dem Kampfplatz kam und sich mit den gestohlenen Medizinen brüstete, ahnte er nicht, daß seine Gefangenen sich schon wieder in Freiheit befanden und daß der Plan für morgen schon fertig war. Sein angeblicher Sieg heute nützt ihm nichts. Er hat einen Tag Zeit gewonnen, weiter nichts! Morgen abend ist er mit seinem Weib tot! Ihr haltet doch Wort?«
Diese Frage war an die Brüder Enters gerichtet.
»Was wir versprochen haben, geschieht?« antwortete Hariman.
Und Sebulon fügte hinzu:
»Eine größere Rechnung, als wir mit diesem Mann und seiner Frau haben, kann es gar nicht geben. Es fällt uns gar nicht ein, sie ihnen zu schenken!«
»Würde euch auch keinen Segen bringen!« drohte der Nigger. »Denn ich sage euch: Zwei sterben morgen ganz unbedingt, entweder dieses deutsche Ehepaar oder die Brüder Enters! Darauf könnt ihr euch verlassen! Ich traue euch nämlich noch nicht ganz! Es handelt sich um unsere Arbeit, um unsere Existenz, um die vielen Tausende, die wir hier verdienen wollen und können. Darum habe ich den Häuptlingen meine ganze Arbeiterschaft für morgen zur Verfügung gestellt, und darum drücke ich darauf, daß alles ganz genau so geschieht, wie wir besprochen haben. Wer sein Wort nicht hält, wird abgeschossen oder abgestochen! Dabei verbleibt es!«
Da stand To-kei-chun, der Häuptling der Racurreh-Komantschen, auf und sprach:
»Ja, dabei bleibt es! Wir sind alle zum Fest geladen. Wir kommen. Wir kennen die Plätze, die uns angewiesen werden. Unsere viertausend Krieger werden von den Medizinmännern durch die Höhle geführt. Sie werden nicht reiten, sondern gehen. Sie werden ihre Pferde im Tal zurücklassen, weil wir nicht wissen, ob der letzte Teil des unterirdischen Weges auch wirklich geritten werden kann.«
»Inzwischen stelle ich hier oben meine Arbeiter auf«, fiel der Nigger ein, »und die beiden Enters haben sich an Old Shatterhand und seine Frau gemacht. Sobald eure Krieger den Schleierfall hier oben erreicht haben, zeigen sie uns durch einen Schuß, daß sie da sind. Sobald dieser Schuß fällt, wird Old Shatterhand mit seiner Frau von den Enters abgestochen, und ich werfe mich mit meinen Arbeitern auf die ganze andere Bande, um euren Kriegern freien Weg und freie Arbeit zu machen.«
Jetzt stand auch Tusahga Saritsch auf und sagte:
»So ist es richtig! So hat es zu geschehen! Soll etwas hieran geändert werden. so sagen wir es dir oder senden einen Boten. Wir gehen.«
Sie entfernten sich, und der Wirt geleitete sie hinaus. Die beiden Enters waren allein. Sie sahen einander bedenklich an.
»Das kann schlimm werden«, sagte Sebulon.
»Wieso?« fragte Hariman. »Wir haben erfahren, was wir erfahren wollten. Morgen früh gehen wir beide zu Old Shatterhand, um es ihm zu erzählen und ihn zu warnen. Was kann da Schlimmes daraus werden?«
»O, um mich und dich ist es mir nicht; wir kommen durch. Aber dieses Blutvergießen dann hier oben! Denn einen solchen Angriff ohne Kampf abschlagen, das bringt selbst ein Shatterhand nicht fertig. Ich denke überhaupt weniger an ihn als vielmehr an seine Frau. Wenn alle sterben sollen, aber nur diese nicht!«
Ich wußte genug und sprang von der Kiste herab.
»Habt Ihr etwas Wichtiges gehört?« fragte Pappermann.
»Etwas unendlich Wichtiges!« antwortete ich. »Man müßte hier wohl an Wunder glauben. Es ist, als ob wir grad in diesem Augenblick hierhergeführt worden seien, um den Schluß dieses Gespräches hören zu müssen. Ich werde es Euch unterwegs erzählen. Eins aber muß ich Euch sofort sagen, nämlich, daß die beiden Medizinmänner, die wir am Eingang der Höhle gefangengenommen haben, entflohen sind.«
»Unmöglich!«
»Ja, doch!«
»Wann?«
»Heut' früh wahrscheinlich! Ohne daß wir es wissen. Sie haben sofort ihre Häuptlinge aufgesucht und mit ihnen den Plan besprochen, den ich soeben erfahren habe. Kommt schnell! Wir müssen nach Hause!«
Wir schlichen nach unsern Pferden, hobbelten sie los, stiegen auf und ritten fort. Unterwegs erzählte ich dem alten, treuen Kameraden, was ich erfahren hatte. Er wußte, daß ein sehr zuverlässiger Indianer ganz ausschließlich mit der Bewachung der beiden Medizinmänner betraut worden war. Dieser wohnte im Parterre von Tatellah-Satahs großem Vorderhaus, und da lag auch der Raum, in dem die Gefangenen untergebracht worden waren. Wir gaben unsere Pferde ab und gingen zunächst nach seiner Wohnung. Er war nicht da. Er war ein alleinstehender Mann, wohnte allein, und niemand konnte Auskunft über ihn geben. Dann suchten wir das Gefängnis auf. Das lag weit ab, wo niemand wohnte und selten jemand hinkam. Es war eine Art von Keller. Wir fanden die Tür von außen verriegelt. Kaum schickten wir uns an, zu öffnen, so wurde von innen geklopft, und es erklang eine Stimme, die uns bat, ja möglichst schnell zu machen. Als wir die Riegel zurückgeschoben hatten – wer kam heraus? Der Gefängniswächter! Als er heut' früh den beiden Gefangenen das Essen und Wasser gebracht hatte, waren sie plötzlich über ihn hergefallen. Sie hatten ihm mehrere Schläge versetzt, die ihm die Besinnung raubten. Als er zu sich kam, fand er sich im finstern Keller eingeriegelt; sie aber waren weg. Er hatte dann fast ohne Unterlaß gerufen und Lärm gemacht, jedoch vergeblich. Es war niemand gekommen, der ihn hörte. Er befürchtete eine strenge Strafe und bat, mich bei Tatellah-Satah für ihn zu verwenden. Ich versprach es ihm und ließ ihn laufen.
Dann begab ich mich nach meiner Wohnung. Das Herzle war nicht da. Sie hatte einen Zettel zurückgelassen, durch den sie mir mitteilte, daß sie, weil ich mich nicht rechtzeitig eingestellt hatte, zu Tatellah-Satah gegangen sei und die Manuskripte mitgenommen habe. Wakon werde vorlesen; ich aber solle nachkommen. Das tat ich denn.
In der Wohnung des »Bewahrers« angekommen, ging ich bis in sein Schlafzimmer. In dem daneben liegenden Passiflorenraum war es Augenblick still. Darum öffnete ich die Tür nur leise. Grad als ich das tat, erklang die Stimme Old Surehands:
»Ja, wahrhaftig, er war größer, viel größer, als wir alle! Viel größer, als wir dachten!«
»Und ist darauf noch größer und größer geworden, ohne daß wir es bemerkten!« stimmte Apanatschka bei.
»Wie steht es da mit Eurem Bild?« fragte Athabaska.
»Es ist zu klein, viel zu klein für ihn, und bauten wir es noch so hoch!« rief Kolma Putschi aus.
Und Aschta, die Mutter, fügte hinzu:
»Wir wollen kein Bild von Stein! Wir wollen ihn selbst, ihn selbst in unsern Herzen! Die köstlichen Worte, die er soeben zu uns sprach, indem sie vorgelesen wurden, sollen in der Seele unserer Nation erklingen, fort und fort, für alle Zeit!«
Da sah man mich unter der geöffneten Tür.
»Du kommst zur rechten Zeit!« begrüßte mich Tatellah-Satah. »Wir machten eine Pause; wir konnten nicht weiter; wir waren zu tief ergriffen; wir lasen seine Beschreibung deines Sieges über ihn und dann seinen Sieg über die sämtlichen Häuptlinge der Apatschen. Seine große Umkehr vom Kriegsgedanken zum Friedensgedanken, vom Haß zur Liebe, von der Rache zur Verzeihung. Das hat uns alle emporgehoben. Das hat den Vorhang aufgerollt. Nun sehen wir, was hinter ihm und hinter unsern winzigen Taten liegt. Das hat sogar Old Surehand, Apanatschka und ihre Söhne aufgerüttelt – – –«
»Nicht aufgerüttelt«, fiel Young Apanatschka ein, »aber sehend gemacht, wenn auch noch nicht ganz. Ein Schleier ist gefallen. Ob der andere auch noch fällt, das wissen wir nicht. Man sagt uns, daß unsere Kunst eine äußere sei, eine Kunst ohne Seele und Gedanken, genauso wie unser Bild. Wir haben euch eingeladen, am morsenden Abend am Wasserfall unsere Gäste zu sein. Dort werden wir versuchen, den Stein durch Licht zu beleben. Gelingt es, dann gut; gelingt es nicht – –«
»Es gelingt!« fiel ihm Young Surehand siegesgewiß in die Rede.
Ich sah, daß ihm gleich einige widersprechen wollten, darum ergriff ich schnell das Wort:
»Er hat recht; warten wir es ab!«
»Ja, warten wir es ab!« stimmte Athabaska mir bei. »Aber selbst wenn es gelänge, würde es nur ein belebter Rowdy sein, den wir zu sehen bekommen. Ein Rowdy, zum Angriff vorgehend, mit dem Revolver in der Hand; hier aber hat man einen andern, einen wirklichen Winnetou, der Geist, Gemüt und Adel besitzt, und Geist, Gemüt und Adel von uns fordert. So wie er sollen auch wir nach oben streben, wir, seine ganze Rasse. Er nimmt uns mit; er zieht uns förmlich hinauf.«
Indem er dies sagte, zeigte er auf das Winnetou-Porträt, welches wir Tatellah-Satah gegeben hatten. Dieser hatte es hier an das weiße Passiflorenkreuz geheftet und zu beiden Seiten die Bilder von Marah Durimeh und Abu Kital, dem Gewaltmenschen, aufgestellt. Das hatte, als die Anwesenden kamen und es sahen, einen großen, tiefen Eindruck gemacht, und diesem Eindruck war es unbedingt mit zuzuschreiben, daß die heutige Vorlesung eine so ungewöhnliche Wirkung hervorgebracht hatte. Es hätte eigentlich weitergelesen werden sollen; aber man hatte nun einmal aufgehört und kam nicht recht wieder in die erforderliche innere Ruhe hinein. Darum beantragte Old Surehand, für heut' Schluß zu machen, zumal von seiner Seite für den morgenden wichtigen Tag noch sehr viel vorzubereiten sei. Man ging darauf ein. Hierauf entfernten sich alle, und nur ich blieb mit dem Herzle bei Tatellah-Satah zurück.
»Es war heut ein Sieg, ein großer Sieg«, sagte der letztere. »Als sie kamen und Euern nach dem Tod auf steigenden Winnetou sahen, war das Schicksal des steinernen Bildes besiegelt. Selbst die beiden jungen Künstler nebst ihren Vätern und Kolma Putschi können sich dem nicht entziehen. Und sie sind ehrlich. Sie leugnen es nicht. Sie werden morgen am Schleierfall versuchen, ihre Idee zu retten; aber sie fühlen es schon heut und selbst nur zu gut, daß auch diese ihre größte Anstrengung vergeblich sein wird. Du rittest mit Pappermann nach den Steinbrüchen. Du kamst so spät zurück. Das läßt vermuten, daß ihr nicht umsonst geritten seid.«
»Allerdings«, antwortete ich. »Das Resultat ist mehr als befriedigend, wenn auch nicht erfreulich. Wir haben sehr viel erfahren; zum Beispiel, daß die beiden Medizinmänner der Kiowa und der Komantschen entflohen sind.«
»Uff, uff!« rief er erschrocken aus.
Das Herzle war nicht weniger überrascht. Ich fuhr fort:
»Das ist noch nicht das Schlimmste. Es kommt noch Schlimmeres. Setzen wir uns. Ich will erzählen.«
Ich berichtete, was ich zu berichten hatte. Als ich fertig war, sagte Tatella-Satah:
»Ich würde wohl in aufgeregter Besorgnis sein, wenn ich nicht sähe, daß du so ruhig bist! Warum hast du das nicht erzählt, als die Häuptlinge noch da waren?«
»Mußten sie es wissen? Brauchen wir sie dazu?« fragte ich. »Ich pflege das, was ich allein tun kann, keinem anderen zu übertragen.«
»Du glaubst, allein fertig werden zu können?«
»Ja.«
»Mit allen diesen viertausend Feinden?«
»Ja.«
Da sah er mich groß an, schüttelte den Kopf und fuhr fort:
»Jetzt begreife ich an Winnetou, was ich früher, als er noch lebte, nicht begreifen konnte, nämlich sein unbeschreibliches Vertrauen zu dir. Heut' fühle ich es selbst, dieses Vertrauen. Und so sag': Was gedenkst du, gegen das alles, was uns droht, zu tun?«
»Das einfachste, was es gibt: Ich verlege ihnen den Weg durch die Höhle! Ich sperre sie sodann im Tal der Höhle ein, bis sie vor Hunger um Erbarmen bitten müssen. Und ich nehme ihre Häuptlinge gefangen, um sie als Geiseln zu benutzen. Wieviel bewaffnete ›Winnetous‹ stehen dir zur Verfügung?«
»Heut über dreihundert; bis morgen abend können es fünfhundert sein und später noch weit mehr.«
»Das ist übergenügend. Für jetzt brauche ich ihrer nur vielleicht zwanzig und unsern treuen Intschu-inta dazu. Ich gehe jetzt zu mir, mich umzuziehen, weil ich das indianische Gewand noch trage. Dann komme ich wieder und steige mit ihnen durch die verborgene Treppe hier in die Höhle hinab, um die Stalaktiten wieder derart aufzustellen, daß die beiden Medizinmänner, wenn sie mit ihren Scharen kommen, sich nicht weiterfinden können.«
»Und wenn sie den Weg, den du ihnen verbergen willst, aber doch entdecken? Wenn sie die Steine ebenso wegräumen, wie du sie weggeräumt hast?«
»Das könnte höchstens am breiten Weg geschehen, dessen Ausgang ich ihnen aber hinter dem Schleierfall derart verlegen werde, daß sie nicht herauskönnen. Damit ist für heut und morgen alles vorbereitet. Zum Einschließen der Feinde im Tale ist übermorgen noch Zeit.«
Hierauf schickte ich mich an, zu gehen; aber das Herzle hatte vorher erst noch etwas anderes zu erledigen. Sie bat nämlich den alten »Bewahrer der großen Medizin« um die Erlaubnis, ihn morgen photographieren zu dürfen. Ich erschrak fast. Das war eine Kühnheit, die ich mir niemals gestattet hätte. Er aber lächelte gütig und fragte:
»Darf ich wissen, für wen oder wozu das Bild sein soll?«
»Das ist Geheimnis«, antwortete sie mit ungeminderter Verwegenheit. »Aber ein liebes, gutes und sehr nützliches Geheimnis, welches vielen, vielen große Freude machen wird.«
»So ist es mir unmöglich, der Squaw meines Bruders Shatterhand ihren lieben, guten und sehr nützlichen Wunsch abzuschlagen. Sie mag kommen, wann sie will; ich bin bereit.«
Als wir hierauf gingen, fragte ich sie unterwegs, wozu sie die Photographie wohl brauche. Sie antwortete:
»Sag', wer ist hier am Mount Winnetou die maßgebende Persönlichkeit: Du oder Tatellah-Satah?«
»Ganz selbstverständlich er!«
»Schön! Er hat sich begnügt, zu fragen, ohne eine Antwort zu erhalten. VerIangst du mehr als er?«
»Ja.«
»Mit welchem Recht?«
»Sag', wer ist in unserer Ehe die maßgebende Persönlichkeit, ich oder Tatellah-Satah?«
»Ganz selbstverständlich er!« lachte sie.
»Well! So muß ich mich bescheiden! Ich bin besiegt! Du kannst das Geheimnis behalten!«
»Und ich steige jetzt mit in die Höhle hinab.«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Erstens bist du da unten kein brauchbarer Gegenstand, und zweitens bin ich nun nicht mehr maßgebend genug, dir diesen Wunsch zu erfüllen. Ich kann nichts tun, als dir ›gute Nacht‹ sagen.«
»Das kränkt mich schwer! Weißt du, ich teile dir lieber mein photographisches Geheimnis mit und darf dich dann begleiten. Denn schlafen kann ich doch nicht, wenn ich dich da unten weiß.«
»Gut! Einverstanden! Also? Das Geheimnis?«
»Ich will das Bild unseres alten, berühmten Freundes für den Projektionsapparat.«
»In welcher Weise?«
»Heut abend sollen doch bekanntlich die Bilder der beiden Künstler zu beiden Seiten des Denkmales auf dem Wasserfall erscheinen. Ich habe dieselbe Idee für unsern aufstrebenden Winnetou mit den Bildern von Tatellah-Satah und Marah Durimeh zu beiden Seiten. Was sagst du dazu?«
»Die Idee ist gut, sehr gut. Du brauchst da verschiedene Apparate, verschiedene Linsen – – –«
»Ist da, ist alles da!« fiel sie schnell ein.
»Wo?«
»Bei dem Ingenieur, mit dem ich schon gesprochen habe.«
»Du denkst, daß er es tut?«
»Mit Vergnügen!«
»Und nichts vor der Zeit verrät?«
»Gewiß nicht! Ich garantiere!«
»So bin ich einverstanden.«
»Und nimmst mich jetzt mit nach der Höhle?«
»Ja. Ich bin verpflichtet, alles zu tun, was du befiehlst!«
»Daß du das tust, sind wir einander schuldig!«
Als wir nach einiger Zeit wieder zu Tatellah-Satah kamen, stand Intschu-inta schon mit seinen zwanzig Mann bereit. Sie hatten sich genugsam mit Fackeln und mit einigem Werkzeug versehen. Wir öffneten den Treppenstein und stiegen in den Gang, welcher uns nach unten führte. Dort angekommen, suchten wir zunächst die Stelle auf, an welcher der schmale Weg von dem breiten abzweigte. Dort hatten wir durch die Beseitigung der Stalaktiten Raum geschafft. Sie wurden wieder herbeigeholt und an ihre frühere Stelle gebracht. Wir trugen auch noch eine Menge anderer Stücke hinzu, die wir derart auf stellten, daß die Maserung des Weges unmöglich mehr entdeckt werden konnte. Der Gang war von unten bis oben vollständig zugefüllt, und zwar in so natürlicher Weise, daß der Gedanke an eine künstliche Nachhilfe ausgeschlossen erschien.
Während dieser Arbeit sah ich mich an der Stelle um, die mir schon vorher verdächtig vorgekommen war. Aus dem einen Riß in der Decke waren mehrere geworden. Am Boden lagen schon eine ganze Menge herabgestürzter Steintrümmer. Und ein Regen von zerriebenern Kalksinter siebte ununterbrochen aus den klaffenden Spalten hernieder. Zuweilen hörte man ein leises, aber scharfschneidiges Geräusch, wie wenn gleichzeitig zwei Glastafeln aneinander gerieben werden. Das klang unheimlich. Hier und da ertönte es irgendwo, wohin man nicht schauen konnte, als ob Felsen prasselten und Steine aus der Höhe in die Tiefe fielen. Das gab ein so ungewisses, beängstigendes Gefühl. Ich mußte mich sehr überwinden, um still an Ort und Stelle bleiben zu können. Ich hatte eine ununterbrochene Sorge, plötzlich zerschmettert zu werden, und war froh, daß unsere Arbeit endlich fertig war und wir uns entfernen konnten. Und das betraf nicht nur mich, sondern das Herzle sagte, indem wir gingen:
»Gott sei Dank, daß das vorüber ist! Mir war zuletzt ganz ängstlich zu Mute.«
»Warum?« fragte ich.
»Weil es scheint, als ob hier alles zusammenbrechen soll!«
»Hattest auch du dieses Gefühl?«
»Gleich sofort, als wir kamen. Ich habe nichts gesagt, um dich nicht zu beunruhigen. Was gibt es hier über uns, zu unsern Häuptern?«
»Höchstwahrscheinlich die schwere Winnetoufigur. Wenigstens denke ich es. Genau kann ich es nicht sagen.«
Da schrie sie auf:
»Du, die bricht zusammen!«
»Still, still! Laß das keinen Menschen hören!«
»Also darum, darum steht sie schief?«
»Und stellt sich immer schiefer und schiefer!«
»Hältst du diese Katastrophe für möglich?«
»Fast für unvermeidlich!«
»Wann?«
»Die Zeit läßt sich nicht bestimmen. Um dies zu können, müßte man die Felsenunterlage genau untersuchen. Ich hoffe aber, daß es erst später geschieht, nicht etwa schon dieser Tage.«
Hätte ich gewußt, wie nahe uns dieses gräßliche Ereignis stand, so hätte mich nichts abhalten können, die hier zu erwartenden viertausend Indianer zu warnen. Wir gingen nun auf dem schmalen Weg zurück, bis nach der Stelle, wo der steile Pfad nach der Teufelskanzel abzweigte. Auch diese Mündung maskierten und verbarrikadierten wir derart, daß niemand hier einen verborgenen Abweg suchen konnte. Von da ging es weiter aufwärts bis dahin, wo der Aufstieg nach dem Passiflorenraum begann. Wir versperrten ihn ebenso sorgsam, doch nicht von unten, sondern von oben her, weil wir uns ja hinter der Sperre befinden mußten, um nach dem Schloß zurückkehren zu können. Als wir dort anlangten, graute fast schon der Tag. Tatellah-Satah war nicht da. Wir verschlossen die geheimnisvolle Treppe und trennten uns dann von unsern indianischen Begleitern, um heimzugehen und noch einige Stündchen zu schlafen.
Als wir erwachten, wartete Intschu-inta schon auf uns, um uns zu melden, daß die Gebrüder Enters schon längere Zeit hier seien und uns zu sprechen wünschten. Wir ließen sie kommen und empfingen sie freundlich. Sie zeigten sich verlegen. Sie wußten nicht, wie sie beginnen sollten. Da zerhaute ich den Knoten, indem ich sagte:
»Ihr kommt, um uns zu sagen, daß wir heut abend sterben sollen?«
Nun erschraken sie gar; ich aber fuhr ruhig fort:
»Die beiden Medizinmänner sind entflohen. Sie wollen die viertausend Feinde heut abend durch die Höhle führen, um uns zu überfallen. Die Arbeiter stehen unter ihrem Anführer, dem ›Nigger‹, bereit, mit ihnen gemeinsame Sache zu machen. Die Roten geben, sobald sie hinter dem Wasserfall angekommen sind, das Zeichen durch einen Schuß. Sobald dieser Schuß fällt, haben die Brüder Enters mich und meine Frau zu ermorden, und die Arbeiter werfen sich auf die Häuptlinge und sonstigen Freunde von uns!«
Sie sahen mich starr und stumm an. Sie sagten zunächst kein Wort, so groß war ihr Erstaunen.
»Nun?« fragte das Herzle. »Wie gefällt euch das? Gebt ihr es zu? Oder wollt ihr es bestreiten?«
Da antwortete Sebulon:
»Bestreiten? Nein! Wir sind ja nur deshalb gekommen, um es euch zu sagen, um euch zu warnen. Wir sind nur so betroffen, weil ihr schon alles wißt. Und so genau! Es soll ja das tiefste Geheimnis sein!«
»Geheimnis? Pshaw!« fiel ich ein. »Wir haben stets alles gewußt, und zwar viel besser als ihr. Das habt ihr wohl nun endlich eingesehen! Und so wissen wir auch das. Wir wissen sogar, daß ihr gestern abend in der Kantine, als Tusahga Saritsch und To-kei-chun fort waren, beschlossen habt, heut früh hierher zu kommen und uns alles zu erzählen.«
»Wie ist das möglich? Ihr könnt doch nicht unter den Tischen oder Sitzen gesteckt haben!«
»O nein! So unbequem brauchen wir es uns gar nicht zu machen! Die Leute, die unsere Feinde zu sein scheinen, erzählen es uns selbst. Seid froh, daß ihr es ehrlich meint! Denn wäre dies nicht der Fall, so würdet ihr die ersten sein, die unter unseren Kugeln fallen.«
»Oh, was das betrifft, so würden wir wahrscheinlich gar nicht bös darüber sein, uns morgen tot zu wissen! Es gibt bei uns weder Glück noch Stern. Das ist der Fluch, der vom Vater auf die Söhne erbt.«
»Nicht der Fluch, sondern der Segen!« widersprach ich ihm.
»Wieso?« fragte er.
»Der Segen, welcher darin liegt, Geschehenes gutzumachen und dadurch den Vater erlösen zu können.«
»Und daran glaubt Ihr, Mr. Shatterhand?«
»Ja.«
»Wirklich? Wirklich? Ich bitte Euch, sagt es mir aufrichtig!«
»Gewiß und wirklich!«
»Gott sei Dank! So gibt es also doch noch einen Zweck für uns! Wir wollen es fernerhin tragen! Ihr wißt also nun, daß wir heute abend angewiesen sind, uns in eure Nähe zu machen?«
»Ja.«
»Wollt Ihr uns das erlauben?«
»Gern.«
»Und uns dennoch nicht mißtrauen?«
»Wir sind überzeugt, daß ihr es ehrlich meint.«
»Gott segne Euch für dieses Wort! Habt Ihr einen Befehl für uns?«
»Jetzt noch nicht. Vielleicht heute abend. Wahrscheinlich kommt es gar nicht zu einem Kampf. Der Überfall wird auf alle Fälle vermieden.«
»So nehmt Euch aber, mag es gehen wie es will, vor dem ›Nigger‹ in acht. Er haßt Euch glühend. Er schreibt alles auf Eure Schuld. Wenn er die Wahl hat, Euch eine Kugel zu geben oder keine, so gibt er Euch sicherlich zwei! Jetzt müssen wir gehen. Wir haben schon so lange gewartet, und doch soll niemand wissen, daß wir hier verkehren.«
Sie entfernten sich.
»Sie tun mir leid, unendlich leid!« sagte das Herzle. »Sie sind ganz anders als früher. Ich wollte, sie hätten ein recht, recht glückliches Leben vor sich liegen!«
Als wir dann bei unserem verspäteten Kaffee saßen, stellten sich zwei andere Personen ein, die uns aufzusuchen kamen. Das waren die Squaw des Häuptlings Pida und »Dunkles Haar«, ihre Schwester. Sie wurden ganz selbstverständlich in der herzlichsten Weise aufgenommen. Das Herzle setzte gleich noch einmal Kaffee an, um sie an unserem Frühstück teilnehmen zu lassen. Wir erfuhren von ihnen, daß gestern abend die Frauen der Komantschen und der Kiowas hier angekommen waren. Sie hatten sich sofort mit den Frauen der Sioux unter deren Führerin Aschta vereinigt, um bei den Denkrnalsberatungen auch ihre Stimmen zur Geltung zu bringen. Heute früh waren sie alle nach dem Gebäude gezogen, in dem die beiden jungen Künstler ihr Rundgemälde und das Modell zur Winnetoufigur sehen ließen. Sie hatten es ganz enttäuscht verlassen. Was ihnen da gezeigt worden war, hatte nichts mit dem herrlichen Winnetou zu tun gehabt, den man liebt und verehrt, so weit die Zungen der roten Völker erklingen. Nein! Den Winnetou, den sie da gesehen hatten, den lehnten sie ab. Den wollten sie nicht haben. Und mir das sofort zu sagen, waren sie gekommen.
Aber es galt, mir noch eine andere Mitteilung zu machen, die weit schwieriger war. Sie wußten nicht so recht, wie sie es anzufangen hatten, mich genügend zu warnen, ohne einen Verrat gegen ihre eigenen Krieger zu begehen. Ich machte ihnen Mut, indem ich ihnen erklärte, daß ich bereits alles wisse. Ich sagte ihnen, daß die viertausend Indianer heute durch die große Höhle ziehen würden, um den unsinnigen Plan der alten, gegen uns verschworenen Häuptlinge zur Ausführung zu bringen. Das machte es ihnen möglich, aufrichtig zu sein. Ich erfuhr von ihnen, daß Pida, ihr Mann und Schwager, heut frühzeitig nach dem »Tal der Höhle« geritten sei, weil man ihn ausersehen hatte, den unterirdischen Marsch zu kommandieren. Nun stand für sie die Sache folgendermaßen: Siegte er, so mußte ich zugrunde gehen, und siegte ich, so war es um ihn geschehen. In dieser Herzensangst hatten sie es für das Beste gehalten, mich aufzusuchen und sich mit anzuvertrauen. Ich versprach ihnen Verschwiegenheit und gab ihnen die Versicherung, daß weder mir noch Pida irgend etwas Böses geschehen werde. Als sie uns nach einiger Zeit verließen, waren sie vollständig beruhigt.
Hierauf ging das Herzle zu Tatellah-Satah, um ihn zu photographieren. Ich begleitete sie. Als die Aufnahme vorüber war, verließ sie uns. Es trieb sie zum photographierenden Ingenieur. Wir aber machten einen Spaziergang nach dem Wartturm, um den »jungen Adler« aufzusuchen. Dieser schien von dem Kommen unseres ehrwürdigen Freundes und Beschützers unterrichtet zu sein, denn er rief uns, als wir dort anlangten, von der Höhe seines Daches aus zu:
»Kommt herauf! Es ist alles bereit. Mein ›Adler‹ ist fertig!«
Wir traten in den Turm und stiegen die vielen Stufen bis zum platten Dach hinauf. Da stand auf vier Beinen ein großes, vogelähnliches Gebilde mit zwei Leibern, zwei ausgebreiteten, mächtigen Flügeln und zwei Schwänzen. Die beiden Leiber vereinigten sich vorn durch ihre Hälse zu einem einzigen Kopf, zu einem Adlerkopf. Sie waren aus federleichten, aber außerordentlich festen Binsen geflochten. Was sie enthielten, sah man nicht, höchstwahrscheinlich den Motor. Im übrigen bestand der Apparat aus fast gewichtslosen Stoffen, die aber unzerreißbar waren und große Tragfähigkeit besaßen. Die Schwänze waren höchst eigenartig gestaltet. Zwischen den Leibern war ein bequemer Sitz angebracht, welcher Platz für zwei Personen gewährte. Es gab verschiedene Drähte, deren Bestimmung nicht gleich beim ersten Blick zu erkennen war, doch konnte man sich denken, daß sie zur Beherrschung und Lenkung des großen Vogels dienten. Außer dem »jungen Adler« waren noch unser alter Pappermann und Aschta, die jüngere, da.
Es ist mir nicht erlaubt, eine Beschreibung des Apparates zu geben, doch darf ich versichern, daß, als der »junge Adler« uns alles erklärt hatte, wir beide, Tatellah-Satah und ich, von der Sicherheit und der Verläßlichkeit des Apparates derart überzeugt waren, daß in uns sofort der Wunsch aufstieg, uns seiner einmal bedienen zu dürfen.
»Und er fliegt, er fliegt!« versicherte Pappermann. »Ich habe es selbst gesehen!«
»Wann?« fragte ich.
»Heute früh«, antwortete er. »Als Jedermann noch schlief und nur die erste Spur des Morgengrauens vorhanden war. Denn niemand sollte es sehen. Ich kam herauf, um zu helfen. Da stieg der ›junge Adler‹ auf den Sitz und zog an einem Draht. Sofort wurde es in den beiden Leibern lebendig. Der Vogel begann, zu atmen. Noch ein Draht, und die Schwänze breiteten sich aus. Die Flügel bewegten sich. Zwei, drei Schläge, und der Vogel stieg auf, verließ das Dach des Turmes und flog ein Stück hinaus, hoch über die Ebene. Er stieg höher und höher, schlug einen Bogen, kehrte wieder zurück und ließ sich langsam, ohne daß es einen Stoß gab, wieder auf das Dach herab. Er steht noch genauso da, wie er angekommen ist!«
»Und das ist wahr? Wirklich wahr?« fragte ich den »jungen Adler«.
Er nickte mir lächelnd zu. Dieses Lächeln war kein stolzes, aber ein unendlich glückliches! Tatellah-Satah schaute vom Dach in die Weite hinaus. Fast war es, als ob sein Antlitz leuchten wolle.
»Kommt!« erklang es erst nach längerer Zeit aus seinem Munde.
Er sagte das zu mir und dem »jungen Adler« und ging zur Treppe, um wieder vom Turm hinabzusteigen. Unten angekommen, führte er uns in den Hochwald. Er schritt voran; wir folgten hintendrein. Keiner sprach ein Wort. Er führte uns nach der anderen Seite des Berges, bis zu einer Stelle, von welcher aus wir hinüber nach dem See und hinunter nach dem Schleierfall schauen konnten. Jenseits des Sees ragte der domartige Hauptberg des Mount Winnetou hoch empor, und hinter diesem waren die gewaltigen Kuppen der benachbarten Giganten zu sehen, unter ihnen einer, der seinen Gipfel so stolz und steil, so scharf und senkrecht erhob, als ob es nie einem menschlichen Wesen gestattet worden sei, seinen Scheitel zu betreten. Auf ihn deutend, sagte der Alte:
»Das ist der ›Berg der Königsgräber‹. Bevor die Rasse der Indianer sich in winzige Stämme auflöste, wurde sie nicht von kleinen Häuptlingen, sondern von gewaltigen Kaisern und Königen regiert, die alle auf der mächtigen, hoch über den Wolken liegenden Plattform dieses Berges begraben worden sind. Die Gräber sind von Stein gemauert. Sie bilden zusammen eine Totenstadt mit Straßen und Plätzen, auf denen es keine Spur von Leben und Bewegung gibt. Sie enthalten nicht nur die Leichen der verstorbenen Herrscher, sondern in jeder Gruft liegen, in goldenen Kästen unzerstört erhalten, die Bücher über jedes Jahr der Regierung dessen, der hier seine letzte irdische Wohnung fand. Hier sind also nicht nur alle die großen Herrscher der roten Rasse begraben, sondern ihre ganze Geschichte und sämtliche Berichte und Dokumente ihrer langen, vieltausendjährigen Vergangenheit. Aber man kann nicht zu ihnen gelangen. Man kann nicht hinauf. Als der letzte König begraben worden war, vernichtete man die Felsenstraße, die hinauf zu den Königsgräbern führte, so daß es keinem Sterblichen mehr möglich war, hinauf zu ihnen zu gelangen. Es soll zwar einen steilen Nebenpfad geben, der damals nicht mit vernichtet worden ist, aber niemand hat ihn bisher gefunden. In einem meiner ältesten Bücher steht geschrieben, daß der Schlüssel zu diesem Pfad vorhanden sei, aber er liege hoch oben auf dem ›Berg der Medizinen‹, genau am Fuß der letzten, höchsten Felsennadel, unter einem Stein, der die Gestalt einer halben Kugel habe. Der ›junge Adler‹, auf den die roten Männer schon seit langen, langen Jahren warten, wird, wie auf der Haut des großen Kriegsadlers zu lesen ist, dreimal um den Berg fliegen und bei diesem Stein anhalten, um ihn zu heben und den Schlüssel hervorzunehmen. Ist dies gelungen, so kann der Berg der Königsgräber bestiegen werden, und die Berichte und Dokumente der verschwundenen Urzeiten dürfen ihre Stimmen erheben, um die Geheimnisse unserer Vergangenheit zu enthüllen.«
Er schaute nach jener Felsennadel hinauf, an deren Fuß der Schlüssel liegen sollte. Und er schaute hinüber nach der Bergeskuppe, auf welcher die roten Kaiser und Könige begraben lagen. Dann fuhr er fort:
»Das alles wußte ich. In meiner Brust war die ganze, glühende Sehnsucht unserer Rasse vereint. Da saß ich vor meiner Tür, und vor meinen Füßen landete aus hohen Lüften der verwegene Knabe, der den mächtigsten der Vögel gezwungen hatte, ihn über die Abgründe des Todes zur sicheren Erde herabzutragen. Er wurde von nun an der ›junge Adler‹ genannt. War er der Verheißene, der Vorherverkündigte? Ich glaubte es. Ich nahm ihn zu mir. Ich erzog ihn. Er war ein Verwandter meines Winnetou. Ich legte ihm die Sehnsucht, fliegen zu lernen, in das Herz. Als ich hörte, daß drüben in Kalifornien die ersten Flugversuche gemacht worden seien, beschloß ich, ihn zu den Bleichgesichtern zu senden, damit er das Fliegen von ihnen lerne. Er ging und tat, was ich von ihm begehrte. Jetzt ist er zurückgekehrt. Er behauptet, ein Flieger geworden zu sein. Er sagt, daß er einen eigenen Adler erfunden habe, auf dessen Flügel er sich verlassen könne. Ich glaube es ihm, denn er ist mein erster und oberster Winnetou, und es kam noch nie ein unwahres Wort über seine Lippen. Dennoch frage ich ihn heut und jetzt, in diesem wichtigen Augenblick: Getraust du dich, da hinaufzufliegen und nachzusehen, ob wirklich ein Stein vorhanden ist, unter dem der Schlüssel zu den Gräbern der Könige verborgen liegt?«
Der »Junge Adler« antwortete sofort und in zuversichtlichem Ton:
»Ich getraue es mich nicht nur, sondern es ist sogar leicht, sehr leicht.«
»Und wann kannst du es tun?«
»Sobald du es wünschest. Jetzt oder später. Die Zeit, die du bestimmst, ist mir gleich!«
»Dann jetzt noch nicht. Der heutige Tag hat seine Aufmerksamkeit auf anderes zu richten. Aber ich danke dir für deine Zuversicht. Sie macht mich fest in meinem Zukunftsglauben! Wir werden die Grüfte der toten Kaiser und Könige öffnen. Wir werden die Bücher finden und die Seele unserer Rasse, die in ihnen schlummert, aus dem tausendjährigen Schlaf auferwecken. Sie wird wachsen und groß werden, wie die Seelen der anderen Rassen groß geworden sind, und niemand wird uns mehr hindern, die Höhen zu gewinnen, die uns von Manitou zur Wohnung angewiesen sind!«
Unser Blick reichte, wie bereits gesagt, von da aus, wo wir uns jetzt befanden, bis hinunter nach dem Schleierfall. Da sahen wir jetzt das Herzle mit dem Ingenieur und einigen Indianern, welche photographische Apparate trugen. Sie befand sich also in voller Tätigkeit und hatte, wie es schien, den Ingenieur für sich gewonnen. Wir aber kehrten nach dem Turm und von da nach dem Schloß zurück, wo ich dadurch überrascht wurde, daß ich Old Surehand und Apanatschka auf mich wartend fand.
»Wundert euch nicht, daß ihr uns bei euch seht«, redete mich der erstere an. »Es ist eine etwas unklare, aber, wie es scheint, höchst wichtige Sache, die uns zu euch führt. Kennt ihr den sogenannten ›Nigger‹, der die Arbeiterkantine bewirtschaftet?«
»Ich habe ihn einmal gesehen,« antwortete ich.
»Mit ihm gesprochen?«
»Nein.«
»Habt ihn also nicht beleidigt?«
»Nie.«
»Dennoch hat er einen fürchterlichen Haß auf euch. Weshalb, das könnt ihr euch wohl denken. Er steht auf unserer Seite. Wir können ihm also nicht zürnen. Aber er ist ein höchst unbedachtsamer, jähzorniger und gewalttätiger Mensch und meint jetzt mit seinem Haß gegen euch zu weit gehen zu wollen. Er war vorhin in einer geschäftlichen Angelegenheit bei uns und hat bei dieser Gelegenheit in einer Weise von euch gesprochen, welche uns in Besorgnis versetzt. Er sagte, heut sei euer letzter Lebenstag; es würden auch noch andere daran glauben müssen; heut habe es sich zu zeigen, wer Herr und Meister am Mount Winnetou sei. Er schien betrunken zu sein. Wir haben ihn bisher für treu gehalten; diese Redensarten aber erregen unser Bedenken. Wir sind gekommen, euch zu warnen. Es scheint etwas gegen euch unterwegs zu sein, doch konnten wir leider nicht erfahren, was.«
»Ich danke euch!« antwortete ich. »Ich bin bereits gewarnt.«
»Wirklich? Das soll uns freuen! Ihr seid noch immer der alte. Ihr wißt immer mehr als wir! Sagt also, ist unsere Vermutung richtig? Hat man etwas gegen euch vor?«
»Nicht nur gegen mich, sondern auch gegen euch.«
»In der Tat? – Was?«
»Man will mich und euch, überhaupt uns alle, beiseite schaffen. Ich bin von allem unterrichtet und wollte nicht eher davon sprechen, als bis alles vorüber ist. Aber da ihr so ehrlich seid, mich, euern Gegner, zu warnen, so will ich euch in das Vertrauen ziehen.«
Ich erzählte ihnen fast alles, was ich wußte. Die Wirkung läßt sich denken. Sie wollten sofort mit allen vorhandenen Kräften nach dem »Tale der Höhle« ziehen, um den Feinden in die Höhle zu folgen und sie da drin niederzumetzeln. Zum Glück aber hatte ich ihnen von der Beschaffenheit der Höhle und daß ich ihre Ausgänge kannte, nichts mitgeteilt. Es kostete mich große Mühe, sie zu beruhigen und ihnen das Versprechen abzuringen, die Leitung dieser Angelegenheit einzig und allein in meiner Hand zu lassen. Eines aber konnte ich nicht verhüten, nämlich, daß sie sofort hinaus nach der Kantine wollten, um den »Nigger« zur Rede zu stellen und sich seiner Person zu bemächtigen. Es konnte mir dadurch sehr leicht ein Strich durch alle meine Berechnungen entstehen, und so mußte ich wohl oder übel mit ihnen reiten, um wenigstens noch das zu verhüten, was noch zu verhüten war.
Als wir während dieses Rittes am Schleierfall vorüberkamen, gab es dort eine außerordentlich rege Tätigkeit. Die Vorbereitungen zur Brillantbeleuchtung heut abend nahmen alle Kräfte in Anspruch. Als ich einen forschenden Blick auf die neu eingegrabenen Masten warf, war es mir, als ob die Figur heut nicht unbedeutend schiefer stehe als vorher und als ob sich auch die Gerüste schon geneigt hätten. Ich sagte aber nichts.
Bei der Kantine angekommen, fanden wir das Herzle mit dem Ingenieur. Sie photographierten. Die beiden Enters waren dabei. Sie hatten, wie ich später erfuhr, in der Kantine gesessen und waren herausgekommen, um zuzusehen. Grad als wir bei ihnen von den Pferden stiegen, kam der »Nigger« aus dem Haus. Old Surehand und Apanatschka nahmen ihn sofort in Beschlag. Sie machten weder Einleitungen noch lange Umstände. Old Surehand fiel gleich mit der Tür in das Haus:
»Wir sind gekommen, dich zu arretieren!« sagte er. »Du kommst uns grad so recht!«
»Arretieren? Mich?« fragte der »Nigger«. »Möchte den sehen, der das fertig brächte! Darf ich fragen, warum?«
»Wegen des Theaters, welches heut abend gespielt werden soll.«
Der Mensch erschrak, faßte sich aber schnell. Er machte nicht den geringsten Versuch, zu leugnen. Er lachte laut auf und rief:
»Dafür, daß ich euch eure Gegner vom Hals schaffen will, wollt ihr mich arretieren? Well! Ist das Dankbarkeit?«
»Glaubst du, uns zu täuschen?« fragte Apanatschka. »Wir wissen sehr genau, daß es sich nicht nur um unsere Gegner handelt, sondern auch um uns selbst! Nicht nur sie, sondern auch wir sollen abgeschlachtet werden! Wir wissen es!«
»Von wem?«
Die Augen des »Niggers« funkelten, indem er diese Frage tat. Apanatschka antwortete:
»Waren To-kei-chun und Tusahga Saritsch etwa gestern abend nicht bei dir? Ist da nicht deutlich genug davon gesprochen worden, was geschehen soll? Saßen nicht die beiden Enters auch dabei?«
Das war ein unverzeihlicher Fehler, den Apanatschka da beging. Die Folgen stellten sich augenblicklich ein. Der »Nigger« griff mit der Hand in seine Tasche, jedenfalls nach seinem Revolver. Er richtete seine Gestalt hoch auf, sah einen nach dem andern von uns an und sagte, indem er die Worte wie pfeifend zwischen den Zähnen hervorstieß:
»Also verraten! Alles verraten! Doch schadet das nichts! Was werden soll, wird doch!«
Das Herzle war an meine Seite geeilt. Sie glaubte mich in Gefahr. Auch die beiden Enters hatten sich uns genähert. Sie standen jetzt grad neben dem »Nigger«. Dieser betrachtete sie mit einem tiefverächtlichen Blick und fuhr fort:
»Und wißt ihr, wer es verraten hat? Ihr, ihr, ihr! Denn die beiden Häuptlinge werden sich doch nicht selbst verraten! Eigentlich sollte ich euch sofort niederschießen! Aber ihr kommt erst an zweiter Stelle! An erster Stelle steht dieser fremde, deutsche Hund mit seiner Squaw, die ich sofort durchlöchern werde, um – –«
Er riß den Revolver aus der Tasche, spannte ihn und richtete ihn auf mich und meine Frau. Da aber wurde er von den beiden Enters gepackt, so daß er nicht schießen konnte. Old Surehand und Apanatschka zogen ihre Revolver rasch auch. Das Herzle stellte sich vor mich, um mir als Schild zu dienen; ich aber schob sie hinter mich und warnte sie:
»Keine Torheit! Es geschieht uns nichts!«
Der »Nigger« versuchte, die Brüder von sich abzuschütteln. Sie ließen nicht los.
»Du sollst Old Shatterhand nicht schießen; schieß lieber mich!« rief Hariman Enters.
»Nicht diese Frau sollst du treffen; nicht sie, nicht sie, sondern mich!« stimmte Sebulon bei.
Da gelang es dem »Nigger«, seine Rechte frei zu machen.
»Wohlan, wohlan!« brüllte er. »Also zunächst ihr beide, damit ich euch los werde! Dann aber um so sicherer die beiden andern!«
Er richtete den Lauf seiner Waffe blitzschnell auf Sebulon und dann auf Hariman. Die Schüsse krachten. Zugleich aber fielen noch zwei andere Schüsse, nämlich aus den Revolvern Apanatschkas und Old Surehands. Diese Kugeln drangen dem Riesen mitten in die Stirn. Er drehte sich halb um sich selbst, begann zu wanken und stürzte dann mit den beiden Enters, die in die Brust geschossen waren, zu Boden. Apanatschka und Old Surehand warfen sich schnell auf ihn, um seine Todeszuckungen unschädlich zu machen. Das Herzle kniete bei Sebulon und ich bei Hariman nieder. Beide waren nur zu gut getroffen. Hariman öffnete noch einmal die Augen.
»Ich war euer ›Winnetou‹, seit jenem Abend am Nugget-tsil«, flüsterte er. »Ist mir vergeben?«
»Alles, alles!« antwortete ich.
»Auch meinem Vater?«
»Auch ihm!«
»So – sterbe – ich froh –!«
Diese Worte hauchte er nur noch. Dann war er tot. Sebulon lag still; aber seine geschlossenen Augenlider zitterten. Auch er war dem Tod verfallen. Das Herzle weinte. Sie strich ihm leise die Wangen. Da öffnete er ganz plötzlich die Augen, richtete sich auf dem einen Ellbogen halb auf, sah sie an und fragte mit scheinbar ganz gesunder Stimme:
»Ihr weint, Mrs. Burton? Und ich bin so glücklich!«
Er lächelte und zog mit letzte Kraft ihre Hand an seine Lippen.
»Lest den Namen unter meinem Winnetoustern!« bat er.
Sie nickte.
Nach kurzer Pause fuhr er mit leiser werdender Stimme fort:
»Glaubt Ihr – – daß mein Vater – – nun erlöst ist – – – erlöst?«
»Ich glaube es«, antwortete sie.
»Dann – – Gott sei Dank – – ist es doch nicht umsonst – – umsonst!«
Er sank zurück und streckte sich. Dann war auch er erlöst. Wir standen auf. Der riesige »Nigger« lag mit toten, aber starr geöffneten Augen zwischen seinen Opfern.
»Mußte das sein?« fragte das Herzle.
»Nein!« antwortete ich fast zornig.
»Ja, es mußte nicht sein«, stimmte Old Surehand bei. »Wir konnten es umgehen. Wir waren zu schnell; wir waren unbesonnen!«
»Wie so oft, wie so oft in früherer Zeit,« stimmte ich bei, denn es war mir unmöglich, mit meinem Tadel ganz zurückzuhalten.
Sie nahmen ihn ruhig hin.
»Was soll nun werden?« fragte ich. »Glaubt ihr, die Verschwörung der Arbeiter durch den Tod ihres Anführers beseitigt zu haben? Oder wird nicht grad dieser Tod das, was wir verhüten wollen, zum schnelleren Ausbruch bringen?«
»Hm«, brummte Old Surehand verlegen. »Richtig, richtig! Was ist zu tun?«
Sie sahen einander an, fanden aber keine Antwort auf diese Frage.
»Wie lange dauert es, bis ein Dutzend eurer Kanean-Komantschen hier an dieser Stelle sein können?« erkundigte ich mich.
»Wenn ich sie hole, höchstens eine Viertelstunde«, antwortete Apanatschka.
»Noch weiß niemand, was hier geschehen ist. Die Arbeiter sind jetzt nicht hier, sondern bei den Steinbrüchen und am Wasserfall. Holt treue Leute, die den ›Nigger‹ fortschaffen und einstweilen verstecken. Dann wird man hören, er habe im Streit die Gebrüder Enters erschossen und sich der Strafe durch die Flucht entzogen. So wissen die Arbeiter nicht, woran sie sind, und es steht zu erwarten, daß sie sich ruhig verhalten.«
»Das ist ein Gedanke!« stimmte Old Surehand bei. »Schnell fort, und hole die Leute!«
Diese Aufforderung galt Apanatschka, welcher sofort davongaloppierte und nach wenig über zehn Minuten die Komantschen brachte, welche den toten »Nigger« auf ein Pferd banden und sich mit ihm entfernten. Zwei von ihnen blieben als Totenwache bei dem erschossenen Brüderpaar zurück.
Das Herzle war tief erschüttert. Sie verlangte heim. Darum ritt ich mit ihr nach dem Schlosse, welches sie erst am Nachmittag, als sie sich beruhigt hatte, wieder verließ, um mit dem bereitwilligen Ingenieur ihre photographischen Studien fortzusetzen. Sie kam erst gegen Abend wieder heim, um zu melden, daß man unten schon beginnt, sich auf dem Festplatz am Schleierfalle einzustellen. Nach dem Essen stiegen wir mit dem »Bewahrer der großen Medizin« und dem »jungen Adler« hinab. Pappermann, Intschu-inta und andere waren schon vorausgegangen.
Tatellah-Satah hatte alles, was nötig war, mit mir besprochen und daraufhin seine Anweisungen erteilt. Die Arbeiter hatten am Denkmal zu bleiben. Die gewöhnlichen Zuschauer waren nach dem großen Platze vor der Figur gewiesen, welcher Tausende von Menschen faßte. Dieser Platz zog sich bis nach den beiden »Teufelskanzeln« zurück, welche nur von den Häuptlingen und Unterhäuptlingen besetzt werden durften. Zwischen den Arbeitern und den Zuschauern gab es eine dreifache Reihe von »Winnetous«, welche alle mit Revolvern bewaffnet waren und dafür zu sorgen hatten, daß die ersteren, also die Arbeiter, sofort überwältigt werden konnten, wenn es ihnen etwa einfallen sollte, nach dem Plan des »Niggers« und der verbündeten vier Häuptlinge zu verfahren.
Zu erwähnen ist, daß im Verlauf des heutigen Tages die ersten Wagenzüge angekommen waren, mit deren Hilfe die hier zu erwartende Menschenmenge von der Bahn aus verproviantiert werden sollte. Mit diesen Wagen hatten sich zugleich auch mehrere Scharen neuer Mount-Winnetou-Pilger eingestellt, die mit Wonne vernahmen, daß sie schon am heutigen Abende das Glück haben würden, die herrlich erleuchtete Gestalt ihres geliebten Winnetou zu sehen. Sie waren nun auch schon da, und so kam es, daß der Zuschauerraum als »vollbesetzt« bezeichnet werden konnte. Die Häuptlinge waren, wie bereits erwähnt, um und auf die »Teufelskanzeln« verteilt, und zwar in folgender Weise: Links vom Fahrwege lagen die Kanzeln 1 und 2, rechts von ihm die Kanzeln 3 und 4. Die Kanzel 1 korrespondierte mit der Kanzel 3, die Kanzel 2 mit der Kanzel 4. Wer auf Kanzel 1war, der hörte, was auf Kanzel 3 gesprochen wurde. Wer sich auf Kanzel 2 befand, der vernahm alles, was auf der Kanzel 4 zur Rede kam. Und so auch umgekehrt: der Schall von 1 kam nach 3, der Schall von 2 ging nach 4. Da ich nun alles zu hören wünschte, was von den uns feindlichen vier Häuptlingen und ihrem Anhang gesprochen wurde, so hatte ich sie auf die Kanzel 3 plazieren lassen, während wir die Kanzel 1in Anspruch nahmen. Sie hörten freilich auch alles, was wir redeten, doch wußten wir das, und so brauchten wir nur das, was sie hören sollten, laut zu sprechen, alles andere aber leise zu flüstern. Von den Kanzeln 2 und 4 war nur die 4 besetzt; die 2 behielten wir für uns leer.
Als wir auf dem Festplatze anlangten, war er nur erst notdürftig erleuchtet, und zwar nicht mit Öl, sondern ausschließlich elektrisch, auch die Laternen. Das war bei der gewaltigen Menge der hier erzeugten Elektrizität ungemein bequem und billig. Man machte uns Platz, nach unserer Kanzel 1 zu kommen. Das war dieselbe, von deren Fuß aus der geheime Gang in die Höhle führte. Dort wurden wir von den uns befreundeten Häuptlingen empfangen. Sie waren alle da, sogar auch Avaht-Niah, der Hundertundzwanzigjährige. Ich hatte ihnen sagen lassen, daß sie die Kanzel ja nicht betreten, sondern sich einstweilen am Fuß derselben lagern sollten. Sie hatten das getan, ohne den Grund zu kennen. Jetzt beeilte ich mich, ihnen diesen mitzuteilen. Wie erstaunten sie, als sie hörten, daß es sich hier um die Lösung dieses alten, sagenhaften Geheimnisses handelte! Ich sagte ihnen, daß sie nun auf die Kanzel steigen, dort aber ganz leise und mit vor den Mund gehaltenen Händen sprechen sollten; ich aber würde jetzt zu unsern Gegnern gehen, um mit diesen zu reden. Es werde jedes Wort hier zu verstehen sein.
Ich ging. Der alte Kiktahan Schonka saß mit seinem Anhang schon oben auf Kanzel 3. Diese Kanzel war rundum von einer Schar bewaffneter »Winnetous« besetzt; das hatte ich so angeordnet. Ich sagte ihnen, daß sie alle Obensitzenden als Gefangene zu betrachten und keinen von ihnen ohne meine besondere Erlaubnis fortzulassen hätten. Darauf stieg ich hinauf.
»Old Shatterhand!« rief der alte Tangua, der mich zuerst sah und erkannte.
»Ja, ich bin es«, antwortete ich laut. »Ich komme, um euch Wichtiges mitzuteilen, damit ihr nicht vergeblich wartet. Wißt ihr, das der ›Nigger‹, euer Verbündeter, geflohen ist?«
»Wir wissen es«, antwortete To-kei-chun. »Aber er ist nicht unser Verbündeter.«
»Er ist es!« behauptete ich. »Ich stand gestern am offenen Fenster der Kantine, als ihr mit ihm und den beiden Enters den Plan für den heutigen Abend bespracht!«
»Uff, uff!« rief er erschrocken aus.
Ich fuhr fort:
»Nun sind die Enters tot, und er ist auch tot. Old Surehand und Apanatschka haben ihn erschossen!«
»Uff, uff! Uff, uff!« ertönte es rundum.
»Und Pida, der nach dem ›Tale der Höhle‹ geritten ist, um die viertausend Sioux, Utahs, Kiowa und Komantschen durch die Höhle nach dem Wasserfall zu führen, wird nicht kommen, um uns zu überfallen. Wir haben ihm die Wege verlegt und nehmen ihn mit allen seinen Kriegern gefangen.«
»Uff, uff!«
»Und euer Komitee ist aufgelöst! Die Brüder Enters haben mir die Schrift gebracht, die von euch unterzeichnet worden ist. Eure ganze Betrügerei und euer Trachten nach meinem Leben ist bekannt! Die Strafe folgt! Ihr seid hier gefangen! Dieser Ort hier ist von unsern ›Winnetous‹ umstellt. Sie haben euch festzuhalten. Jeder von euch, der es wagt, zu entfliehen, wird augenblicklich erschossen!«
Jetzt rief niemand uff, uff. Sie waren zu Tode erschrocken. Die vier »Herren vom Komitee« befanden sich auch mit hier. Auch sie waren still. Keiner von ihnen sagte ein Wort. Da war es, als ob die Erde unter uns wanken wollte. Ich fühlte und hörte ein kurzes, aber scharfes Zittern und Knirschen unter mir. Ich hatte mich zu beeilen, von hier fortzukommen.
»Hört ihr es?« fragte ich. »Das war die Stimme der Höhle, in der sich eure unglücklichen Krieger befinden! Sie sind verloren!«
Nach diesen Worten stieg ich schnell von der Kanzel hinab und beeilte mich, dorthin zu kommen, wohin ich gehörte. Es herrschte rundum tiefe Stille. Jedermann war darüber, daß der Boden gewankt hatte, erschrocken. Da ertönte die laute Stimme Old Surehands. Er befahl, daß die Illumination beginne. Der Ingenieur gehorchte; er öffnete den Projektionsapparat. Die Winnetoufigur wurde tageshell erleuchtet, und ihr zu beiden Seiten erschienen auf dem Spiegel des Schleierfalles die vielvergrößerten Gesichtszüge Young Surehands und Young Apanatschkas. Hatte Old Surehand etwa Beifall erwartet? Es erfolgte keiner. Jedermann blieb still. Die kopflose Steinfigur machte nicht den geringsten Eindruck, und die Porträts der beiden jungen Künstler hatten so wenig Charakteristisches an sich und so wenig tieferen Sinn, daß sie jedermann vollständig gleichgültig ließen. Jetzt war es, wo ich meine Kanzel erreichte. Ich gab den Anwesenden das Zeichen, ja nicht laut zu sprechen, und fragte leise:
»Habt ihr alles gehört?«
Sie nickten.
»Auch das Beben der Erde?«
»Auch das«, antwortete das Herzle flüsternd und die Hand an den Mund haltend, um die Luftwelle abzuhalten, den Weg der Ellipse zu gehen.
»Die Katastrophe scheint nicht warten zu wollen«, fuhr ich fort. »Ich vermute, sie ist da!«
Wieder grollte es in der Erde. Dann war es, als ob irgendwo etwas zusammenbreche. Da erscholl Old Surehands Stimme zum zweiten Male. Der Ingenieur schloß den Apparat und drehte die Leitungskurbel. Die Bilder verschwanden – dafür aber begannen alle vorhandenen Lichter, große und kleine, zu leuchten, von der kleinsten Laternenbirne bis, hinauf zu den Riesenkugeln auf hoch emporstrebenden Masten. Aber auch das machte keinen Eindruck. Das Licht war kalt, und das Steinbild blieb dasselbe. Man hatte es am Tage gesehen und sah es jetzt nicht anders.
Und doch! Ich sah es anders, ich! Ich sah, daß es sich noch mehr zur Seite geneigt hatte, und zwar ganz beträchtlich, so beträchtlich, daß das Herzle erschrocken meine Hand ergriff und mir zuraunte:
»Um Gotteswillen! Sie stürzt, sie stürzt, die Figur!«
Und kaum war das gesagt, so rollte es unter uns; es stob und knallte und puffte. Die Figur neigte sich nach links, wankte nach vorn und bog sich nach rechts; ein Donner rollte unter uns hin – – ein Krach, als ob die ganze Welt untergehen wolle – – –
»Flieht, flieht! Rettet euch!« brüllten die Arbeiter, indem sie von der Figur fortstürzten.
Kaum war das geschehen, so gab es ein unbeschreibliches Getöse, ein Poltern, Prasseln, Knattern, Platzen, Bersten, Schmettern, Brausen und Dröhnen. Der Boden öffnete sich. Ein Abgrund gähnte. Die Figur drehte sich mit ihrer ganzen, gewaltigen Unterlage langsam um sich selbst und verschwand dann mit einem Schlag, als ob uns die Ohren platzen sollten, in der Tiefe. Und nicht nur die Figur, sondern auch alles, was sich in der Nähe befand, die Gerüste, die Stangen, die Balken, die Masten mit den Beleuchtungskörpern, alles, alles wurde mit hinabgerissen. Im nächsten Augenblick herrschte tiefste Dunkelheit. Tausende von Stimmen vereinten sich zu einem einzigen, großen Schrei des Entsetzens. Dann gab es für einige Sekunden eine lautlose Stille, aus welcher sich nur die verzweifelte Stimme des alten Tangua erhob:
»Pida, Pida! Mein Sohn, mein Sohn! Er ist verloren!«
Dann aber wurden alle die tausend Stimmen wieder laut. Sie vereinigten sich zu einem Lärmen, Brüllen und Zetern, welches klang, als ob diese ganze große Menge plötzlich wahnsinnig geworden sei. Niemand wollte auf seinem Sitze bleiben. Alles drängte fort, zum Tal hinaus. Die Katastrophe konnte sich ja wiederholen und weitergreifen. Auch unsere Häuptlinge waren schnell von der Kanzel gestiegen und berieten sich eiligst, was zu tun oder zu lassen sei. Nur drei waren oben geblieben, nämlich Tatellah-Satah, das Herzle und ich. Der erstere bat mich:
»Laß keinen wieder herauf! Nur wir drei wollen hören, was da drüben auf der andern Kanzel gesprochen wird.«
»Nicht wir drei, sondern nur ihr zwei«, antwortete ich. »Ich habe jetzt keine Zeit, zu lauschen. Hier gilt es, zu retten, was vielleicht noch zu retten ist!«
Ich schickte Intschu-inta und Pappermann nach dem Schlosse, um Fackeln zu holen. Und ich suchte Old Surehand und den Ingenieur auf, um zu fragen, ob es nicht möglich sei, schnell wieder elektrisches Licht zu machen. Sie versprachen, dies zu tun; Leitungsdrähte und Glühkörper seien genug vorhanden. Sodann beauftragte ich sechs von den zwölf Apatschenhäuptlingen, mit ihren Leuten sofort, trotz des nächtlichen Dunkels, nach dem »Tal der Höhle« zu reiten und möglichst schnell Bericht zu erstatten, wie es dort stehe. Und kaum hatte ich das getan, so nahte die Gefahr in neuer Gestalt. Der Wasserfall verschwand nicht mehr vollständig in die Tiefe. Die hinabgestürzten Erd- und Steinmassen hatten sich in den Abfluß gelegt, und so stieg das Wasser in dem entstandenen Riesenloche immer höher und höher. Nicht lange, so mußte es das Tal überschwemmen, und dann war es nicht mehr möglich, den in der Höhle wahrscheinlich Verschütteten von hier aus Rettung zu bringen. Glücklicherweise aber kam es nicht so weit. Die Gewalt des Wasser war größer als das Gewicht der Erdmassen. Die aufsteigenden Fluten, von denen es schien, als ob sie einen See bilden wollten, begannen zu mahlen, zu drehen und zu gurgeln. Sie hatten neuen Weg gefunden. Es bildete sich ein wirbelnder Trichter, der mit den Wasser in der Tiefe verschwand und dann nicht wieder erschien.
Nun kamen Intschu-inta und Pappermann vom Schloß. Sie brachten die gewünschten Fackeln. Ich nahm zu den beiden Genannten noch einige zuverlässige Winnetous und stieg mit ihnen, von andern unbemerkt, in den Gang, der unter der Kanzel mündete. Die Fackeln brannten wir nicht schon außen, sondern erst drinnen an; dann folgten wir den abwärts führenden Stufen. Dabei sahen wir, daß die Erschütterung bis hierher gereicht hatte. Es waren Steine von den Wänden und der Decke des Ganges gefallen, und zwar um so mehr, je weiter wir kamen. Oft waren es ihrer so viele, daß wir sie wegzuräumen hatten, um weitergehen zu können. Darum kamen wir nur langsam vorwärts. Da, wo unser Gang in den andern, nach den Passiflorenraum führenden, mündete, sah es ziemlich arg aus. Zu den Stalaktiten, die wir da aufgehäuft hatten, war eine Menge anderes Geröll gekommen, so daß wir fast eine Stunde brauchten, uns den freien Weg zu bahnen. Von da ging es dann nach der Stelle, an welcher der schmale Weg mit dem breiten zusammenstieß, der hinter dem Schleierfall mündete, also nach dem Punkte, an dem ich den ersten Riß in der Decke und das Abbröckeln des Gesteins bemerkt hatte. Sie war verschüttet, vollständig verschüttet; wir konnten nicht bis ganz hin. Aber wir trafen auf zwei Personen, die nebeneinander tief an der Erde saßen und sich nicht rührten, als wir uns ihnen näherten. Eine ausgelöschte, halbe Fackel lag neben ihnen. Es waren die beiden entflohenen Medizinmänner, die an der Spitze unserer viertausend Gegner durch die Höhle marschiert waren. Sie bewegten sich nicht und kannten uns kaum. Der Schreck und die überstandene Todesangst hatten ihnen die Sinne verwirrt. Sie starrten angstvoll vor sich hin und waren nur schwer zum Sprechen zu bringen. Es kostete uns viele Zeit und große Mühe, aus ihren verworrenen Antworten uns zusammenzusetzen, was geschehen war. Sie hatten die Pferde unter Aufsicht im Tal gelassen und waren zu Fuß in die Höhle eingedrungen. Da sie Zeit hatten, rückten sie nur langsam vorwärts. Als die Katastrophe hereinbrach, befanden sie sich grad am Ende des breiten Reitweges, glücklicherweise nicht im Mittelpunkt, sondern an der Peripherie des Zerstörungsbereiches. Es gab einen Luftstoß, der sämtliche Fackeln auslöschte. Die Wände zitterten, der Boden bebte, die Decke krachte. Viele, viele wurden von dem herabstürzenden Gestein verletzt. Es brach eine ungeheure Panik aus. Man ergriff die Flucht. Aber wohin? Die einen drängten vorwärts, die andern rückwärts. Alles schrie und brüllte. Einer riß den andern nieder. Einer trat und stampfte auf dem andern herum. Da versiegte plötzlich der Fluß. Bald aber kam er um so stärker wieder. Das war, als droben ein See entstehen wollte, der aber schnell wieder zusammenwirbelte und verschwand. Das ergab unten in der Höhle eine gewaltige Hochwelle, die alles überflutete und einen jeden, der keinen festen Halt fand, mit sich fortzureißen drohte. Diese Flutwelle hatte eine solche Gewalt, daß sie große, schwere Felsenstücke mit sich fortschleppte und unten an der Mündung in solcher Menge absetzte, daß eine undurchdringliche Barriere entstand, welche den Roten die Flucht aus der Höhle in das freie Tal zurück unmöglich machte. Die Höhle war also nach unten vollständig verstopft, so daß kaum noch das Wasser abfließen konnte. Den Indianern blieb also nur noch der Weg, sich nach oben hinaus zu retten. Diejenigen von ihnen, welche zurückgeflohen waren, kehrten also wieder um und drängten nach oben. Aber dort war der Weg ja auch verschüttet. Die gewaltigen Massen, welche da niedergestürzt waren, ließen nur eine kleine, schmale Lücke frei, welche vorsichtig zu untersuchen war, wie weit und wohin sie führte. Das zu tun, unternahmen die beiden Medizinmänner, denen es infolge der durchnäßten Feuerzeuge nur schwer gelang, eine Fackel anzuzünden. Die Lücke erwies sich als gangbar; aber kaum war sie passiert, und die beiden Führer wollten zurückkehren, um die ihrigen zu benachrichtigen, so tat es einen neuen, donnerähnlichen Krach; die Erde bebte und die ganze Umgebung schien in Bewegung zu sein und zusammenbrechen zu wollen. Die beiden stürzten, um sich zu retten, in wahnsinnigem Entsetzen vorwärts, bis sie übereinander niederfielen und, ihrer Gedanken nicht mehr mächtig, ganz einfach sitzen blieben, bis wir kamen und sie fanden.
Hieraus wurde mir klar, daß die Rettung der Verschütteten nur nach oben möglich war, nicht aber nach dorthin, wo die Höhle unten in das Tal mündete. Es galt, Arbeiter mit Hacken, Schaufeln, Lichtern und allen andern Dingen zu holen, die sich als nötig erwiesen. Wir zwangen also die Medizinmänner, die partout sitzen bleiben wollten, aufzustehen und mit uns zu gehen, und kehrten durch den Gang ins Freie zurück, zur Teufelskanzel, wo es dem Ingenieur und seinen Leuten inzwischen gelungen war, eine neue, wenn auch keine brillante, aber doch genügende Beleuchtung herbeizuschaffen. Die Medizinmänner faßte ich, hüben und drüben einen, an den Armen und führte sie nach der Kanzel, auf der Tangua mit seinen Genossen gefangen saß.
»Gerettet!« rief er aus, als erdie beiden erkannte. »Gerettet! Diese sind die Führer! Wenn sie mit dem Leben davongekommen sind, so ist auch Pida, mein Sohn, nicht tot!«
Ich antwortete nicht, schob sie zu ihm hin und entfernte mich, um mit Old Surehand das Rettungswerk zu besprechen, denn er war es, dem die Arbeiter, die wir brauchten, zur Verfügung standen. Diese Leute dachten gar nicht mehr an Empörung. Sie waren schnell bereit, in die Höhle niederzusteigen und einen Weg durch die niedergestürzten Massen zu bahnen. Da zeigte sich nun das elektrische Licht von hohem Wert. Es konnte mit Hilfe der vorhandenen Drähte ganz bequem in den Gang geleitet werden, so daß die düster brennenden und rauchenden Fackeln vollständig überflüssig wurden. Die Arbeit begann. Sie war eine sehr schwere und nicht ungefährliche. Es galt, ganz gewaltige Gesteinsmassen zu beseitigen. In welcher Zeit dies zu ermöglichen war, das konnte man nicht sagen, es mußte abgewartet werden. Tatellah-Satah stieg auch einmal mit in die Höhle nieder, um diese Arbeit in Augenschein zu nehmen. Sonst aber blieb er am liebsten still auf seiner Kanzel, von welcher aus er alles übersehen und beobachten konnte. Am interessantesten war es ihm, auf seinem Sitz jedes Wort, welches von den feindlichen Häuptlingen gesprochen wurde, ganz deutlich zu vernehmen. Er hatte schon die ganze Zeit lang zugehört und wollte auch noch länger hören. Er kam da nicht nur hinter alles, was verschwiegen worden war, sondern er gewann auch einen klaren Einblick in die Wirkung, welche die Katastrophe auf jeden einzelnen dieser Leute hervorgebracht hatte. Hiernach konnte er dann sein Verhalten richten.
Das Herzle bekam viel Arbeit. Sie hatte sich mit Aschta, Kolma Putschi und ihren anderen roten Freundinnen auf den Empfang der Geretteten vorzubereiten. Von diesen waren wohl viele verletzt. Man konnte sogar auf Tote rechnen. Auch Hunger war zu stillen. Da gab es viel zu überlegen und viel zu tun. Es dauerte gar nicht lange, so waren alle am Mount Winnetou vorhandenen Frauen in regster Tätigkeit. Auch wir Männer durften nicht feiern. Wir konnten zwar die Rettung der Gefährdeten nicht beschleunigen, denn die ging ihren sicheren, ruhigen Weg; aber es galt, über das innere und äußere Geschick von viertausend Menschen Beschluß zu fassen, für ihre Unterbringung und Ernährung zu sorgen und sie womöglich aus Feinden in Freunde zu verwandeln. Diese Verwandlung der Feinde in Freunde war übrigens schon recht gut im Gang, nicht nur unten, bei den Untergebenen, sondern noch viel mehr auch oben, bei den Vorgesetzten. Das bemerkte ich zu meiner Freude, als ich während dieser Nacht einmal zu Old Surehand und Apanatschka trat, die mit ihren Söhnen im Gespräch beieinander standen. Mein Kommen schien sie zunächst etwas verlegen zu machen; Old Surehand aber überwand dieses Gefühl sehr schnell und sagte:
»Gut, daß Ihr kommt, Mr. Shatterhand, grad jetzt, wo wir einen Augenblick ungestört unter uns sind. Wir berieten uns gerade darüber, ob wir Euch ein offenes Geständnis schuldig sind oder nicht. Ich meine, wir sind es Euch schuldig, Euch und dem alten, prächtigen Tatellah-Satah, dem wir so viel Kummer und Ärger bereitet haben. Wir bereuen es sehr. Bitte, sagt ihm das!«
»Ja, bitte, sagt es ihm!« fiel Apanatschka ein. »Wir sind gern bereit, es wieder gut zu machen. Das mit dem Riesendenkmal war kein sehr geistreicher Gedanke von uns! Eure Vorlesungen haben da viel und tief gewirkt. Und was von dieser Dummheit trotzdem in uns sitzen blieb, das wurde augenblicklich weggefegt, als wir unser sogenanntes Kunstwerk plötzlich in die Erde verschwinden sahen. Das war eine ganz gewaltige Ohrfeige für uns! Und wir geben zu, wir haben sie verdient! Freilich ist der Spaß, den wir uns gestattet haben, kein sehr billiger. Unsere Söhne bezahlen ihn mit einem guten Teil ihres künstlerischen Selbstbewußtseins, und was uns, die beiden Väter betrifft, so haben wir Summen an die Sache gewendet, die nicht unbedeutend sind und die wir leider nun als verloren betrachten müssen – – –!«
»Verloren?« fragte ich. »Keineswegs!«
»O doch!«
»Nein! Und auch das verletzte künstlerische Selbstbewußtsein ist schnell zu heilen. Hätten die beiden jungen Herren damals, als dieser Plan in euch entstand, mehr Vertrauen zu mir, ihrem alten, aufrichtigen Freund gehabt, so wären eure Gedanken in ganz andere Bahnen gelenkt worden, und ihr hättet jetzt nicht mit Verlusten zu rechnen, die eigentlich keine Verluste sind, weil sie einen großen inneren Gewinn für euch bedeuten. Und der ist nicht zu teuer bezahlt!«
»Wirklich nicht?« fragte Old Surehand.
»Nein! Laßt das Denkmal, wie wir es meinen, immerhin über das, wie Ihr es meintet, den Sieg davongetragen haben; der andere Teil Eures Planes bleibt doch. Und er ist der pekuniär einträglichere!«
»Welcher Teil!«
»Die Gründung der Stadt Winnetou.«
»Ihr meint nicht, daß sie rückgängig wird, nun, nachdem wir mit unserer Riesenfigur so abgefallen sind?«
»Gewiß nicht! Ich bin ganz im Gegenteil der allererste, der mit größtem Nachdruck auf diese Gründung dringt.«
»Wenn das wäre!« rief er erfreut aus, und: »Wenn das wäre!« stimmten auch die drei anderen ein.
»Es wird!« versicherte ich. »Wenn wir wünschen, daß die Seele der roten Rasse erwache, genügt es nicht, nur allein für ihre geistige Zukunft zu sorgen, sondern wir müssen ihr auch eine äußere Stätte bereiten, aus welcher sie die nötige Erdenkraft zu ziehen vermag. Das soll und wird die Stadt Winnetou sein, die Ihr geplant habt, ohne an die Volksseele, der sie als Residenz zu dienen hat, zu denken. Fragt euch, was für Straßen, für Plätze, für Hauser, für Gebäude wir da brauchen! Ein Stammeshaus für jeden einzelnen roten Stamm! Einen Heimpalast für jeden einzelnen Clan, den größten und schönsten für den neugegründeten ›Clan Winnetou‹! Wieviel Monumentalbauten ergibt schon das allein! Denkt euch hierzu das Schloß hoch über der Stadt in würdiger Weise ausgebaut! Denkt euch ferner, daß der ›Berg der Königsgräber‹ sich öffnen wird und ihr die Schätze, die er euch sendet, in der Weise unterzubringen habt, wie man es solchen unvergleichlichen Reichtümern schuldig ist! Das ist nur einiges, was ich euch für jetzt und einstweilen sagen kann. Verlangt ihr mehr?«
»Nein, nein!« antwortete Old Surehand. »Ihr öffnet uns da Perspektiven, von denen wir bisher keine Ahnung hatten! Und das alles, alles soll beraten werden?«
»Ja.«
»Und wir dürfen dabei sein?«
»Ganz selbstverständlich!«
»Dann danken wir Euch! Wir danken!« rief er ganz begeistert aus. »Das ist ja mehr, als wir jemals hoffen konnten! Hätten wir doch früher mehr an Euch gedacht!«
»Holt das Versäumte nach; noch ist es Zeit!« riet ich ihm. »An den Projekten, die ich euch jetzt andeutete, können eure Söhne sich noch ganz anders künstlerisch betätigen als an der unglückseligen Figur, an welcher ihr alle eure Kräfte umsonst verschwendet habt! Jetzt gibt es keine Zeit mehr; wir sprechen weiter hierüber!«
Sie waren entzückt über das, was sie gehört hatten, und ich durfte überzeugt sein, sie hiermit ganz für unsere höhere und richtigere Anschauung gewonnen zu haben.
Gegen Morgen, grad als ich mit dem »jungen Adler« sprach, kam ein Bote der Apatschenhäuptlinge, die wir nach dem »Tal der Höhle« geschickt hatten, und meldete uns, daß sie dort glücklich angekommen seien und einen Teil der Hüter der Pferde überrumpelt hätten; den anderen Teil werde man nach Tagesanbruch überwältigen. Das war ziemlich ungenügend. In den früheren kriegerischen Zeiten hätte sich wohl niemand zur Überbringung einer so halben Nachricht bereit gefunden. Ich hielt es zwar nicht für nötig, den Boten durch einen Tadel zu kränken, aber der »junge Adler« sah es mir doch an, daß ich nicht befriedigt war. Er fragte, als wir wieder allein waren:
»Ich möchte gern bessere Nachricht bringen. Darf ich?«
»Ich danke«, wehrte ich ab. »Für solche Botenritte sind Andere da, die man sonst nicht brauchen kann.«
»Botenritt? – Ich will nicht reiten!«
»Was sonst?«
»Fliegen!«
»Ah! Wirklich?« fragte ich überrascht.
»Ja. Ich brauche nur eine halbe Stunde, um dort zu sein.«
»Das wäre freilich höchst vorteilhaft; aber die Gefahr – die Gefahr!«
»Es gibt keine!« lächelte er.
»Und wenn! Es ist mir doch zu waghaft, es zu erlauben!«
»So will ich nur fragen: Ist es mir verboten?«
»Verboten? Nein. Du bist dein eigener Herr!«
»Ich danke dir! Und noch eines, da es sich um den fliegenden Adler handelt: Du versprachst mir im ›Hause des Todes‹, mir die vier Medizinen zu geben, sobald ich dich um sie ersuche. Darf ich dich hieran erinnern?«
»Ja. Willst du sie haben?«
»Brauchst du sie noch?«
»Nein. Für mich haben sie ihre Arbeit getan.«
»Für mich noch nicht. Ich soll der Mann sein, der die Medizinen, die du uns genommen hast, wiederbringt.«
»Du sollst sie haben!«
»Gleich jetzt?«
»Gleich jetzt! Komm mit mir nach meiner Wohnung auf dem Schloß!«
Wir gingen hinauf, sogleich, obwohl es noch dunkel war. Dort nahm ich die Medizinen aus dem Verschluß und gab sie ihm. Er hing sie sich um den Hals.
»Ich danke dir!« sagte er. »Ich kann sie den Häuptlingen geben, wenn ich will?«
»Ganz nach deinem Belieben!«
»Sie ihnen einstweilen bloß zeigen?«
»Auch das! Diese deine Frage sagt mir, daß du meine Absichten kennst und nichts tun wirst, was nicht mit ihnen zu vereinigen ist. Ich bin beruhigt.«
»So habe ich noch einen Wunsch. Du sollst von mir sehen, wie leicht und wie sicher und ungefährlich das Fliegen ist, wenn man den richtigen Apparat besitzt. Bitte, begleite mich nach meinem Turm!«
Ich war einverstanden. Wir gingen hinauf. Oben angekommen, blieb ich am Fuß des Turmes zurück. Ich setzte mich auf eine Bank; er aber stieg nach der Plattform hinauf. Im Osten begann es leise zu dämmern. Nun noch einige Minuten, so ging der lichte Streifen auch nach dem Süden über. Die unter uns liegende Landschaft wurde sichtbar und schaute erwachend zu mir herauf. Da hörte ich über mir ein leises Surren.
»Jetzt! Ich komme!« erklang die Stimme meines jungen Freundes von oben.
Ich schaute auf. Der Vogel erschien. Er tat wie einen Sprung. Von der Plattform des Turmes in das Luftmeer hinaus. Er schlug einige Male die Flügel. Dann begann er, zu gleiten, zu schweben, abwärts und aufwärts, nach rechts und nach links, ganz wie der »junge Adler« es wollte. Dieser saß zwischen den beiden Körpern auf bequemem Sitz und lenkte seinen Flieger wie ein sicher gehendes, äußerst gehorsames Pferd. Er glitt einige Male in Bogen- oder Schlingenform vor mir hin und her. Dann rief er mir zu:
»Jetzt geht es in die Ferne hinaus, nach Süden, nach dem Tal der Höhle. – Lebe wohl!«
Er wendete sich in die von ihm angegebene Richtung, stieg mehrere hundert Fuß höher und entfernte sich so schnell, daß er schon nach kurzer Zeit meinem Auge als kleiner Punkt entschwand. Das versetzte mich in eine ganz eigenartige Stimmung. Ich fühlte mich als Mensch so stolz, und doch auch wieder so klein, so außerordentlich klein! Es lag in mir wie ein Sieg über alles Hemmende und Niedrige und doch auch zugleich wie eine Angst, ob das Große, was wir uns vorgenommen hatten, wohl auch gelingen werde. So stieg ich wieder nach dem Schleierfall hinab, wo es inzwischen vollständig hell geworden war, so daß wir die Zerstörung nun sichtbar vor uns liegen hatten. Es hätte keinen Zweck, sie zu beschreiben. Auch das eigenartige, sorgenvolle Regen und Treiben an der Unglücksstätte will ich nicht schildern. Es sah wüst um den großen Abgrund, der gerissen worden war, aus, und es gab jetzt noch keinen, der den zwecklosen Mut besaß, sich an seinen Rand heranzuwagen, um hinabsehen zu können. Menschen kamen und gingen. Sie alle wurden von der Frage bewegt, wann die ersten Geretteten wohl erscheinen würden. Leider handelte es sich hierbei nicht nur um Stunden. Der Gang, in dem gearbeitet werden konnte, war sehr schmal; es konnten also nicht zahlreich vereinte Kräfte in Tätigkeit gelangen. Darum schritt das Rettungswerk so langsam vor sich, daß mehr als ein voller Tag vergehen konnte, bis man zu den Verschütteten gelangte. Zuweilen erklang über den weiten Platz der Jammeruf des alten Tangua:
»Pida, – mein Sohn – mein Sohn!«
Oder man hörte einen der anderen Häuptlinge klagen:
»Meine Komantschen! Meine Utahs! Meine Sioux!«
Plötzlich aber gab es einen Augenblick, wo jedermann rief und jedermann schrie und jedermann nach oben in die Lüfte deutete:
»Ein Vogel! Ein Vogel! Ein Riesenvogel!«
Das war nicht ganz zwei Stunden, nachdem der »junge Adler« fortgezogen war. Jetzt kam er wieder. Er wußte, wo ich zu suchen war. Er beschrieb einen weiten Bogen hoch über uns, verengte ihn nach und nach und kam in einer Schraubenlinie langsam und mit erstaunlicher Sicherheit zur Erde herab. Er faßte genau zwischen den Kanzeln, mitten auf der Fahrstraße, Fuß.
»Der ›junge Adler‹, der ›junge Adler‹ ist es!« rief es überall. Jedermann drängte herbei, um ihm näher zu kommen. Da aber ertönte die mächtige Stimme Athabaskas:
»Zurück! – Gebt Raum! – Er ist der verheißene ›Adler‹, der dreimal um den ›Berg der Geheimnisse‹ fliegt und euch die verlorengegangenen Medizinen wiederbringt!«
Da stockte der Zudrang. Man staunte. Man hielt sich fern.
»Der verheißene Adler – – – dreimal um den ›Berg der Geheimnisse‹ – – – die Medizinen wiederbringt!« so erklang es überall und durcheinander.
Tatellah-Satah stieg von seiner Kanzel herab und schritt zu dem kühnen Flieger hin; ich mit ihm.
»Du fliegst, ohne mich zu fragen?« tadelte er. Aber auf seinem alten, wunderlieben Gesicht glänzte eine große, stolze Freude, denn nun war es ja erwiesen, daß der »junge Adler« fliegen konnte.
»Ich flog nicht für dich oder mich«, entschuldigte sich dieser, »sondern für Old Shatterhand.«
»Wohin?«
»Nach dem Tal der Höhle.«
»Wie steht es dort?«
»Die Hüter der Pferde sind alle gefangen. Man wird sie und die Pferde noch heut hierherbringen. Der Eingang der Höhle ist derart mit heruntergeschwemmten Felsen versperrt und verrammelt, daß kein Mensch von dort aus zu den Verschütteten zu kommen vermag. Ich habe es selbst gesehen. Sie können nur von hier oben ausgerottet werden. Wann befiehlst du, Tatellah-Satah, daß ich dreimal um den Berg fliegen und nach dem Schlüssel zu dem Berg der Königsgräber suchen soll?«
»Heut«, antwortete der Gefragte.
»Ich danke dir! Es wird genau zur Mittagszeit geschehen, wenn die Sonne über unsern Häuptern steht. Aber ich darf nicht allein hinauf. Es muß noch jemand dabei sein, sonst fliegt mir der Adler, während ich nach dem Schlüssel suche, fort.«
Er schaute sich bei diesen Worten unter uns um, sah Wakon mit anderen Häuptlingen in seiner Nähe stehen und sprach, seine Worte an diesen richtend, weiter:
»Mit mir da hinaufzufliegen, ist eine Verwegenheit, die ich von niemand fordern kann, der sie mir nicht anbietet. Aschta, deine Tochter, hat mich gebeten, sie mit hinaufzunehmen. Erlaubst du es?«
Wakon sah ihm mit einem langen, sehr ernsten Blick ins Gesicht und antwortete:
»Du bist kühn? Weißt du, was du von mir forderst?«
»Ja«, antwortete der »junge Adler« ebenso ernst.
»Kennst du die Folgen für dich und sie, wenn sie sich dir auf diesem Flug zugesellt?«
»Sie sind mir bekannt. Aschta hat mein Weib zu werden!«
»Und kennst du ihren Wert? Kennst du die Größe der Gabe, nach welcher du verlangst?«
Da zog der »junge Adler« die Brauen leicht zusammen und antwortete:
»Würde ich mir diese Gabe wünschen, wenn ich ihren Wert nicht zu schätzen wüßte? Bin ich weniger wert als sie?«
Da ging ein Lächeln über Wakons schönes Angesicht, und er entschied mit lauter Stimme, so daß alle es hörten:
»Du bist der erste ›Winnetou‹, und du wirst deinem Volk das Fliegen lehren. Du wirst ein großer, berühmter Häuptling sein. Ich erlaube, daß mein Kind dich hinauf gen Himmel begleite!«
Ein lauter Jubel rundum. Der »junge Adler« griff in die Drähte seines Apparates, ließ die Flügel schlagen, stieg ein Stück in die Höhe und rief herab:
»Wir danken dir, sie und ich. Ich hole mir sie zum Flug. Vorher aber habe ich ein Wort mit den Häuptlingen zu reden, die unsere Gefangenen sind.«
Er stieg noch weiter empor, flog zum Erstaunen aller dreimal rund um den Platz, kam dann in Windungen wieder nieder und erreichte die Erde grad vor der Kanzel, auf welcher Kiktahan Schonka mit seinen Verbündeten saß. Er trug die vier Medizinen, die ich ihm gegeben hatte. Sie sahen sie sofort, und To-kei-chun rief ihm zu:
»Unsere Medizinen! – Her damit! – Wer sie behält, ist ein Dieb!«
»Ja, es sind eure Medizinen«, antwortete der »junge Adler«. »Wir stahlen sie nicht, sondern wir bewahrten sie nur auf. Es wird Gericht über euch gehalten werden, wobei es sich zu zeigen hat, in welcher Weise sie mit euch vernichtet werden. Old Shatterhand nahm sie euch. Er erlaubte mir, sie euch zurückzugeben. Nun wir euch aber als Lügner, Räuber und Mörder erkennen, nehme ich sie wieder mit!«
»Uff, uff! Uff, uff!« riefen sie erschrocken und streckten die Hände nach ihm aus.
Er aber beachtete das nicht. Er flog wieder auf, schwebte wieder dreimal um den Platz und verschwand dann hinter dem »Berg der Medizinen«, um sich auf seinem Wartturm niederzulassen.
Grad und genau zur Mittagszeit erschien er wieder, mit Aschta, seiner Braut, neben sich auf dem Sitz. Tausende standen rundum und schauten erwartungsvoll zu ihm auf. Die Herzen bebten über die Kühnheit des jungen, schönen, wagemutigen Paares. Er flog in weitem Kreis und ruhiger, sicherer Haltung erst die vorgeschriebenen drei Male um den Berg. Dann stieg er steil und hoch zur Spitze empor, um am Fuße der Felsennadel zu landen. Er selbst blieb sitzen, um den Apparat in eigener Gewalt zu behalten. Aschta aber stieg aus. Das sahen wir trotz der sehr bedeutenden Höhe. Sie verschwand. Nach einiger Zeit kehrte sie zurück und stieg wieder ein. Der Riesenvogel trennte sich vom Felsen, schwebte vom Berg ab und in Bogenlinien tiefer, immer tiefer, flog abermals dreimal um unsern Platz und ließ sich dann genau auf denselben Punkt der Fahrstraße, wo er schon einmal gestanden hatte, nieder. Wir befanden uns in größter Spannung und eilten alle hin – Tatellah-Satah mit.
»Habt Ihr gefunden?« fragte der letztere.
»Ja«, antwortete der ›junge Adler‹. »Den Stein, und unter ihm diese beiden Teller.«
Er gab sie unserem alten Freund. Es waren zwei kleine, uralte, irdene Teller, deren Ränder mit einem sehr harten Bindemittel vereinigt waren. Wir mußten sie zerbrechen, um zu dem Gegenstand zu kommen, der sich zwischen ihnen befand. Dieser Gegenstand war ein zusammengelegtes, weißgraues Stück Zeug mit Nesselglanz. Nachdem wir es auseinandergeschlagen hatte, sahen wir, daß es eine Karte war, eine Wegesroute, mit einer sehr dauernden, farbigen Flüssigkeit gezeichnet. Kaum hatte Tatellah-Satah einen Blick auf diese Zeichnung geworfen, so rief er im Tone der Genugtuung aus:
»Er ist es! Er ist es, der Schlüssel! Das ist der genaue Weg von dem ›Berg der Medizinen‹ bis auf die Spitze des ›Berges der Königsgräber‹! Wir haben gewonnen! Es ist ein Sieg, ein unendlich großer und unendlich wichtiger Sieg über die Schatten, mit denen die Geschichte der roten Rasse bisher zu kämpfen hatte! Es wird hell um uns werden, hell, klar und warm! Wir werden schon morgen oder übermorgen einen Entdeckungszug nach den hochgelegenen Königsgräbern veranstalten! Es soll Freude sein von heute an! Freude, Hoffnung und Zuversicht für alle, denen es ein Bedürfnis ist, sich an dem großen Aufstieg nach den Höhen der Menschheit zu betätigen!«
Von jetzt an gab es trotz der ernsten Lage der Verschütteten eine frohe Feststimmung rund um den Mount Winnetou. Es litt uns, nämlich Tatellah-Satah und mich, nicht unten an dem Wasserfall, sondern wir stiegen nach dem Schlosse hinauf, um in der Bibliothek den so glücklich gewonnenen »Schüssel« mit anderen vorhandenen Karten zu vergleichen und die Passierbarkeit des Weges zu studieren. Inzwischen war das Herzle mit dem Ingenieur und seinen photographischen Apparaten beschäftigt, bis sie gegen Abend kam und mir mitteilte, daß nun alles in Ordnung sei.
»Wer oder was ist in Ordnung?« fragte ich.
»Unser Winnetou«, antwortete sie, »nicht der versunkene, der steinerne. Er wird so schön, wie du es dir kaum denken kannst, auf dem Spiegel des Schleierfalles erscheinen, zu beiden Seiten von ihm die charakteristischen Porträts von Marah Durimeh und TatellahSatah. Aber ich werde diese Bilder erst dann erscheinen lassen, wenn wir über das Schicksal der Verschütteten beruhigt sein können. Unser herrlicher Winnetou soll nicht Angst und Sorge, sondern Erlösung und Glück bedeuten. Ist dir das recht?«
»Alles, was du in dieser deiner Lieblingsatmosphäre tust, ist mir recht. Laß uns Abendbrot essen und dann hinuntergehen! Ich muß in die Höhle, nachschauen, warum noch kein Erfolg vorhanden ist.«
Dann später in der Höhle angekommen, sah ich, daß mit außerordentlichem Eifer gearbeitet worden war; aber es gab eine so große Menge von Gestein und Erde zu bewegen, daß noch immer nicht ersehen werden konnte, wann es ein Ende nehmen werde. Es vergingen noch mehrere Stunden. Die Pferde der Verschütteten waren inzwischen angekommen. Man nahm das ohne große Aufregung hin. Die allgemeine Aufmerksamkeit war einzig und allein auf die Rettungsarbeiten gerichtet. Und endlich kam die Kunde, daß man den Gesuchten so nahe gekommen sei, daß man ihr fernes Klopfen hören könne. Es war anzunehmen, daß wenigstens noch eine Stunde vergehen werde, bis man die Klopfenden erreiche, und so rief ich sämtliche befreundete Häuptlinge zusammen, um unter dem Vorsitz Tatellah-Satahs über das Schicksal unserer Gefangenen zu beraten. Diese Beratung fand auf unserer Kanzel statt, denn sie sollte von denen, über deren Schicksal wir bestimmten, gehört werden. Ich gab die Weisung, möglichst streng zu verfahren, und so kam es, daß die Sitzung einen sehr ernsten Verlauf nahm. Das Urteil lautete: Simon Bell und Edward Sommer werden aus dem Komitee entlassen. William Evening und Antonius Paper werden fortgejagt. Kiktahan Schonka, Tusahga Saritsch, Tangua und To-kei-chun kommen an den Marterpfahl, bis sie tot sind, ihre Medizinen aber werden verbrannt. Ihre Unterhäuptlinge werden erschossen. Ihren viertausend Kriegern werden die Waffen, die Haarschöpfe und die Medizinen genommen; dann können sie laufen, wohin sie wollen!
Das hatte einen harten Klang, war aber nur gut gemeint. Wir wußten ja alle, daß keiner von uns die Ausführung dieses Urteils wirklich wünschte. Alle die Genannten hatten sich da drüben auf ihrer Kanzel, obwohl sie jedes Wort unserer Beratung deutlich hörten, vollständig still verhalten. Wir hatten keinen einzigen Laut von ihnen vernommen. Nun aber das Urteil verkündet war, gab es bei ihnen eine nicht mehr zu unterdrückende Aufregung und einen Lärm, der uns der beste Beweis dafür war, wie ernst sie uns und unsere Aussprüche nahmen. Nur allein Tangua beteiligte sich nicht an diesem Lärm. Er ließ auch jetzt nichts weiter als sein klagendes: »Pida, mein Sohn!« hören. Er mußte diesen Sohn außerordentlich lieb haben. Er war der achtbarste unter allen, die wir soeben verurteilt hatten; ja, er begann sogar mir sympathisch zu werden. übrigens taten wir so, als ob wir den Lärm da drüben gar nicht hörten.
Und nun kam aus der Höhle die Botschaft, daß die Verschütteten erreicht worden seien und daß ihr Anführer Pida mit Old Shatterhand zu sprechen wünsche. Ich gab die Weisung, ihn heraus zu mir zu bringen, aber nur ihn allein, denn sie alle seien als unsere Gefangenen zu betrachten. Es dauerte nicht lange, so kam er, ohne Waffen; man hatte sie ihm abgenommen. Ich reichte ihm die Hand und sagte:
»Pida ist mein Gefangener, aber mein Freund. Er wird uns nicht entfliehen?«
»Nein!« antwortete er stolz.
»Er gehe zu seinem Vater, um sich mit ihm zu besprechen. Dann komme er wieder zu mir! Je schneller er das tut, um so rascher werden seine verunglückten Krieger aus der Höhle befreit!«
Ich gab ihm einen Führer mit. Er ging. Als er drüben angekommen war, hörten wir jedes Wort, welches nun dort verhandelt wurde. Dann kehrte er zurück. Ich tat so, als ob wir nichts gehört hätten und nichts wüßten, und fragte ihn:
»Was hat Pida zu berichten?«
»Die Häuptlinge wünschen, mit Euch zu verhandeln.«
»Worüber?«
»Ueber ihr Schicksal.«
»Kennen sie es?«
»Ja.«
»Von wem? – Wer hat es ihnen mitgeteilt?«
»Niemand. Sie haben es gehört. Ihr habt beraten. Sie verstanden jedes Wort. Es geschehen Wunder hier am Mount Winnetou!«
»Ja, es geschehen hier Wunder!« stimmte ich bei. »Und das größte dieser Wunder ist, daß wir gesonnen sind, Gnade walten zu lassen. Aber nur in Beziehung auf Eure Krieger! Wir wollen ihnen ihre Medizinen lassen. Aber ihre Waffen haben sie in der Höhle abzulegen. Sie dürfen einzeln kommen, einer nach dem anderen. Die Hungrigen werden gespeist, die Durstigen getränkt und die Verletzten verbunden. Wenn Pida uns sein Wort verpfändet, daß alle diese Krieger sich dankbar und friedlich verhalten, ist es sogar möglich, daß wir auch gegen die Häuptlinge nachsichtig sind!«
»Ich gebe dir dieses Wort. Aber dann muß ich in die Höhle zurück, um diese Leute anzuweisen, wie sie sich zu verhalten haben!«
»So geh und komme bald wieder!«
Er wollte gehen, besann sich aber und sagte in etwas wärmerem
Ton:
»Tangua, mein Vater, hörte von mir, daß du dich selbst jetzt noch als meinen Freund betrachtest. Er beauftragte mich, dir hierfür Dank zu sagen. Er hat mich lieb. Seine Angst um mich war groß!«
Nun entfernte er sich. Das Herzle war bis jetzt bei ihren Freundinnen gewesen, welche sich mit ihren Scharen bereit hielten, die aus der Höhle Entlassenen mit Speise, Trank und Verbandzeug zu empfangen. Jetzt kam sie, um zu fragen, wann der erste Gerettete erscheine.
»Der war schon da!« antwortete ich. »Nämlich Pida. Er ist in die Höhle zurück, wird aber sofort wiederkehren. Und dann erscheinen sie alle, einer nach dem andern.«
»So ist es ja die höchste Zeit! Ich habe mich zu beeilen! Ich muß zum Ingenieur! Nun die Geretteten kommen, soll auch unser Winnetou erscheinen!«
Sie entfernte sich schnell. Es hatten bis jetzt nur einige wenige elektrische Glühlichter gebrannt, so daß von einer Beleuchtung des ganzen, großen, von Menschen wimmelnden Platzes keine Rede gewesen war. Jetzt kam Pida zurück, und grad als er wieder bei mir stand, öffnete der Ingenieur seinen Apparat, und sofort erschien auf der grandiosen, herabstürzenden Wasserfläche unser zum Himmel emporstrebender Winnetou, mit wehendem Haar und zur Erde zurückkehrender Häuptlingsfeder. Infolge der abwärts gehenden Bewegungen des Wassers hatte es den Anschein, als ob die Gestalt sich in Wirklichkeit nach oben bewege, was einen Eindruck hervorbrachte, der gar nicht zu beschreiben ist.
»Das ist Winnetou! Mein Winnetou! Unser Winnetou!« rief Tatellah-Satah über die in diesem Augenblick todesstille, kaum atmende Menschenmenge hin.
Und da hörte man Wakons sonore, weithin schallende Stimme:
»Ja, das ist Winnetou! Das ist seine Seele!«
Und nun löste sich die allgemeine Überraschung, das Staunen, die Bewunderung in tausend laute, begeisterte Freudenrufe auf, bis der mächtige Brustton des riesigen Intschu-inta erklang:
»Tatellah-Satah! Unser Tatellah-Satah!«
Das galt dem Kopf, den man zu Winnetous rechter Seite erblickte.
»Tatellah-Satah! Unser Tatellah-Satah!« jubelte die Menge.
»Der andere Kopf ist Marimeh, die Königin der Sage, die Freundin aller unserer Ahnen!«
Der »Junge Adler« war es, der das rief.
»Marimeh! Die Königin! Die Freundin!« ging es wiederholend von Mund zu Mund.
Eine Magik sondergleichen für das Auge und für das Herz, so lag der Schleierfall vor uns! Niemand dachte in diesem Augenblick an die gestern versunkene Figur. Niemand achtete des gähnenden Abgrundes, in dem die Pläne und die Hoffnungen unserer Gegner vollständig verschwunden waren. Aller Augen und aller Sinne und Gedanken waren nur von dem wie lebend erscheinenden Bild gefesselt, von dem kein Blick sich wenden zu können schien. Und da kamen die ersten Geretteten aus der Mündung des unterirdischen Ganges. Sie blieben stehen, von dem strahlenden Anblick, der nach so langer und tiefer Dunkelheit sich ihnen jetzt bot, wie fasziniert. Aber vorwärts, vorwärts! Sie mußten weiter, immer weiter! Denn es kamen hinter ihnen andere, die ebenso entzückt stehen blieben und doch ebenso auch weiter mußten! Unsere Winnetous bildeten ein Spalier, durch welche die dem Tod Entgangenen nach den für sie reservierten Teilen des Tales geleitet wurden, wo sie einstweilige Unterkunft und Verpflegung fanden. Das ging so stundenlang. Es hatte ungefähr um Mitternacht begonnen, und es endete erst gegen Morgen, als der Tag zu grauen begann.
Inzwischen hatte Pida nicht die Hände in den Schoß gelegt. Er war zwischen mir, dem Beauftragten von unserer Seite, und Tangua, dem Sprecher von jener Seite, fast ununterbrochen hin- und hergegangen und hatte sich alle mögliche Mühe gegeben, das über die Häuptlinge ausgesprochene Urteil möglichst zu mildern. Wir sahen das sehr gern, taten aber so, als ob uns an diesen neuen Verhandlungen gar nichts liege. Darum ließ ich zunächst nur in Beziehung auf die gewöhnlichen Krieger unsere Bestimmungen fallen. Sie durften frei sein, vollständig frei, ihre Medizinen und ihre Pferde behalten und sich entfernen, sobald sie wollten. Als sie das hörten, gab es einen großen Jubel unter ihnen. Ihre Lage gestaltete sich, den Verhältnissen angemessen, so vorteilhaft, wie sie es noch vor einigen Stunden gar nicht hatten ahnen können. Sie hatten trotz der Gefährlichkeit der Katastrophe keinen einzigen Toten gehabt. Die Verletzungen, welche meist in Quetschungen bestanden, waren zwar schmerzhaft, aber nicht gefährlich. Sie wurden von den Frauen verbunden, und die Herren Patienten fühlten sich in der ihnen gewidmeten Fürsorge außerordentlich wohl. Sie fanden es ganz angenehm, nun jetzt die Freunde derer zu sein, die sie noch gestern hatten vernichten wollen. Sie sahen die Sterne, welche ihre Wohltäter und Wohltäterinnen trugen. Sie fragten nach dem Sinn, nach der Bedeutung dieser Sterne. Man erklärte sie ihnen. Man zeigte auf die herrliche Gestalt unseres Winnetou. Man sagte ihnen, daß es sich nicht mehr um die Aufstellung eines toten, steinernen Bildes handle, sondern um die Schöpfung eines großen, edlen, lebendigen Winnetoukörpers, eines sich über ganz Amerika und auch darüber hinaus verbreitenden »Clan Winnetou«, der von seinen Gliedern weiter nichts verlangt, als edle Menschen zu sein, die nur Liebe geben, weil nur diese allein den Menschen edel macht. Bald hörte man die belehrende Stimme des »jungen Adlers« erschallen. Er war »der erste Winnetou« und gesellte sich jetzt zu ihnen, um ihnen zu predigen, was ihnen, zumal in ihrer jetzigen Lage, förderlich und heilsam war. An anderen Stellen hörte man die Stimmen anderer »Winnetous«. Sie gingen, um mich eines biblischen Ausdruckes zu bedienen, »Menschen fangen«.
Als Pida das sah, freute er sich und sagte:
»Es ist ein wunderbarer Samen, den Old Shatterhand in das Herz seines Bruder Winnetou legte. Dieser Same trug köstliche Früchte. Die Blüten duften weiter und weiter, und die Körner keimen weiter und weiter. Es wird nicht mehr Stunden, sondern nur noch Minuten dauern, so werden alle diese eure Feinde verlangen, in den ›Clan Winnetou‹ aufgenommen zu werden. Wäre ihnen diese Bitte zu erfüllen?«
»Gewiß! Sehr gern!« antwortete ich.
»Auch mir?«
»Auch dir!«
»Auch uns?«
Er deutete bei diesen Worten nach der gegnerischen Kanzel hinüber. Ich antwortete lächelnd:
»Mein Bruder Pida ist ein sehr, sehr kluger Vermittler. Wenn ich die Wahrheit sage, daß auch die gefangenen Häuptlinge in den Clan aufgenommen werden können, muß ich sie freigeben und ihnen alles verzeihen!«
»Wenn du das tust, bist du ein ›Winnetou‹, sonst aber nicht! Erlaubst du mir, zu meinem Vater zu gehen?«
»Geh!« sagte ich, aber erst nach einer Weile. »Doch kehre bald zurück. Der Morgen ist schon unterwegs.«
Er ging. Als er bei den Seinen angekommen war, hörten wir hier hüben wieder alles, was er drüben sagte. Er war auch dort ein vortrefflicher Vermittler. Die in der Höhle ausgestandene Angst, der liebevolle Empfang von unserer Seite, der unvergleichliche Eindruck der heutigen Beleuchtung und unserer Winnetoufigur, das alles wirkte zusammen, den jungen Häuptling der Kiowa zu unterstützen, seinen Zweck zu erreichen. Er kehrte zu mir zurück und meldete:
»Tangua, mein Vater, der Häuptling der Kiowa, wurde zu dir kommen, aber er kann nicht gehen. Er möchte dich um Verzeihung bitten, sich mit dir versöhnen!«
»So bleibe er!« antwortete ich froh. »Ich gehe zu ihm. Ich bitte dich, mich zu ihm zu bringen!«
Ehe ich mich mit ihm entfernte, bat ich die Häuptlinge, hier sitzen zu bleiben, zu lauschen und, falls ich von drüben herüber darum bitten sollte, mir zu antworten. Am Fuß unserer Kanzel erschien gerade jetzt der »junge Adler«, um irgendeine Frage an mich zu richten. Ich ließ ihn gar nicht zu Wort kommen, sondern sagte:
»Die Häuptlinge sollen sofort ihre Medizinen erhalten. Wie lange dauert es, bis du sie bringen kannst?«
»Mit dem Vogel?« fragte er.
»Wenn es möglich ist, ja.«
»Eine halbe Stunde.«
»Das ist mir recht. Es wird dann, gerade so wie gestern, dämmern. Das ist die rechte Zeit. Bitte, geh sogleich!«
Als ich mit Pida drüben ankam, stand seine Frau mit ihrer Schwester an der Kanzel. Wir stiegen hinauf. Pida setzte sich zu den Häuptlingen nieder, ich aber blieb stehen. Tangua ergriff das Wort. Er sagte, daß er gern aufstehen möchte, um zu mir zu sprechen, leider aber könne er sich nicht erheben. Ich ließ ihn nicht weiterreden, sondern fiel ihm in das Wort. Ich sagte, wenn hier um Verzeihung gebeten werden solle, so sei gewiß nicht der Indianer, sondern das Bleichgesicht zuerst und zumeist hierzu verpflichtet, und dieses Bleichgesicht sei ich. Hierauf griff ich in die Vergangenheit und erzählte, wie das Bleichgesicht über das Meer gekommen sei, um seinem »roten Bruder« alle seine »Medizinen« zu rauben. Ich ging hierauf der Geschichte nach. Ich übertrieb nichts und bemäntelte nichts. Ich erzählte die Wahrheit, nackt und ungeschminkt, wie sie wirklich, wirklich war. Ich sprach von den Fehlern der roten Rasse, von ihren Tugenden, von ihren Leiden, vor allen Dingen von ihrer bisherigen Zukunftslosigkeit. Das alles habe man vornehmlich dem Bleichgesicht zu verdanken. Aber dieses Bleichgesicht sei zur besseren Erkenntnis gekommen. Es wünsche, daß sein roter Bruder leben bleibe und zum Volke werde, wie es ihm von Anfang an beschieden sei. Dieses Bleichgesicht sei bereit, alle seine Irrtümer einzugestehen und wiedergutzumachen. Es fühle vor allen Dingen, daß es verpflichtet sei, sein Herz und sein Gewissen zu reinigen, indem es seine roten Brüder um Verzeihung bitte.
Indem ich dies sagte, trat ich zu ihnen hin und streckte meine Hände aus, sie ihnen zur Abbitte zu reichen. Einige Augenblicke lang waren alle still; dann aber wurden mir alle Hände entgegengereicht, und alle Stämme versicherten mir, daß sie ebenso gesündigt und ebenso um Verzeihung zu bitten hätten wie ich, das Bleichgesicht.
»Einander verzeihen! Ihr uns und wir euch!« rief Tangua. »Und dann einander helfen! Ich habe dich gehaßt, nun aber werde ich dich lieben! Wenn ich sterbe, soll Friede sein über meinem Grabe! Sind wir noch eure Gefangenen?«
»Nein!« erklang die Stimme Tatellah-Satahs.
»Uff!« rief Kiktahan Schonka. »Wer spricht da?«
»Der Bewahrer der großen Medizin.«
»Wo?«
»Drüben auf der anderen Teufelskanzel.«
»So sind wir hier auch auf einer Kanzel?«
»Ja. Ich belauschte euch auf der nördlichen Teufelskanzel, die man Tscha Manitou, das Ohr Gottes, nennt. Dort hört der gute Mensch, was die bösen Menschen sagen, und kann sich darum retten. Und nun belauschten wir euch hier auf der südlichen Teufelskanzel, die man Tscha Kehtikeh, nennt. Da hören die bösen Menschen, was die guten sagen, und sehen sich dann gerettet. Der Häuptling Tangua hat gefragt, ob ihr noch gefangen seid. Er mag weiter fragen!«
Das ließ er sich nicht zweimal sagen, sondern tat es sofort:
»Kommen wir an den Marterpfahl?«
»Nein«, antwortete Tatellah-Satah von drüben herüber.
»Wir müssen also nicht sterben?«
»Nein.«
»Wir behalten unsere Waffen und unsere Pferde?«
»Ja.«
»Dürfen hier bleiben und ›Winnetous‹ werden?«
»Ja.«
»Sind alle eure Häuptlinge einverstanden?«
»Alle, alle, alle, alle!« ertönten so viele Stimmen, wie Häuptlinge sich jetzt bei Tatellah-Satah befanden.
»Und was wird mit unseren Medizinen?«
»Schau zum Himmel auf! – Wen siehst du da?«
Es dämmerte jetzt so, daß der Ingenieur den Apparat schloß. Winnetou verschwand vom Schleierfall. Dafür aber erschien hoch oben der »Junge Adler«, ließ sich tiefer und tiefer herab, flog dreimal um den Platz und landete dann so, daß er genau vor der Kanzel den Boden berührte. Da stieg er aus, kam herauf und sprach:
»Old Shatterhand gibt euch durch mich eure Medizinen zurück. Ihr seid also frei!«
Wie hastig sie zugriffen, um sie sich umzuhängen! Sie jubelten laut, und dieser ihr Jubel verbreitete sich weiter und weiter. Dazwischen hinein aber rief Tatellah-Satah zu ihnen herüber:
»Ihr seid unsere Freunde! Morgen wird ein neues Komitee gebildet, welches über den ›Clan Winnetou‹ zu beraten hat. Und übermorgen reiten sämtliche Häuptlinge und Unterhäuptlinge nach dem ›Berg der Königsgräber‹, um nach der Geschichte unserer Vergangenheit zu suchen. Howgh!«
Durch diese Nachricht wurde der Jubel verdoppelt. Der »junge Adler« flog wieder nach seinem Turm zurück. Ich aber beschloß, mit meinem Herzle einen Rundgang durch das Tal und alle die verschiedenen Gruppen, die sich da gebildet hatten, zu machen. Wir kamen da bis hinauf nach der Kantine, in deren Nähe die Brüder Enters noch lagen, sorgfältig zugedeckt und von zwei Komantschen bewacht. Niemand hatte Zeit gehabt, sich mit ihnen zu beschäftigen. Nun aber war es unsere Pflicht, in ernster, humaner Weise für ihr Begräbnis zu sorgen. Wir erfüllten ihren letzten Willen: wir suchten nach den Namen in ihren Winnetousternen. Hariman hatte meinen Namen, Sebulon den Namen meiner Frau geschrieben. So waren sie, die uns erst nach dem Leben trachteten, durch innere Wandlung zu unsern Beschützern geworden und für uns in den Tod gegangen!
Das ist der Schluß dieses vierten Bandes. Indem ich ihn jetzt, Ostern 1910, beende, kommt das Herzle und legt mir eine deutsche Zeitung vom 23. März dieses Jahres vor, in welcher unter dem Titel »Ein Denkmal für die Indianer« folgendes zu lesen ist:
»Aus New York wird berichtet: Das große Standbild der Columbia in der New Yorker Hafeneinfahrt wird voraussichtlich in kurzer Zeit ein Gegenstück erhalten. Am Hafen der amerikanischen Metropole soll ein großes, mächtiges Denkmal entstehen, das bestimmt ist, kommenden Generationen die Erinnerung an die rote Rasse aufrecht zu erhalten, die vielleicht in wenigen Menschenaltern als solche ausgestorben sein wird. Der Plan dieses Denkmales geht auf Mr. Rodman Wanamaker zurück und hat im ganzen Land sofort lebhaften Widerhall gefunden. Auch Präsident Taft hat der Idee zugestimmt. An der Hafeneinfahrt soll das Standbild eines riesigen Indianers errichtet werden als ein Sinnbild dafür, daß das Volk Amerikas trotz aller der roten Rasse zugefügten Ungerechtigkeiten die edlen Eigenschaften der Ureinwohner Amerikas vollauf würdigt. Es soll die Schuld des Landes gegen die aussterbende Rasse der ›ersten Amerikaner‹ symbolisieren und künftigen Geschlechtern die schönen Charakterzüge der roten Rasse vor Augen führen. Der Indianer wird mit ausgestreckten Händen dargestellt, wie er die ersten weißen Männer willkommen hieß, die Amerikas Küste betraten.«
Ich frage: Ist das nicht interessant?
*