Johannes Richard zur Megede
Das Blinkfeuer von Brüsterort
Johannes Richard zur Megede

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Seitdem sahen sie sich oft. Ihm ging es eigentümlich mit ihrem Zusammensein. Immer beim Wiedersehen der wehe Stich, der düstere Schatten der Vergangenheit, der wesenlos vorüberschwebte, und wenn sie ging, das Bedauern, das dunkle Gefühl: ein guter Freund verläßt mich. Ob sie, die rätselvolle und doch so geschlossene Natur auch etwas fühlte dabei? Er wußte es nicht, es war ihm auch gleich. Zuerst hatte er diese Wissende gefürchtet; der Gedanke: jetzt rührt sie an die Wunde, quälte ihn. Aber sie tat es nie. Als hätte sie die andre Frau vergessen . . . Und dann fing er zuerst von der andern Frau zu sprechen an; er suchte Heilung durch die schmerzende Sonde. Aber bald hatte er die vage Empfindung, daß er das eigentlich nicht mehr dürfe und daß der Tag dem Tag gehöre. Es war gewiß nicht Liebe, auch nicht der Keim – es war der Zauber einer freien und starken Persönlichkeit, der diese Frau umfloß, und dem auch ein Mann gern sich beugt.

Die Maskerade verspätete sich etwas. Ein kleiner Zwist. Und diesmal war der Schriftsteller wirklich das Karnickel. Die Villenbesitzer sollten in corpore eingeladen werden, die Freunde der Pension. Darauf antwortete der Störenfried kategorisch: »Wenn sie sich maskieren, mit Vergnügen; wenn sie hier bloß rumsitzen und sich mokieren – auf keinen Fall. Dann lassen Sie mich wenigstens aus dem Spiel! Wenn ich mich zum Vergnügen andrer hier als Clown geriere, will ich es wenigstens nicht vor wildfremden Lästermäulern tun!« Die Dame der Pension schmollte ein wenig. Doch sie war eine kluge und liebenswürdige Frau und tat es lächelnd. So kam es, daß, wie überall im Leben, die eine energische Stimme durchdrang: die Dünenvilla hatte zu ihrem Fest nur Zaungäste.

Aufregend waren die Präliminarien jedenfalls genug. In sämtlichen Gartenlauben wurden von hübschen Händen Tannengirlanden geflochten. Das leise Lachen vertraulich schwatzender Mädchen drang aus jedem Gebüsch. Die Gymnasiasten schleppten ganze Körbe voll Zweige aus dem Walde herbei. Selbst der Schriftsteller sah interessiert den Frauen zu und ließ sich sogar einigen »Neuen« vorstellen, was er sonst gern vergaß. Und im Garten erwog ein Schuljunge mit hübschen Augen und rührend großen Füßen sein Kostüm. Sollte er einen Ritter vorstellen mit Pappanzer und geschlossenem Visier oder einen römischen Senator in der toga praetexta oder irgendein fabelhaftes Tier mit grünlicher Larve und der Pelzboa seiner Mutter, die sehr gut als Ringelschwanz dem Hosenboden angegliedert werden konnte? Das wilde Tier war ihm am sympathischsten wegen des sinngemäßen Geheules, zu dem die Rolle verpflichtete.

Alles ging nach Wunsch. Ein ruhiger, schöner Abend mit geschlossener Gartenpforte und neugierigen Dorfbengels am Staket. Das zarte Birkenlaub hob sich im Seehauch zitternd gegen den hellen Sommerhimmel ab. Die Fichtenzweige starrten düster daneben. Die bunten Illuminationslämpchen glimmten wie große Glühwürmer an ihrem phantastischen Draht. Der Kellner Karl sah befriedigt auf sein Werk und zwinkerte dann ermutigend dem Mond zu, der wie ein lichtes Wölkchen über den Dünen hing. In den Korridoren gellte der Lärm – das Jubelgeschrei der Kinder, das helle Kreischen der Dienstmädchen, wenn eine verfrühte Maske über die Treppe stolperte.

Allmählich begann sich der Eßsaal zu füllen. Die Tannengirlanden schwankten festlich von der Decke, die große Hängelampe blakte feierlich. Sogar ein fürwitziger Wacholderzweig lohte knisternd auf, von der schmeichelnden Flamme eines Wandlichtes erhascht. Es war alles, wie es sein mußte. Kein steifes Winterfest mit säbelbeinigen Troubadours und schmachtenden Fischerinnen, sondern ein harmlos fröhliches Gewühl bescheidener Kostüme: das große Baby mit der Milchflasche, eine süße Kornblume mit weichen Augen, ein Briefträger, ein Stallmeister, ein Chinese mit einem Kaftan aus zartgeblümtem Bettkattun und, greulich vor allem, ein schrecklich wüster Rowdy mit Schnapsflasche und Reisebündel und schmutzig verbundener Wegelagererfaust. Die jungen Damen flohen den Unhold aufschreiend, namentlich ein Gigerl mit dem Miniaturzylinder wandte sich in gut gespieltem Abscheu von ihm ab. Aber der Rowdy zog voll unverwüstlicher Frechheit zwischen den Gruppen umher, grüßte und winkte vertraulich und zeigte einer sehr scharfzüngigen Dame von mäßiger Distinktion hohnlächelnd die Kümmelflasche. Maskenfreiheit! Er mißbrauchte sie schamlos. Dann war noch ein älterer Schuster, der unermüdlich auf eine Doppelsohle klopfte und gemütlich rief: »Nichts zu versohlen, meine Herrschaften, nichts zu versohlen?« Der Schriftsteller als Clown, häßlich und nie verlegen wie immer. Beschützend im Kreise die Mütter mit irgendeinem Maskenzeichen.

Herr von Dühling trug nur den Gesellschaftsanzug, und seine hübsche Freundin im Babykostüm schnitt ihn auffallend. Aber das Fest interessierte ihn doch. Es war die Frische, die Jugend – er hätte sie so gern wieder besessen. Der Clown trat zu ihm: »Kommt sie?«

»Wer?«

»Frau von Westrem.«

»Keine Ahnung.«

Der Clown trollte sich ungläubig von dannen.

Das Fest dauerte schon eine Stunde, und eine unerträgliche Festhitze drückte auf den dichtgefüllten Raum. Dühling hatte sich in eine Ecke zurückgezogen, eine Sektflasche unter dem Stuhl. Er ärgerte sich ein wenig über Frau von Westrem. Sie wußte, daß er längst da war, daß er unter allen nur sie suchte. Warum blieb sie den ganzen Tag fern? Warum hatte sie den Abend vorher gesagt: »Wenn ich kommen kann, komme ich – aber ich weiß noch nicht!« Eine Frau, die nichts zu tun hat, welche Marotte! Aber sie fehlte ihm heute, sie fehlte ihm wirklich. Er fühlte sich so allein. Die kleine Mauer, die ihn sonst fast unmerklich von der Pension schied, türmte sich heute deutlich und riesengroß auf. Er gehörte nicht zu denen da, und sie gehörte nicht zu denen da – aber eben deshalb gehörte sie an seine Seite.

Er ging später hinaus in den Garten, wo Spaziergänger am Strandweg gafften und Masken in der kühlen, hellen Sommernacht promenierten – seine Freundin, das Baby, mit einem Gnom Arm in Arm. Ein ungefährlicher Scherz, aber Dühling war diese Vertraulichkeit unangenehm. Die Sterne flimmerten, der Mond zog seine schmale Sichel schärfer. Von drinnen klang Musik. Die Dame der Pension spielte einen Walzer, und sie spielte sehr gut. Das hübsche Baby wippte träumerisch im Takt. Der Schriftsteller kam jetzt auch heraus. Er tanzte nie, das sollte wohl interessant sein.

Dühling ging darum in den Festsaal zurück und sah zu, wie die Masken wirbelten und jauchzten. Er stand an der Tür zur Veranda und sah und sah auch nicht. Da sagte plötzlich eine leise Stimme neben ihm: »Guten Abend . . . Ich komme spät?« Es war Frau von Westrem.

»Aber Sie kommen!« antwortete er erfreut, und sie reichten sich leicht die Hand. Er sah sie verwundert und geschmeichelt an. Sie trug weiße, matte Seide, aber das Kleid hochgeschlossen und das Haar in leuchtendem Knoten wie sonst. Auf der Schulter lag eine Seerosenknospe.

»Sie sehen entzückend aus, gnädige Frau!« sagte er, sich zu ihr beugend.

»So?« Und sie blickte flüchtig auf die Tanzenden. Hierauf schritt sie rasch zur Dame vom Hause hinüber und flüsterte ihr eine Liebenswürdigkeit ins Ohr, so daß sie, dankbar lächelnd, einen Takt verfehlte. Dann sah er sie noch zwischen den Masken. Sie war schick und eleganter als je, mit dem matten Weiß und dem Purpurhaar.

Als sie zurückkam, sagte er noch einmal: »Entzückend! Heute sind Sie wirklich die Nixe.«

»Ach, lassen Sie doch, Herr von Dühling!«

»Tanzen Sie, gnädige Frau?«

»Nein.«

»Aber wenn ich bitte?«

»Bitten Sie lieber nicht.«

»Aber wenn ich sehr, sehr bitte?«

»Ja, wenn Sie durchaus wollen . . . Aber nur einmal 'rum. Ich tanzte seit Jahren nicht und tue es auch heut nicht gern.«

Sie tanzten. Die Masken wichen dem Paare aus. Es war nur ein kleiner Kreis unter der Hängelampe. Dühling, der früher Vortänzer gewesen war, tanzte leicht und gut, und die schlanke Taille, die sein Arm umfaßt hielt, bog sich in sicherer Anmut. Nur ihre Hand zitterte, und für Sekunden war es, als vibriere der ganze Körper. Sie waren einmal herum.

»Genug«, sagte sie. Dühling führte sie zurück in die Glasveranda. »Einmal und nie wieder!« stieß sie fast atemlos hervor.

»Aber, gnädige Frau, Sie tanzen so gut, es wäre ja auch gar nicht anders möglich.« Und er beugte sich ritterlich auf ihre Hand. Doch ehe sein Mund ihren weißen Handschuh berührt, zog sie die Hand hastig zurück.

»Ich will das Handküssen nicht, Herr von Dühling!« sagte sie heftig.

»Das wußte ich nicht, gnädige Frau.«

Doch sie fuhr schnell fort: »Ich habe Ihnen neulich gesagt, daß ich nur mit Überwindung zu diesem Feste gekommen bin. Ich hasse Tanzen! Da wissen Sie's.«

Während sie noch standen, kamen Herren, die Löwen der Pension: der junge Arzt, der Clown und ein neuer Doktor juris, klein und widerwärtig wie ein Gnom. Sie wollten alle einen Tanz. Frau von Westrem hatte sich sofort wiedergefunden. Sie dankte allen mit ihrer liebenswürdigen Entschiedenheit, und das Gesellschaftslächeln lag dabei wie eingepreßt um ihre schmalen Lippen. »Meine Herren, ich finde Ihr Fest reizend, aber beim Tanzen schwindelt mir wirklich. Ich kann's nicht mehr.«

Sie sprachen alle höflich dagegen, nur Dühling schwieg markant. Jetzt kam der Rowdy auf die Gruppe zugewankt. »Um Gottes willen, schützen Sie mich vor dem da!« rief sie; »seine Maske ist gewiß gut gemeint, aber das ist nun einmal nicht mein Genre.«

Indes die Herren, zu einer Kette geschlossen, den Unhold liebenswürdig abdrängten, verschwand die Frau in Weiß. Mit einem Male war sie fort, und niemand wußte, wohin sie gegangen. Dühling gab sich darum auch keine törichte Mühe. Sie wollte allein sein. Er verstand das gewiß. Sie war ja auch anders als andere. »Aber reizend sah sie doch aus«, sagte er resigniert. Er wand sich zu seiner Flasche Sekt durch und fand diesmal in der Ecke einen steirischen Holzknecht, so echt mit seinem bunten Ledergurt und seiner derben Faust, daß er nur schwer begriff, wie der Mann in seinem Zivilverhältnis außerdem noch Assessor sein konnte und der Gatte einer jungen, eleganten Frau.

Das Baby kam jetzt eilig herbei. »Wo haben Sie Frau von Westrem?«

»Sie ist weg. Ich weiß aber nicht, wohin.«

»Sie sah wieder so distinguiert aus, und man kann ihr nicht böse sein«, bedauerte das junge Mädchen. Der steirische Holzknecht pflichtete bei, seine junge Frau zog die Lippe.

»Die Damen mögen alle Frau von Westrem nicht«, flüsterte das Baby. In dem Augenblick steckte der kleine Stadtrat seinen Kopf geheimnisvoll dazwischen. Er trug eine Kotillonmütze und über dem Bratenrock einen märchenhaften Großkordon von rosa Seidenpapier.

»Mein gnädiges Fräulein, die Westrem ist kalt und kapriziös«, raunte der Verschwörer.

»Nein, sie ist es ganz gewiß nicht!« schmollte das Baby. »Ich leide es nicht, wenn man meinen Freunden etwas Häßliches nachsagt.«

Dagegen der Großkordon: »Sie sind jung, gnädiges Fräulein, Sie begeistern sich leicht . . . . Einen Augenblick, bitte, Herr von Dühling!« Er nahm dessen widerstrebenden Arm, und als er das Opfer glücklich in der Veranda hatte, fügte er vertraulich hinzu: »Nicht wahr, ich habe recht, Herr Rittmeister, sie ist kalt und kapriziös? Sie sind täglich mit der Dame zusammen, Sie sind ein gewiegter Frauenkenner.«

Dühling zuckte die Achseln.

»Wir wohnen nämlich in Königsberg den Herrschaften gegenüber, und ich kann sie immer beobachten. Ich sage Ihnen, bei der Frau ist Reiten und Tennisspielen Lebenszweck . . . Und der Mann? – Ich sehe sie zuweilen auf ihrem Balkon, und wenn er sie liebenswürdig anfaßt, gleich die bekannte Bewegung in der Hüfte, die sagen soll: Laß mich! . . . Und noch dazu so ein schöner Mann! Eine Siegfriedsgestalt, und jovial. Immer grüßt er einen zuerst auf der Straße und fragt: ›Na, Hoheit, wie geht's?‹ Dabei weiß er, daß ich liberal, ultraliberal bin, ausgenommen natürlich meine kleine Schwäche mit der Heraldik. Die Westrems sind tadellose Freiherren! . . . Und einen solchen Mann peinigt die Frau direkt mit ihrer Eiskälte und ihren gewissen Launen. Tanzen, natürlich zu gewöhnlich, kein Herz für Vereinstätigkeit, öffentliche Interessen . . . Unter uns, Herr Rittmeister, ich habe mich höllisch gewundert, daß sie mit Ihnen einmal 'rumtanzte.«

»Hat sie denn ein Verhältnis?« fragte Dühling brüsk.

»St! St!« Der Großkordon tanzte vor Entsetzen, beruhigte sich aber schnell, da niemand in der Nähe war. »Wenn sie wenigstens so etwas Ähnliches hätte! Aber sie hat ja keine Spur von Sinnlichkeit oder Herz. Das ist alles längst aufgegangen in Spielen und Reiten, eleganten Kostümen und bizarren Launen . . .« Der Stadtrat zirpte durch die Lippen und schnellte eine Hand in die Luft. »Der Mann, wenn er könnte, würde davonfliegen wie ein Vogel!«

»Ja, warum tut er's denn nicht?«

»Weil sie reich ist, fabelhaft reich!«

»Na, das ist gerade kein Gefühlsgrund, Herr Stadtrat.«

»Gott, Herr Rittmeister, wir sind alle Menschen, und es wird überall mit Wasser gekocht, überall!«

»Ja, leider«, meinte Dühling etwas von oben herab. »Ich fürchte, sogar in Stadtverordnetenversammlungen.«

Der Großkordon lächelte pfiffig. »Wir verstehen uns, Herr Rittmeister, wir verstehen uns . . .« Und er ging eilig, seine Weisheit weiterzutragen.

Dühling war durch die Unterhaltung nicht klüger geworden. Er hätte die Frau wohl verteidigen können, er tat's aus Instinkt nicht. Esther von Westrem war entweder viel besser oder viel schlechter als ihr Ruf.

In der Veranda begann ein kaltes Büfett zu tagen mit süßen Torten und pikanten Salaten. Der Bowlenlöffel blinkte, und Ananasdüfte zogen verführerisch. Eine gemütliche Völkerwanderung wallte zwischen Tanzsaal und Büfett. Ballmüde Herren, glühende Mädchengesichter. Es war ein so vielfältiges Bild. Wie das hübsche Baby atemlos den kühlen Trank schlürfte, wie der kurzsichtige Schuster sich über den lockenden Heringssalat beugte, wie der Baurat schmunzelte, das Porterglas in der Hand: »Im September des Jahres 1846, ich glaube, es war am dritten, nachmittags, als ich mit meiner seligen Frau zum erstenmal von Pillau hier herüberkam«, – er hatte ein wunderbares Gedächtnis für alte Zeiten und gab stets genaueste Daten. Wie der Holzknecht in bayrisch Bier schlemmte, wie seine Odaliske, blaß und dunkeläugig, mit ihren weißen Zähnen in ein Butterbrot biß, statt Haschisch zu essen, was sie doch in allen Romanen tun . . . Die jungen Mädchen schlenderten paarweise herein, tranken rasch und wiegten sich gleich wieder im Tanze, während die Mütter über den tückischen Luftzug von der Veranda her wachten, um heiße Mädchenschultern schützende Tücher legten, beriefen, ermutigten und doch ihrer Kinder niemals sicherer waren, als bei diesem reizenden, harmlosen Kinderfest.

An Dühling drängte sich eine hübsche Maske vorüber. »Du amüsierst dich wohl königlich?« fragte er scherzend.

Und das junge Ding rief übermütig zurück: »Möchtest wohl mit mir tanzen?«

»Warum nicht?«

Da lachte sie. »Das glaube ich wohl. Aber ich nicht mit dir. Weißt du, du hast mir einen viel zu weißen Schnurrbart!«

Es war Maskenfreiheit, Mädchenspott, und der Pfeil traf doch. Das weiße Haar hatte ihn nie bekümmert. Mit siebenunddreißig Jahren macht es den Mann doch noch nicht alt, nur interessant. Aber inmitten dieser Jugend, dieser Lust war er in der Tat alt. Das wurmte ihn. Sollten die drei Jahre denn so mörderisch gewesen sein? Im Kasinoscherz hieß er »der häßliche Dühling mit dem unbegreiflichen Glück«, und die Kameraden fragten stets: »Ja, wie machen Sie es denn eigentlich? Eine schwört immer auf Sie . . .« Damals schmeichelte ihm das. Und das Rezept war ja so einfach. Er war keck, er war skrupellos, und sein Herz engagierte sich nie. Mit dem Kopf verführt man, nicht mit dem Herzen . . . Also auch das war nun endgültig vorüber? Gewiß, sein Frauenglück damals war leicht, seicht, das Innen blieb völlig unberührt, kein Hautritz, kaum eine leichte Schramme, wenn ihn eine klug vor der Zeit verließ, oder das angenehme Nervenrieseln, wenn wieder eine ins Garn ging. Das gehört gewissermaßen zum gewandten Adjutanten, zum tadellosen Offizier, es hatte ihm nie Bedenken gemacht. Drei Jahre lang hatte er jetzt die Kunst nicht mehr geübt, und ein frecher Backfisch mußte ihm sagen, daß er sie auch nicht mehr üben könne . . . Vielleicht war es ein starkes Zeichen der Genesung, daß er den kleinen Stachel wieder spürte. Aber das Fest war heute für ihn erledigt. Er stahl sich nach dem Korridor, seinen Mantel zu holen.

Die Nacht war ja so schön. Nach all den Maskengerüchen, dem Menschendunst strömte ihm die Luft jetzt köstlich rein entgegen. Es mußte gegen Mitternacht sein. Auf dem Strandweg die Zaungäste waren längst abgezogen. Dühling ging langsam auf und ab. Der Sand knirschte. In der Ferne murrte das Meer. Er hatte ernste Gedanken . . . Was kam nun? Wenn auch die kleinen Freuden uns verlassen, weil das große Glück uns mied . . . Zieht das Glück nur die Freuden an, wie der Magnet das Eisen? . . . Und die Glücklosen . . . Wieder kamen die Bilder, die Frau war bei ihm, die er so unsinnig geliebt. Und er dachte, daß er doch ein Tor gewesen, ein Verschwender. Alles auf eine Karte, die noch dazu fehlschlug! . . . Jetzt kam unerbittlich das Nichts. Doch er rang gegen dieses Nichts, es sollte, es durfte nicht kommen! Jede Asche birgt einen Funken, den man zur Flamme anfachen kann, wenn man nur Holz herzuträgt, sie zu nähren.

Als er wieder an der Villa vorüberkam, klang der Galopp aufdringlicher, der Lärm wüster, die Gestalten wogten wilder hinter den beschlagenen Fenstern. Er bog ab nach dem Zauberwald. Er wollte tief hinein, in jene Zauberstille, wo die Föhren düsterer starren, die Sandwellen schemenhafter leuchten, wo zwischen Wacholderbusch und Heidekraut das freie Feld lugt, im Tau, verschleiert, goldig und grün, mit seinen schweren Korndüften und dem süßweichen Geruch der Lupine, dahinter das Meer, grau blinkend, geheimnisvoll, von den toten Dünenbergen gesäumt. Er dachte jetzt an eine andre Frau. Die Frau mit dem roten Haar. Und wie entzückend sie aussah in der matten Seide, die grünweiße Knospe auf der feinen Schulter. Er sah sie deutlich, die Rätselvolle. Er begriff nicht, daß er sie nicht verteidigt. Sie war auch sicher glücklos wie er, arm, trotz ihrer Jugend, ihres Reichtums, ihrer kühlen Sicherheit! Vielleicht gehörten sie beide doch zusammen? . . . Eine Glücklose! Und jetzt verstand er auch, warum sie so plötzlich gegangen. Sie, die sein Schicksal kannte und begriff, hatte sich im innersten Herzen empört, daß er ihr, der Fremden, auch die Hand küssen konnte nach einem Tanz . . . Es war so richtig gefühlt . . . Und er sehnte sich wirklich nach ihr, nach den blassen Augen, der schönen Stimme. Was sie auch quälte, sie war doch gesund und stark wie diese klare, kühle Nacht.

Bei dem pfadlosen Schlendern verirrte er sich fast wie das erstemal. Er erkannte aber noch zur rechten Zeit den dunkeln Kiefernhügel wieder, wo man ins Tal hinunterschaut. Es war nicht weit, und eine Bank mußte auch da sein. Dühling war etwas müde geworden und wollte doch nicht zurück zum Mummenschanz. Die Bank lag versteckt am Abhang. Als er näherkam, sah er eine Gestalt dasitzen. Eine Mondschein-Sentimentale natürlich! Die Sorte posiert ja immer. Er irrte sich. Es war Frau von Westrem, und sie bog sich zurück ins Gebüsch, um nicht bemerkt zu werden. Sie trug einen breiten, römischen Seidenschal um die Schultern, das Gesicht beschattete der umgebogene Strandhut. Sie sah nicht auf. Als Dühling grüßte, nickte sie nur leicht.

Er trat heran. »Warum sind die Totengräber im ›Hamlet‹ so lustig?«

»Und warum stimmt jede Maskerade ernst?« gab sie ruhig zurück.

Er setzte sich zu ihr. »Schon lange hier?«

»Ich glaube wohl.«

Er fixierte sie von der Seite. »Ich suchte Sie, gnädige Frau.«

»Das glaube ich nicht.«

»Aber ich suchte Sie doch! Ich wollte Sie etwas fragen. Sagen Sie: bin ich alt?«

»Sie fragen merkwürdig!«

»Mir sagte nämlich eben ein hübsches Ding: ›Geh, du bist mir viel zu alt mit deinem weißen Schnurrbart!‹«

»Es war ein Kind.«

»Kinder und Narren sprechen die Wahrheit!«

»Und sie ist Ihnen nicht gleichgültig?«

»Ich muß Ihnen darauf ehrlich sagen: Nein, gnädige Frau. Alte Menschen sollen anders empfinden als ich. Und da ich das noch nicht kann, möchte ich auch nicht gern alt scheinen.«

»So färben Sie den weißen Schnurrbart. Mit siebenunddreißig Jahren, wer sollte es Ihnen verdenken?«

»Würden Sie graues Haar färben, gnädige Frau?«

»Ich weiß nicht. Ich bin eine Frau, und die Frauen leben alle in gewissem Sinne von Äußerlichkeiten.«

»Und wir?«

Sie sah ihn flüchtig an. »Herr von Dühling, wenn Ihnen an meiner Ansicht liegt, mögen sich alle andern Männer auf der Welt den Bart färben, – Sie dürfen es nicht! Mir gehört der weiße Schnurrbart zu Ihnen. Und wenn ich Sie morgen mit einem schwarzen sähe, würde ich sagen: ich habe mich in Ihnen getäuscht.«

Er verbeugte sich ein wenig. »Ich danke, gnädige Frau. Sie haben recht. Ich bin in der Tat alt, und es könnte auch gar nicht anders sein«, sagte er ganz leise.

Sie sah ihn lange an. Und wieder blitzte tief innen der rätselhafte Funke. »Sie sind nicht alt, Herr von Dühling. Sie sollen es nicht sein! Aber wenn einer Narben heimbrachte aus schwerer Schlacht, so soll er sie nicht verstecken, weil er unverwundbar erscheinen möchte. Die Narben stehen Ihnen, mögen andere auch lächeln!«

Sie schwiegen. Silbern blinkte der Teich. Das Wehr rauschte.

»Und wissen Sie, was von Ihnen die Leute sagen, gnädige Frau?« hub er wieder an.

»Schlimmes! Das ist doch selbstverständlich. Denn ich habe nie etwas Schlimmes getan.«

Darauf erzählte er seine Unterhaltung mit dem Stadtrat. »Aber ich habe Sie nicht etwa verteidigt. Ich weiß nicht recht, warum. Ich könnte sagen: ich kenne Sie besser als andere hier, aber dennoch kenne ich Sie nicht.«

»Kalt und kapriziös!« wiederholte sie kopfschüttelnd. »Was wollen die Menschen eigentlich? Ich bekümmere mich nicht um sie, und sie bekümmern sich desto angelegentlicher um mich. Nur weil ich reite und Tennis spiele? Du lieber Gott! Als wenn das bißchen Sport den ganzen Inhalt meines Lebens ausmachen könnte! Es ist so dumm! Aber ich danke Ihnen, Herr von Dühling, daß Sie mich nicht in Schutz genommen haben. Mögen die Leute denken, was sie Lust haben. Die Sorte könnte ich auch gar nicht aufklären, es wäre verlorene Liebesmühe. Ich bin ich, und niemand kennt mich.«

»Mir ist manchmal, als trügen auch Sie schwer, gnädige Frau.«

»Vielleicht – sogar gewiß. Aber ich trage allein. Und Mitleid vom Pöbel – ich danke! Ich will auch von Ihnen kein Mitleid, Herr von Dühling. Ich mag das billige Mitleid überhaupt nicht, weil es etwas Schwächliches, Erbärmliches ist, weil man sich mit ihm preisgibt, zum Bettler macht. Und Lyssars betteln nicht! Sie können zugrunde gehen, sie tun es sogar ganz sicher, aber sie gehen hoffentlich anständig und schweigend zugrunde . . . Ich kenne auch das echte Mitleid für andere nicht, höchstens das hochmütige für das Gesindel, das aus dem Fünfgroschenbasar stammt und nicht mal fünf Groschen wert ist . . . Ich habe auch kein Mitleid für Sie, Herr von Dühling, für Sie am wenigsten, wenn's auch anders scheinen mag.«

»Gnädige Frau, ich habe das auch nie gewünscht.«

»Ich weiß es!«

»Aber lassen wir die Bitterkeit! Sie verstehen mich, und ich verstehe Sie. Und die Herde ist doch nur dazu da, daß man sich von ihr unterscheidet.«

Sie atmete tief. »Wie ich Ihnen das Wort danke!« Dann zauderte sie. »Übrigens eine Beichte ist der andern wert«, sagte sie entschlossen. »Ich kenne Ihr Schicksal, und Sie haben nicht Verstecken zu spielen gesucht. Hier haben Sie das meine! Sie mißbrauchen's sicher nicht . . . Ich habe Ihnen neulich gesagt: ich hätte meinen Mann aus Liebe geheiratet. Das ist die heilige Wahrheit. Doch der Nachsatz dazu heißt: Siebzehnjährige glauben die Liebe unfehlbar zu kennen, und sie kennen sie unfehlbar nicht . . . Daß ich das echte Gefühl später doch noch fand, das ist mein Verhängnis und auch mein Glück.« Sie tippte aufs Herz. »Das Wie und das Wen ruht wohlgeborgen hier. Sieben Jahre bin ich so glücklich gewesen, wie eine eitle und bewunderte Frau es nur sein kann. Ich habe alle Torheiten mitgemacht und an allem Vergnügen gefunden, bis zu dem einen Tag . . . Ich kann nur sagen, daß ich das Gefühl fand, etwa wie ein ahnungsloser Wilder das erste, einzige, pure Stück Gold. Ich nahm es auf und sah es lange an . . . Und das Gefühl überkam mich heiß und wunderbar, wie eine Offenbarung, und dabei fröstelte ich doch . . . Dann habe ich getan, was eine tadellos anständige Frau, die ich immer war, tun muß. Ich bin zu meinem Mann gegangen mit dem Stück Gold in der Hand und hab's ihm gezeigt und gesagt: ›Kennst du das?‹ Und er hat gelächelt und mich geküßt, wie eine Törin geküßt. Und ich habe wieder gefragt, dringend gefragt: ›Kennst du das?‹ Und da hat er mich verwundert angesehen: ›Sei doch nicht so sonderbar, Kind!‹ Ich aber habe es ihm immer und immer wieder hingehalten und gefleht: ›Nimm es und gib mir dein Stück Gold dafür, das du doch haben mußt!‹ Da wurde er endlich böse. Er begriff nämlich gar nicht, was Gold ist . . . Dann haben wir uns innerlich von einander geschieden, langsam, qualvoll. Das Stück Gold habe ich wohl noch, aber doch nicht mehr für ihn. Jetzt könnte er mich darum anflehen, und ich könnte es ihm doch nicht mehr geben, beim besten Willen nicht!«

Sie hatte ernst, fast feierlich die letzten Worte gesprochen. Die Sterne flammten hell, und der junge Mond hob seine goldene Sichel in die Sommernacht.

»Ich wußte das«, sagte Dühling endlich: »Aber versprechen Sie mir eins, gnädige Frau: bleiben Sie so lange hier, wie Sie können! Für Sie ist es ja absolut gefahrlos, wohl auch für mich. Das letztere weiß man freilich nie . . . Les coeurs blessés, Sie wissen ja . . . Aber Kranke unterhalten sich gern über ihre Krankheit . . .« Er schaute vor sich hin und sagte dann nachdenklich: »Ich war nämlich mal anders, ganz anders, gnädige Frau . . . Ich fand auch das Stück Gold und gab's weg, aber ich bin jetzt unsicher, ob ich auch Gold zurückbekam.«

Frau von Westrem war aufgestanden und sah nach der Uhr. »Ich bin eine Törin. Wer ist's schließlich nicht? Ich hätte schweigen sollen.«

»Und es war doch viel besser, daß Sie sprachen, gnädige Frau. Jetzt weiß jeder, was den andern drückt!«

»Wissen Sie's?« fragte sie fast höhnend. Sie blickte hinüber nach dem Strand, wo der weiße, klare Horizont hinter dem Wald sank. »Wollen wir noch einmal an die See gehen? Ich fühle wieder meine alte Krankheit: das Blinkfeuer von Brüsterort.«

 


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