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Vor einiger Zeit – wie lange es her ist, darauf kommt es nicht genau an – zog ich als alter Mann vom Lande in die Stadt zurück, wo ich ganz überraschend ein großes altes Haus geerbt hatte. Es lag in einer engen Straße eines der unteren Stadtviertel, die einst der Mittelpunkt des eleganten, vornehmen Lebens gewesen waren, voll heiterer Salons und Brautgemächer; heute sind sie größtenteils in Lagerhäuser und Kontore verwandelt. Warenballen und Kassenschalter haben den Platz der Sofas eingenommen, Kassenbücher und Hauptbücher breiten sich aus, wo einst köstlicher Frühstückstoast gestrichen wurde. Vorüber sind in diesen alten Vierteln die glorreichen Tage der mürben Waffeln.
Als Denkmal vergangener Zeiten war seltsamerweise mein altes Haus trotz alledem erhalten geblieben. Auch war es nicht das einzige seiner Art. Mitten in den Lagerhausreihen standen auch noch ein paar andere Wohnhäuser. Die Verwandlung der Straße hatte sich noch nicht ganz vollzogen. Gleich jenen alten englischen Mönchen und Nonnen, die noch lange die Ruinen ihres zerstörten Zufluchtsorts bewohnten, verweilten noch einige wenige seltsame alte Herren und Damen in der Nachbarschaft, wollten nicht, konnten nicht, brachten es nicht fertig, sie zu verlassen. Und ich dachte, wenn eines Frühlings meine eigenen weißen Haare und mein Spazierstock mit dem weißen Elfenbeinknopf aus meinem weißblühenden Obstgarten auftauchten und ihre unsicheren Gemüter noch unsicherer machten, würden die armen, alten Seelen sich verrückterweise einbilden, das Viertel blühe wieder auf – die Flut des eleganten Lebens kehre zurück.
Seit vielen Jahren hatte keiner der Eigentümer mehr in dem alten Hause gewohnt. Von Zeit zu Zeit war es in andere Hände gekommen und sehr verschiedenen, wechselnden Mietern überlassen worden, heruntergekommenen alten Städtern, geheimnisvollen Einsiedlern oder umherziehenden, zweifelhaft aussehenden Fremden.
Das Äußere hatte man billig neu aufgeputzt. So war ein schöner alter, kanzelartiger, den Aufgang von sechs Steinstufen krönender Portikus entfernt und durch ein breitrandiges, das Ganze überschattendes Schalldach ersetzt worden, wie man auch an Stelle der ursprünglichen schweren Fensterladen (jeder in seinem oberen Teil von einem Halbmond durchbrochen, um an heißen Julimorgen in die sonst verschlossenen Räume ein orientalisches Licht wie Mondschimmer einzulassen) plundrige Jalousien angebracht hatte. Während daher die Hausfront einen uneinheitlichen Anblick gewährte, als vertrage sich das aufgepfropfte Neue nicht gut mit dem alten Stamm, hatte ich innen, was auch dem Äußeren geschehen sein mochte, wenig oder nichts geändert. Die Keller waren voll großer, finsterer, gewölbter Behälter aus geschwärzten Ziegeln, die wie alte Templerhäuser aussahen; darüber erblickte man die Balken des ersten Stockwerks, riesig, viereckig und massiv, ganz aus roter Eiche. Die langen, langen Jahre hatten ihnen eine prachtvolle Indianerfarbe gegeben. So dick waren diese Balken und so eng gereiht, daß man glauben konnte, sich im Kanonendeck eines Linienschiffs zu befinden, wenn man durch die geräumigen Keller ging.
Alle Räume sämtlicher Stockwerke waren noch so, wie sie vor neunzig Jahren gewesen waren mit all ihren schwerfälligen, hölzernen Karniesen, der Täfelung und den geschnitzten, unerreichbaren Gesimsen mit eigentümlichen botanischen und zoologischen Verzierungen. Verblichen vor Alter zeigte die Wandbekleidung selbst noch immer die Muster aus der Zeit von Louis XVI. In dem größten Empfangszimmer (meine Tochter nannte es, zum Unterschied von zwei kleineren Empfangszimmern, den Salon, obwohl ich die Unterscheidung unnötig fand) waren die Tapeten äußerst bunt. Sofort wußten wir, nur aus Paris konnten solche Tapeten stammen – echte Versailler Tapeten, wie sie im Boudoir Marie Antoinettes gehangen haben mochten. Sie zeigten große diamantförmige Medaillons durch schwere Rosenguirlanden (Zwiebeln meinte das Mädchen Biddy dazu, aber meine Frau klärte sie bald darüber auf) von einander getrennt, und in diesen Medaillons steckten überall, wie in überreich begrünten Lauben, Illustrationen aus der Naturgeschichte, die die imposantesten, pariserisch aussehenden Vögel darstellten, Papageien, Ara und Pfauen, meist aber Pfauen. Wahre Prinzen Esterhazy von Vögeln, ganz Rubinen, Diamanten und Orden vom Goldenen Vließ. Aber ach, die Nordseite der alten Wohnung bot einen seltsamen Anblick, halb vermoost, halb vermodert, etwa wie alte Waldbäume auf ihrer Nordseite, wo das Moos am meisten haftet und wo, sagt man, der innere Verfall beginnt. Kurzum, der ursprüngliche Glanz der Pfauen hatte auf der Nordseite des Zimmers merklich nachgelassen, und schuld daran war ein kleines Loch in der Dachrinne, durch das der Regen langsam einen Weg durch die Wand gefunden hatte, bis ganz hinunter zum ersten Stock. Dies Loch hatten die leichtfertigen Mieter, die damals das Haus bewohnten, nicht für nötig befunden ausbessern zu lassen, oder vielmehr es war ihnen wohl nicht der Mühe wert gewesen, zumal da sie in dem Empfangszimmer mit den Pfauen nur ihr Brennholz aufbewahrten und ihre Kleider trockneten. Seitdem sahen viele der einst leuchtenden Vögel so aus, als habe ein Schmutzregen ihr fürstliches Gefieder durchnäßt. Ihre besternten Schleppen waren höchst trübselig verwischt. Aber so geduldig und heiter, ja hie und da so strahlend schienen sie ihr bitteres Los zu tragen, so viel wirkliche Eleganz lebte noch in ihren Formen und so voll lieblicher, gewinnender Nachdenklichkeit erschienen sie, den ganzen Tag über, Jahr um Jahr, in ihren verblaßten Lauben grübelnd, daß ich, obwohl mich meine Familie wiederholt beschwor (besonders meine Frau, die, wie ich fürchte, zu jung für mich war), das ganze Hühnerhaus, wie Biddy es nannte, zu zerstören und die Wände mit einer schönen, zarten, vornehmen, cremefarbenen Tapete zu bedecken, mich nicht dazu überreden ließ, so gefügig ich in andern Dingen auch war.
Doch hauptsächlich wollte ich keine Entweihung des alten Empfangsraums mit den Pfauen oder des Rosenzimmers (ich nenne es bald so, bald so) dulden, weil es in meinen Gedanken lange mit der Erinnerung an einen der ursprünglichen Eigentümer des Hauses verknüpft war, an den freundlichen Jimmy Rose.
Armer Jimmy Rose!
Er gehörte zu meinen frühesten Bekanntschaften. Sein Tod ist noch nicht sehr lange her; ich und zwei andere klapprige alte Knaben nahmen eine Droschke und geleiteten ihn als einziges Gefolge an sein Grab.
Von Haus aus hatte Jimmy nicht viel Vermögen gehabt. In seiner Jugend war er ungewöhnlich stattlich gewesen, breit und männlich, mit großen blauen Augen, braunem lockigem Haar und Wangen, die aussahen wie mit Karmin gemalt, obwohl es nur die echte Blüte der Gesundheit war, vertieft von der Freude, zu leben. Von Natur ein großer Frauenverehrer, hatte er gleich den meisten wahren Anbetern des schönen Geschlechts nie die Freiheit seiner allgemeinen Verehrung durch ein freiwilliges Opfer seiner selbst am Altar eingeengt.
Sein Vermögen vermehrte er durch ein umfassendes, fürstliches Geschäftsunternehmen, etwa wie das des großen Florentiner Kaufherrn Lorenzo il Magnifico, und war dadurch in der Lage, Gastfreundschaft großen Stils zu üben. Lange Zeit wurden seine Diners, Soupers und Bälle von keinem andern in der Geselligkeit liebenden Stadt New York übertroffen. Sein ungewöhnlich strahlendes Wesen, die Eleganz seiner Kleidung, sein sprühender Witz, ein wahres Feuerwerk, seine unerschöpfliche Gabe der Causerie, seine französische Einrichtung, die feurige Bewillkommnung seiner Gäste, sein freigiebiges Herz und seine freigiebige Tafel, seine vornehmen Manieren und sein edler Wein, kein Wunder, daß all dies die Menschen scharenweise in Jimmys gastliches Haus zog! Bei allen Wintergesellschaften stand er auf der Einladungsliste obenan. James Rose, Esq. stand außerdem obenan bei allen Überreichungen von Silbergeschenken an besonders erfolgreiche Schauspieler und von Säbeln oder Schußwaffen an besonders erfolgreiche Generale. Wegen seiner feinen Gabe, feine Dinge fein zu sagen, wurde er oft dazu gewählt, die Gabe zu überreichen.
»Sir«, sagte Jimmy in einem großen Empfangsraum am Broadway, als er General G . . . zwei mit Türkisen besetzte Pistolen übergab, »Sir«, sagte er mit kastilianischer Grandezza und einem rosigen Lächeln, »sie würden reicher mit Türkisen besetzt sein, hätten die Namen Ihrer ruhmreichen Siege dazu Platz gelassen.«
Ach, Jimmy, Jimmy! In Komplimenten übertrafst du dich selbst! Doch in allem verschwenderisch zu sein, was Freude machte, war von deinem innersten Wesen nicht zu trennen. Und wer sollte dich tadeln, wenn du dabei einen Einfall borgtest, so geborgt er auch sein mochte. So große Plagiatoren die Menschen dieser Welt sonst sind, beim Loben begehen sie nicht oft Plagiate.
Doch die Zeit ändert sich. Die Zeit, der wahre Plagiator der Jahreszeiten.
Plötzliche und schreckliche geschäftliche Rückschläge wirkten bei der tollen Verschwendung nach allen Seiten vernichtend. Als seine Geschäfte unter die Lupe genommen wurden, zeigte es sich, daß Jimmy nicht mehr als fünfzehn Schilling vom Pfund bezahlen konnte. Und doch hätte das Defizit vielleicht ausgeglichen werden können – natürlich ohne Jimmy einen Penny zu lassen –, wären nicht in einem Wintersturm zwei seiner von China kommenden Schiffe bei Sandy Hook untergegangen, dicht vor dem Hafen gescheitert.
Jimmy war ein ruinierter Mann.
Das war Jahre her. Ich wohnte damals auf dem Lande, war aber zufällig auf einem meiner jährlichen Besuche in der Stadt. Erst vier oder fünf Tage vorher hatte ich Jimmy in seinem Hause als Mittelpunkt aller Blicke gesehen und gegen Ende der Gesellschaft gehört, wie eine in Brokat gekleidete Dame mit den unvergeßlichen Worten sein Wohl ausbrachte: Mögen seine Wangen so lange blühen wie sein Herz! Freudig und aufrichtig tranken die lieblichen Frauen und die Herren auf sein Wohl, und Jimmy – eine gütige, stolze, dankbare Träne stand in seinen ehrlichen Augen, die mit engelhaftem Ausdruck rund über die strahlenden Gesichter glitten und über die ebenso strahlenden und ebenso gefühlvollen Karaffen.
Ach, armer, armer Jimmy – Gott schütze uns alle – armer Jimmy Rose!
Nun also, kaum vier oder fünf Tage darauf vernahm ich einen Donnerschlag – nein, das Krachen schlechter Nachrichten. In einem Schneesturm durchquerte ich Bowling Green nicht weit von Jimmys Haus auf der Batterie, als ich einen daherschlendernden Herrn erblickte, dessen ich mich von Jimmys Tafel her entsann. In eifriger Zustimmung war er nach dem Toast jener Dame als erster aufgesprungen. Der Wein in seinem erhobenen Glas lief nicht mehr über als die Feuchtigkeit seiner Augen bei dieser glücklichen Gelegenheit.
Schön, dieser gute Mann kam über den Bowling Green, ein dünnes Rohrstöckchen mit einem Silberknopf schwingend, auf mich zu gesegelt. Als er mich erblickte, blieb er stehen: »Ach, Junge, das war ein Weinchen, das Jimmy uns neulich spendiert hat! Werden übrigens keins mehr bekommen. Schon das Neueste gehört? Jimmy ist verkracht. Totaler Bankrott, sage ich Ihnen. Kommen Sie mit ins Kaffeehaus, dann erzähle ich Ihnen mehr. Und wenn Sie Lust haben, wollen wir bei einer Flasche Rotwein für heute Abend eine Schlittenpartie zu Cato's arrangieren. Kommen Sie mit.«
»Danke«, sagte ich, »ich – ich – ich bin verabredet.«
Schnurgerade ging ich zu Jimmy. Als ich nach ihm fragte, erklärte mir der Mann an der Tür, sein Herr sei nicht daheim. Er wisse auch nicht, wo er sich aufhalte; seit achtundvierzig Stunden sei er nicht nach Hause gekommen.
Während ich Broadway wieder hinaufging, fragte ich vorbeikommende Bekannte, aber obwohl mir jeder die Nachricht bestätigte, konnte mir keiner sagen, wo Jimmy steckte, und es schien sich auch niemand darum zu kümmern, bis ich einen Kaufmann traf, der mir zu verstehen gab, Jimmy habe vermutlich aus dem Schiffbruch ein hübsches Sümmchen zusammengekratzt und sich damit vorsorglich in unbekannte Gegenden verzogen. Der nächste, den ich sah, noch dazu ein großer Nabob, schäumte vor Wut, als ich Jimmys Namen nannte. »Betrüger, ein richtiger Schurke, Sir, dieser Jimmy Rose! Aber es sind tüchtige Burschen hinter ihm her.« Später hörte ich, daß dieser gekränkte Herr indirekt durch Jimmys Bankrott die Summe von fünfundsiebzig Dollar und fünfundsiebzig Cents verloren habe. Und ich wage, zu behaupten, daß der Wert der Diners, die er bei Jimmy gegessen hatte, diese Summe mehr als aufwiegt, besonders in Anbetracht dessen, daß der Herr eine Art Weinsäufer ist, und Weine, wie sie Jimmy importierte, kosten eine Stange Geld. In der Tat, jetzt, wo ich nachdenke, erinnere ich mich, diesen Herrn mittleren Alters öfter bei Jimmy bemerkt zu haben. Einmal wollte er gegen Ende eines Diners am Tisch sitzen bleiben, tat so, als unterhalte er sich ernsthaft mit dem strahlenden Jimmy und stürzte dabei die ganze Zeit mit kaum verhohlenem Eifer und zitternder Hast ein Glas nach dem andern von dem edlen Wein hinunter, als müsse er sich daranhalten, den Rahm abzuschöpfen, solange Jimmys gute Sonne im Zenith stehe.
Schließlich begegnete ich jemand, der bekannt dafür war, daß er über alle Geheimnisse und alles Versteckte im Leben und in den Gewohnheiten bekannter Persönlichkeiten besonders gut Bescheid wußte. Als ich ihn fragte, wo Jimmy möglicherweise sein könne, zog er mich aus dem Menschengedränge dicht an das Gitter der Trinity Church und flüsterte mir zu, Jimmy sei am vorigen Abend in ein ihm gehöriges altes Haus in der C . . . straße gegangen, das seit einiger Zeit nicht vermietet sei, und daraus könne man schließen, daß er sich vielleicht dort verborgen halte. Nachdem ich eine genaue Beschreibung der Örtlichkeit erhalten hatte, wandte ich meine Schritte dorthin und stand schließlich vor dem Hause mit dem Rosenzimmer. Die Laden waren geschlossen, in den Halbmonden hingen Spinnweben. Trostlos und verlassen sah das Ganze aus. Der Schnee war nicht gekehrt, wie eine große Woge lag er gegen den Portikus getrieben; keine Fußspur war zu sehen. Wer auch darinnen sein mochte, gewiß ein von aller Welt verlassener Mann. Auf der Straße gingen wenig oder gar keine Menschen, denn eben damals war die Straße außer Mode gekommen, und der Handel hatte noch nicht von ihr Besitz ergriffen, worauf sein Rival, die Mode, verzichtet hatte.
Einen Augenblick sah ich die Straße hinauf und hinunter, dann klopfte ich leise an die Tür. Keine Antwort. Noch einmal klopfte ich und lauter. Niemand kam. Ich klopfte und schellte, ohne jeden Erfolg. Verzweifelt wollte ich schon weggehen, machte aber doch noch einen letzten Versuch, klopfte lange, so laut ich nur konnte, mit dem schweren Türklopfer und stand dann wieder still, während straßauf und straßab verschiedene seltsame alte Fenster geöffnet und verschiedene seltsame alte Köpfe voll Verwunderung über einen so lärmenden Fremdling herausgestreckt wurden. Wie von der jähen Stille erschreckt, redete mich jetzt eine hohle, heisere Stimme durch das Schlüsselloch an:
»Wer sind Sie?«
»Ein Freund.«
»Dann kommen Sie nicht herein«, erwiderte die Stimme, noch hohler als vorher.
Herr des Himmels, das ist nicht Jimmy Rose, dachte ich zusammenzuckend. Es ist ein falsches Haus. Man hat mir nicht richtig Bescheid gesagt. Doch um ganz sicher zu sein, fragte ich wieder:
»Ist Jimmy Rose hier?«
Keine Antwort.
Noch einmal versuchte ich es:
»Ich bin William Ford. Lassen Sie mich hinein.«
»Oh ich kann nicht, ich kann nicht. Ich scheue mich vor jedem Menschen.«
Es war Jimmy Rose!
»Lassen Sie mich hinein, Rose. Lassen Sie mich hinein! Ich bin Ihr Freund.«
»Ich will nicht. Ich kann niemand mehr vertrauen.«
»Lassen Sie mich hineinkommen, Rose. Haben Sie wenigstens zu mir Vertrauen.«
»Gehen Sie weg oder –«
Indem hörte ich in dem riesigen Schloß ein Klirren, das nicht von einem Schlüssel kam, sondern klang, als werde ein dünnes Rohr ins Schlüsselloch geschoben. Entsetzt floh ich, so schnell mich meine Füße trugen.
Ich war damals ein junger Mann, und Jimmy nicht über vierzig. Erst nach fünfundzwanzig Jahren sah ich ihn wieder – und wie verändert. Ich hatte erwartet, er werde, sofern er überhaupt noch am Leben sei, dürr, zusammengeschrumpft, kümmerlich aussehen, bleich und verbissen vor Elend und Menschenhaß; aber, oh Wunder, die alten persischen Rosen blühten noch auf seinen Wangen! Und doch war er so arm wie eine Kirchenmaus, arm wie die Hefe der Armut, von einer Armut schlimmer als im Armenhaus, ein in einem dünnen, fadenscheinigen, sorgsam gehüteten Rock herumlaufender Armer mit einem Überfluß von höflichen Worten, ein freundlicher, lächelnder, zitternder Gentleman.
Ach, armer, armer Jimmy – Gott schütze uns alle – armer Jimmy Rose.
Bei dem ersten Ansturm des Unglücks, als Gläubiger, die einst vertraute Freunde gewesen waren, ihn wie einen Verbrecher verfolgten, hatte sich Jimmy um ihrer Nachstellung und überhaupt menschlichen Blicken zu entgehen, in dem alten, verlassenen Hause vergraben. Dort war er in der Einsamkeit halb verrückt geworden, aber die Zeit hatte ihn mit dem stillen Kommen und Gehen der Tage wieder gesunden lassen. Vielleicht war er auch durch und durch im Grunde zu gut und freundlich, als daß ihn irgend etwas zum Menschenhasser hätte machen können. Die Menschen ganz zu vermeiden, wäre Jimmy ohne Zweifel als irreligiös erschienen.
Manchmal kann der edle Zwang des Pflichtgefühls zum bitteren Schicksal werden. Denn was könnte bitterer sein, als in tiefster Not von denen gesehen zu werden – nein, demütig zu ihnen hinzukriechen, sie in erniedrigter Stellung zu besuchen, bei denen als alter, durch die Empfangsräume irrender Narr geduldet zu werden – die einen einst als Reichsten der Reichen und Fröhlichsten der Fröhlichen gekannt haben? Und das tat Jimmy. Das Schicksal stürzte ihn nicht auf einmal roh hinab, sondern drückte ihn langsam tiefer und tiefer, bis auf die unterste Stufe. Aus unbekannter Quelle hatte er ein Einkommen von ungefähr siebzig Dollar, etwas mehr oder weniger. Das Kapital wollte er nie anrühren, aber indem er es verstand, sie auf mancherlei Weise zu strecken, brachte er es fertig, von den Zinsen zu leben. Er wohnte in einer Dachkammer und verköstigte sich selbst. Nur einmal am Tage aß er richtig – Grütze und Milch – und sonst nichts, ausgenommen was er an den Tischen anderer bekam. Oft erschien er zur Teezeit bei alten Bekannten, angetan mit seinem sauberen, schäbigen Gehrock, dessen Ärmel an den Handgelenken mit abgetragenem Samt eingefaßt waren. Dieselbe Verzierung zeigten auch die Hosenenden, um den schrecklichen Anblick zu verbergen, als hätten die Ratten an ihnen genagt. Sonntags hielt er immer darauf, in einem oder dem andern feinen Hause zu dinieren.
Es ist klar, daß niemandem gestattet werde, ungestraft ein solches Leben zu führen, es sei denn, er sei frei von Lastern allein durch sein Schicksal soweit heruntergekommen, daß ihn nur noch das Senkblei des Mitleids erreichen konnte. Für seine Gastgeber war es nicht weiter verdienstvoll, den hungernden Gentleman nicht hinauszuwerfen, wenn er um sein armseliges Almosen von Tee und Toast kam. Verdienstvoll wäre es gewesen, sich zusammen zu tun, um ihn, was ja auch nicht viel gekostet hätte, durch ein für die dringendsten Lebensbedürfnisse genügendes Einkommen unabhängig von den täglichen wohltätigen Unterstützungen zu machen, die ihm nicht einmal übersandt wurden, sondern für die er sich von Tür zu Tür schleppen mußte.
Doch das Rührendste an ihm waren die Rosen auf seinen Wangen, diese frischen, roten Rosen in seinem harten Winter. Wie sie es fertig brachten, zu blühen, ob Grütze und Milch und Tee und Toast sie blühend erhielten, ob er sie malte, welch seltsamer Zauber sie so blühen ließ, das kann kein Mensch sagen. Jedenfalls blühten sie. Und neben den Rosen blühte Jimmys Lächeln. Er lächelte immer. Die vornehmen Häuser, die ihn zu ihren Almosentees empfingen, kannten keinen zweiten Gast, der so gelächelt hätte. In seinen guten Tagen war Jimmys Lächeln weit und breit berühmt gewesen. Jetzt hätte es dreifach berühmt sein müssen.
Wohin er auch zum Tee kam, er hatte alle Neuigkeiten der Stadt zu berichten. Durch seine Besuche in den Lesekabinetts hielt er sich privilegiert durch seine Harmlosigkeit, wie er war, auf dem Laufenden über die europäischen Angelegenheiten und die neueste einheimische und ausländische Literatur. Wurde er dazu ermutigt, konnte er lang und breit darüber reden. Doch an der Ermutigung fehlte es manchmal. In gewissen Häusern, es waren nicht wenige, erschien Jimmy etwa zehn Minuten vor der Teezeit und verschwand zehn Minuten nach dem Tee wieder, sich vollständig des Umstands bewußt, daß sein längeres Bleiben für das Behagen und das Glück seines Gastgebers nicht unbedingt nötig war.
Wie traurig war es, ihn so herzhaft eine Tasse Tee nach der andern trinken und ein leckeres Butterbrot nach dem andern verzehren zu sehen, während so bald nach der großartigen üppigen Mahlzeit, die die andern genossen hatten, niemand außer Jimmy Brot und Butter anrührte oder mehr als eine einzige Tasse Souchong trank. Der arme Jimmy wußte das sehr gut; er versuchte, seinen Hunger zu verbergen und ihn doch zu stillen, indem er sich große Mühe gab, eine lebhafte Unterhaltung mit der Frau des Hauses in Gang zu halten und die gierigsten Bissen mit einer abwesenden Miene hinunterzuschlucken, als esse er bloß aus Gewohnheit und nicht aus Hunger.
Armer, armer Jimmy – Gott schütze uns alle – armer Jimmy Rose!
Auch seine galante Art ließ Jimmy nicht fallen. Wenn immer Damen am Tisch waren, konnten sie eines feinen Kompliments gewiß sein, obgleich freilich gegen Ende seines Lebens die jungen Damen fanden, Jimmys Schmeicheleien seien etwas veraltet und hätten einen Beigeschmack von Dreimastern und kurzen Hosen oder von Epauletten und Säbelkoppeln, wie man sie bei Pfandleihern findet. Denn in Jimmys Auftreten blieb immer etwas unterdrückt Martialisches; in seinen glücklichen Tagen war er unter anderm General bei der staatlichen Miliz gewesen. Über der Generalität der Miliz scheint ein Verhängnis zu walten. Leider! An mehr als zwei oder drei Herren kann ich mich erinnern, die Milizgenerale waren und verarmten. Ich scheue mich, darüber nachzudenken, warum es so ist. Liegt es daran, daß dieser militärische Beruf bei einem Mann mit unmilitärischem Herzen – d. h. einem freundlichen, friedlichen Herzen – ein Zeichen schwächlicher Vorliebe für eitles Schaugepränge ist? Aber zehn gegen eins, es ist nicht so. Und jedenfalls ist es nicht hübsch, wenn nicht unchristlich, von einem Glücklichen, zu sehr über die zu moralisieren, die es nicht sind.
So zahlreich waren die Familien, die Jimmy besuchte, oder so vorsichtig verteilte er seine weniger begehrten Visiten, daß er in manchen großen Häusern etwa nur einmal im Jahr erschien. Und jedes Jahr, wenn er in einem solchen Heim die blühende Miß Frances oder Miß Arabella sah, verbeugte er sich tief in seinem schäbigen, alten Rock, ergriff mit seiner weichen, weißen Hand galant die ihrige und sagte: »Oh, Miß Arabella, diese Juwelen funkeln an Ihren Fingern, doch sie würden noch mehr blitzen, funkelten nicht Ihre Diamantenaugen immer weit herrlicher!«
Obgleich du in deiner eigenen Not keinem Armen einen Pence schenken konntest, Jimmy, so konntest du den Reichen doch immer noch Almosen geben. Denn kein zähneklappernder Bettler an der Straßenecke verlangt mehr nach Brot als ein eitles Herz nach Komplimenten. Und den Reichen in seinem unersättlichen Überfluß, wie den Armen in seiner unersättlichen Not haben wir immer um uns. So, glaube ich, dachte Jimmy Rose.
Doch alle Frauen sind nicht eitel, oder neigen sie ein wenig dazu, gleicht ihre Güte das mehr als wieder aus. So war es mit dem lieblichen Mädchen, das dem armen Jimmy die Augen zudrückte. Sie war die einzige Tochter eines reichen Aldermans, kannte Jimmy gut und sorgte für ihn an seinem Lebensabend. Während seiner letzten Krankheit brachte sie ihm eigenhändig Gelees und Blancmanger, machte ihm in seiner Dachstube Tee und half dem armen, alten Herrn, sich in seinem Bett auf die andere Seite zu legen. Und wohl hattest du die Pflege dieses schönen Geschöpfes verdient, Jimmy, hattest es wohl verdient, daß dir die alten Augen von den Feenfingern einer Frau zugedrückt wurden, du, der du dein Leben lang, im Reichtum und in der Armut, immer der geschworene Ritter und Verehrer der Frauen warst.
Ich weiß kaum, ob ich hier einen kleinen Vorfall erwähnen soll, der mit der Pflege der jungen Dame und wie Jimmy sie aufnahm, zusammenhängt. Da es jedoch niemand verletzen kann, will ich es tun.
Zufällig war ich in der Stadt, hörte von Jimmys Krankheit und ging hin, um nach ihm zu sehen. Und in seiner einsamen Dachstube fand ich ihn in so liebenswürdiger Pflege. Als sie sah, daß ein anderer Besuch gekommen war, zog sie sich zurück und ließ mich mit ihm allein. Sie hatte einige kleine Leckerbissen gebracht und auch verschiedene Bücher von jener Art, wie bedächtige, wohlwollende Freunde sie Kranken in einer ernsthaften Krise schicken. Ob es nun Abneigung dagegen war, als Todeskandidat betrachtet zu werden, oder natürliche Empfindlichkeit, veranlaßt durch seinen ganzen elenden Zustand, kurzum, als das liebliche Mädchen sich zurückzog, warf Jimmy mit dem bißchen Kraft, das er noch hatte, die Bücher in die hinterste Ecke und murmelte: »Warum bringt sie mir so trübsinnigen, alten Kram? Hält sie mich für einen Armen? Will sie das Herz eines Gentleman mit Armeleutepflaster heilen?«
Armer, armer Jimmy – Gott schütze uns alle – armer Jimmy Rose!
Schon gut, ich bin ein alter Mann, und nehme an, daß meine Tränen davon kommen, daß man im Alter kindisch wird. Doch der Himmel sei gepriesen, Jimmy braucht kein menschliches Mitleid mehr.
Jimmy Rose ist tot!
Indessen, wenn ich in dem Empfangszimmer mit den Pfauen sitze – dem Zimmer, aus dem mir damals seine heisere Stimme mit der Pistole drohte – muß ich immer über seinen seltsamen Fall nachdenken, an dem das Wunderbare ist, wie er nach der fröhlichen, kavaliermäßigen Laufbahn eines Edelmanns sich damit begnügen könnte, durchs Leben zu kriechen, zwischen Marmor und Mahagoni nach elendem Tee mit Toast zu schielen, wo er früher wie ein wahrer Warwick die hochrufende Welt mit Burgunder und Rehbraten bewirtet hatte.
Und so oft ich die verblichene Schönheit dieser stolzen Pfauen an der Wand betrachte, grüble ich über den vernichtenden Umschwung in Jimmys einst so glänzendem Leben. Und dann wieder – so oft ich die ewigen Rosengirlanden anschaue, zwischen denen die verschossenen Pfauen hängen, muß ich an die unsterblichen Rosen denken, die auf den Wangen des ruinierten Jimmy blühten.
Jetzt ist er in andere Gefilde versetzt und die unfreundliche Vergangenheit ist vergessen; gebe Gott, daß Jimmys Rosen ewig blühen!
Ende