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Ich komme nun dem Kern meiner Erzählung näher. Jetzt kann ich es wohl sagen: die Suggestionen Juliettes einerseits, andererseits der Bericht der Zeitung unter diesem Titel, der mich blendete: » Die Priesterfresser« waren entscheidend für den weiteren Verlauf meines Lebens. Es genügt so wenig, um das Schicksal eines Menschen in eine bestimmte Bahn zu lenken. Einige Worte und einige gedruckte Zeilen sollten meine Zukunft beeinflussen und gewaltige Erschütterungen hervorrufen.
Ich verschlang den Artikel. In Wahrheit brachte er nichts Unbekanntes oder Neues. Der Verfasser scherzte, versuchte, einen leichten Schwank daraus zu machen. Er mischte die Politik in diese Geschichten und schien in Ulkform den Schluß ziehen zu wollen, daß die antiklerikale Bewegung das Geheimnis enträtsele.
Etwas später, in den folgenden Tagen, verkündete man ein neues Verschwinden. Es war schon der sechste Abbé, der fortflog, ohne: »Achtung!« zu rufen. Mit einem Schlage vernachlässigte das Publikum die Serie der Einbrüche, um sich einzig und allein für die Serie der Entführungen zu passionieren. Denn niemand zweifelte in dieser Hinsicht: jedermann glaubte an gewaltsamen Menschenraub von besonderer Art. Die Zeitungen, weit davon entfernt, die Überreiztheit der Menge zu beschwichtigen, gossen noch im Gegenteil Öl in dieses Feuer. Der Federkrieg wurde giftig. Ein rechtsstehendes Organ beschuldigte glatt das Freimaurertum, eine Art okkulter Vereinigung dieser Zeit, geschworene Feindin der Religion. Andere griffen die Juden an. Schließlich wurde auch die Regierung hineingezogen. Eine Gruppe von Kardinälen und Bischöfen erließ einen heftigen, revolutionären Aufruf und forderte die Gläubigen auf, die Diener Gottes zu schützen, die weltlichen Gesetze zu bekämpfen. Und die Regierung der dritten Republik, kaum den Verwicklungen entronnen, die durch die frechen Einbrüche in den Hauptbanken verursacht waren, befand sich in einer noch gefährlicheren Lage.
Da entschloß ich mich, auch meine Meinung zu sagen. Oh! Ewig werde ich mich in diesem Leben – falls es mir noch vergönnt bleibt – oder in dem anderen – falls es eins gibt – an den Artikel erinnern, den ich in einem Zuge schrieb, am Tische eines Lokals im Faubourg Montmartre, ein großes Helles vor mir. Dieser Artikel brachte mir, nach raschem Durchfliegen, eine Umarmung meines Chefredakteurs ein. Ich fand den Artikel unter meinen Aufzeichnungen in einer Schublade und schreibe ihn hier zum besseren Verständnis der Erzählung ab. Er war mit reißerischen Überschriften, Titeln und Untertiteln geschmückt. So etwa: Der unbekannte Gelehrte oder das Geheimnis der Einbrüche. Das Rätsel der Entführungen. Was man darüber wissen kann. Was man vermuten kann. Was man befürchten kann!
*
Man kannte bisher, führte ich aus, die Wunder der heiligen Dreifaltigkeit, das der göttlichen Fleischwerdung und außerdem das der unbefleckten Empfängnis. Nun hat man uns soeben ein neues Wunder in den Schoß geworfen: das Verschwinden junger Pfarrer! Unsere heilige Kirche hat mehr als genug.
Es ziemt sich, zu erwähnen, daß diesem Wunder ein anderes vorangegangen war, ein solches von weltlichem Aussehen: die aufeinanderfolgenden Einbrüche in unseren reichsten Banken, Einbrüche, die niemand hat aufklären können und deren Täter unbestraft blieben.
Ist es möglich, in diese Rätsel einzudringen? Ich möchte es gern glauben, und ich rühme mich, sie, wenn nicht ganz und gar zu lösen, so doch zumindest unseren Lesern eine Fährte zu zeigen. Man braucht nur mit Ruhe und Methode zu überlegen. Man möge mir freundlichst folgen.
Wieviel junge Priester können wohl so verschwinden – ohne daß die Polizei, durch die geschicktesten Detektive unterstützt, auch nur die geringste Spur entdeckt? Ein einziges Verschwinden hätte man erklären können: Flucht und teuflische Einmischung einer Frau. Zwei Vorfälle dieser Art hätte man zur Not ebenfalls hinnehmen können. Nun sind wir aber schon bei dem sechsten angelangt. Wir müssen die unannehmbare Hypothese zurückweisen, daß ein halbes Dutzend Geistlicher ihre Pflicht vergessen, jede Disziplin verleugnen und der Christenheit ein verabscheuungswürdiges Beispiel bieten.
Der Gedanke aber, daß politische oder konfessionelle Gegensätze im Spiel wären, grenzt andererseits ans Unsinnige. Gewisse Kollegen haben in diese Verwirrung – ohne Rücksicht auf die Leidenschaften, denen sie auf diese Weise Nahrung gaben –, die Freimaurerei, die Synagoge hineingezogen. Wir leben nicht mehr in den unruhigen Epochen der Religionskriege, und dieser Fanatismus gehört nicht mehr in unsere Zeit. Ich werde schlecht beratenen Schriftstellern auf dieser schlüpfrigen Bahn nicht folgen.
Ebensowenig kann man aber annehmen, die unglücklichen Priester wären ganz einfach restlos verdampft. Gott hat nicht die Gewohnheit, sie auf diese Weise zu sich zu rufen. Da sie aber, wie alle Sterblichen, aus lebender Materie bestehen, erscheint es gewagt, sich mit Hilfe der Wissenschaft auf die Auflösung dieser Materie, die in die ursprüngliche Energie wiederverwandelt worden wäre, zu berufen.
Nichtsdestoweniger – sechs Priester sind verschwunden – in einigen Wochen. Das ist eine Tatsache, die man nicht leugnen kann.
Ich gestatte mir, unsere Leser daran zu erinnern, daß ich als einer der ersten in der gesamten Presse anläßlich der Einbrüche die Hypothese aufgestellt habe, der Täter wäre ein genialer und gefährlicher Gelehrter, der sich auf diese Weise das notwendige Geld für seine Experimente beschafft. Die Einbrüche haben aufgehört, nicht etwa, weil die Polizeikräfte sich fähig erwiesen, ihnen entgegenzuwirken, sondern weil das rätselhafte Wesen, von dem ich sprach, es nunmehr verschmäht, sich mit solchen Unternehmungen abzugeben.
Es dürfte zur Zeit einschließlich dessen, was es in den Geldschränken geerntet hat, genügend Geld besitzen, um nach seiner Lust zu handeln und der Not Trotz zu bieten.
Das Geld allein genügt aber nicht. Um gewisse – möglicherweise sehr mißliche – Experimente durchzuführen, braucht man auch Material.
Wer kann beweisen, daß der »unbekannte Gelehrte«, von Dienern und Schülern umgeben, die sein mutiger Geist fanatisiert hat, nicht am lebenden Wesen experimentiert?
Ich denke, man hat mich verstanden. Jawohl, irgendwo, weitab von unseren Nachforschungen, geschützt vor dem Zugriff der Justiz, gibt es ein verfluchtes Geschöpf, das sich Geld holt, da, wo es welches weiß, durch eigene Verfahren, die mit den sonstigen ebenso einseitigen als morschen Methoden gewöhnlicher Übeltäter nichts gemein haben. Und diese Persönlichkeit veranlaßt gleichfalls die Entführungen junger Priester, welche die öffentliche Meinung bombardieren. Zwischen diesen beiden Arten von Unternehmungen besteht ein augenscheinlicher Zusammenhang.
Warum gerade junge Priester? Eines Tages werden wir es ohne Zweifel wissen. Aber bereits jetzt sind alle Mutmaßungen gestattet. Sucht der Gelehrte oder Narr, die dunkle Sphinx, deren Existenz meiner Ansicht nach nicht bezweifelt werden kann, in jungen unverbrauchten Körpern das Geheimnis des Lebens und des Todes? Durchforscht er die Gehirne und die Herzen? Entzieht er ihnen Blut für scharfsinnige Analysen? Ich wage nicht, näher darauf einzugehen. Ich möchte nicht, daß man mich beschuldigt, ich säe Entsetzen in die Öffentlichkeit. Aber auch die schlimmsten Befürchtungen sind berechtigt. Ich verkünde nur meine tiefe Überzeugung. Wir haben es nicht mit zwei verschiedenen Sachen zu tun. Einbrüche und Entführungen sind auf die gleiche Ursache zurückzuführen. Geht, sucht! Gelehrter, Prophet, wütender Irrer, Blutsauger, Menschenfresser! ... Fürchten wir den Feind, der um so gefährlicher, da er unsichtbar, unnahbar, unkennbar ist. Diejenigen, denen die Pflicht unserer Sicherheit obliegt, mögen wohl daran denken! Das Morgen kann uns entsetzliche Katastrophen bringen.
Robert Doucet.
Man zauderte nicht, diesen Artikel als »sensationell« zu bezeichnen. Er brachte ganz Paris in Aufregung. Wieviel Briefe habe ich nach seiner Veröffentlichung bekommen, mit Bitten um Audienzen, Warnungen, Einflüsterungen, Ratschlägen! ... Die anderen Zeitungen beschäftigten sich damit, machten sich meine Annahme zu eigen, schmückten sie mit Kommentaren, Paradoxen. Die Idee des »unbekannten Gelehrten« blieb in den Gehirnen haften. Der Ministerpräsident verlangte mich zu sehen und fragte mich lange aus, ohne daß ich anderes tun konnte, als zu wiederholen, was ich in der Zeitung kurz zusammenfassend gesagt hatte. Und da die Tölpelei niemals auf ihre Rechte verzichtet, machten mir bedeutende Kollegen, ganz diskret, Vorschläge. Ich aber blieb dem »Abend« treu, wo ich meinen Anfang gemacht hatte, und wo man mir übrigens mein Gehalt sofort verdoppelte.
Ich kostete die Freuden des Berühmtseins aus. Karikaturisten stellten mich mit einem Bogen in der Hand dar, mit Pfeilen eine Art mißgestaltetes, rätselhaftes Tier durchstoßend, das das geheimnisvolle Wesen darstellte, und zu dessen Füßen zerstörte Geldschränke und Priesterleichen lagen. Und – damit nichts meinem Glücke fehlte – Juliette schien mich anzubeten. Sie kam jetzt regelmäßig zweimal wöchentlich, den Abend mit mir zu verbringen; war sie nicht bei mir, so rief sie bei jeder Gelegenheit an. Mit naivem Stolz legte sie Wert darauf, sich mit mir bei allen öffentlichen Veranstaltungen zu zeigen, wo mein Erscheinen ein neugieriges Gemurmel auslöste. Unschätzbare Stunden ungetrübter Freude! Ich schlief in besonnter Glückseligkeit ein, ohne andere Gedanken, als darin unterzutauchen. Ich dachte nicht einen Augenblick daran, daß ein Erwachen, ein furchtbares Erwachen kommen könnte.
Eines Morgens sortierte ich mit müden Bewegungen meine Korrespondenz auf meinem Arbeitstisch. Für gewöhnlich war sie langweilig, absolut uninteressant. Ich nahm mir gerade noch die Mühe, einen gleichgültigen Blick auf diese Briefe zu werfen, die ich dann haufenweise in eine Ecke warf. Plötzlich wurde meine Aufmerksamkeit durch eine seltsame Bemerkung, die auf einem Umschlag deutlich sichtbar angebracht war, gefesselt: »Bitte nicht in den Papierkorb werfen!« Ich riß ihn hastig auf. Links oben quer diese Mahnung: »Achtung! Sehr aufmerksam durchlesen!« Ich lächelte und dachte: Das ist etwas stark! Gleichzeitig aber – ich weiß nicht, in welch dunkler Vorahnung – fühlte ich, wie mein Herz sich zusammenkrampfte.
Als ich den Brief verdaut hatte, muß ich wohl sehr bleich und etwas außer Fassung gewesen sein, denn der kleine Level, der gerade an meinen Tisch herantrat, fragte mich:
»Was fehlt dir denn? ... Unangenehme Nachricht? ...«
Ich verzog meinen Mund zu einem Lächeln und hielt ihm den Brief hin. Je länger er las, um so mehr runzelte er die Brauen. Als er geendet hatte, ließ er seine Arme fallen, rief:
»Na, das ist ja noch schöner!«
»Was hältst du davon?«
»Immerhin, ziemlich starker Tobak!«
Andere Redakteure, durch unsere Ausrufe und Levels Mimik neugierig geworden, schlossen sich uns an. Sie fragten:
»Was gibt's denn?«
»Was ist los? Was ist Ihnen denn passiert?«
»Schreibt dir etwa der berüchtigte ›Unbekannte Gelehrte‹?«
Level drehte sich mit einem Ruck zum Frager um, schrie ihm ins Gesicht:
»Du hast's besser getroffen, als du denkst!«
Ich riß ihm das Blatt aus den Händen, wütend, und betonte mit einer Stimme, die ich spöttisch gewünscht hätte, die aber dennoch von leisem Zittern unterbrochen war:
»Du meinst den Brief dieses Affentheaterdirektors ... Ach nee ... bei mir nicht ... Hört alle zu ... ich werde euch das vorlesen.«
Und ich las langsam, sorgfältig die Worte betonend, inmitten der allgemeinen Verblüffung folgende Zeilen, die sich unzerstörbar in mein Gedächtnis eingegraben haben:
Herr Journalist!
Gestatten Sie mir, Sie ohne jeden Hintergedanken zu beglückwünschen. Ihr Scharfsinn ist über jedes Lob erhaben. Ganz allein, ohne die geringste Unterstützung, haben Sie die richtige Spur gefunden, die zum »Unbekannten Gelehrten« führt. Sie brachten es fertig, zu begreifen und begreiflich zu machen, daß dieses ganze Geld, Leuten entrissen, die nur ein sehr strittiges Recht an seinem Besitz haben, nützlichen wissenschaftlichen Untersuchungen und Experimenten dienen sollte. Das ist fabelhaft, Herr Journalist, das ist fabelhaft. Sie haben es aber noch weitergetrieben. Sie haben den Zusammenhang, der zwischen den Einbrüchen und dem geheimnisvollen Verschwinden junger Männer im Priesterrock besteht, angegeben. Gestatten Sie mir, Ihnen dazu meine Bewunderung auszudrücken. In meinen Augen sind Sie ein Meister.
Nur, sehen Sie, die Neugier hat ihre Gefahren. Die Sympathie, die Sie mir einflößen, zwingt mich, Sie zu warnen. Wenn Sie sich auf ihre Schlußfolgerung kaprizieren, so gehen Sie grausamen Mißgeschicken entgegen. Nicht etwa, daß ich den Angriff der Menschen fürchte. Ich bin stark genug, um ihnen Trotz zu bieten. Ich brauche aber noch eine gewisse Frist, um ein bestimmtes Werk zu vollenden, welches mir sehr am Herzen liegt. Es würde mir außerordentlich unangenehm sein, vor der von mir festgesetzten Stunde kämpfen und mich verteidigen zu müssen. Ich rate Ihnen deshalb in Ihrem eigenen wie in meinem Interesse, Ihre Forschungen nicht zu weit zu treiben. Ich wiederhole: Es liegt eine Gefahr darin, und nicht nur Todesgefahr – was nichts wäre – sondern entsetzliche, unvorstellbare Gefahr, vor der das mutigste Geschöpf nur furchtsam zurückweichen könnte.
Sie werden im übrigen an einem der nächsten Tage genau Bescheid wissen. Schneller noch, als Sie hoffen. Sie werden wissen, was ich mit den jungen Leuten anfange, die ich mir beschaffe und in welcher Weise sie, gegen ihren Willen allerdings, zum Wohle der gesamten Menschheit beitragen werden. Von jetzt ab jedoch, Vorsicht! Drehen Sie Ihre Feder in Ihrem Tintenfaß herum oder beschäftigen Sie sich sonstwie.
Diese unerhörte Warnung trug die Unterschrift:
Ich zerknitterte, etwas fieberhaft, diese seltsame Botschaft in meinen verkrampften Fingern. Dann kreuzte ich die Arme und wartete. Meine Kollegen blieben stumm vor Überraschung. Ich konnte in ihrem Antlitz den Widerschein der Bestürzung erkennen. Nur der alte Coquet brach das Schweigen:
»Ich habe seinerzeit den berüchtigten G. Heimnisvollen gekannt ...«
Ich unterbrach ihn heftig:
»Himmelherrgott! Ganz Ihrer Ansicht! Das ist Bluff! Dämlicher Bluff. Wofür hält man mich denn?«
Der Dichter Farigoulis meinte:
»Puh! ... Nach allem, was man bereits gesehen hat, ist nichts unmöglich.«
Ich faßte ihn am Kragen seines Rockes und, ohne auf seine Protestrufe zu achten, fing ich an, ihn brutal zu schütteln.
»Du glaubst also? ... Nun denn! Ich werde schon ... Meinetwegen ... Nehmen wir an, daß es sich tatsächlich um den ›Unbekannten Gelehrten‹ handelt. Was soll man tun? ... Veröffentlichen?«
»Mit Einschränkungen ... Schließlich und endlich, man kann nie wissen.«
*
Ich schrieb, ich erklärte den Lesern, daß dieser Drohbrief wahrscheinlich von einem schlechten Spaßmacher käme, daß man aber trotzdem nichts vernachlässigen dürfe ... Das geringste Anzeichen wäre geeignet, die Untersuchungen zu erleichtern. Im übrigen aber, sollte man es darauf abgesehen haben, meinen Mut auf die Probe zu stellen, nun denn! Ich würde schon meinen Mann stehen!
Soll ich es eingestehen? Die Erregung, die ich zu entfesseln gedacht hatte, nahm einen ganz anderen Charakter an. Es folgte ganz einfach ein tolles Gelächter. Die guten Kollegen gaben sich ihm aus vollem Herzen hin. Flugblätter, die besonders witzig sein wollten, versuchten den Brief zu karikieren. Die Sänger der Nachtlokale zogen über mich her mit ihren Bosheiten und Witzen. Ich wurde ein beliebter Revueheld. Man legte mir die phantastischsten Behauptungen und Aussagen in den Mund. Bald ließ man mich sagen, daß der unfaßbare Bandit und der Menschenfresser der Kindermärchen eins wären. Der Menschenfresser, der Schrecken kleiner Kinder, der frisches Fleisch für seine Mahlzeiten einkaufte und teuer bezahlte. Bald ließ man mich von einer Messalina reden, einer Messalina mit unstillbaren Gelüsten, Liebhaberin hübscher Grünschnäbel. Und nicht mal im Redaktionszimmer des »Abend« wurde ich von den niederträchtigsten Spötteleien verschont. So daß ich, müde und enttäuscht, nicht mehr hinging.
Da hatte ich einen netten Bock geschossen!
Der schlimmste Schlag aber war der Artikel der »Morgendämmerung«, in dem ich beschuldigt wurde, etwas erfunden zu haben, um den Verdacht zu zerstreuen. Dieser Artikel brachte wieder die Freimaurerei und die Synagoge auf den Plan. Die Mehrzahl der Tageszeitungen folgte diesem Beispiel. Die Polemiken blühten heftiger denn je. Und plötzlich, was allem die Krone aufsetzte: man kündigte an, daß ein Priester – der siebente – sich nun seinerseits kopfüber ins Unbekannte gestürzt hätte.
Von da ab flammten die Leidenschaften auf. Ein Jude wurde von der Menge auf den Boulevards mißhandelt. Man mußte diesen Erben der Propheten, blutig geschlagen, auf die Rettungsstation bringen. Feurige Kundgebungen, Aufrufe zum Widerstand, wurden auf die Mauern geklebt, von der Polizei heruntergerissen, wieder aufgeklebt. Man forderte die Demission derjenigen Kabinettsmitglieder, die den Logen angehörten. Die Regierung gab nicht nach, ließ gewisse Zeitungen verfolgen. Zwei Tage später aber sah sich das Kabinett, nach der Interpellation eines royalistischen Abgeordneten, gezwungen, abzudanken.
Der Präsident der Republik berief nun einen »starken Mann«. Das war ein altertümlicher Politiker, gerieben und zäh, berühmt durch seine systematische Opposition allen Ministerien gegenüber, wie immer sie auch beschaffen waren. Man fürchtete ihn wegen seines Zynismus und der Grausamkeit und Boshaftigkeit seines Geistes. Er erklärte sofort, er würde es verstehen, die Ordnung wiederherzustellen, ließ die Zensur walten, warf die Polizei gegen die Manifestantengruppen, füllte die Gefängnisse. Diese Maßnahmen hatten nicht die erwartete Wirkung. Die Gärung nahm fortwährend zu.
Das alles ereignete sich kurz vor dem 14. Juli.
Der 14. Juli! Unsere Historiker kennen wohl die Bedeutung dieses Datums und werden Ihnen sagen, daß die Franzosen des zwanzigsten Jahrhunderts in jedem Sommer die Wiederkehr der Einnahme der Bastille, einer alten, königlichen Festung, feierten, deren Fall das Signal zur Revolution gegeben hatte. Die Franzosen waren sehr stolz ob ihrer Revolution. Wollte man ihnen glauben, so hatte sie in ihren roten Fäusten die Freiheit, die Gleichheit und die Brüderlichkeit gebracht. Aus diesem Grunde versammelten sie sich alle Jahre während dreier Tage und dreier Nächte auf den öffentlichen Plätzen, drängten sich an stinkigen Straßenecken, stürmten die Cafés und die Kneipen, tanzten, brüllten, trampelten, und vor allem, ja, vor allem soffen sie das scheußliche Zeug, das auf den metallbeschlagenen Theken und dem schmierigen Marmor der wackligen Tische rieselte. Nur wenige unter ihnen wußten genau, um was es sich handelte. Man gab ihnen eine Gelegenheit, um zu trinken und zu lärmen. Sie zündeten Lampions an, veranstalteten Fackelzüge, feierten Tanzfeste an allen Straßenecken. Drei glorreiche Tage herrlicher Bestialität mit saftigen Saufereien, Streitigkeiten, Raufereien, Messerstechereien, schrillen Schreien brünstiger Weiber als Abschluß ... Danach kam eine Überschwemmung der Irrenhäuser und – erschütternde Folge – ein ungewöhnliches Anwachsen der Geburten.
Der 14. Juli des Jahres 1935 wurde eine wirkliche Katastrophe, überall sprach man nur von den Entführungen. Man dachte an nichts anderes. Von der ersten Nacht an wurden bereits – hier und da unterstützt durch die Hitze und den Alkohol – Streitigkeiten mit tödlichem Ausgang gemeldet. Zahlreiche Tote wurden aufgelesen. Die liederliche Polizei erklärte ihre Ohnmacht. Das Haupt der Regierung entschloß sich daraufhin, den Ball der folgenden Nacht zu untersagen. Die verzweifelten Bürger erinnerten sich aber bei dieser Gelegenheit, daß ihre großen Ahnen – diese Riesen! – die Bastille zerstört hatten, und organisierten den Widerstand.
Die Nacht des 14. Juli war erfüllt von richtigen Feldschlachten zwischen der Menge, die darauf bestand, zu tanzen, und den Polizisten und Soldaten, die sich bemühten, sie zu zerstreuen. In Belleville mußte man, nach vergeblichen Aufforderungen, mit der blanken Waffe auf eine Volksmasse losgehen, die in der Hauptsache aus Frauen und Kindern bestand. Und plötzlich, ohne daß man verstehen konnte, wie es gekommen war, wälzte sich eine kompakte Masse von zerlumpten, rohen Geschöpfen, dunklen Schlupfwinkeln entstiegen, wie eine Flut über die Boulevards, bewaffnet mit Messern, Revolvern, alten Flinten, Werkzeugen und Knüppeln. Eine Flut, die auf ihrem Wege durch die zuströmenden Wellen der wutberauschten Menge anschwoll und alles plünderte. Diese Kohorten wandten sich dem Elysée-Palast zu, gleichsam einem Stichwort folgend.
Der verhängnisvolle Zusammenstoß ereignete sich in der Nähe der Madeleine-Kirche. Man hatte Maschinengewehre versteckt; Flugzeuge schwirrten düster über der brausenden Menge. Der alte Staatsmann, zynisch und zu allem bereit, hielt Wort. Er stellte die Ordnung wieder her.
Unter Schreien des Schmerzes und Entsetzens versuchte die Menge zu flüchten, dem Tod zu entrinnen. Maschinengewehrsalven. Hunderte von Leichen auf Bürgersteigen und Straßen. Verwundete erhoben sich, verstört, blutend, mit Gebärden des Wahnsinns. Die Überlebenden stürzten aufeinander, um zu entweichen, sich aneinanderklammernd, sich schlagend, beißend, zerreißend. Nach diesem einzigen Angriff, der die Zugänge zur Madeleine säuberte, erreichte die allgemeine Panik eine solche Stärke, daß alle diese Unglücklichen, durch Angst verwirrt, sich mit Füßen traten, gegenseitig töteten, um den Hieben der sie verfolgenden Polizisten zu entgehen.
Der sehr klare Himmel, sternenbesät, einem riesigen Knäuel bespickt mit Millionen von Stecknadelköpfen ähnlich, goß ein blasses Licht über diese Metzelei.
Einige Stunden danach senkte sich ein furchtbares Schweigen über die in Entsetzen getauchte Stadt.
*
Diese Vorfälle erfuhr ich erst später, denn seit einigen Tagen ging ich nicht mehr aus, von Widerwillen gepackt. Eines Abends hatte mich Juliette fiebernd und bedrückt angetroffen. Sie, nur sie allein war fähig, mich aufzurütteln. Durch sie erfuhr ich, daß die Regierung die Wände mit Aufrufen schmückte, die die Öffentlichkeit zur Ruhe ermahnten, die von den Zeitungen verbreiteten Tollheiten zurückwies und androhte, jede Straßenkundgebung mit allen Mitteln zu unterdrücken. »Ich werde die Unordnung keineswegs dulden«, versicherte der Ministerpräsident. Und die Zeitungen wurden strengstens ersucht, ihre Kommentare zu mäßigen und nur Tatsachen zu bringen, nichts als nackte Tatsachen, so wie es ihnen zukam.
Der Belagerungszustand stand unmittelbar bevor.
Da entschloß ich mich, aus dem Schneckenhaus meiner düsteren Gleichgültigkeit herauszutreten. Übrigens hatte ich gerade etwas Neues erfahren, wahrlich, keine große Sache; wenn aber meine Intuition mich nicht täuschte, war die Stunde der Vergeltung für mich gekommen. Diese »Neuigkeit« wurde mir harmlos von einer braven Frau anvertraut, die sich um meine Wirtschaft kümmerte und mir jeden Tag mein Essen und meine Zeitungen heraufbrachte. Die gute Seele hatte keine Ahnung von der Wichtigkeit, die die Nachricht für mich hatte.
Sie sagte in aller Ruhe:
»Mein Herr, haben Sie schon gehört? ... Vom jungen Hyazinth, dem Sohn der Gemüsefrau?«
»Dieser große, blonde Bursche?«
»Das is' er ... Sie wissen doch, er sollte gerade eine kleine Arbeiterin heiraten, sehr niedlich, meiner Seel! Die Hochzeit war schon festgesetzt. Aber heutzutage kann man keinem mehr trauen. Da hat nun der Bursche sich aus dem Staub gemacht, und weg is' er.«
Ich bebte.
»Weg ist er, sagen Sie? Wohin denn?«
»Kann man's wissen?« meinte die Frau achselzuckend. »Er ist fort und damit basta.«
»Fort? ...«
»Nun ja! ... Ohne irgend'ne Nachricht. Den kriegt keiner so bald.«
Sie hörte nicht auf, dieses Verschwinden zu kommentieren, und erklärte es mit dem Dazwischentreten irgendeiner sittenlosen Weibsperson ... Aber ich hörte nicht mehr zu. Ich nahm meinen Hut und stürzte zur Treppe.
»Gnä' Herr, wohin rennen Sie denn so? ... Gnä' Herr, soll ich dann Ihr Essen 'raufbringen? ... Hallo! Gnä' Herr! ...«
Ich war auf der Straße. Ich rief ein Auto.
»Zu den Boulevards, zum ›Abend‹, schnell!«
*
»Nanu, da sind Sie ja. Geht's Ihnen nun besser?«
»Mein lieber Chefredakteur, ich war in der Tat sehr krank, todkrank ... Ach! Diese Schweine! Wie sie mich gequält haben! Diesmal aber hab' ich sie erwischt ... Wartet nur, Kerle! Ich werd' euch was pfeifen!«
»Beruhigen Sie sich, mein Alter ... Sie haben wohl noch Fieber?«
»Ach, was geht mich mein Fieber an? Was geht mich all das an, was man so 'rumgeredet hat. Ich hab' meine Rache in der Hand, das ist nun mal sicher. Ach, meine lieben Kollegen, wahrhaftig, die Freimaurer sind es, die die Priester auffressen, und meine Geschichte vom geheimnisvollen Gelehrten ist ungereimtes Zeug, an den Haaren herbeigezogen! Und der Sohn der Gemüsefrau? Was fangen Sie mit dem Sohn der Gemüsefrau an? ...«
»Welche Gemüsefrau? Welcher Sohn?«
Ich nahm all meine Kraft zusammen, um mich zu beherrschen, was mir nicht ohne Mühe gelang. Ruhiger geworden, erklärte ich:
»Nun denn. Einer meiner Nachbarn, ein junger Mensch von sechsundzwanzig Jahren, groß, blond, prachtvoll gebaut, der gerade ein junges Mädchen, das er anbetete, heiraten wollte, ist soeben verschwunden. Niemand weiß, wo er steckt, wo er sich verbirgt. Ebensowenig weiß man die Beweggründe seiner Flucht, wenn es überhaupt eine Flucht ist. Ich aber, ich habe die Sicherheit, verstehen Sie, die Sicherheit, daß dieser unvorhergesehene Zwischenfall eng mit all den anderen zusammenhängt.«
Der Chefredakteur zupfte an seinem kurzen Schnurrbart, überlegte:
»Sie mögen wohl recht haben. Immerhin, man darf sich nicht verrennen ... Bringen Sie diese Geschichte, ohne zu sehr darauf einzugehen ... Was denn? ... Schon wieder? ... Dieses Telephon bringt einen um.«
Er ergriff den Hörer.
»Was! Wie meinen Sie? Nanu! Das ist ja noch schöner! ... Wie? ... Er kam aus der Kaserne ... jawohl, ich verstehe ... die Familie vermutet eine Entführung ... Gut. In Ordnung.«
Er sah mich mit großen Augen an.
»Mein lieber Doucet, ich glaube in der Tat, Sie sind auf der richtigen Fährte. Da ist schon wieder einer weg, dieses Mal ein Soldat, ein Urlauber. Die Eltern versichern, daß dieser berüchtigte Kerl, Ihr Gelehrter, Ihr eingebildetes oder wirkliches Wesen – ich kenn' mich nicht mehr aus – die Hand dabei im Spiele hat. Auf jeden Fall haben wir nun zwei Laienfälle. Die Priester sind überholt. Machen Sie nur, mein Lieber ... Machen Sie mir 'nen pikfeinen Salat daraus.«
Er rieb sich die Hände, freudig. Was mich betraf, so fühlte ich, wie mir eine Blutwelle ins Gehirn schoß. Ich stürzte in den Redaktionssaal und wühlte in meiner Korrespondenz herum, die sich während meiner Abwesenheit angehäuft hatte. Nichts Besonderes. Leser, die empört waren. Lauter Ratschläge. Beschwerden. Plötzlich aber stieß ich einen Schrei der Überraschung aus.
Ich glaubte, die Schrift zu erkennen. Ich riß den Umschlag auf, hastig, und zog ein gefaltetes Blatt Papier heraus, das diese einfachen Zeilen enthielt:
»Sie haben meinen Brief veröffentlicht. Sie haben einen Fehler begangen. Nehmen Sie sich in acht!
Der Unbekannte Gelehrte.«
Ein leichter Schauer fuhr mir den Rücken entlang, stieg bis zu den Schultern. Dann überkam mich Zorn. Hanswurst oder nicht, Gelehrter, Verbrecher, Spaßmacher oder Gegner, wir werden schon sehen. Ich bin nicht der Kerl, der sich durch Drohungen einschüchtern läßt.
Und ich schrieb diesen Wisch, der mich rehabilitieren, der diese Trottel zum Schweigen bringen sollte. Ich erzählte darin die zweifache Entführung der beiden jungen Leute, von denen einer Soldat war, und fragte zum Schluß ironisch: »Sollten es etwa jetzt die Priester sein, die die Ungläubigen auffressen?« Dieses Wort war unerhofft glücklich. Man wiederholte es in ganz Paris, von einem Ende bis zum anderen. Und das genügte, um den Umschwung der Meinung herbeizuführen, auf den ich rechnete.
Bald kamen neue Entführungen zu den alten. Manches Mal gab es aber auch Mißgriffe. Einige der Verschwundenen wurden in reizender, galanter Begleitung erwischt. Die allgemeine Furcht nahm aber durch diese Zwischenfälle nicht ab. Wie viele unsinnige Hypothesen wurden da losgelassen! Bald trat wieder die Idee einer unersättlichen Messalina auf; bald sprach man von einer Menschenfresserhorde. Der Polizeipräsident ließ Mahnungen anschlagen: »Junge Männer, seid auf der Hut! Folgt nicht blindlings der erstbesten Abenteurerin!« Denn jeder hatte sich in den Kopf gesetzt, daß der Urheber dieser unerklärlichen Entführungen ein Bataillon von Unterröcken beschäftige, um die Unbesonnenen anzulocken. Und immerfort, in allen Blättern, auf allen Lippen, die gleiche Frage: »Was macht er mit ihnen?« ER, der Minotaurus, das Wunderwesen, der Raubgelehrte, das X des Problems! Tötete er die jungen Leute? Fraß er sie? Labte er sich an ihrem Blut? All der Blödsinn der vergangenen Monate, die gegen die Freimaurer, gegen die Juden, gegen die Deutschen erhobenen Anschuldigungen, verflüchtigten sich wie Rauch, weggefegt durch den Windstoß der Angst, der alle Stirnen beugte, alle Herzen erstarrte.
Da war es, daß ich das Wort fand, die Bezeichnung, die bleiben sollte, das blutige Beiwort, das am Monstrum haftenblieb. »Fraß er sie?« fragte man. Ich antwortete: »Ja!« Und schrie: »UGOLIN!«
Ugolin! ... Ugolin! ... Diese drei Silben wurden in ganz Frankreich wiederholt, überschritten die Landgrenzen. O Dante! O Dichter! Der Tyrann von Pisa, der Ausgehungerte aus Gualandi, der seine Kinder frißt, um ihnen einen Vater zu erhalten, entstieg der Fabel, richtete sich auf, finster und höhnisch, über die entsetzte Menschheit ... Ja, das war es wohl. Der unbekannte Gelehrte, Ugolin, vertieft in fürchterliche und gemeingefährliche Untersuchungen, mit hochgestreiften Hemdsärmeln über haarigen Armen, mit seinem unerbittlichen Seziermesser das gequälte Fleisch durchwühlend. Ugolin! Ugolin! Menschenschlucker! Lebenszerstörer! Ein Witzblatt wollte ihn darstellen mit scheußlichen Zügen, den Mund von krampfhaftem Lachen gespalten, die Augen von grausamer Freude gekräuselt, auf einem Trümmerhaufen von Gebeinen und Fleisch hockend, sich bückend über blutige Massen von Schienbeinen, Schenkeln, rauchenden Gedärmen ... Gräßliche Zeichnung, mit leuchtendem Rot getönt. Die Zensur griff ein, ließ das Blatt beschlagnahmen, verbot, das allgemeine Entsetzen noch zu vergrößern.
Ach! Es war nicht mehr die Rede von Kundgebungen und Aufruhr. Die politischen Parteien begegneten sich in ihrer Angst. Ganz Paris und hinter ihm die Provinz lebten in einer Art finsterer Beklemmung, in einer zerreißenden und bedrückenden Angst vor irgendeiner unvermeidlichen, nahen Tragödie.
Da – oh! Sobald ich an diese seit Jahren und Jahren angesammelten Dinge rühre und mich so weit zurückversetzt fühle, kann ich mich eines schmerzlichen Krampfes nicht erwehren – da ereignete sich, im Augenblick, da niemand darauf gefaßt war, etwas »Neues«, etwas grausam Neues, so unvorhergesehen, daß alle die Fassung verloren. Man fand, ganz einfach, einen der verschwundenen Pfarrer. Man fand ihn wieder auf dem kleinen Platz vor der Kirche, friedlich auf einer Bank unter den staubigen Kastanienbäumen sitzend. Das geschah eines Morgens, ganz früh, in Issy-les-Ternes, an den Ufern der Seine. Eine Hausfrau, die gerade ihre Tür, die auf den kleinen Platz ging, öffnete, bemerkte eine dunkle Gestalt auf einer Bank. Sie näherte sich langsam, ein bißchen ängstlich, dann stieß sie einen Schrei des Erstaunens und Schreckens aus und bekreuzigte sich.
»Jesus Maria! Ist das möglich?«
Hastig fuhr sie fort, sich zu bekreuzigen, indem sie andauernd Gebete vor sich hinmurmelte. Die dunkle Gestalt rührte sich nicht. Sie blickte die alte Frau mit sehr sanften Augen, aber mit einem seltsamen Blick an, mit einem Blick, der nichts sah.
»Herrgott! ... Der Du bist im Himmel! ...«
Ein städtischer Straßenkehrer, den das Treiben der Alten sowohl belustigte als auch beunruhigte, näherte sich gleichfalls. Er fuhr plötzlich auf:
»Aber das ist ja der Abbé Carol!«
Alle beide, der Mann und die Frau, blieben verdutzt, ratlos vor dem Priester, der unbestimmt lächelte. Schließlich legte ihm der städtische Straßenkehrer die Hand auf die Schulter:
»Nanu! Herr Pfarrer, wo kommen Sie denn so daher?«
Der Priester wackelte mit dem Kopf, lächelte wieder, stammelte:
»Weiß nicht!«
»Sie sind doch wohl nicht krank?«
»Weiß nicht!«
»Sie müssen aber Hunger haben?« sagte die alte Frau.
»Weiß nicht!«
*
Mehr konnte man nicht aus ihm herauskriegen. Man führte ihn, und er folgte willig, ohne den geringsten Widerstand, zum Rathaus. Man befragte ihn. Er hörte nicht auf, seine Augäpfel von rechts nach links zu verdrehen, mit dem gleichbleibenden Lächeln auf den Lippen, dem Blick, der nichts zu sehen schien. Unermüdlich antwortete er:
»Weiß nicht!«
Ein Arzt horchte ihn ab, registrierte seinen Pulsschlag, ließ ihn die Zunge zeigen und stellte schließlich fest: Gedächtnisschwund, wahrscheinlich durch eine starke moralische Erschütterung hervorgerufen. Ein anderer Arzt ließ ihn sich ausziehen, untersuchte ihn von Kopf bis Fuß, legte sein Ohr an das Herz des Patienten. Dann verkündete er – unumstößlich –, daß der Unglückliche an allgemeiner Paralyse litte. Glücklicherweise kam eine bejahrte Dame hinzu, erklärte, sie wäre die Mutter des armen Teufels; nahm ihren Sohn mit sich und verschloß den Neugierigen und den Journalisten die Tür.
Diese unerhoffte Rückkehr, die sich unter solchen überraschenden Umständen ereignete, vergrößerte die Verwirrung in der Öffentlichkeit. Man begriff nichts mehr. Was sollte diese ganze Geschichte bedeuten, in der das Komische ans Tragische grenzte? In den folgenden Tagen wurde es noch schlimmer. Schlag auf Schlag erschienen zwei Priester wieder. Und genau so wie beim ersten, dem Abbé Carol, war es nicht möglich, etwas von ihnen zu erfahren. Alle steckten ekstatische Mienen auf, betrachteten die Leute mit ihren sehr sanften Augen, antworteten nur einsilbig, als hätten sie den Gebrauch der Sprache verloren. Vergeblich befragte, sondierte, studierte man sie aufmerksam. Man fand nichts an ihnen, was geeignet war, das seltsame Abenteuer zu erklären. Das sah schon fast nach Posse aus. Das unnütze Geschwätz begann von neuem. Man flüsterte sich hier und da zu, daß diese würdigen Geistlichen ein tolles Ding gedreht haben dürften.
Währenddessen ereignete sich die Wiederauferstehung von drei weiteren Priestern im Verlaufe einiger Tage. Man fand sie in ihrem Kirchspiel wieder, unweit der Kirche oder ihrer Wohnung. Und gleichzeitig verschwanden vier junge Männer von fünfundzwanzig bis achtundzwanzig Jahren ins Leere. Man hätte sagen mögen, der grausige und humorvolle Gebieter, der im Dunklen wirkte, spiele mit der öffentlichen Neugierde und dosiere geschickt seine Effekte.
Zur Zeit, da ich diese Zeilen schreibe, bemühe ich mich, den Geisteszustand der öffentlichen Meinung diesen umstürzenden Erscheinungen gegenüber zu beschreiben und zu untersuchen. Es scheint mir, daß eine Welle der Bestürzung jeden Scharfblick ertränkte. Man machte sich die offenbarsten Flausen vor. Es ging so weit, daß ein gelehrter Arzt in einer unserer größten Tageszeitungen ungehindert behaupten konnte, die auf seltsame Weise wiedergefundenen Verschwundenen wären Opfer einer Art von Bazillus, der sie zur Flucht und Verstellung trieb – der Fluchtokokkus – . Nach seiner Meinung flohen die Individuen, die von diesem seltsamen Übel befallen waren, versteckten sich vor allen Blicken, entgingen mit einer wundersamen Geschicklichkeit allen Nachforschungen, um erst zurückzukehren, nachdem sie ihres Verstandes und ihres Gedächtnisses beraubt waren. Diese Behauptung aber fand nicht den mindesten Glauben. Ich nahm mir die Mühe, sie durch einige ironische Sätze zurückzuweisen, indem ich den allzu erfinderischen Doktor fragte, ob die Bankeinbrüche gleichfalls durch das Mikrobenwunder erklärt werden könnten.
Trotz allem war ich verblüfft. Nach und nach befreite ich mich von allen Mutmaßungen. Sicher blieb für mich nur, daß der Feind, nachdem er seine bejammernswerten Opfer zu gräßlichen Zwecken mißbraucht hatte, sie wie verdorrte Früchte auf die Straße warf. Und ich fuhr mich in höchst willkürliche Vermutungen fest. Wieder einmal war es Juliette, die, offenbar leidenschaftlich interessiert für diese Art von Rätsel, mich auf die richtige Spur brachte:
»Man müßte all diese Zurückgekehrten einer viel genaueren Prüfung unterziehen, ihren Körper bis in die geheimsten Winkel untersuchen. Nur so wird man etwas finden. Da liegt der Schlüssel, nirgendwo anders.«
Während sie diese Meinung in ungezwungenem Ton formulierte, hatte sie ihre Lider geschlossen, als fürchtete sie, ich könnte in ihren Augen lesen. Es gelang ihr aber nicht, den Spott zu verbergen, der ihre Mundwinkel kräuselte. Und – soll ich es zu meiner Schande gestehen – mir wurde unheimlich vor dieser zierlichen Frau, vor diesem Wesen von köstlicher Schwäche, dessen übernatürlicher Scharfblick mich in einen Abgrund von Demut und Angst stieß.
Ich schrieb einen starken und eindringlichen Artikel; forderte, daß man von neuem die wiedergefundenen Priester untersuchen solle, und zwar peinlich genau, durch die Radiographie, durch alle wissenschaftlichen Verfahren, über die man verfügte. Ich hatte die Genugtuung, festzustellen, daß alle meine Kollegen mir zustimmten. Man hatte genug von diesen niederdrückenden und herausfordernden Rätseln. Man verlangte Klarheit. Man wollte wissen.
*
Bald wußte man, leider! Man wußte. Und was man erfuhr, war so verwirrend, so anders als alles, was man geträumt, gedacht, sich vorgestellt hatte, daß eine Welle des Entsetzens über die armen Geschöpfe hereinbrach, die seit Monaten so viele Qualen erduldet hatten. Es gab Fälle plötzlichen Wahnsinns. Etliche begingen Selbstmord. Ein Familienvater warf seine drei Kinder aus dem vierten Stock auf die Straße hinunter und sprang dann selbst hinab. Ein anderer tötete in grausamer Weise seine Frau durch Messerstiche. Er zerschnitt ihr die Brust und brüllte, er wäre der Stellvertreter Ugolins auf Erden ... Entsetzliche Raserei!
Hier sind aber die Tatsachen, nichts als die Tatsachen, so wie man sie in ihrer ganzen Brutalität erfuhr. Sechs von den sieben verschwundenen Priestern waren wiedererschienen. Man bemächtigte sich ihrer, man zog sie vollkommen aus, man untersuchte sie eingehendst. Man studierte die Geographie ihres Körpers von oben nach unten. Und man sah! ... Nun, man sah:
Zunächst, am Nackenansatz, unter den Haaren, hatten alle einen winzigen rosa Punkt, der wie ein Safrantropfen aussah. Rings um diesen Punkt keine Entzündung, nicht die mindeste andere Spur. Man bewaffnete sich mit Mikroskopen, die aber nichts Positives ergaben. Es sei denn, daß jeder der Priester am Nacken den gleichen Stich, von unten nach oben gerichtet, aufwies, scheinbar von dem gleichen Instrument herrührend.
Dies alles war aber nichts, absolut nichts, gemessen an dem, was man fast gleichzeitig entdeckte. Dr. Hispa war es, der Chefarzt des Spitals Cochin, der als erster die erschütternde Feststellung machte. Er neigte sich über den vollkommen nackten Körper eines der Patienten, als er sich mit einem Ruck wieder aufrichtete, einen Schrei des Entsetzens ausstieß, die Augen von ungeheurem Grauen und Bestürzung geweitet. Er zeigte mit dem Finger auf eine bestimmte Stelle des Körpers, wo er soeben etwas erblickt hatte. Was? Man wußte es nicht. Er hatte gerade noch die Kraft, zu stammeln:
»Da ... Da ...«
Da, man möge mir verzeihen, war das Geschlechtsorgan. Ich muß wohl schon die Dinge mit ihrem richtigen Namen benennen. Eine geringfügige, kaum merkliche Narbe ging rings um den Skrotum. Und dieser Skrotum selbst war runzlig, zusammengeschrumpft, welk, einem ausgeblasenen Luftballon ähnlich, seines Inhalts beraubt.
Man stürzte sich auf die anderen Priester. Voller Eifer bückte man sich von neuem. Alle waren im gleichen Zustand. Alle zeigten an der gleichen Stelle die gleiche unscheinbare Naht, die von der grauenhaften Operation zeugte.
Die Unglückseligen waren kastriert. Unmöglich, es zu leugnen. Sie waren kastriert.
Ach! Nun erst verstand man ihren sonderbaren Stumpfsinn, ihre verzückten, blicklosen Augen, ihr einfältiges Lächeln! Man begriff nun, daß der Täter, um sein verabscheuungswürdiges Verbrechen zu vollenden, ihnen mit Hilfe dieses unerklärlichen Stichs am Nacken jedes Erinnerungsvermögen genommen, jede Vernunft in ihnen zerstört hatte.
Kastriert! Die armen Teufel waren kastriert!
Das unvorstellbare Wesen, der im Dunkeln geduckte Tunichtgut, der Minotaurus, nahm junge Männer, blühend und voller Kraft. Und schickte uns Kastraten zurück.
Er brachte in ihnen jede Kraftquelle zum Versiegen, erdrosselte jeden Willen. Traurige Geschöpfe, denen er gierig den ganzen Lebenssaft entzogen hatte, aus denen er schwache, haltlose, frühe Greise machte.
*
»Du siehst,« flüsterte Juliette mir zu, »ich hab's gleich gewußt. Weißt du, mein Liebling, ich hab' mal irgendwo gelesen, in irgendeinem Buch, daß es so ein besonderes Laster gibt, eine widerwärtige, sexuelle Perversion, die manche Anormale dahin bringt, daß ...«
Sie näherte sich noch ein wenig mehr meinem Ohr.