Prosper Mérimée
Die etruskische Vase
Prosper Mérimée

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Auguste Saint-Clair war in der sogenannten großen Welt nicht gerade beliebt; hauptsächlich aus dem Grunde, weil er nur den Leuten zu gefallen suchte, die ihm selber gefielen. Er pflegte den Umgang mit den einen und hielt sich fern von den andern. Im übrigen war er zerstreut und lässig. Eines Abends, als er aus dem Italienischen Theater kam, fragte ihn die Marquise A***, wie Mademoiselle Sontag gesungen habe. »Ja, gnädige Frau«, antwortete ihr Saint-Clair mit verbindlichem Lächeln und war mit seinen Gedanken bei ganz anderen Dingen. Diese lächerliche Antwort war unmöglich als Schüchternheit auszulegen; denn er sprach mit einem großen Herrn, mit einem bedeutenden Manne und sogar mit einer Dame von Welt in genau der selbstsicheren Art, wie wenn er sich mit seinesgleichen unterhalten hätte. – Die Marquise entschied, Saint-Clair sei ein seltenes Muster von Frechling und Snob.

Madame B*** lud ihn eines Morgens zum Diner ein. Sie richtete häufig das Wort an ihn; und beim Weggehen bekannte er, nie einer liebenswürdigeren Frau begegnet zu sein. Madame B*** sammelte gern vier Wochen lang bei andern Geist, um ihn dann auf einer ihrer Abendgesellschaften um sich zu versprühen. Saint-Clair sah sie am Donnerstag derselben Woche wieder. Diesmal langweilte er sich etwas. Ein weiterer Besuch bestimmte ihn, in ihrem Salon nicht wieder zu erscheinen. Madame B*** bekundete überall, Saint-Clair sei ein junger Mann ohne Manieren und von unmöglichstem Ton.

Er hatte ein zärtliches und liebevolles Herz ins Leben mitbekommen; aber in einem Alter, in dem man nur zu leicht in sich Eindrücke aufnimmt, die für immer haftenbleiben, hatte ihm seine allzu überschwengliche Gefühlsseligkeit die Hänseleien seiner Jugendgenossen zugezogen. Er war stolz und ehrgeizig; dabei behielt er einen Eigensinn, wie die Kinder ihn an sich haben. Hinfort ließ er es sich eifrigst angelegen sein, alle äußeren Zeichen dessen, was er für so etwas wie eine schimpfliche Schwäche ansah, zu verbergen. Er erreichte sein Ziel; aber sein Sieg kam ihm teuer zu stehen. Er verstand die Kunst, den andern die Regungen seiner allzu empfindsamen Seele zu verhehlen; aber dadurch, daß er sie in sich verschloß, wurden sie nur hundertmal peinigender für ihn selbst. In der Gesellschaft gelangte er in den traurigen Ruf eines empfindungslosen und um nichts besorgten Menschen; und in der Einsamkeit schuf ihm seine ruhelose Einbildungskraft um so entsetzlichere Qualen, als er dies Geheimnis niemandem anvertrauen wollte.

Einen Freund zu finden ist schwer! Das ist wahr.

Schwer! Ist es überhaupt möglich? Hat es je zwei Menschen gegeben, die voreinander kein Geheimnis gehabt hätten? – Saint-Clair glaubte nicht recht an Freundschaft, und das war zu merken. Man fand ihn kalt und zurückhaltend im Verkehr mit seinen Altersgenossen. Nie fragte er sie über ihre Geheimnisse aus, und für sie blieben alle seine Gedanken und die meisten seiner Handlungen ewige Rätsel. Die Franzosen sprechen oft und gern von sich selber; daher war denn Saint-Clair auch, ohne sein Zutun, Mitwisser einer Menge vertraulicher Mitteilungen. Seine Freunde – damit seien hier einmal die Menschen bezeichnet, die wir zweimal wöchentlich zu sehen bekommen – beklagten sich über sein Mißtrauen ihnen gegenüber; es ist immer wieder so: Wer uns ungefragt sein Geheimnis mitteilt, ist gewöhnlich beleidigt, wenn er nicht das unsre erfährt. Auch das Ausplaudern, bildet man sich ein, muß auf Gegenseitigkeit beruhen.

»Er ist zugeknöpft bis obenhin«, äußerte eines Tages der schöne Rittmeister Alphonse de Thémines. »Ich könnte nie das mindeste Zutrauen haben zu diesem verteufelten Saint-Clair.«

»Ein bißchen was Jesuitisches steckt in ihm, meine ich«, versetzte Jules Lambert. »Mir hat jemand gesagt, er könne beschwören, Saint-Clair zweimal dabei erwischt zu haben, wie er aus Saint-Sulpice herausgekommen sei. Niemand weiß, was er denkt. Mir kann nie so recht wohl werden im Umgang mit ihm.«

Sie trennten sich. Auf dem Boulevard Italien stieß Alphonse auf Saint-Clair, der gesenkten Hauptes und ohne jemanden zu sehen daherkam. Alphonse hielt ihn an, nahm ihn beim Arm, und ehe sie noch bis zur Rue de la Paix gelangt waren, hatte er ihm die ganze Geschichte von seinem Techtelmechtel mit Madame *** ausgepackt, deren Mann solch ein eifersüchtiger Kerl und Rohling sei.

Am selben Abend wurde Jules Lambert sein Geld beim Ecarté-Spiel los. Er stürzte sich in den Tanztrubel. Dabei rempelte er leicht einen Herrn an, der wie er sein ganzes Geld verspielt hatte und reichlich übler Stimmung war. Ein paar spitzige Bemerkungen herüber und hinüber – Duellforderung. Jules bat Saint-Clair, sein Sekundant zu sein, und borgte ihn bei dieser Gelegenheit um Geld an, das er bis heute vergessen hat, ihm zurückzugeben.

Alles in allem war Saint-Clair ein Mensch, mit dem sich ziemlich leicht auskommen ließ. Seine Fehler schadeten einzig ihm selbst. Er war verbindlich, oft liebenswürdig, selten langweilig. Er hatte sich in der Welt umgesehen, war sehr belesen und sprach von seinen Reisen und Bücherkenntnissen nur, wenn man ihn darum anging. Im übrigen war er hochgewachsen und gut gebaut; seine Gesichtszüge waren edel und geistvoll, fast stets zu ernst; doch sein Lächeln war offen und voll Wohlwollen.

Eine bedeutsame Einzelheit habe ich noch außer acht gelassen. Saint-Clair war aufmerksam gegenüber allen Frauen und bemühte sich mehr um das Geplauder mit ihnen als um ein Gespräch mit Männern. Liebte er? Das war schwer zu entscheiden. Wenn dies so kalte Wesen überhaupt Liebe empfand, war so viel klar, daß als die Dame seines Herzens wohl die hübsche Gräfin Mathilde de Coursy in allerengste Wahl kommen müsse. Das war eine junge Witwe, bei der man ihn oft genug sah. Auf ein vertrauteres Verhältnis der beiden durfte man aus folgenden Mutmaßungen schließen: Zunächst einmal war da Saint-Clairs nahezu abgemessene Höflichkeit für die Gräfin und umgekehrt; dann weiter seine Beflissenheit, nie ihren Namen in der Gesellschaft über die Lippen zu bringen; oder aber, mußte er ihn unbedingt nennen, dann ohne das mindeste Lob; des ferneren: ehe Saint-Clair sie zu Gesicht bekommen hatte, ging er ganz in der Musik auf, und die Gräfin hatte eine gleich tiefe Neigung für die Malerei. Seit sie sich kennengelernt hatten, war ein Wechsel in ihren Neigungen zu bemerken. Und zu guter Letzt: als im vergangenen Jahre die Gräfin eine Badereise machte, war Saint-Clair kaum eine Woche nach ihr auch verreist . . .

 

Meine Aufgabe als Erzähler erlegt mir die Verpflichtung auf, weiterzuberichten, daß in einer Julinacht, kurz vor Sonnenaufgang, sich die Pforte zum Park eines Landhauses öffnete und aus ihr ein Mann mit all der Vorsicht trat, wie sie ein Dieb wahrt, der überrascht zu werden fürchtet. Dies Landhaus gehörte der Gräfin de Coursy, und dieser Mann war Saint-Clair. Eine in einen Pelz gehüllte Frauengestalt geleitete ihn bis zur Tür und neigte ihren Kopf weit vor, um ihm noch länger nachblicken zu können, während er den Fußpfad hinab davonschritt, der längs der Parkmauer hinführte. Saint-Clair hielt inne, sah sich nach allen Seiten um und winkte der Nachschauenden zu, sich zurückzuziehen. Die helle Sommernacht ließ ihn deutlich ihr blasses Gesicht erkennen, das immer noch auf derselben Stelle verharrte. Er ging die wenigen Schritte zurück, zu ihr hin und schloß sie zärtlich in seine Arme. Er wollte sie bewegen, hineinzugehen; aber er hatte ihr noch hundert Dinge zu sagen. Ihr Geplauder währte bereits zehn Minuten, als die Stimme eines Bauern vernehmlich wurde, der an sein Tagewerk ging. Schnell wird ein Kuß getauscht; dann fällt die Tür ins Schloß, und Saint-Clair ist mit einem Satze am Ende des Fußsteigs.

Er überließ sich einem Wege, der ihm anscheinend wohlvertraut war. Bald sprang er fast übermütig hoch und stürmte voran, während er mit seinem Spazierstock auf die Sträucher einhieb; bald blieb er stehen oder schritt gemächlich dahin, indes er zum Himmel hinaufsah, der im Osten sich purpurn färbte. Kurz, wer seiner ansichtig geworden wäre, hätte ihn für einen Verrückten halten müssen, der überselig war, aus seiner Zelle ausgebrochen zu sein. Nach einer halben Stunde Weges war er an der Tür eines abgelegenen kleinen Hauses, das er für den Sommer gemietet hatte. Er drehte den Schlüssel im Schloß um und trat ein; dann warf er sich auf ein bequemes Kanapee und gab sich da, mit starr in die Ferne gerichtetem Blicke und einem süßen Lächeln auf den Lippen, dem Sinnen hin; er träumte mit offenen Augen. Seine Einbildungskraft zauberte ihm die holdseligsten Bilder und Gedanken vor. »Wie glücklich bin ich!« sagte er sich aller Augenblicke. »Endlich habe ich es gefunden, dies Herz, das meines ganz erfühlt . . .! – Ja, mein Wunschbild ist für mich Wirklichkeit geworden . . .! Ich habe in einem Wesen Freund und Geliebte gewonnen . . . Welch menschlicher Charakter . . .! Was für eine leidenschaftliche Seele . . .! Nein, vor mir hat sie noch nie geliebt . . .« Und bald, wie sich denn die Eitelkeit immer in alle irdische Dinge mit einschleicht, kam er darauf: »Sie ist doch die schönste Frau von Paris.« Und seine Einbildungskraft hob ihm von neuem all ihren Liebreiz bis in den kleinsten Zug vor Augen. – »Unter allen hat sie mich erwählt. Die Löwen des Salons hatte sie zu Bewunderern: den Husarenoberst, diesen schönen, schneidigen und – gar nicht so fexigen Mann; dann den jungen Künstler, der so schöne Aquarelle malt und der das Leben so ausgezeichnet auf die Bühne stellt; dazu den russischen Lovelace, der den Balkan gesehen hat und der unter Diebitsch mit dabeigewesen ist; vor allem aber Camille T***, der bestimmt Geist, ein feines Benehmen und einen prachtvollen Säbelhieb auf der Stirn hat . . . Allen hat sie einen Korb gegeben. Und ich . . .!« Damit war er wieder auf seinen alten Kehrreim gekommen: »Wie glücklich bin ich! Wie glücklich bin ich!« Und er erhob sich und machte das Fenster auf, denn die Brust wurde ihm eng; dann wandelte er auf und ab im Zimmer; danach warf er sich wieder auf dem Kanapee hin und her.

Ein glücklicher Liebhaber ist fast so langweilig wie ein unglücklicher. Ein Freund von mir, der sich bald in dem einen, bald in dem andern dieser beiden Zustände befand, hatte sich keinen besseren Rat gewußt, seinem übervollen Herzen Luft zu machen, als mir ein ausgezeichnetes Gabelfrühstück jeweils vorzusetzen, währenddessen er sich nach Herzenslust über seine Liebesangelegenheiten auslassen durfte; nach dem Kaffee war jedoch unbedingt die Unterhaltung auf andere Dinge zu bringen.

Da ich nicht allen meinen Lesern ein Gabelfrühstück geben kann, will ich sie auch mit den Liebesgedanken Saint-Clairs im einzelnen verschonen. Überdies kann man nicht fortwährend im siebenten Himmel schweben. Saint-Clair war müde; er gähnte, reckte die Arme und sah, daß es schon hellichter Tag geworden war; es war Zeit, endlich ans Schlafen zu denken. Als er wieder munter wurde, sah er an der Uhr, daß ihm kaum mehr als ein paar Minuten zum Ankleiden blieben, um noch schnellstens nach Paris hineinzukommen, wo er zu einem Sektfrühstück mit etlichen Altersgenossen aus seinem Bekanntenkreise eingeladen war . . .

Man hatte gerade eine neue Flasche Champagner entkorkt; die wievielte es war, überlasse ich den Leser festzustellen. Ihm möge der Hinweis genügen, daß der Augenblick da war, der bei einem Junggesellenfrühstück ebenfalls ziemlich früh sich einzustellen pflegt, wo alle auf einmal reden wollen und die noch klareren Köpfe für die bereits umnebelten Gemüter Besorgnis zu empfinden anfangen.

»Ich wünschte«, hub Alphonse de Thémines an, der sich nie eine Gelegenheit, von England zu reden, entgehen ließ, »ich wünschte, es wäre in Paris wie in London Mode, daß jeder einen Toast auf seine Angebetete ausbringt. Auf diese Weise würden wir haargenau darüber ins Bild gesetzt, wen unser Freund Saint-Clair anschmachtet.« Und während er das sagte, füllte er sein und seiner Nachbarn Glas neu.

Leicht verlegen wollte Saint-Clair etwas darauf erwidern; aber Jules Lambert kam ihm zuvor:

»Diesen Brauch finde ich höchst geschmackvoll«, sagte er, »und ich greife ihn hiermit auf«; und indem er sein Glas erhob, rief er: »Auf alle Modistinnen von Paris – mit Ausnahme der über Dreißig, der einäugigen, hinkenden und so weiter . . .

»Hurra! Hurra!« schrien begeistert alle jungen Englandschwärmer.

Saint-Clair erhob sich mit dem Glas in der Hand.

»Meine Herren«, sagte er, »ich habe kein so weites Herz wie unser Freund Jules, dafür aber ein etwas beständigeres. Und meine Standhaftigkeit ist um so löblicher, als ich seit langem von der Dame meines Herzens getrennt bin. Was es damit auch auf sich habe, ich bin mir sicher, Sie gönnen mir meine Auserwählte, wofern Sie nicht etwa gerade dabei sind, mir bei ihr den Rang abzulaufen. Auf Judith Pasta, meine Herren! Möchten wir Europas erste tragische Künstlerin doch in Bälde wiedersehen!«

Thémines wollte Einwände gegen den Trinkspruch erheben; aber der allgemeine Beifallssturm schnitt ihm das Wort ab. Mit der Abwehr dieses Stoßes glaubte Saint-Clair sich für den weiteren Tagesverlauf aus der Affäre gezogen zu haben.

Die Unterhaltung stürzte sich zunächst auf die Theaterereignisse. Von der Theaterzensur kam man auf die Politik zu sprechen. Von Lord Wellington ging man auf die englischen Pferde über und von den englischen Pferden schließlich, durch eine leichte Gedankenverbindung, zu den Frauen; denn für junge Leute sind zuvörderst ein schönes Pferd und sodann eine hübsche Liebste die beiden begehrenswertesten Dinge.

Danach verbreitete man sich über die Mittel und Wege, an diese so erstrebenswerten Dinge heranzukommen. Pferde lassen sich erhandeln, Frauen sind gleichfalls für Geld zu haben; aber von dieser Gattung soll hier nicht weiter die Rede sein. Nach einem bescheidenen Hinweis auf seine geringe Erfahrung in so delikaten Angelegenheiten vertrat Saint-Clair den Standpunkt, die erste Bedingung, um Eindruck auf eine Frau zu machen, bestehe darin, daß man etwas Besonderes an sich habe und anders sei als die anderen. Gibt es aber eine allgemeingültige klare Formel für das Eigenartige? Er glaube: nein.

»Ihrem Empfinden nach«, gab Jules ihm Bescheid, »hat denn wohl einer mit einem längern und einem kürzern Bein oder mit einem Buckel mehr Aussichten, zu gefallen, als ein gradegewachsener und wie alle andern gebauter Mensch?«

»Sie übertreiben die Sache etwas reichlich«, erwiderte Saint-Clair, »aber wenn es denn sein soll, stehe ich für meine Behauptung in ihrer ganzen Tragweite ein. Wäre ich beispielsweise bucklig, dann würde ich mir deshalb nicht gleich eine Kugel in den Kopf jagen, sondern wollte vielmehr allerhand Eroberungen machen. Fürs erste würde ich mich nur an zwei Arten von Frauen halten, an solche, die ein echtes gefühlvolles Herz haben, oder an solche – und ihre Zahl ist groß –, die Anspruch darauf erheben, für eigenartig zu gelten, eccentric, wie man in England sagt. Den ersteren malte ich in den lebhaftesten Farben aus, wie scheußlich mein Dasein sei, wie grausam die Natur an mir handle. Ich würde es darauf anlegen, ihre Rührung über mein Los zu wecken; ich ließe die Ahnung in ihnen aufkeimen, ich wäre leidenschaftlicher Liebe fähig. Ich erledigte einen meiner Nebenbuhler im Duell und unternähme einen Selbstmordversuch mit einer schwachen Dosis Opiumtinktur. Nach ein paar Monden würde man meinen Höcker nicht mehr gewahr werden, und dann wäre es meine Angelegenheit, den ersten Schwächeanfall des gefühlvollen Herzens auszuspähen. Was die weiblichen Wesen angeht, die ihren Stich ins Besondere haben – da ist das Herumkriegen leicht. Setzt ihnen nur den Floh ins Ohr, es stehe unumstößlich fest, daß ein Buckliger kein Glück haben könne; sofort werden sie an die Widerlegung dieser unerhörten Verallgemeinerung gehen wollen.«

»Da habt ihr den Don Juan!« rief Jules.

»Brechen wir uns die Beine, meine Herrn!« riet der Oberst Beaujeu. »Wir, die wir das Pech haben, ohne Buckel auf die Welt gekommen zu sein.«

»Ich bin vollkommen der gleichen Ansicht wie Saint-Clair«, bekundete Hector Roquantin, der einen ganzen Meter fünfzehn groß war. »Man kriegt tagtäglich vor Augen geführt, wie die hübschesten und piekfeinsten Puppen sich an Kerle wegschenken, die Leute unsres Schlags als Mitbewerber gar nicht ernst nähmen . . .«

»Hector, ich bitte dich, steh auf und läute uns Wein 'ran«, sagte Thémines mit der natürlichsten Miene der Welt.

Der Kurzstämmige erhob sich, und jeder dachte dabei lächelnd wieder an die Fabel vom Fuchs, dem der Schwanz gestutzt ward.

»Ich für mein Teil«, nahm Thémines das Wort weiter, »sehe immer deutlicher, je mehr ich erlebe, daß ein leidliches Gesicht . . .« – dabei warf er einen wohlgefälligen Blick in den Spiegel ihm gegenüber –, »daß ein leidliches Gesicht und ein geschmackvoller Anzug den großen Reiz des Besonderen verleihn, der die Widerstrebendste in seinen Bann zieht . . .« Und er schnellte mit den Fingerspitzen ein Brotbrösel von seinem Rockaufschlag fort.

»Pah!« warf der zu kurz Geratene laut dazwischen. »Mit einer netten Visage und einem Maßanzug der Firma Staub angelt man weibliche Wesen, die man von Sonntag bis Samstag behält und die unsereinen beim zweiten Stelldichein schon anöden. Es gehört ganz was andres dazu, um sich lieben zu lassen, was man so lieben nennt . . . Da muß man . . .«

»Halt!« unterbrach ihn Thémines, »wollt ihr ein schlagendes Beispiel? Ihr habt alle den Massigny gekannt, und ihr wißt, was mit dem los war. Ein Benehmen wie ein englischer Stallknecht, geistreich wie sein Gaul . . . Aber schön war er wie Adonis, und seine Krawatte band er wie der Modekönig Brummell. Alles in allem der langweiligste Pinsel, der mir je vor Augen gekommen ist.«

»Ich war nahe daran, an seiner Langweiligkeit draufzugehn«, sagte der Oberst Beaujeu. »Stellt euch vor, daß ich einmal zweihundert Wegstunden in seiner Gesellschaft durchmachen mußte.«

»Wißt ihr denn«, fragte Saint-Clair, »daß er den armen Richard Thornton, den ihr alle gekannt habt, in den Tod getrieben hat?«

»Ja, aber«, hielt ihm Jules entgegen, »wissen Sie denn nicht, daß er von Wegelagerern in der Nähe von Fondi um die Ecke gebracht ist?«

»Das stimmt! Aber ihr werdet gleich sehen, daß Massigny mindestens mitschuldig war an der Untat. Eine Anzahl Italienbesucher, unter ihnen Thornton, waren sich einig geworden, bis nach Neapel gemeinsam zu reisen, weil ihnen wegen des Raubgesindels Besorgnisse kamen. Massigny wollte sich der Reisegesellschaft anschließen. Sowie Thornton davon erfuhr, machte er sich vor den andern auf und davon, voll Entsetzen, vermute ich, ein paar Tage in seiner Begleitung hinbringen zu müssen. Er reiste allein, und was sich noch ereignete, ist euch bekannt.«

»Thornton hatte Verstand«, sagte Thémines, »und wählte von zwei Todesarten die mildere. Jeder andere hätte an seiner Stelle ebenso gehandelt.« Dann nahm er nach einer Pause seinen Faden wieder auf:

»Ihr seid also mit mir einer Meinung, daß Massigny der langweiligste Mensch auf dem Erdballe war?«

»Einer Meinung!« schrie alles beifällig.

»Wir wollen niemanden zur Verzweiflung bringen«, ließ sich Jules hören. »Nehmen wir *** aus, vor allem wenn er seine politischen Pläne entwickelt!«

»Und nun werdet ihr mir auch zugeben«, fuhr Thémines fort, »daß Madame de Coursy eine geistvolle Frau ist, sofern es das tatsächlich geben soll.«

Es entstand einen Augenblick Stille. Saint-Clair senkte den Kopf und bildete sich ein, die Blicke aller seien auf ihn gerichtet.

»Wer wollte das bezweifeln?« bemerkte er darauf, während er, immer noch über seinen Teller gebeugt, sehr eindringlich die gemalten Blumen auf dem Porzellan zu betrachten schien.

»Ich halte daran fest«, fuhr Jules mit erhobener Stimme fort, »ich halte daran fest, daß sie eine der drei liebenswürdigsten Frauen von Paris ist.«

»Ich kannte ihren Mann«, sagte der Oberst. »Er hat mir des öftern entzückende Briefe von ihr gezeigt.«

»Auguste«, schaltete sich Hector Roquantin ein, »stellen Sie mich doch der Gräfin vor. Es geht die Sage, Sie machen bei ihr Regen und Sonnenschein.«

»Nach dem Herbst«, brachte leise Saint-Clair heraus, »wenn sie wieder in Paris sein wird . . . Ich . . . ich glaube, auf dem Lande empfängt sie keine Besuche.«

»Wollt ihr mal herhören?« rief laut Thémines.

Es wurde wieder still. Saint-Clair rückte auf seinem Stuhl hin und her wie ein Angeklagter vor einem Schwurgerichtshof.

»Vor drei Jahren haben Sie den Anblick der Gräfin noch nicht genießen können, damals waren Sie in Deutschland, Saint-Clair«, fing Alphonse de Thémines von neuem mit einer Kaltblütigkeit an, die zur Verzweiflung bringen konnte. »Sie machen sich kein Bild davon, wie sie da aussah: schön, frisch wie eine Rose, von Leben übersprudelnd, und beschwingt wie ein Falter. Na, und wissen Sie, wen sie, unter ihren zahllosen Anbetern, mit ihrer Huld beehrte? Den Massigny! Der dümmste Trottel hat der geistreichsten Frau den Kopf verdreht. Sind Sie noch der Ansicht, einer, der wie ein menschliches Fragezeichen aussieht, hätte das ebenso fertiggebracht? Gehen Sie mir mit so etwas! Halten Sie sich an mein Wort: Sei ein hübscher Kerl, hab einen erstklassigen Schneider, und geh fesch 'ran!«

Saint-Clair war in einer scheußlichen Lage. Er war drauf und dran, den Erzähler Lügen zu strafen, nur die Befürchtung, die Gräfin dabei neuem Gerede auszusetzen, hielt ihn davon zurück. Er hätte mit seinem Wort für sie eintreten mögen; aber die Zunge war ihm wie erstarrt. Seine Lippen zuckten vor Zorn, und er suchte nach irgendeinem Anlaß, einen Streit vom Zaune zu brechen.

»Was!« äußerte Jules laut und machte dazu ein erstauntes Gesicht. »Madame de Coursy hat sich dem Massigny gegeben! Schwachheit, dein Name ist Weib!«

»Der Ruf einer Frau – eine völlig belanglose Angelegenheit!« sagte Saint-Clair trocken und verächtlich. »Man darf ihn herunterreißen, stellt man sich nur witzig genug dabei an, und . . .«

Während er das sagte, kam ihm zu seinem Schrecken die Erinnerung an eine gewisse etruskische Vase, die er hundertmal wohl schon auf dem Kamine der Gräfin in Paris gesehen hatte. Er wußte, daß sie ein Geschenk Massignys nach seiner Rückkehr aus Italien war; und – ein schwer ins Gewicht fallender Umstand! – diese Vase hatte die Reise von Paris aufs Land mitgemacht. Und Abend für Abend nahm Mathilde seine Blumen, seine Gabe an sie, und stellte sie in die etruskische Vase.

Das Wort erstarb ihm auf den Lippen; ihm stand nur noch eines vor Augen, sein Denken kreiste nur noch um eines: die etruskische Vase.

›Ein schöner Beweis!‹ wird ein Vernunftmensch sagen: ›Wegen einer so geringfügigen Sache seine Liebste beargwöhnen!‹

›Waren Sie einmal verliebt, Herr Vernünftler?‹

Thémines war in zu guter Laune, als daß er sich an dem Tone gestoßen hätte, den Saint-Clair gegen ihn anschlug. Er erwiderte mit biedermännischer Miene nur leichthin darauf:

»Ich gebe hier lediglich wieder, was man in größerem Kreise schon erzählt hat. Die Sache ging als sicher um, damals, als Sie in Deutschland waren. Im übrigen kenne ich Madame de Coursy herzlich wenig; anderthalb Jahre ist's her, daß ich ihr Haus betreten habe. Möglich also, daß man sich getäuscht hat und daß mir Massigny ein Märchen erzählt hat. Doch um auf das, was unsere Gemüter beschäftigt, zurückzukommen: Wenn das Beispiel, das ich angezogen habe, auch fehl am Platz wäre, hätte ich darum doch nicht weniger recht. Euch ist allen bekannt, daß die geistreichste Frau in Frankreich, die, deren Werke . . .«

Die Tür ging auf, und auf der Bildfläche erschien Théodore Néville. Er kehrte aus Ägypten zurück.

»Théodore! So schnell wieder hier!« Er wurde mit Fragen überschüttet.

»Hast du ein echt türkisches Kostüm mit im Gepäck?« wollte Thémines wissen. »Hast du einen arabischen Hengst und einen ägyptischen Groom mitgebracht?«

»Was für ein Kerl ist der Pascha?« fragte Jules. »Wann macht er sich unabhängig? Hast du einen Schädel mit einem Streich heruntersäbeln sehen?«

»Und die Bauchtänzerinnen und Blitzdichterinnen?« rief ihm Roquantin entgegen. »Sind sie hübsch, die Weiber in Kairo?«

»Haben Sie den General L*** zu Gesicht bekommen?« bestürmte ihn der Oberst Beaujeu mit seinen Fragen. »Wie hat er die Streitmacht des Paschas aufgebaut? – Hat Ihnen Oberst C*** einen Krummsäbel für mich mitgegeben?«

»Und die Pyramiden? Und die Nilkatarakte? Und die Memnonssäule? Ibrahim Pascha? Und . . . Und . . .

Alles fragte und redete durcheinander; Saint-Clair hatte nur die etruskische Vase im Kopf.

Théodore war inzwischen in Hockstellung mit gekreuzten Beinen niedergegangen – denn er mochte von dieser in Ägypten angenommenen Gewohnheit auch in Frankreich nicht mehr lassen –, wartete, bis die Fragenden müde wurden, und haspelte das Folgende ziemlich zungenfertig herunter, um nicht gleich wieder unterbrochen zu werden:

»Die Pyramiden! Ehrenwort, ein regelrechter Humbug. Weniger hoch, als man meint. Das Straßburger Münster ist nur vier Meter niedriger. Altertümer kann ich nicht mehr sehen. Redet mir bloß davon nicht mehr! Sehe ich auch nur eine Hieroglyphe irgendwo, wird mir sofort grün und gelb vor den Augen. Es gibt mehr als genug Globetrotter, die mit solchem Zeugs ihre Zeit vertrödeln! Für mich kam es darauf an, den Charakter und das ganze Gehaben dieses buntscheckigen Völkergewimmels mir gründlich zu beschauen, so wie es sich da durch die Straßen von Alexandria und Kairo drängt von Türken, Beduinen, Kopten, Fellahs, Moghrebinen . . . Ich habe mir in aller Eile ein paar Aufzeichnungen gemacht, als ich in Quarantäne lag. Sie stinkt einen an, diese Quarantäne! Ihr, die ihr hier um mich herumsitzt, glaubt nicht an Ansteckung, will ich hoffen! Ich, ich habe euch da in aller Gemütsruhe meine Pipe mitten unter dreihundert Pestkranken geschmaucht . . . Ja, Oberst, da hätten Sie eine fabelhafte Reiterei sehen können. Ich will Ihnen mal prachtvolle Waffen zeigen, die ich mitgebracht habe. Ich besitze einen Djerid, der dem berühmten Murad Bey gehört hat. Für Sie, Oberst, habe ich einen Yatagan und für Auguste einen Khandjar. Ihr sollt meinen Metschlah, meinen Burnus, meinen Haïk sehen. Ist euch klar, daß ich, wenn ich gewollt hätte, Weiber hätte mitbringen können? Ibrahim Pascha hat so viele aus Griechenland hinverfrachtet, daß sie geradezu umsonst zu haben sind . . . Aber meiner Frau Mama zuliebe . . . Ich habe allerhand persönliche Unterredungen mit dem Pascha gehabt. Ein Mann von Geist ist das, alle Wetter! Ohne die mindeste Voreingenommenheit. Ihr würdet es nicht für möglich halten, wieviel Verständnis der für unsere Angelegenheiten hat. Ehrenwort! Er ist über die Geheimnisse unseres Kabinetts bis aufs I-Tüpfelchen im Bilde. Aus der Unterhaltung mit ihm habe ich mir höchst wertvolle Aufschlüsse über den Stand der Parteien in unserem Lande holen können . . . Augenblicklich beschäftigt er sich sehr viel mit Statistik. Er bezieht alle unsere Tageszeitungen. Wißt ihr, daß er verbissener Bonapartist ist? Er hat nur Napoleon im Munde. ›Ah, was für ein großer Mann, dieser Bounabardo!‹ rief er nicht selten vor mir aus. Bounabardo, so nennen sie dort Napoleon!«

»Giourdina, das heißt soviel wie: Jourdain«, murmelte Thémines vor sich hin.

»In der ersten Zeit«, fuhr Théodore fort, »war Mohammed Ali mir gegenüber sehr zurückhaltend. Es dürfte euch kein Geheimnis sein, daß alle Türken grundsätzlich mißtrauisch sind. Er hielt mich – der Deibel soll mich holen! – für einen politischen Spitzel oder für einen Jesuiten. Die Jesuiten hat er schwer auf dem Zuge. Nach ein paar Begegnungen zwischen mir und ihm aber hat er dann gleich herausbekommen, daß ich ein unvoreingenommener Weltreisender war, der das brennende Verlangen hatte, Sitten, Gebräuche und Politik des Ostens kennenzulernen. Da wurde er aufgeknöpfter und hat sich mir rückhaltlos aufgeschlossen. Bei der letzten Audienz – es war die dritte, die er mir gewährte – nahm ich mir die Freiheit, ihm folgendes zu sagen: ›Es ist mir nicht faßlich, weshalb Deine Hoheit sich nicht unabhängig von der Hohen Pforte macht!‹ – ›Du lieber Gott‹, vertraute er sich mir an, ›ich möchte schon gerne, aber ich fürchte, die freisinnigen Blätter, die in deiner Heimat den Ton angeben, stoßen mit mir nicht ins gleiche Horn, wenn ich erst mal die Unabhängigkeit Ägyptens feierlich verkündet habe.‹ – Er ist ein prächtiger alter Herr, ein edler Weißbart, der nie das Antlitz zum Lachen verzieht. Fabelhaft feines Konfekt hat er mich kosten lassen, und von den Angebinden, die ich ihm überreichte, hat ihm das größte Vergnügen das Uniform-Album der Kaiserlichen Garde von Charlet gemacht.«

»Ist der Pascha Romantiker?« erkundigte sich Thémines.

»Mit Literatur beschäftigt er sich wenig. Euch wird aber wohl nicht ganz unbekannt sein, daß die arabische Literatur hochromantisch ist. Einer der ihren ist der Dichter Melek Ayatalnefous-Ebn-Esraf, der kürzlich erst seine ›Meditationen‹ auf dem Buchmarkt hat erscheinen lassen; ihnen gegenüber nehmen sich die von Lamartine wie klassische Prosa aus. Nach meiner Ankunft in Kairo nahm ich mir einen Privatlehrer fürs Arabische, mit dem ich mich in den Koran hineinkniete. Obschon ich nur ein paar Stunden bei ihm genoß, habe ich doch genug Einblick in das Ganze bekommen, um die erhabenen Schönheiten des Sprachstils des Propheten unmittelbar zu erfassen und wegzukriegen, wie schlecht alle unsere Übertragungen sind. Halt mal, wollt ihr arabische Schriftzüge sehen? Dies Wort da in goldenen Lettern, das bedeutet: ALLAH, das heißt: Gott!«

Während er so daherredete, zeigte er einen reichlich speckigen Brief herum, den er aus einem nach allerhand Wohlgerüchen duftenden Seidenbeutel hervorgeholt hatte.

»Wie lange hast du in Ägypten geweilt?« erkundigte sich Thémines.

»Sechs Wochen!«

Und der Weltreisende setzte seinen genauen Gesamtbericht fort, wie man bei uns in Frankreich sagt: von der Zeder bis zum Ysop. Saint-Clair hatte sehr bald nach dessen Ankunft die Gesellschaft verlassen und schlug den Rückweg nach seinem Landheime ein. Der ungestüme Galopp seines Pferdes ließ ihn nicht seine eigenen Gedanken zu Ende denken. Aber er hatte die dunkle Empfindung, daß sein Glück hienieden für immer heillos zerstört sei und daß er sich nur an einem Toten und an einer etruskischen Vase dafür schadlos halten könnte.

In seinen vier Wänden warf er sich auf das Kanapee, auf dem er am Morgen vorher noch so lange und so auskostend sein Glück überdacht hatte. Der Gedanke, den er förmlich geliebkost hatte, war die Vorstellung, daß seiner Geliebten keine andere Frau gleichkäme, daß sie niemanden geliebt hatte noch je lieben könnte als ihn. Nun schwand dieser schöne Traum vor der traurigen und grausamen Wirklichkeit. »Eine schöne Frau nenne ich mein; das ist aber auch alles. Sie hat Geist: um so schuldiger ist sie, sie hat einen Massigny lieben können . . .! Es ist wahr, jetzt liebt sie mich . . . aus ganzer Seele . . . wie sie nur lieben kann. Geliebt zu werden wie vorher ein Massigny . . .! Meinen Aufmerksamkeiten, meinen Liebeslaunen, meinem Werben hat sie nachgegeben. Aber ich täuschte mich. Unsere beiden Herzen empfanden nichts Gleiches füreinander. Massigny oder ich, wer das ist, ist ihr einerlei. Er war ein hübscher Junge, sie liebte ihn, weil er hübsch war. Ich bin Madame ein angenehmer Zeitvertreib. ›Gut denn, lieben wir den Saint-Clair‹, hat sie sich gesagt, ›da der andere ja doch tot ist! Und wenn es mit Saint-Clair zu Ende geht oder er mir langweilig wird, wollen wir weitersehn.‹

Ich glaube fest und sicher, der Teufel lauert unsichtbar neben einem Unglückseligen, der sich selber so peinigt. Das Schauspiel ist ergötzlich für den Feind der Menschen; und wenn das Opfer fühlt, wie seine Wunden sich schließen wollen, dann ist der Satan da, sie wieder aufzureißen.

Saint-Clair war es, als raunte ihm eine Stimme ins Ohr:

›Recht eigne Ehre das,
der Nachfolger zu sein . . .

Er richtete sich auf und warf einen wilden Blick um sich. Wie willkommen wäre es ihm gewesen, jemanden in seinem Zimmer zu entdecken! Ohne Zweifel hätte er ihn in Stücke zerrissen.

Die Pendeluhr schlug acht. Um halb neun erwartete ihn die Gräfin . . . Wenn er nicht hinginge zum Stelldichein! »Wozu eigentlich die Geliebte Massignys wiedersehen?« Er streckte sich wieder auf sein Kanapee und machte die Augen zu. »Ich will schlafen«, sagte er vor sich hin. Er blieb eine halbe Minute reglos liegen, dann sprang er auf und lief zur Uhr hin, um zu sehen, wie der Zeiger vorrückte. ›Wie sehr wünschte ich, es wäre schon halb neun!‹ dachte er bei sich. ›Dann hätte ich keine Zeit mehr, mich auf den Weg zu machen.‹ Er fühlte in sich nicht den Mut, zu Hause zu bleiben; er wünschte sich einen Vorwand herbei. Recht krank hätte er am liebsten sein mögen. Er wanderte im Zimmer auf und ab, ließ sich dann auf einen Stuhl sinken, nahm ein Buch vor und brachte es nicht fertig, nur eine Silbe zu lesen. Er setzte sich ans Klavier und hatte nicht die Kraft, den Deckel aufzuklappen. Er pfiff, er schaute in die Wolken hinein und kam auf den Gedanken, die Pappelbäume vor seinen Fenstern zu zählen. Schließlich ging er wieder zur Uhr hin, um nach der Zeit zu sehen, und stellte fest, daß er keine drei Minuten damit hatte hinbringen können. »Ich kann nicht davon los, sie zu lieben«, stieß er zähneknirschend hervor und stampfte mit den Füßen. »Sie hat mich in ihrer Gewalt, und ich bin ihr verfallen, wie Massigny ihr vor mir hörig war! Also dann, Elender, gehorche, da du nicht beherzt genug bist, die verhaßte Kette zu brechen!«

Er packte seinen Hut und stürmte hinaus.

Wenn eine Leidenschaft uns mit sich fortreißt, empfindet die Eigenliebe in uns so etwas wie Trost darin, unsere Schwachheit von der Höhe des Stolzes aus zu betrachten. ›Schwach bin ich zwar‹, sagt man sich, ›und doch: wenn ich nur wollte . . .!‹

Mit langsamen Schritten stieg er den Pfad hinauf, der zur Parkpforte führte, und von weitem schon sah er eine helle Gestalt, die sich vom Baumdunkel abhob. In der Hand schwenkte sie ein Taschentuch, als winke sie ihm zu. Sein Herz schlug heftig, die Knie zitterten ihm; es verschlug ihm die Stimme, und er war so verlegen geworden, daß er befürchtete, die Gräfin läse ihm seine düstere Stimmung vom Gesicht ab.

Er ergriff die Hand, die sie ihm reichte, und küßte ihr die Stirn, während sie ihm an der Brust lag; wortlos geleitete er sie in ihre Gemächer und unterdrückte nur mühsam ein Stöhnen, das ihm die Brust sprengen wollte.

Das Boudoir der Gräfin erhellte eine einzige Kerze. Die beiden setzten sich. Saint-Clair nahm wahr, daß seine Freundin als Haarschmuck nichts als eine Rose trug. Den Abend vorher hatte er ihr einen schönen englischen Stich mitgebracht: die Herzogin von Portland nach Leslie (sie hat die gleiche Haartracht darauf), und Saint-Clair hatte dazu nur gesagt: »Diese ganz schlichte Rose gefällt mir mehr als eure kunstvollen Frisuren.« Er mochte Juwelenschmuck nicht und war darüber der Ansicht jenes Lords, der rauh heraus sagte: »Vor aufgetakelten Weibern und Gäulen mit Schabracken weiß nicht mal der Deibel, was drunter steckt.« Als er gestern nacht mit einem Perlenhalsband der Gräfin spielte (denn beim Sprechen mußte er immer irgend etwas zwischen den Fingern haben), hatte er beiläufig bemerkt: »Juwelen sind nur gut dazu, Mängel zu verdecken. Sie sind zu hübsch, Mathilde, als daß Sie Juwelen tragen sollten.« An diesem Abend trug die Gräfin, die seine unbedeutendsten Äußerungen im Gedächtnis behielt, weder Finger- noch Ohrringe, weder Halskette noch Armbänder. – Am Äußern einer Frau achtete er besonders auf die Fußbekleidung, und wie viele andere hatte er über dies Kapitel seine eigenen Ansichten. Ein kräftiger Regenguß war vor Sonnenuntergang vom Himmel gerauscht. Das Gras triefte noch vor Nässe; gleichwohl war die Gräfin in Seidenstrümpfen und schwarzen Atlasschuhen über den feuchten Rasen geschritten . . . Wenn sie davon krank würde?

»Sie liebt mich«, sagte Saint-Clair bei sich.

Und er seufzte über sich selber und seine Torheit, und unwillkürlich lächelte er, als er Mathilde ansah, während er halb noch schlechter Laune und doch halb schon vergnügt darüber war, eine hübsche Frau vor sich zu erblicken, die ihm durch all diese kleinen Nichtigkeiten, die für Verliebte so überaus bedeutend sind, zu gefallen suchte.

Über das sonnige Gesicht der Gräfin spielten tausend Lichter der Liebe und des schalkhaften Übermuts, die es noch reizender machten. Sie nahm etwas aus einem japanischen Lackkästchen heraus und hielt es ihm in ihrer kleinen geballten Faust entgegen:

»Neulich abends«, sagte sie, »habe ich Ihnen Ihre Uhr zerbrochen. Hier ist sie heil wieder.«

Sie reichte ihm die Uhr und sah ihn dabei zärtlich und schelmisch zugleich an, wobei sie an ihrer Unterlippe nagte, als wollte sie sich das Lachen verbeißen. Weiß der Himmel, schön waren ihre Zähne! Wie hell schimmerten sie über dem glühenden Rot ihrer Lippen! (Wie albern sieht ein Mann bloß aus, wenn er steif und kühl die zärtlichen Schmeicheleien einer hübschen Frau hinnimmt.)

Saint-Clair dankte, nahm die Uhr und wollte sie in seine Tasche stecken.

»Würdigen Sie sie doch eines Blickes«, fuhr sie fort, »öffnen Sie sie und sehen Sie, ob sie gut wieder instand gesetzt ist. Sie als Fachmann, der Sie auf der Ingenieurschule waren, müssen sich das ansehen.«

»Ach, ich verstehe herzlich wenig von solchen Sachen«, sagte Saint-Clair.

Und er klappte den Uhrdeckel mit zerstreuter Miene auf. Wie überrascht war er! Auf der Innenseite fand er das Miniaturporträt der Madame de Coursy, mit zierlichem Pinselstrich hineingemalt. Konnte man davor noch schmollen? Seine Stirn hellte sich auf; er dachte nicht mehr an Massigny; er empfand einzig das Bewußtsein, einer bezaubernden Frau ganz nahe zu sein, und einer Frau, die ihn vergötterte . . .

 

Die Lerche, »diese Tagverkünderin«, hub ihr frühes Lied an, und breite Furchen fahlen Lichts rissen die Wolkenfelder im Osten auf. Die Stunde war da, in der Romeo von Julia Abschied nimmt, der klassische Augenblick, in dem alle Liebenden sich voneinander trennen müssen.

Saint-Clair stand vor einem Kaminsims, mit dem Parktürschlüssel in der Hand, und hielt die vielberedete etruskische Vase unablässig in seinem gespannten Blick. Im Innersten seiner Seele hegte er immer noch Groll gegen sie. Doch war er heiterer Laune, und der Gedanke, daß Thémines ganz einfach alles aus der Luft gegriffen habe, nahm ihn immer stärker ein. Während die Gräfin, die ihm bis zur Parkpforte das Geleit geben wollte, einen Schal um ihren Kopf schlug, trommelte er mit seinem Schlüssel erst sacht, dann immer stärker, auf der ihm widerlichen Vase herum, daß man meinen konnte, er wollte sie in Scherben zerhämmern.

»Ach Gott, geben Sie acht«, rief Mathilde, »Sie werden mir meine schöne etruskische Vase noch zerschlagen!«

Und sie wand ihm den Schlüssel aus den Händen.

Saint-Clair war wieder mißgestimmt, aber er faßte sich. Er kehrte dem Kamin den Rücken, um von der Versuchung loszukommen, und klappte seine Uhr auf, um sich von neuem der Betrachtung des Bildnisses zuzuwenden, das ihm da geschenkt worden war.

»Wer ist der Maler?« fragte er.

»Ein Herr R*** . . . Massigny hat mich auf ihn aufmerksam gemacht.« (Seit seiner Romreise hatte Massigny den geborenen Kunstfreund und Kenner in sich entdeckt und sich zum Mäzen aller jungen Künstler aufgeschwungen.) – »Wirklich, dies Bild, finde ich, ähnelt mir, wenn es auch ein klein wenig geschmeichelt ist.«

Saint-Clair hatte große Lust, die Uhr gegen die Wand zu werfen, was ihre Wiederherstellung recht schwierig gestaltet hätte. Er nahm sich im letzten Augenblick zusammen und steckte sie wieder in seine Tasche; als er darauf gewahr wurde, daß es schon taghell war, verließ er das Haus, bat Mathilde inständig, ihn keinen Schritt weit zu bringen, lief mit großen Sätzen durch den Park fort und war im Nu mit sich allein auf freiem Felde.

»Massigny! Massigny!« stieß er laut in gesammelter Wut hervor. »Soll ich denn immer und überall dich wiederfinden . . .! Sonnenklar, der Maler dieses Bildes hat längst ein gleiches für Massigny gepinselt . . .! Ich Schafskopf! Ich habe auch nur einen Augenblick im Wahne sein können, mit solcher Liebe, wie ich sie habe, geliebt zu werden . . . und das bloß deshalb, weil sie sich eine Rose ins Haar steckt und keine Juwelen anhängt . . .! Sie hat einen ganzen Schrank voll davon . . . Massigny, der nur für das Äußere der Frauen einen Blick hatte, war so in Brillanten vergafft . . .! Ja doch, sie ist von verträglichem Wesen, zugegeben. Dem Geschmack ihrer Liebhaber versteht sie sich anzupassen. Donnerwetter! Hundertmal lieber sähe ich, sie wäre aus der Halbwelt und hätte sich für Geld hingegeben. Dann könnte ich wenigstens überzeugt sein, daß sie ehrlich an mir hängt, weil sie meine Liebste ist und sich doch nicht von mir aushalten läßt.«

Bald drängte sich ihm ein noch quälenderer Gedanke auf. In wenigen Wochen ging die Trauer der Gräfin zu Ende. Saint-Clair war es sich und ihr schuldig, sie zu heiraten, sobald der Tag ihrer Witwenschaft sich gejährt hatte. Er hatte es versprochen. Versprochen? Nein. Nie hatte er auch nur mit einem Wort davon gesprochen. Aber so hatte es in seiner Absicht gelegen, und die Gräfin hatte es auch so aufgefaßt. Für ihn kam das einem Gelöbnis gleich. Abends zuvor hätte er Macht und Ansehen auf Erden dafür hingegeben, um den Augenblick rascher herbeizuzwingen, in dem er vor aller Welt seine Liebe offen bekunden durfte; nun schauderte ihm vor dem bloßen Gedanken, sein Schicksal an die ehemalige Geliebte eines Massigny zu binden.

»Und dennoch: Ich muß es tun«, sagte er bei sich. »Und es wird geschehen. Sie war bestimmt der Meinung, die Bedauernswerte, ich kenne ihre alte Liebesgeschichte. Der Fall, wird erzählt, habe sich allgemein herumgesprochen. Und dann, übrigens, hat sie gar keine Ahnung davon, wie es in mir aussieht . . . Sie kann mich nicht verstehen. Sie wähnt, ich sei nur in sie so verliebt, wie ein Massigny in sie vernarrt war.«

Dann schloß er mit Stolz:

»Drei Monate lang hat sie mich zum glücklichsten aller Männer gemacht. Dies Glück ist das Opfer meines ganzen Lebens wert.«

Er suchte sein Ruhelager nicht auf, sondern streifte zu Pferde kreuz und quer den ganzen Vormittag lang in den Wäldern umher. Im Gehölz von Verrières, in einer Allee, wurde er eines Herrenreiters auf einem schönen englischen Pferde ansichtig, der ihn schon von weitem mit seinem Namen anrief und sofort auf ihn zuhielt. Es war Alphonse de Thémines. In der Gemütsverfassung, in der Saint-Clair sich befand, ist die Einsamkeit besonders angenehm: Das Zusammentreffen mit Thémines verwandelte denn auch seine düstere Stimmung in verhaltenen Zorn. Thémines merkte das nicht, oder er machte sich ein boshaftes Vergnügen daraus, ihn zu ärgern. Er redete, lachte, witzelte, ohne gewahr zu werden, daß er keine Antwort bekam. Als Saint-Clair eine schmale Allee abbiegen sah, lenkte er sein Tier sogleich da hinein, in der Hoffnung, der lästige Schwätzer werde ihm dorthin nicht folgen; aber er täuschte sich; ein Zudringlicher läßt sein Opfer nicht so leicht wieder los. Thémines kehrte um und fiel in schnellere Gangart, um wieder Seite an Seite mit Saint-Clair zu kommen und die Unterhaltung bequemer fortzusetzen.

Ich sagte, die Allee war eng. Nur mit großer Mühe konnten die beiden Tiere nebeneinanderlaufen; es war also nichts Ungewöhnliches, daß Thémines, obwohl er ein sehr guter Reiter war, Saint-Clair leicht am Fuße streifte, als er an seine Seite kam. Dieser, in dem der Zorn bis aufs höchste gestiegen war, konnte sich nicht länger beherrschen. Er stemmte sich in den Bügeln empor und zog mit seiner Reitgerte dem Pferde Thémines' einen heftigen Hieb über die Nüstern.

»Was, zum Teufel, haben Sie, Auguste?« rief Thémines laut. »Warum schlagen Sie mein Tier?«

»Weshalb reiten Sie mir nach?« entgegnete Saint-Clair mit unheimlicher Stimme.

»Sind Sie bei Verstande, Saint-Clair? Vergessen Sie, daß Sie mit mir reden?«

»Ich weiß sehr wohl, daß ich zu einem Laffen rede.«

»Saint-Clair . . .! Sie sind toll, glaube ich . . . Hören Sie: Morgen werden Sie sich entschuldigen oder mir Genugtuung geben für Ihre Unverschämtheit!«

»Auf morgen denn, Herr . . .

Thémines riß sein Pferd zurück; Saint-Clair gab dem seinen die Sporen; bald war er im Walde verschwunden.

Von diesem Augenblick an fühlte er sich gelassener werden. Er hatte die Schwäche, an Vorahnungen zu glauben. Ihn überkam der Gedanke, morgen würde er getötet, und das würde eine Lösung sein, wie sie für seine Lage nicht besser gefunden werden könnte. Ein Tag noch war hinzubringen; morgen gab es keine Unruhe, keine Qualen mehr. Er kehrte in seine Behausung zurück, schickte seinen Bedienten mit ein paar Zeilen zum Oberst Beaujeu, schrieb etliche Briefe; darauf speiste er mit gutem Appetit und war pünktlich um halb neun vor der kleinen Parkpforte.

»Was haben Sie nur heute, Auguste?« fragte ihn die Gräfin. »Sie sind so sonderbar gut aufgelegt, und doch können Sie mich mit all Ihren Scherzen nicht heiter stimmen. Gestern dafür waren Sie ziemlich übel gelaunt, und ich war so ausgelassen! Heut' haben wir die Rollen gewechselt. – Ich habe starkes Kopfweh.«

»Meine Holde, ja, ich gestehe, gestern war ich schön langweilig. Aber heute morgen, da bin ich ausgeritten, da habe ich mir Bewegung verschafft; ich fühle mich wie im siebenten Himmel.«

»Ich, ich bin spät aufgestanden, ich habe lange geschlafen und schlecht geträumt.«

»Ah! Träume? Glauben Sie an Träume?«

»Was für ein Unsinn!«

»Ich für meinen Teil, ich glaube daran; ich wette, Sie haben einen Traum gehabt, der irgend etwas Unheilvolles ankündete.«

»Mein Gott, ich vergesse, was ich geträumt habe . . . Doch, ich erinnere mich . . . In meinem Traum habe ich Massigny gesehn; Sie sehen also, es war nichts sehr Erheiterndes.«

»Massigny! Ich hätte im Gegenteil gemeint, Sie würden ihn ganz gern einmal wiedersehn?«

»Armer Massigny!«

»Armer Massigny?«

»Auguste, ich bitte Sie, sagen Sie mir, was Sie heute abend haben. In Ihrem Lächeln ist etwas Teuflisches, Sie machen den Eindruck, als wollten Sie sich über sich selbst lustig machen.«

»Ah, sieh mal, jetzt behandeln Sie mich geradeso schlimm, wie die alten Standesdamen, Ihre Freundinnen, das sonst tun.«

»Ja, Auguste, Sie machen heut' genau dasselbe Gesicht wie vor den Leuten, die Sie nicht mögen.«

»Böse Gebieterin, kommen Sie, reichen Sie mir Ihre Hand!«

Er küßte ihr die Hand mit gespielter Ritterlichkeit, und sie sahen sich eine Minute lang scharf in die Augen. Saint-Clair senkte als erster den Blick und stieß hervor:

»Wie schwer ist es, in dieser Welt zu leben, ohne für einen schlechten Menschen gehalten zu werden! Man sollte nie von etwas anderem reden als vom Wetter oder von der Jagd, oder besser noch mit Ihren würdigen Freundinnen sich über den Etat Ihrer Wohltätigkeitskomitees verbreiten.«

Er nahm ein Blatt vom Tisch.

»Sehen Sie, hier ist die Rechnung Ihrer Waschfrau, mit der sie sich in Erinnerung bringt. Lassen Sie uns darüber etwas plaudern, mein Engel: Dann werden Sie nicht sagen, ich sei ein schlechter Mensch.«

»Wirklich, Auguste, Sie setzen mich in Erstaunen . . .«

»Diese Rechtschreibung erinnert mich an einen Brief, den ich heut' morgen gefunden habe. Ich muß Ihnen sagen, daß ich in meine Papiere Ordnung gebracht habe, denn von Zeit zu Zeit regt sich bei mir Ordnungssinn. Na schön, ich fand also einen Liebesbrief wieder, geschrieben von einer Nähmamsell, in die ich mich vergafft hatte, als ich sechzehn war. Sie hatte eine eigene Art, jedes Wort hinzusetzen, ein höchst verworrene Art allemal. Ihr Stil war ihrer Rechtschreibung würdig. Kurz und gut, da ich damals schon ein ziemlicher Snob war, so fand ich es unter meiner Würde, eine Geliebte zu haben, die nicht schrieb wie die Sévigné. Ich ließ sie ganz einfach und schroff sitzen. Heute, als ich diesen Brief wieder las, ist mir klargeworden, daß die kleine Schneiderin da echte Liebe für mich empfunden haben muß.«

»Wie gütig! Eine doch wohl, die Sie ausgehalten haben . . .

»Sehr großherzig: mit fünfzig Francs monatlich. Aber mein Vormund rückte mir kein allzu üppiges Taschengeld heraus; denn er huldigte dem Spruch, daß ein junger Mann, der Geld zwischen die Finger bekommt, sich und andre zugrunde richtet.«

»Und sie, was ist aus ihr geworden?«

»Was weiß ich . . .? Wahrscheinlich ist sie im Spital geendet.«

»Auguste . . . wenn das wahr wäre, sähen Sie nicht so sorglos aus.«

»Wenn ich denn wirklich nichts als die Wahrheit sagen soll: Sie hat einen ›anständigen Menschen‹ geehelicht; und als ich mein eigener Herr war, habe ich ihr eine kleine Aussteuer geschenkt.«

»Wie gut Sie sind . . .! Warum wollen Sie sich ins schlechteste Licht setzen?«

»Oh, ich bin sehr, sehr gut . . . Je mehr ich darüber nachdenke, um so mehr überzeuge ich mich davon, daß diese Frau mich wirklich geliebt hat . . . Aber damals war ich noch nicht imstande, wahres Gefühl unter einer lächerlichen Form zu begreifen.«

»Sie hätten mir ihren Brief mitbringen sollen. Ich wäre nicht eifersüchtig gewesen . . . Wir Frauen, wir haben mehr Feingefühl als ihr Männer, und wir sehen sofort am Stil eines Briefes, ob dem Schreiber Glauben zu schenken ist oder ob er bloß eine Leidenschaft erheuchelt, die er nicht empfindet.«

»Und dennoch, wie oft laßt ihr Frauen euch von Einfaltspinseln oder Laffen auf den Leim führen!«

Als er das sagte, sah er unablässig die etruskische Vase an, und in seinen Augen und in seiner Stimme lag ein düsterer Ausdruck, der Mathilde nicht im mindesten bewußt wurde.

»Ach, geht doch, ihr Männer, ihr wollt euch alle als Don Juans aufspielen! Ihr bildet euch ein, ihr täuscht die Frauen, wo ihr doch oft nur an Donna Juanas geratet, die noch weit gewitzter sind als ihr.«

»Ich begreife, daß ihr klugen Damen mit eurem überlegenen Geiste einen Dummkopf schon auf tausend Schritte wittert. Daher zweifle ich auch nicht daran, daß unser Freund Massigny, der ein hohler Laffe war, als Unschuldsknabe und Märtyrer gestorben ist . . .«

»Massigny? Doch er war nicht zu töricht; und dann gibt es ja auch törichte Frauen. Ich muß Ihnen da eine Geschichte von Massigny erzählen . . . Aber habe ich sie Ihnen nicht schon erzählt?«

»Nicht daß ich wüßte . . .«, erwiderte Saint-Clair mit einem Beben in der Stimme.

»Massigny verliebte sich in mich nach seiner Italienreise. Mein Mann kannte ihn; er stellte ihn mir als einen Menschen von Geist und Geschmack vor. Sie paßten gut zueinander. Massigny war in der ersten Zeit äußerst aufmerksam; er schenkte mir Aquarelle, die er bei Schroth kaufte, als seine eigenen und redete über Musik und Malerei in einem geradezu belustigenden Ton der Überlegenheit. Eines Tages schickte er mir einen unglaublichen Seelenerguß ins Haus. Er schrieb mir darin unter anderem, ich wäre die anständigste Frau in Paris; deswegen wolle er mein Liebhaber werden. Ich zeigte das Geschreibsel meiner Base Julie. Wir waren damals zwei übermütige Dinger, und wir kamen überein, uns mit ihm einen mächtigen Spaß zu machen. Eines Abends hatten wir einige Gäste bei uns, unter anderen auch Massigny. Meine Base sagt da zu mir: ›Ich will dir eine Liebeserklärung vorlesen, die ich heute morgen bekommen habe.‹ Und sie nimmt den Brief her und gibt ihn unter schallendem Gelächter zum besten . . . Der arme Massigny . . .

Saint-Clair stürzte vor ihr auf die Knie und stieß einen Jubelruf aus. Er zog die Hand der Gräfin an sich und bedeckte sie mit Küssen und Tränen. Mathilde war aufs äußerste überrascht und glaubte zunächst, ihm wäre nicht wohl. Saint-Clair konnte nur sagen: »Verzeihen Sie mir! Verzeihen Sie mir!« Endlich erhob er sich wieder. Freude strahlte auf seinem Gesicht. In diesem Augenblick war er glücklicher als an dem Tage, an dem Mathilde zum erstenmal zu ihm gesagt hatte: ›Ich liebe Sie.‹

»Ich bin der törichteste und der schuldigste aller Männer!« stieß er hervor. »Seit zwei Tagen hatte ich dich in Verdacht . . . und ich habe dich nicht um eine Erklärung gebeten . . .«

»Du mich in Verdacht . . .? Und weshalb?«

»Oh, ich Elender . . .! Man hat mir erzählt, du hättest Massigny geliebt, und . . .«

»Massigny!« Und ein Lachen kam sie an; dann wurde ihr Gesicht gleich wieder ernst: »Auguste«, sagte sie, »kannst du wirklich so ein Tor sein, solche Verdächtigungen zu glauben, und so ein Heuchler, sie mir zu verhehlen.«

Eine Träne rollte ihr aus den Augen.

»Ich bitte dich inständig, vergib mir!«

»Wie sollte ich dir nicht verzeihen, geliebter Freund . . .? Erst aber laß mich dir heilig versichern . . .«

»Oh, ich glaube dir, ich glaube dir, sage mir nichts weiter!«

»Aber, um des Himmels willen, was konnte dir Grund dazu geben, so Unwahrscheinliches zu argwöhnen?«

»Nichts, nichts in der Welt als mein verdammter Kopf . . . und . . . siehst du, die etruskische Vase da, ich wußte, daß du sie von Massigny hattest . . .«

Die Gräfin schlug voll Verwunderung die Hände ineinander; dann rief sie und brach in helles Lachen aus:

»Meine etruskische Vase! Meine etruskische Vase!«

Da konnte Saint-Clair auch nicht anders als mitlachen, und dabei liefen ihm zugleich die hellen Tränen über die Backen hinab. Er zog Mathilde in seine Arme und sagte zu ihr:

»Ich lasse dich nicht wieder los, ehe du mir nicht vergeben hast.«

»Ja, ich vergebe dir, du Tor!« sagte sie und umschlang ihn zärtlich. »Du machst mich heute sehr glücklich; zum ersten Male sehe ich dich nun weinen, und ich glaubte, du könntest das nie.«

Dann machte sie sich aus seiner Umarmung los, nahm die etruskische Vase und zerwarf sie in tausend Stücke auf dem Estrich. (Es war ein seltenes, der Öffentlichkeit noch nicht bekanntes Stück. Ihre dreifarbige Bemalung zeigte den Kampf eines Lapithen mit einem Zentauren.)

Saint-Clair war einige Stunden lang der beschämteste und glücklichste aller Männer.

 

»Nanu«, fragte Roquantin den Oberst Beaujeu, als er ihn am Abend bei Tortoni traf, »ist denn das wahr, was man sich da erzählt?«

»Leider allzu wahr, mein Lieber«, bestätigte der Oberst trüben Gesichts.

»Berichten Sie doch mal, wie alles geschehen ist!«

»Oh, höchst einfach! Saint-Clair hat mir zunächst einmal gesagt, er habe unrecht, aber er wolle sich erst Thémines zum Schuß stellen, ehe er sich bei ihm entschuldige. Ich konnte das nur billigen. Thémines wünschte, das Los solle entscheiden, wer den ersten Schuß habe. Saint-Clair bestand darauf, Thémines solle ihn abgeben. Thémines schoß. Ich sah Saint-Clair sich einmal um seine eigene Achse drehen, dann fiel er auf der Stelle tot um. Diese sonderbare Kreiselbewegung unmittelbar vorm Fallen habe ich bei Männern, die tödlich getroffen waren, schon beobachtet.«

»Äußerst merkwürdige Sache!« bemerkte Roquantin. »Und Thémines, was hat der gemacht?«

»Tja, was in solchem Fall eben zu machen ist. Er hat seine Waffe mit dem Ausdruck des Bedauerns weggeworfen. Er hat sie so zu Boden gepfeffert, daß der Hahn abbrach. Es ist eine englische Mantonpistole; ich weiß nicht, ob er in Paris einen Büchsenmacher findet, der ihm das Ding wiederherstellen kann . . .«

 

Die Gräfin brachte drei volle Jahre hin, ohne jemanden bei sich vorzulassen. Winter wie Sommer blieb sie in ihrem Landhause, wo sie kaum aus dem Zimmer ging und sich die nötigsten Handreichungen von einer Mulattin tun ließ, die ihre Beziehungen zu Saint-Clair kannte und mit der sie keine zwei Worte am Tage wechselte. Am Ende der drei Jahre kehrte ihre Base Julie von einer langen Reise zurück; sie erzwang sich den Zugang bei ihr und traf die arme Mathilde derart abgezehrt und bleich an, daß sie den Leichnam einer Frau vor sich zu sehen glaubte, die sie in Schönheit und voll blühenden Lebens verlassen hatte. Es kostete viele Mühe, sie aus ihrer Weltabgeschiedenheit herauszuziehen und bis nach Hyères zu bringen. Dort siechte die Gräfin noch drei, vier Monate weiter hin; sie starb dann an einem Brustleiden, durch häusliche Sorgen verursacht, wie der Doktor M*** sagt, der sie ärztlich betreut hat.

 

Ende

 


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