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Wenn man Porto-Vecchio verlassen hat und sich ins Innere der Insel wendet, sieht man, wie der Boden steil emporsteigt, und nach drei Stunden Marsch auf gewundenen Fußpfaden, die von großen Felsstücken versperrt und mitunter von Schluchten durchschnitten werden, findet man sich am Rande eines ausgedehnten Mâquis, – – es ist dies die Heimat der korsischen Schäfer und aller derer, die mit der Justiz auf gespanntem Fuß leben. Man muß nämlich wissen, daß der korsische Landmann, um sich die Mühe zu ersparen, sein Feld zu düngen, eine Strecke Holz in Brand steckt; es ist zwar schlimm, wenn die Flamme sich weiter ausdehnt als nötig ist; aber mag kommen, was da will; man ist sicher, eine gute Ernte zu haben, wenn man auf diesen Boden säet, der durch die Asche der Bäume, die er trug, fruchtbar gemacht ist. Wenn die Ähren fortgenommen sind, läßt man das Stroh zurück, das mühsam aufzusammeln wäre, und die Wurzeln, die unverbrannt in der Erde geblieben sind, treiben im nächsten Frühjahr dicke Sprößlinge, die sich zu einer Höhe von sechs bis sieben Fuß erheben. Diese Art von buschigem Niederholz nennt man ein Mâquis. Es besteht aus verschiedenen Arten von Bäumen und Sträuchern, die durcheinander gemengt sind, wie es Gott gefällt. Nur mit dem Beil in der Hand könnte man sich einen Weg hindurchbahnen, und man trifft auf Mâquis, die so dicht bewachsen sind, daß selbst die wilden Schafe nicht hindurchdringen können.

Hast du einen Mann umgebracht, geh ins Mâquis von Porto-Vecchio, und du kannst da mit einer guten Flinte, mit Blei und Pulver in Sicherheit leben; vergiß aber nicht, dich mit einem braunen Mantel, der eine Kaputze (Rappa) hat, zu versehen; er dient dir als Decke und Matratze. Die Schäfer werden dir Milch und Käse verkaufen, und du hast von der Justiz oder von den Verwandten des Getöteten nichts zu fürchten. Nimm dich aber in acht, wenn du in die Stadt hinabsteigst, um dich mit Munition zu versehen.

Mateo Falcone hatte, als ich in Korsika war, sein Haus eine halbe Meile von diesem Mâquis. Er war für sein Land ein ziemlich reicher Mann, der in adeliger Weise lebte; das heißt, er tat nichts und lebte von dem Ertrage seiner Herden, welche seine Schäfer, eine Art Nomaden, hier und da auf den Bergen weideten. Als ich ihn zwei Jahre nach dem Ereignis, welches ich erzählen will, sah, schien er mir höchstens fünfzig Jahre alt zu sein. Man denke sich einen kleinen, aber robusten Mann mit krausem Haar, schwarz wie Achat, und einer Habichtsnase, mit feinen Lippen, großen lebhaften Augen und einem Teint, der dem Gelb der Stiefelumschläge glich. Seine Geschicklichkeit im Schießen galt für außerordentlich, selbst in seinem Lande, wo es so viele gute Schützen gibt. Er traf ein wildes Schaf mit einer Kugel auf hundertundzwanzig Schritt am Bug oder am Kopf nach seinem Belieben. Bei Nacht bediente er sich seiner Waffe so gut wie bei Tage, ja man hat mir von ihm ein Stückchen erzählt, das jedem, der nicht in Korsika gereist hat, unglaublich erscheinen wird. Auf achtzig Schritt stellte man eine angezündete Kerze hinter einem transparenten Papiere auf, das die Breite eines Tellers hatte. Er zielte, dann löschte man das Licht aus, und nach Verlauf einer Minute, in vollkommener Dunkelheit, schoß er und durchbohrte das Transparent dreimal bei viermaligem Versuche.

Durch ein so überlegenes Talent hatte sich Mateo Falcone großen Ruf erworben; man sagte von ihm, er sei ein ebenso guter Freund wie gefährlicher Feind. Im übrigen war er diensteifrig und mildtätig und lebte mit allen Leuten in Porto-Vecchio auf gutem Fuße. Aber man erzählte von ihm in Corte, wo er ein Weib genommen hatte, daß er sich daselbst in energischer weise von einem Nebenbuhler frei gemacht hatte, der für ebenso furchtbar im Kriege, wie in der Liebe galt. Wenigstens schrieb man dem Mateo einen gewissen Flintenschuß zu, der diesen Nebenbuhler traf, als er sich vor einem kleinen Spiegel rasierte, der an seinem Fenster hing. Die Sache wurde vertuscht, und Mateo verheiratete sich. Sein Weib Giuseppa hatte ihm zuerst drei Töchter geboren, worüber er wütend war, und dann einen Sohn, den er Fortunato nannte; er war die Hoffnung der Familie, der Erbe des Namens. Die Töchter waren gut verheiratet; ihr Vater hätte im Notfall auf die Dolche und Karabiner seiner Schwiegersöhne rechnen dürfen. Der Sohn war nur zehn Jahre alt, verkündete aber schon viel Talent.

Einst, an einem Herbsttag, ging Mateo frühzeitig mit seiner Frau aus, um eine seiner Herden in einer Lichtung des Mâquis in Augenschein zu nehmen. Der kleine Fortunato wollte ihn begleiten, aber die Lichtung war zu fern; übrigens mußte auch jemand dableiben, um das Haus zu hüten. Der Vater schlug es ihm also ab, und wir werden sehen, ob er nicht Grund gehabt hat, es zu bereuen.

Er war schon seit mehreren Stunden fort, und der kleine Fortunato lag ruhig in der Sonne, indem er die blauen Berge betrachtete und daran dachte, daß er nächsten Sonntag in der Stadt essen würde bei seinem Oheim, dem Caporale So nennt man einen Mann, der durch seine Besitzungen, seine Verbindungen und Schutzgenossenschaften Einfluß und eine Art Magistratur über eine Pieva oder einen Kanton ausübt. Die Korsen teilen sich nach alter Gewohnheit in fünf Kasten: die Edelleute (von denen die einen Magnifizenzen, die andern Signori sind), die Caporali, die Bürger, die Plebejer und die Fremden., als er plötzlich in seinen Träumereien durch einen Flintenknall unterbrochen wurde. Er stand auf und richtete sein Auge nach der Seite der Ebene, woher der Ton kam. Es folgten bald andere Flintenschüsse in ungleichen Zwischenräumen, die immer näher kamen; endlich erschien auf dem Fußpfad, der von der Ebene zu Mateos Haus führte, ein Mann, der mit einer spitzen Mütze bedeckt war, wie die Bergbewohner sie tragen; er war bärtig, mit Lumpen bekleidet und schleppte sich kaum fort, indem er sich auf seine Flinte stützte. Er hatte einen Schuß in den Schenkel bekommen.

Dieser Mann war ein Proskribierter, der in der Nacht in die Stadt gegangen war, um Pulver zu kaufen und unterwegs in einen Hinterhalt korsischer Voltigeurs geraten war. Nach tapferer Gegenwehr war es ihm gelungen, seinen Rückzug zu machen, indem er von Fels zu Fels auf seine Verfolger schoß. Aber er hatte nur noch wenig Vorsprung vor den Soldaten, und der Zustand seiner Wunde ließ nicht hoffen, daß er das Mâquis erreichen würde, ehe sie ihn einholten.

Er näherte sich dem Fortunato und fragte ihn:

»Bist du Mateo Falcones Sohn?«

»Ja.«

»Ich bin Gianetto Sanpiero; ich werde von den gelben Kragen verfolgt (die Uniform der Voltigeurs war ein brauner Rock mit gelbem Kragen). Verbirg mich, ich kann nicht weiter.«

»Was wird aber mein Vater sagen, wenn ich dich ohne seine Erlaubnis verberge?«

»Er wird sagen, daß du wohl getan hast.«

»Wer weiß.«

»Verbirg mich schnell, sie kommen.

»Warte, bis mein Vater wieder da ist.«

»Ich soll warten? Verdammte Geschichte! In fünf Minuten sind sie hier. Rasch, verbirg mich, oder ich bringe dich um.«

Fortunato antwortete ihm mit der größten Kaltblütigkeit: »Deine Flinte ist nicht geladen, du hast keine Patronen mehr in deinem Sack.«

»Ich habe meinen Dolch.«

»Aber kannst du so rasch laufen, wie ich?« Er machte einen Sprung und kam aus seiner Nähe.

»Du bist nicht Mateo Falcones Sohn; wirst du mich vor deinem Hause gefangen nehmen lassen?«

Der Knabe schien betroffen.

»Was gibst du mir?« sagte er, indem er wieder näher kam.

Der Proskribierte suchte etwas in einer Ledertasche, die an seinem Gürtel hing und zog ein Fünffrankenstück heraus, für das er wahrscheinlich hatte Pulver kaufen wollen. Fortunato lächelte beim Anblick des Geldstückes, nahm es und sagte zu Gianetto: »Fürchte nichts!«

Sogleich machte er ein großes Loch in einen Heuhaufen nahe beim Hause. Gianetto verkroch sich darin, und das Kind überdeckte ihn so, daß es ihm wenig Luft zum Atmen ließ, ohne daß man merken konnte, im Heu stecke jemand. Er hatte noch einen Einfall, der der erfinderischen Schlauheit eines Wilden gleichkam. Er holte eine Katze mit ihren Kleinen und setzte sie auf den Heuhaufen, um glauben zu machen, derselbe sei seit lange nicht berührt worden. Als er darauf Blutspuren auf dem Wege nach dem Hause bemerkte, bedeckte er sie sorgfältig mit Staub und legte sich dann wieder in voller Ruhe in die Sonne hin.

Einige Minuten darauf kamen sechs Mann in brauner Uniform mit gelben Umschlägen unter Führung eines Adjutanten vor Mateos Haus. Dieser Adjutant war bis zu einem gewissen Grade mit Mateo verwandt (es ist ja bekannt, daß in Korsika die Verwandtschaftsgrade viel weiter gehen, wie anderswo). Er hieß Tiodoro Gamba; es war ein tätiger Mann, den die Proskribierten, von denen er schon viele aufgespürt hatte, sehr fürchteten.

»Guten Tag, kleiner Cousin«, sagte er näher kommend zu Fortunato; »wie groß bist du geworden!«

»O, Cousin, ich bin noch nicht so groß wie du,« sagte das Kind mit einfältiger Miene.

»Das wird schon kommen; aber hast du nicht einen Mann vorbeigehen sehen? Sag mir mal – –«

»Ob ich einen Mann habe vorbeigehen sehen?«

»Ja, einen Mann mit spitzer Mütze von Ziegenfell und einem gelb und rot gestickten Wams.«

»Ein Mann mit spitzer Mütze und einem gelb und rot gestickten Wams?«

»Ja; antworte gleich und wiederhole meine Fragen nicht.«

»Heute morgen ist der Herr Pfarrer auf seinem Pferde Pietro vor unserer Tür vorübergeritten. Er hat mich gefragt, wie Papa sich befände, und ich habe ihm geantwortet –«

»O du kleiner Schlingel spielst den Dummkopf; sag mir rasch, wo Gianetto vorbei gekommen ist; denn ihn suchen wir, und ich weiß, daß er diesen Weg eingeschlagen hat.«

»Wer weiß?«

»Wer weiß? Ich weiß, daß du ihn gesehen hast.«

»Sieht man die Vorübergehenden, wenn man schläft?«

»Du schliefst nicht, Taugenichts; die Flintenschüsse haben dich geweckt.«

»Du glaubst also, Cousin, daß eure Flinten so viel Lärm machen? Meines Vaters Karabiner macht viel mehr.«

»Zum Teufel mit dir, verdammter Junge. Ich bin gewiß, daß du Gianetto gesehen hast. Vielleicht hast du ihn sogar verborgen. Auf, Kameraden, ins Haus; laßt uns sehen, ob er nicht drinnen ist. – Er schleppte sich nur noch auf einem Beine, und er ist zu klug, um zu versuchen, ob er humpelnd das Mâquis erreichen würde. Übrigens hören hier auch die Blutspuren auf.

»Und was wird Papa sagen,« fragte Fortunato höhnisch lächelnd, »wenn er erfährt, daß man in seiner Abwesenheit sein Haus betreten hat?«

»Schurke«, sagte der Adjutant, indem er ihn beim Ohr faßte, »weißt du, daß es nur von mir abhängt, dich aus einem anderen Loche pfeifen zu lassen, wenn ich dir ein Dutzend Schläge mit flacher Klinge gebe, wirst du wohl reden.«

Fortunato grinste immerfort.

»Nein Vater ist Mateo Falcone,« sagte er emphatisch.

»Weißt du wohl, kleiner Schelm, daß ich dich nach Corte oder Bastia abführen kann. Ich lasse dich in einen Kerker stecken und mit Eisen an den Beinen auf Stroh legen; ich lasse dich guillotinieren, wenn du nicht sagst, wo Gianetto ist.«

Das Kind brach bei dieser Drohung in Lachen aus, und wiederholte: »Mein Vater ist Mateo Falcone!«

»Adjutant,« sagte ganz leise einer der Voltigeurs, »wir dürfen uns nicht mit Mateo Falcone in Angelegenheit bringen.«

Gamba war augenscheinlich verlegen; er sprach leise mit seinen Soldaten, die schon das ganze Haus durchsucht hatten. Die Operation dauerte nicht lange; denn die Wohnung eines Korsen besteht aus einem einzigen viereckigen Zimmer. Die Möbel bestehen aus einem Tisch, der auch als Bett dient, aus Bänken, Koffern und Jagd- und Haushaltungsgerät. Währenddessen streichelte Fortunato seine Katze und schien boshaft genug, sich an der Verlegenheit der Voltigeurs und seines Cousins zu ergötzen.

Ein Soldat nahte sich dem Heuhaufen. Er sah die Katze und stach nachlässig in den Heuhaufen, merkte aber bald achselzuckend, daß dies eine lächerliche Vorsicht war. Nichts regte sich, und das Gesicht des Kindes verriet nicht die geringste Erregung.

Der Adjutant und die Truppe verschworen sich dem Teufel; sie blickten schon auf die Ebene, als wollten sie dahin zurückkehren, woher sie gekommen waren, als ihr Führer, überzeugt, daß Drohungen nichts über Falcones Sohn vermochten, einen letzten Versuch machte und sehen wollte, was Schmeicheleien und Geschenke vermöchten.

»Kleiner Cousin,« sagte er, »du scheinst mir ein aufgeweckter Bursche zu sein; du wirst es noch weit bringen; aber mit mir spielst du ein schlechtes Spiel, und wenn ich nicht fürchtete, meinem Vetter Mateo wehe zu tun, so nähme ich dich mit mir.«

»Bah!«

»Aber wenn mein Vetter zurückkommt, werde ich ihm die Sache erzählen, und er wird dich für dein Lügen bis aufs Blut peitschen.«

»Das kommt noch darauf an.«

»Du sollst sehen; aber sei ein braver Bursche, und ich gebe dir etwas.«

»Ich, Cousin, gebe dir einen Rat: wenn du noch lange zauderst, wird Gianetto im Mâquis sein, und dann bedarf es mehr als eines Tausendsasas wie du, um ihn daselbst zu suchen.«

Der Adjutant zog aus seiner Tasche eine silberne Uhr, die sechs Taler wert war, und da er bemerkte, daß die Augen des kleinen Fortunato funkelten, als er sie sah, sagte er, indem er die Uhr an einer stählernen Kette baumeln ließ: »Schelm, du möchtest wohl eine solche Uhr an deinem Halse hängen haben? Dann würdest du stolz wie ein Pfau in den Straßen von Porto-Vecchio umher spazieren, und dann würden die Leute dich fragen, wieviel Uhr es ist, und du würdest antworten: Seht auf meine Uhr.«

»Wenn ich groß bin, gibt mir mein Oheim, der Caporale, eine Uhr.«

»Ja; aber der Sohn deines Oheims hat schon eine; sie ist freilich nicht so schön wie diese; aber er ist auch jünger als du.«

Das Kind seufzte.

»Nun, willst du die Uhr, kleiner Cousin?«

Fortunato schielte auf die Uhr, und glich dabei einer Katze, der man ein ganzes Huhn vorhält. Da sie merkt, daß man mit ihr spaßt, wagt sie nicht, die Krallen danach auszustrecken und wendet von Zeit zu Zeit die Augen ab, um der Versuchung nicht zu erliegen; aber sie leckt die Lippen, als wollte sie ihrem Herrn sagen: Dein Spaß ist grausam.

Indes der Adjutant Gamba schien es ehrlich zu meinen, als er seine Uhr darbot. Fortunato streckte die Hand nicht aus, aber er sagte mit bitterem Lächeln: »Warum machst du dich über mich lustig?«

»Mein Gott, ich mache mich ja nicht über dich lustig: sage mir nur, wo Gianetto ist, und die Uhr ist dein.«

Fortunato lächelte ungläubig, und indem er seine schwarzen Augen auf die des Adjutanten heftete, suchte er zu erforschen, ob er seinen Worten Glauben beimessen dürfte.

»Ich will meine Epauletts verlieren,« sagte der Adjutant, »wenn ich dir nicht unter dieser Bedingung die Uhr gebe. Die Kameraden sind Zeugen, ich kann mich nicht wieder davon lossagen.«

Indem er so sprach, hielt er die Uhr immer näher, so daß sie beinahe das Gesicht des Kindes berührte. Dieses zeigte in seinen Zügen den Kampf, den sich in seiner Seele die Begehrlichkeit und die dem Gastrecht schuldige Ehrfurcht lieferten. Seine nackte Brust hob sich gewaltig, und er schien nahe am Ersticken zu sein Währenddessen schwebte die Uhr vor ihm hin und her, drehte sich und berührte ihm mitunter die Nasenspitze. Dann erhob sich seine rechte Hand bis zur Uhr, und er berührte sie mit seiner Fingerspitze, und endlich lastete sie ganz auf seiner Hand, ohne daß jedoch der Adjutant das Ende der Kette losließ. Das Zifferblatt war blau; das Innere des Deckels erst neuerdings poliert; in der Sonne leuchtete sie wie Feuer. Die Versuchung war zu groß. Fortunato hob seine linke Hand empor und wies mit dem Daumen auf den Heuhaufen hin, an den er sich lehnte. Der Adjutant begriff ihn sogleich. Er ließ die Kette fallen, und Fortunato war Besitzer der Uhr. Er stand mit der Beweglichkeit einer Hirschkuh auf und entfernte sich auf zehn Schritt vom Heuhaufen, den die Voltigeurs sogleich zu durchstöbern begannen. Man sah das Heu sich bewegen, und ein bluttriefender Mann, einen Dolch in der Hand, kletterte heraus; aber als er es versuchte, auf seinen Füßen zu stehen, erlaubte die erkaltete Wunde ihm nicht mehr, sich zu halten. Er fiel; der Adjutant warf sich auf ihn und entriß ihm seinen Dolch. Sogleich band man ihn trotz seines Widerstandes fest.

Gianetto, auf der Erde liegend und wie ein Strohbündel zusammengeschnürt, wendete sein Haupt gegen Fortunato, der sich ihm genähert hatte. »Du Sohn einer – –«, sagte er zu ihm mit mehr Verachtung als Zorn. Der Knabe warf ihm das Geldstück, das er von ihm erhalten hatte, entgegen, indem er fühlte, daß er aufgehört hatte, dasselbe zu verdienen. Mit vieler Kaltblütigkeit sagte Gianetto zum Adjutanten: »Nein lieber Gamba, ich kann nicht gehen, du wirst mich in die Stadt tragen lassen müssen.«

»Du liefst heute schneller als ein Hirsch,« erwiderte der grausame Sieger; »aber sei ruhig, ich bin so zufrieden, dich zu haben, daß ich dich, ohne müde zu werden, eine halbe Meile weit auf meinem Rücken tragen würde. Übrigens, mein Kamerad, wir wollen für dich eine Bahre aus Baumzweigen und einem Mantel machen, und beim Pachthofe von Crespoli werden wir Pferde finden.«

»Gut«, sagte der Gefangene; »du mußt auch etwas Stroh auf die Bahre legen, damit ich es bequemer habe.«

Während die Voltigeurs beschäftigt waren, die einen eine Art Bahre aus Kastanienzweigen zu machen, die anderen die Wunde Gianettos zu verbinden, erschienen Mateo Falcone und sein Weib auf einmal an der Ecke des Fußpfades, der zum Mâquis führt. Das Weib schritt nur langsam, denn es erlag fast unter der Last eines schweren Sackes voll Kastanien, während ihr Mann sich's bequem gemacht hatte; er trug nur eine Flinte in der Hand und eine zweite im Bandelier; es ist nämlich in Korsika eines Mannes unwürdig, eine andere Last als seine Waffe zu tragen. Beim Anblick der Soldaten war Mateos erster Gedanke, sie kämen, ihn zu arretieren. Aber woher dieser Gedanke? Hatte Mateo etwas mit der Gerechtigkeit zu schaffen? Nein, er genoß eines guten Rufes. Er war, wie man zu sagen pflegt, eine gut beleumundete Person; aber er war Korse und Bergbewohner, und es gibt keinen korsischen Bergbewohner, der, wenn er in seinem Gedächtnis gehörig nachforscht, nicht irgend eine kleine Sünde findet, einen Flintenschuß, einen Dolchstich und andere Bagatellen der Art. Mateo hatte mehr wie ein anderer ein gutes Gewissen; denn seit zehn Jahren hatte er seine Flinte auf keinen Menschen gerichtet; aber er war doch vorsichtig und schickte sich an, sich gut zu verteidigen, wenn es nötig wäre.

»Weib«, sagte er zu Giuseppa, »lege deinen Sack auf die Erde und halte dich bereit.«

Sie gehorchte sogleich. Er gab ihr die Flinte, die er im Bandelier trug und die ihn hätte genieren können. Er spannte den Hahn derjenigen, die er in der Hand hatte und ging langsam auf sein Haus zu, indem er an den Bäumen, die den Weg begrenzten, hinstreifte und bereit war, bei der geringsten feindlichen Demonstration sich hinter dem dicksten Stamm zu verbergen, wo er unter Deckung schießen konnte. Seine Frau folgte ihm auf den Fersen, indem sie seine zweite Flinte und Patrontasche trug.

Das Amt einer guten Hausfrau im Fall eines Kampfes ist in Korsika, die Flinten ihres Mannes zu laden.

Andererseits war der Adjutant sehr in Not, als er Mateo so gemessenen Schrittes auf sich zukommen sah, mit vorgehaltenem Gewehr und den Daumen auf dem Hahn.

Wäre Gianetto, dachte er, zufällig Mateos Verwandter, oder sein Freund, wollte er ihn verteidigen, dann käme die Ladung seiner beiden Flinten so sicher zu zweien von uns, wie ein Brief zur Post, und zielte er auf mich, trotz der Verwandtschaft – – –

In dieser schwierigen Lage faßte er einen mutigen Entschluß, nämlich den, dem Mateo entgegenzugehen, um ihm die Sache zu erzählen und ihn dabei wie einen alten Bekannten anzureden. Aber der kurze Zwischenraum, der ihn von Mateo trennte, schien ihm schrecklich lang.

»Halloh, alter Kamerad!« rief er ihm entgegen; »wie geht's, mein Braver? Ich bin Gamba, dein Cousin.«

Mateo, ohne ein Wort zu erwidern, hatte innegehalten, und während der andere sprach, leise seine Flinte in die Höhe gehoben, so daß der Lauf derselben sich nach oben richtete, als der Adjutant zu ihm trat.

»Guten Tag, Bruder,« sagte der Adjutant, indem er ihm die Hand entgegenstreckte; »es ist schon lange her, daß ich dich nicht gesehen habe.«

Buon giorno, fratello, ist der gewöhnliche Gruß der Korsen.

»Guten Tag, Bruder.«

»Ich bin gekommen, dich und meine Cousine Pepa im Vorbeigehen zu begrüßen. Wir haben heute einen langen Marsch gehabt; aber wir haben nicht über unsere Ermüdung zu klagen; denn wir machten einen famosen Fang: wir haben den Gianetto Sanpiero beim Kragen gefaßt!«

»Gott sei gelobt!« rief Giuseppa aus; »er hat uns eine milchgebende Ziege in der vorigen Woche gestohlen.«

Diese Worte machten dem Gamba Freude.

»Der arme Teufel!« sagte Mateo; »er hatte Hunger.«

»Der Kerl hat sich wie ein Löwe verteidigt,« fuhr der Adjutant etwas bedrückt fort; »er hat mir einen meiner Voltigeurs getötet, und damit nicht zufrieden, hat er dem Korporal Chardon den Arm zerschossen; aber das schadet nicht, das ist nur ein Franzose – – –

Drauf hat er sich so gut versteckt, daß der Teufel selber ihn nicht hätte entdecken können. Ohne meinen kleinen Cousin hätte ich ihn nicht gefunden.

»Fortunato?« rief Mateo.

»Fortunato?« wiederholte Giuseppa.

»Ja, der Gianetto hatte sich unter diesem Heuhaufen versteckt; aber mein kleiner Cousin hat mir den Schlupfwinkel gezeigt. Ich werde deshalb auch seinem Oheim, dem Caporale, sagen, daß er ihm dafür ein Geschenk machen soll. Sowohl sein Name, wie der deinige werden in den Rapport kommen, den ich dem Generalprokurator schicken werde.«

»Verflucht!« sagte Mateo leise vor sich hin.

Sie hatten das Detachement eingeholt. Gianetto lag schon auf der Tragbahre, und man war im Begriff, ihn fortzutragen. Als er den Mateo in Gesellschaft Gambas sah, lächelte er ganz eigentümlich, wendete sich dann dem Hause zu und sagte, indem er auf die Schwelle desselben spuckte: » Haus eines Verräters!« Nur ein zum Sterben entschlossener Mann hätte gegen Falcone das Wort Verräter aussprechen können. Ein guter Dolchstich, der nicht wiederholt zu werden brauchte, hätte gleich die Beleidigung wett gemacht. Aber Mateo tat nichts; er legte nur die Hand an seine Stirn wie ein geschlagener Mann. Fortunato war ins Haus getreten, als er seinen Vater kommen sah. Er kam bald wieder mit einem Milchnapf heraus, den er mit niedergeschlagenen Augen dem Gianetto darbot. – »Fort von mir«, rief ihm der Proskribierte mit niederschmetternder Stimme zu, und indem er sich dann zu einem der Voltigeurs wandte, sagte er: »Kamerad, gib mir zu trinken.« Der Soldat gab ihm seine Feldflasche, und der Bandit trank von dem Wasser, das ihm ein Mann darreichte, mit dem er soeben noch Flintenschüsse gewechselt hatte. Dann bat er, man möge ihm die Hände so binden, daß sie ihm auf der Brust, statt auf dem Rücken lägen. Ich liege gern bequem, sagte er dabei. Man erfüllte seinen Wunsch, und dann gab der Adjutant das Zeichen zum Aufbruch, sagte dem Mateo Lebewohl, der ihm nicht antwortete, und stieg raschen Schrittes zur Ebene hinab.

Es vergingen etwa zehn Minuten, bis Mateo den Mund öffnete. Der Knabe blickte mit unruhigem Auge bald auf seine Mutter und bald auf seinen Vater, der sich auf seine Flinte stützend ihn mit konzentriertem Ingrimm betrachtete.

»Du fängst gut an«, sagte endlich Mateo mit ruhiger Stimme, aber mit einem Tone, der jeden erschrecken mußte, der ihn kannte. »Mein Vater«, rief das Kind mit Tränen in den Augen und wollte sich ihm zu Füßen werfen; aber Mateo rief ihm zu: »Fort von mir!« und das Kind blieb schluchzend einige Schritte von seinem Vater entfernt stehen.

Giuseppa kam hinzu; sie hatte die Uhrkette bemerkt, deren eines Ende aus Fortunatos Hemd heraushing.

»Wer hat dir diese Uhr gegeben?« fragte sie mit strengem Tone.

»Mein Vetter, der Adjutant –«

Falcone ergriff die Uhr und warf sie so heftig gegen einen Stein, daß sie in tausend Stücke zersprang.

»Weib,« sagte er, »ist dies Kind von mir?« Die braunen Wangen Giuseppas wurden rot wie Ziegelsteine.

»Was sagst du, Mateo, du weißt doch wohl, mit wem du redest?«

»Nun, dies ist das erste Kind aus unserem Geschlecht, das einen Verrat begangen hat.«

Fortunatos Seufzen und Stöhnen nahm zu, und Falcone heftete seine Luchsaugen fest auf ihn. Dann stieß er die Flinte auf den Boden, nahm sie wieder auf die Schulter und rief Fortunato zu, er solle ihm folgen. Das Kind gehorchte.

Giuseppa lief hinter Mateo her und faßte ihn beim Arm. »Es ist dein Sohn,« sagte sie mit zitternder Stimme, indem sie ihre schwarzen Augen auf die ihres Mannes richtete, als wollte sie darin lesen, was in seiner Seele vorging.

»Laß mich«, erwiderte Mateo, »ich bin sein Vater!«

Giuseppa umarmte ihren Sohn und trat schluchzend wieder in ihre Hütte. Sie warf sich vor einem Madonnenbilde nieder und betete mit Inbrunst, währenddessen hatte sich Mateo auf einige hundert Schritte vom Fußpfad entfernt und hielt erst in einer kleinen Schlucht inne, in die er hinabgestiegen war. Er durchwühlte den Boden mit dem Kolben seiner Flinte und fand, daß er weich und leicht umzugraben war. Der Platz schien ihm für seinen Plan günstig.

»Fortunato, geh zu jenem großen Stein.«

Das Kind tat, was ihm befohlen war, und kniete dann nieder.

»Sag' dein Gebet,« sprach Mateo mit furchtbarer Stimme.

Das Kind murmelte stotternd und seufzend das Pater und das Credo. Der Vater sprach mit starker Stimme »Amen« beim Schluß jedes Gebetes.

»Sind das alle Gebete, die du weißt?«

»Vater, ich weiß noch das Ave Maria und die Litanei, die meine Tante mich gelehrt hat.«

»Sie ist sehr lang, doch bete nur.«

Das Kind beendete die Litanei mit erlöschender Stimme.

»Hast du geendet?«

»O, mein Vater, Barmherzigkeit! verzeihe mir, ich werde es nicht wieder tun! Ich will meinen Cousin, den Caporale, bitten, daß man den Gianetto begnadige.«

Er sprach noch. Mateo hatte seine Flinte geladen und legte an, indem er zu ihm sagte: »Gott vergebe dir!« Der Knabe machte eine verzweifelte Anstrengung, um sich zu erheben und die Knie seines Vaters zu umfassen; aber er hatte keine Zeit mehr dazu. Mateo gab Feuer, und Fortunato fiel tot zu Boden.

Ohne einen Blick auf den Leichnam zu werfen, ging Mateo wieder in sein Haus und holte eine Schaufel, um seinen Sohn einzuscharren. Kaum hatte er einige Schritte getan, als Giuseppa, durch den Schuß aufgestört, herbeieilte.

»Was hast du getan?« rief sie aus.

»Gerechtigkeit geübt.«

»Wo ist er?«

»In der Schlucht; ich will ihn begraben. Er ist als Christ gestorben. Ich werde eine Messe für ihn lesen lassen. Man soll meinem Schwiegersohn Tiodoro Bianchi sagen, daß er bei mir einziehe.«


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