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Wenn die Erdbeerenzeit kommt, wissen die Einwohner der Stadt Hannover nicht recht, was sie mit der unmäßigen Menge dieser Früchte anfangen sollen. Vor zwanzig, dreißig Jahren waren die Erdbeeren noch rar, aber spekulative Köpfe sagten sich, daß man ohne Schwierigkeit auch vornehme Gartenerzeugnisse en masse produzieren könne, und der Plan reüssierte so vortrefflich, daß Hannover heutzutage im Frühling von Erdbeeren und Spargeln überschwemmt wird. Die alte Welfenstadt gleicht in dieser Hinsicht der Nachbarin, der noch älteren Welfenstadt Braunschweig, die mit ihrer Riesenproduktion von Spargeln, Schokolade, Honigkuchen, Cervelatwürsten, Konserven, Leberwürsten und so weiter in der ganzen Welt einzig dasteht.
Als Marie noch klein war, aß man die Erdbeeren mit gestoßenem Zucker, als sie größer wurde, erfand man die Mischung der roten Beeren mit weißer Schlagsahne, aber erst im Frühling 1888 lernte sie das allervornehmste Rezept kennen: Erdbeeren in Champagnercreme. Es ist das eine superbe Komposition, deren allgemeine Verbreitung sich durch die allzu großen Herstellungskosten verbietet, die aber allenthalben dort, wo man der Kochkunst Konzessionen machen kann, mit Recht beliebt ist.
Natürlich war es Berlin, wo Marie die neue Speise kennen lernte – in Hannover hätte sie dazu keinerlei Gelegenheit gehabt –, und zwar bei dem famosen Diner, das die alte Excellenz von Dewitz ihr zu Ehren im Hotel Monopol veranstaltete.
Diese ganzen acht Tage, die sie nun schon in Berlin verlebt hatte, waren ein einziger Freudenrausch. Sie wurde gefeiert wie ein glänzender Stern, der plötzlich aufgetaucht ist und der alle andern Sterne und Sternchen verdunkelt. Sie wohnte bei den Dewitz in der Kurfürstenstraße, aber die alte Tante, die sie mit offenen Armen aufgenommen hatte, sah ihren strahlenden jungen Gast eigentlich nur frühmorgens.
»Joseph Heidenstamms Braut!« Die drei Worte hätten als Empfehlungsbrief für das »Provinzmädel« vollständig genügt, denn der glänzendste Reiter der Armee war in der Gesellschaft der »Garden-Stadt« – seiner eigentlichen Garnison – noch besser bekannt wie in seiner Heimat Hannover.
Aber was brauchte Marie Empfehlungsbriefe! Sie sah reizender aus als je, sie hatte diesen Gipfel erreicht, den auch das schönste Mädchen nur kurze Zeit – vielleicht nur Monate, vielleicht nur Wochen, vielleicht nur einen einzigen Tag – behauptet. Sie selbst weiß es nicht, wann die Stunde dieser feinsten Blüte erreicht ist, und wir andern wissen es auch nicht, bis eines Tages auch der ungeübte Blick sieht, daß die lieblichsten Tage der kleinen, immer noch duftenden Rose vorüber sind. Und dann erinnern wir uns erst, wie schön sie war, – war!
Sie selbst kommt zu dieser Einsicht erst viel, viel später, und das ist gut so. Moralische Philosophenklagen über das geringe Maß menschlicher Selbsterkenntnis, das doch eine der besten Gaben einer gütigen Natur ist. Wie jammervoll wäre die Welt, wenn jeder sich richtig beurteilen könnte und wollte! Eine larmoyante Welt ohne Freude!
Die Reise nach Berlin bildete in ihrem größten Teile Maries glücklichste Zeit.
Schon die Vorbereitungen boten eine Fülle angenehmer Sorgen. Man mußte eine Unmenge neuer Kleiderstoffe kaufen, die Joseph in eigner Person auswählen half und die von Fräulein Schilling – einer Dame, die schon Maries Kinderkleidchen genäht hatte – mit solcher Bewunderung betrachtet und mit solcher Aengstlichkeit zugeschnitten wurden (denn sie war sich der ungeheuern Verantwortung wohl bewußt), daß alle drei neuen Kleider total mißlangen. Aber was will auch das mißlungenste Kleid bedeuten, wenn seine Trägerin die schönste Jugendlichkeit verkörpert! Niemand bemerkte die technischen Irrtümer an der blauseidenen Taille, niemand die unmodernen Aermel an dem englischen Straßenkleide; und Maries unermeßlicher Erfolg, der von Berlin natürlich nach Hannover hinübertönte, versetzte Fräulein Schilling in den Wahn, daß sie die erste wirklich bedeutende Aufgabe ihres Lebens genial gelöst habe.
Dann gab es große Wäsche, und alle die zahllosen Wäschestücke, die Maries Riesenkoffer zu füllen bestimmt waren – hinreichend, um damit eine Reise nach Australien anzutreten –, wurden von ihr selbst im Laufe zweier Tage geplättet. Zweimal kam Joseph, um sie zu einem Spaziergange abzuholen, und Marie lief dann aus der Küche zu ihm ins Wohnzimmer, um ihm mitzuteilen, daß sie unter keinen Umständen, selbst nicht dem Geliebten zuliebe, von dem Steinkohlenfeuer und den heißen Plättbolzen sich auf länger als fünf Minuten entfernen dürfe. Sie trug ein helles Kattunkleid mit ganz kurzen Aermeln, aus dem ihr weißer Hals und die schlanken Arme hervorschauten. Ihre Backen waren von der Herdhitze glühend heiß, und ihre Augen schienen noch strahlender als sonst.
Es war wirklich Joseph nicht zu verdenken, daß er sich die Erlaubnis erbat, dem Plättgeschäfte beiwohnen zu dürfen, aber sie litt ihn nur eine kleine Viertelstunde in ihrer Küche, nur eben so lange, um ihm an einem harmlosen Taschentuche zu demonstrieren, daß sie wirklich in der Kunst des Plättens ebenso erfahren sei wie in der sonstigen Leitung eines Haushaltes. Bei der Instandsetzung aller übrigen Damenwäsche war seine Anwesenheit unnötig, durchaus, und all sein Bitten um Verlängerung des Aufenthaltes in der Küche fand unnachsichtliche Zurückweisung. Es wurde auf Gnade Joseph noch gestattet, das Plätteisen selbst einmal in Bewegung zu setzen, wobei er ein Batisttuch dermaßen malträtierte, daß Marie vor Lachen sterben und die alte Anna Krämpfe bekommen wollte, dann aber war die Gnadenfrist abgelaufen, und Joseph wurde mitleidlos hinauskomplimentiert.
Schließlich mußte für die Berliner Reise eine förmliche kleine Aussteuer gekauft werden: neue Knopfstiefel, neue Hausschuhe, neue Ballschuhe – man konnte ja nicht wissen, ob in Berlin nicht auch im Sommer getanzt wird, und es wurde in der Tat während Maries dortigem Aufenthalt zweimal getanzt – neue Handschuhe, neue Bänder, neue Strümpfe, neue – kurz und gut, so viel Neues, daß die kleine Kasse der Mama außerordentlich stark mitgenommen wurde. Aber es war freilich hohe Zeit gewesen, die allzu sparsam gehaltene Toilettenausstattung Maries aufzufrischen.
Berlin!
Der bloße Name hatte für Marie seit ihrer Kinderzeit immer etwas Mystisches gehabt. Das war die große Stadt, die da im Osten lag; mit den Kurierzügen, die sie täglich über die Eisenbahnbrücke der Königstraße donnern hörte, in fünf Stunden zu erreichen, für Marie aber so fern wie ein Märchenland, von dem man wohl hört, das man indessen nie sehen wird.
Die Stadt des Kaisers, der Garden, der großen Paläste, der Botschafter, die Stadt, wo die vielen Mordtaten passieren, voll von Schönem und Schrecklichem! Jeden Tag liest man in den Zeitungen irgend etwas, das in Berlin vor sich ging, alle Freundinnen waren schon dort und erzählen begeistert die kleinsten Details ihrer Reise, man sieht Abbildungen der Straßen, Schlösser, Theater, aber alles dieses Viele zusammengenommen gibt nur ein vages Bild, das allenthalben Lücken zeigt und im Grunde genommen nichts, gar nichts sagt.
Und nun saß Marie in dem Schnellzuge, der aus der Glashalle des großen hannoverschen Bahnhofs langsam hinausrollte, und wußte, daß sie in vier Stunden und dreißig Minuten in Berlin sein würde.
In der Stadt, die nach ihrer Verheiratung wohl für immer ihre neue Heimat werden sollte!
Wie ein Kind schaute sie aus dem Fenster nach jedem vorbeifliegenden Hause. –
– Die Leute in Berlin spielen nicht gern Bärenführer, weil sich das für alle die, die eine zahlreiche Provinzialverwandtschaft haben, als eine der mühseligsten, ewig gleichen, kostspieligen und zeitraubenden Arbeiten erweist. Man hat darüber oft geschrieben, es lohnt sich nicht, die uralte tragikomische Geschichte neu aufzuwärmen.
Aber Marie durfte sich über ihre Führer nicht beklagen, denn – um bei dem Bilde zu bleiben – einen so niedlichen und hübschen Bären, einen so dankbaren und alles bewundernden Bären gab es nicht leicht zum zweitenmal.
Joseph kam in den ganzen ersten zehn Tagen nur einmal nach Berlin, an einem Sonntage, weil er erstens keinen Urlaub hatte und zweitens mit dem Training seines Hengstes jeden Morgen in Hannover beschäftigt war; aber vielleicht war es ganz gut so, denn an diesem einen Tage zeigte er sich so nervös und müde, daß Marie von Sanssouci und der Dampferfahrt nach Wannsee wenig Freude hatte.
Allen andern schien Josephs Wesen durchaus begreiflich, denn:
»Beste Marie, in fünf Tagen haben wir die ›Armee‹!«
»Beste Marie, da soll einer nicht nervös sein! Wenn er sein eignes Pferd vor Seiner Majestät in der ›Armee‹ reiten soll! Ein Pferd, das Favorit ist! Von dem ganz Berlin redet!«
Wirklich, ganz Berlin redete davon. Saß Marie früh beim Kaffee, so stöberte Cousine Franziska »Post« und »Kreuzzeitung« durch, bis sie die »Sportnachrichten« entdeckt hatte, in denen fast regelmäßig und täglich von Herrn von Heidenstamm und »Frangipani« irgend etwas zu lesen stand.
Alle Vettern und Cousinen waren erstaunt, daß Marie von der Sache nichts verstand.
»Sie kann nicht einmal reiten!« erzählte Franziska allen Bekannten, die das zunächst nicht glauben wollten, nachträglich aber fanden, daß diese sportliche Unerfahrenheit Marie einen entzückenden Schimmer von Naivität verlieh.
»Sie weiß nicht, was Training ist, sie weiß nicht, daß ›Frangipani‹ Favorit ist, sie weiß nicht einmal, was das heißt: Favorit!«
»Reizend, reizend!« sagte der lange Onkel, »wie das einem wohl tut, endlich einmal ein junges Mädchen zu finden, das Mensch ist!«
»Sie hat nie die ›Sportwelt‹ in der Hand gehabt, sie weiß nicht, was Wetten sind, ich meine Rennwetten.«
»Reizend.«
Franziska gab ihr die Sportzeitungen zu lesen, die in langen Leitartikeln das bevorstehende große Rennen besprachen, und es war für Marie ein seltsames Gefühl, Josephs Namen da immer wieder zu finden. Seine Reitkunst und seine körperliche Kraft wurden in Ausdrücken gelobt, die sie in Erstaunen und Verwirrung versetzten. Fremde Menschen schrieben das, wußten das, und sie, seine Braut, hatte sich um das alles nie gekümmert.
»Warum hat er mir das nie zu lesen gegeben?« fragte sie sich, und ein Gefühl von stolzer Freude stieg in ihr auf: »Weil Joseph zu groß denkt und zu bescheiden!«
Sie sammelte alle die Zeitungen und bat Franziska, ihr jeden Fachausdruck zu erklären. Sie war bei dem Studium dieser trockenen Materie mit einem wahren Feuereifer und freute sich wie ein Kind darauf: welches erstaunte Gesicht Joseph machen mußte, wenn sie wie eine Sportlady mit allem vertraut sein würde.
In den Gesellschaften drängten die Herren um sie mit Fragen nach Joseph: Glaubt er, daß er gewinnen wird? Wann kommt er? Ist »Frangipani« schon nach Berlin geschafft? – bis in dem weltunerfahrenen Mädchenkopfe Wesen und Wert und Bedeutung dieses Themas bizarre Formen annahmen. Ganz Berlin schien für sie nur noch um das große Armeerennen sich zu drehen, in dessen Mittelpunkt wie alle Menschen und alle Zeitungen versicherten, Joseph stand.
Ihr Liebster war der Held, den die Männer bewunderten und die Frauen wie einen ruhmgekrönten Sieger verehrten, dem vielleicht der Kaiser selbst den Preis reichen, und der, wie Franziska ihr hundertmal erzählte, unter einem Jubelsturm der Menschen über den Rennplatz reiten würde.
Maries Liebe zu Joseph konnte nicht größer werden, gewiß nicht, aber ihre Liebe wurde in diesen letzten Tagen fast demütig und fast scheu. Sie so klein und er so groß!
Schließlich schien es ihr, als drücke das alles wie eine schwere Last sie tiefer und tiefer, aber in dem Augenblicke, wo Joseph kommen und sie umarmen würde, fiel diese Last, das wußte sie, von ihrem Herzen, und sie würde sich an ihn schmiegen und wieder ganz leicht und ganz glücklich an seiner Brust ruhen.
Nein: sie nicht klein und er nicht groß. Zwei, die zu einander gehören, wie früher, wie immer. Was braucht man da zu messen!
Wäre er nur schon da und nähme sie wieder mit!
Dieses Berlin war amüsant und herrlich, von früh bis zur Nacht ein Taumel von Lust und Aufregungen und immer Neues, aber Marie sehnte sich heim.
Nur noch der eine große Tag und dann heim!
*
Sie stand mit Franziska in der Halle des Friedrichs-Bahnhofs, als der hannoversche Zug abends sieben Uhr hereinkam.
Blitzschnell flogen ihre Augen die lange Wagenreihe auf und ab, und da –
»Joseph!«
»Marie!«
»Ach, endlich, endlich!« Sie küßte ihn fast zu stürmisch. »Endlich! Endlich!« Bis Fräulein Franziska ungeduldig wurde und gleichfalls Beachtung verlangte.
»Nun, – Joseph, wie geht's?«
Er schüttelte ihre Hand und stotterte ein paar Worte, wie jemand, der auf das »Abgeholtwerden« nicht vorbereitet war oder doch nur eine einige junge Dame auf dem Bahnhof erwartet hatte, dann blickte er sich ratlos um: »Ist da kein Gepäckträger?« Er hatte ganz das Wesen eines Menschen, der zum erstenmal auf der Eisenbahn gefahren ist und nun ganz verwirrt mit nichts Bescheid weiß. Zwischendurch schenkte er Marie ein flüchtiges Lächeln: »Wie geht's?« – ein Lächeln auf Abschlagszahlung – und suchte dann wieder: »Ist da wirklich kein Gepäckträger? Sie sind alle besetzt. Ich werde die Sachen selbst tragen.«
Die »Sachen« bestanden nur in zwei Gegenständen: einer alten, vielgebrauchten Reitpeitsche und einer großen, vielgereisten Ledertasche, in der sich Sattel und Reitausrüstung befanden.
»Faß an, Marie,« lachte die Cousine, »wir tragen die Tasche,« und Joseph war in einer so merkwürdig kopflosen Verfassung, daß er zunächst keinen Einspruch erhob. Dann freilich besann er sich und nahm den Mädchen die Tasche ab, um sie selbst zur Droschke zu bringen.
»Morgen um diese Zeit,« sagte Franziska, und Joseph und Marie wiederholten den Satz: »Ja, morgen um diese Zeit!« Dann war das große Rennen vorüber, dann wußte man, wie die Zukunft sich gestalten würde.
»Ist ›Frangipani‹ schon in Berlin?«
»Ja, seit gestern abend.«
»Bist du aufgeregt, Joseph?«
Und er nickte ehrlich: »Ja.«
»Tröste ihn, Marie, ich drehe mich um.«
Marie nahm seine beiden Hände in die ihrigen und beugte sich vor: »Joseph?«
Sie schauten sich lange an, während die Droschke über den Königsplatz humpelte und Franziska nach den flatternden Goldkleidern der goldenen Siegesgöttin so aufmerksam emporblickte, als ob sie den starren Faltenwurf zum erstenmal kritisch in Augenschein nähme.
Ein weher Ausdruck zog über Maries Gesicht, denn mit so müden, erschöpften, hoffnungslosen Augen erwiderte Joseph ihren Blick, daß eine tödliche Angst in ihr emporstieg.
An diesem ganzen Abend fanden sie nur ein einziges Mal Gelegenheit, ein paar Minuten miteinander allein zu sein, durch Franziskas Vermittlung, die sie in ihr eignes Zimmerchen führte und als Schutzengel vor der Türe Wache hielt. Zu Josephs Ehren gab es ein festliches Diner, bei dem Marie in dem blauen Seidenmusselin neben Joseph saß, bei dem nur von dem morgen stattfindenden Armeerennen die Rede war, bei dem auf das Brautpaar getoastet wurde, auf Joseph einzeln, auf Marie einzeln, auf den Sieg, bei dem gleich nach der Suppe mit Sekttrinken begonnen wurde und bei dem der alte General allen Nichten und anwesenden jungen Damen die Eröffnung machte, daß er für jede einzelne auf »Frangipani« ein Zwanzigmarkstück wetten werde. Gewann Joseph, so würde die ganze lustige Mädchenschar mit einem klingenden Geldgewinne an dem Siege beteiligt sein.
Sie waren selig: eine Wette, eine richtige Geldwette! »Wieviel wird man da gewinnen?!« Sie drängten mit ihren hellen, leichten Kleidern wie eine Wolke um Joseph: »Joseph, gib dir Mühe! Dies eine Mal mußt du gewinnen! Auf jeden Fall!«
Er lachte, sein blasses Gesicht war von dem Wein und der Aufregung gerötet.
»Ja, ja, selbstverständlich! Wir gewinnen!«
Nachher wurde getanzt, da endlich gelang es Franziska, ihre beiden Schützlinge für ein paar Minuten zusammenzuführen.
Er umschlang Marie stürmisch, seine düstere Stimmung war verflogen, und Marie selbst hatten Wein und Tanz erregt.
Sie sprachen nicht mehr über das Rennen und diese unheimliche Entscheidung ihres Lebensglücks, der sie mit jeder Stunde und jeder Minute näher kamen.
Von fernher aus den Zimmern jenseits des Korridors klangen Musik und Lachen und der dumpfe Ton der tanzenden Füße, von der Straße herauf kam durch die geöffneten Fenster das Klingeln eines verspäteten Pferdebahnwagens.
Und die kleine Wächterin vor der Tür fühlte trotz aller selbstlosen Freundschaft etwas wie einen Stich durch ihr Herz gehen. Die da drinnen waren das glücklichste Brautpaar auf dem weiten Erdenrund, und sie selbst – allein! Vielleicht – großer Gott! – für immer!
*
Um ein Uhr mittags begann auf allen Bahnhöfen der Berliner Stadtbahn der Andrang der Menschen. Eine halbe Stunde später nahm das Drängen an den Billetschaltern und vor den Coupés der langsam einfahrenden Rennzüge lebensgefährliche Dimensionen an. Die Gentlemen mit den gelben Tickets erster Klasse waren froh, in einem Wagen dritter Klasse stehend und in Gluthitze eingepfercht hinausbefördert zu werden, während die Gentlemen mit den Tickets dritter Klasse noch viel froher waren, auf den roten Sammetkissen die kleine Reise zu absolvieren. An eine Kontrolle nicht zu denken! Auf dem Schlesischen Bahnhof wurde der letzte Ansturm so fürchterlich, daß aller Flüche der Beamten ungeachtet die Leute auf die Plattform sich zusammenschoben, auf das Verdeck der Waggons kletterten und in den unglaublichsten Situationen die zwei Meilen lange Schnellzugsfahrt riskierten.
Man kann das Publikum bändigen, wenn es zu Hunderttausenden beim Pfingstfeste ins Freie befördert zu werden wünscht, aber alle Beamtenschaft ist ohnmächtig gegenüber den zehntausend Rennbahnbesuchern, die von der hetzenden Besorgnis gedrängt werden, sie könnten das erste Rennen versäumen, das heißt die erste Gelegenheit zum Wetten verpassen.
»Wer gewinnt die ›Armee‹?«
»›Frangipani‹ und kein andrer!«
»Heidenstamm und kein andrer.«
Die Sonne deckte die riesigen Trains mit einer afrikanischen Glut, bohrte sich durch die verhängten Fenster der Coupés und brachte unglückliche Asthmatiker drinnen in Erstickungsgefahr.
»Wer gewinnt die ›Armee‹?«
Allenthalben dieselbe Frage. Bekannte, die sich einige Zeit nicht gesehen hatten und einander begrüßten, fragten nicht: »Wie geht's?« sondern: »Wer gewinnt die ›Armee‹?«
Nur vorn am Zuge, wo die großen Salonwagen laufen, »reserviert für die Mitglieder des Unionklubs«, gab es glückliche Damen, die ihre neuen Toiletten in leidlicher Verfassung nach Hoppegarten brachten, alle andern Damenkleider wurden zerdrückt, abgerissen, abgetreten, mit Staub bedeckt, von Zigarrenasche überschüttet und von dem Ruß der Lokomotiven geschwärmt.
Das einstimmige Gelübde jedes Mitreisenden war: »Einmal zum Armeerennen und nie wieder,« als man aber glücklich draußen angelangt war und am Büfett die erste Stärkung eingenommen hatte, schien aller Reiseärger verflogen, und die große Frage zirkulierte von neuem: »Wer gewinnt die ›Armee‹?«
Die Kellner, die mit ihren Brettern voll Kaffeetassen und Biergläsern durch die Menge drängten, fanden, halbtot von Hitze und Arbeit, noch die Kraft, mit den Kollegen oder dem Mann am Bierausschank die vier Worte auszutauschen:
»Wer gewinnt die ›Armee‹?«
Und »wer gewinnt die ›Armee‹?« fragte Seine Königliche Hoheit Prinz Leopold, der in Begleitung seines Adjutanten von Berlin her die Fahrt im Zweispänner zurücklegte.
»Joseph Heidenstamm, Königliche Hoheit, mit ›Frangipani‹.«
Ein Gerücht ging über den Rennplatz: »Joseph gewinnt über die ›Armee‹ ein Vermögen, er hat seit Wochen in Berlin und Hamburg sein Pferd wetten lassen: 12000:1000, 10000:1000, nochmal dasselbe, dann 24000:3000, 20000:3000 und so weiter, er steckt mit ›Frangipani‹ alle Buchmacher in die Tasche.«
War das Tatsache, dann mußte Josephs Ritt in der Tat eine »gute Sache« sein, und nun bemächtigte sich des ganzen Rennplatzes ein »Frangipanifieber«.
»Wie lang ›Frangipani‹?«
»Pari.«
»Pari! Bei siebzehn Pferden! Das ist ja Wahnsinn! In einer Steeplechase, wo auch das beste Pferd stürzen kann!«
Aber die Buchmacher und Wettagenten zuckten mit einem verdrossenen Blick die Achseln: »Pari und keinen Deut länger.«
Einer war dabei, ein kleiner Buchmacher Namens Isidor Rosenthal – damals nur wenig bekannt, heute ein angesehener Mann –, der einen Nervenanfall bekam und ins Krankenzimmer geschafft werden mußte, wo man ihm mit Eis und Selterwasser nach einiger Zeit wieder auf die Beine half.
Der behandelnde Arzt gab sich dem verzeihlichen Irrtume hin, daß der Kranke bei der fürchterlichen Hitze eine Art Sonnenstich bekommen habe, aber der »Ring der Buchmacher« wußte besser, an welchem Stich der arme kleine Isidor zusammengeknickt war, nämlich an der ›Armee‹. Es war allgemein bekannt, daß dieser unglückliche verblendete Mensch seit Wochen gegen »Frangipani« gewettet hatte, zu unsinnigen Kursen, daß ihn Habsucht und Spielteufel immer tiefer, zu immer tolleren Engagements veranlaßt hatten, und daß »Frangipanis« todsicherer Sieg Isidor heute das Rückgrat brechen würde.
Man setzte den bleichen und zitternden kleinen Mann in die schattigste Ecke der Tribüne zwischen seine Frau und Schwester, denen der Arzt befahl, ihn unter keiner Bedingung vor Abend wieder in die Sonne zu lassen, und da saß er den langen Nachmittag und wartete mit unnatürlich weit geöffneten Augen auf die ›Armee‹.
Denn das große Ereignis sollte erst nach einigen Stunden in Scene gehen, nachdem drei andre, minderwertige Rennen als Vorspeisen den Appetit des Publikums auf das höchste Maß gesteigert haben würden.
Albrecht von Heidenstamm kam mit einem der Vorortzüge hinaus, so daß er das erste Rennen überhaupt nicht zu sehen erhielt.
Er hatte keine Eile, das Gedränge der Menschen war ihm unangenehm, und ihm, der nie auch nur einen Pfennig wettete, war der Anblick eines Rennens mehr oder weniger absolut gleichgültig.
Für das Armeejagdrennen hatte er den Ritt auf »Madagaskar« übernommen, einem hochbeinigen irischen Steepler, der seinem früheren Regimentskameraden Brandenberg gehörte. Es war ein aussichtsloser Ritt, den man ihm in früheren Jahren nicht anzubieten gewagt hätte, ein schlechtes Pferd, ein mäßiger Springer, gut genug für eine Jagd im Gelände, aber ohne alle Chancen in einem wirklichen großen Rennen.
In seiner Uniform als Hauptmann des Großen Generalstabes wurde er von dem Publikum nur hie und da erkannt und auch von diesen wenigen Rennplatzbesuchern, die sich seiner Glanzzeit erinnerten, kaum beachtet.
Er war nicht eitel, wenigstens nicht in dem Sinne der Bühnensterne und Rennbahnhelden; er hatte auch keinerlei Anlaß, sich über das rasche Vergessen der großen Menge zu erregen; seine glanzvolle Laufbahn innerhalb der preußischen Armee war gesichert, und an leitender Stelle hatte man ein besseres Erinnerungsvermögen für seine einst unvergleichliche Reiterbravour.
Aber ein bitteres Lächeln ging doch über sein Gesicht, als er seitab stehend und unbeachtet plötzlich Joseph sah, der in einem dichten Gefolge von Damen und Herren über den Platz ging. Allenthalben machte man Joseph Platz, drängte heran, um ihn zu sehen, wies auf ihn mit Fingern und grüßte.
»Da! Der da! Ja, der! Das ist der, der Frangipani reitet.«
Nur die wenigsten Leute bedurften dieser Belehrung, aber am »Armeetage« sind Tausende in Hoppegarten, die das ganze Jahr hindurch keine Rennen besuchen und deshalb von den Stammgästen des Turfs über alle Personen und Vorgänge instruiert werden müssen.
So hatte man einst auch auf Albrecht mit Fingern gedeutet!
Es ist ja gut, wenn man den sicheren Hafen erreicht hat, aber damals – das Ringen und Kämpfen – war doch vielleicht schöner. Es war die Jugend gewesen.
›Weshalb habe ich diesen Ritt heute angenommen?‹ dachte er, als Joseph mit seinem Troß hinter den Büschen der Stallungen verschwunden war und er immer noch allein an der Eiche auf der Höhe des Sattelplatzes stand. ›Wie ein alter Komödiant, der immer noch nach den Lampen sich zurücksehnt und immer noch einmal vor dem Publikum sich verbeugen möchte.‹
Da kam Joseph zurück. Er ging wieder mitten über den Platz mit seinem lachenden, schwatzenden Gefolge von Herren und Damen, aber er ging nicht mehr allein, sondern führte Marie am Arm, die mit ihren großen Augen rechts und links schaute.
Und wieder drängte die hin und her wogende Masse hinzu, um den Helden der Rennbahn anzustarren, man bildete förmlich Spalier, diesmal doppelt neugierig, denn wie ein Lauffeuer ging es durch die Menschenmenge: »Das ist Heidenstamms Braut.«
»Seine Braut? Wo?«
»Da.«
Man sprach so laut, daß sie es hören mußte, eine Purpurröte bedeckte ihr schönes Gesicht.
Joseph ging ganz ruhig und unbekümmert, er kannte dieses neugierige Herzudrängen, das sich an jedem Renntage wiederholte, aber Marie war verwirrt, und diese Verwirrung gab dem sonst so ruhigen Mädchen einen seltsamen Liebreiz.
Fürstlichkeiten, Generale, Großwürdenträger des Kaiserlichen Hofes promenierten mit ihren Damen, die in großen Pariser Toiletten erschienen waren, über den weiten Rennplatz, ohne daß die Menge bei dieser Ueberfülle von Uniformen und Schönheiten die einzelnen besonders beachtet hätte, nur um Joseph Heidenstamm und seine junge Braut standen die Menschen wie um ein Königspaar.
Sie verschwanden in der Richtung auf die große Tribüne, und Albrecht stand wieder allein.
In zehn Tagen, seit Marie in Berlin war, hatte er sie nur ein einziges Mal flüchtig gesehen, als er ihr im Hause der Verwandten seinen kurzen formellen Besuch abstattete. Man hatte ihm Einladungen zukommen lassen zu allen Ausflügen, Diners und sonstigen Festlichkeiten, mit denen die Dewitz und die übrige Verwandtschaft den kurzen Aufenthalt der jungen Schönheit feierten, aber er hatte seine Arbeiten vorgeschützt und war allen diesen Veranstaltungen fern geblieben.
Niemand bemerkte das; man war dieses düstere, abweisende, unfrohe Wesen an ihm gewohnt, seit Jahren schon. Er war ein Sonderling geworden, um den sich die Gesellschaft kaum noch kümmerte.
»Marie!«
Er hatte den Namen halblaut ausgesprochen.
Dann raffte er sich zusammen, als wollte er alle Gedanken mit dieser hastigen Bewegung von sich schütteln, und verließ seinen einsamen Platz. Er ging zwischen den Rennpferden durch, die für das nächste Jockeyflachrennen gesattelt wurden, grüßte hie und da einen Bekannten, unterhielt sich eine Zeitlang mit dem Landstallmeister von Trakehnen über den Stand der Remonten und war dann wieder allein.
»Marie!«
Ja, alles, alles gehörte Joseph: das Glück, der Ruhm, die Jugend und Marie.
Und Marie!
Es war zwei Jahre her – im Herbst zwei Jahre –, als Albrecht nach Hannover gereist war und – und – um Marie angehalten hatte. Eine heiße Röte stieg noch jetzt in sein blasses Gesicht, wenn er an jenen Abend dachte.
Damals stand er noch im Zenit seines Ruhms, aber was gingen das junge Ding Reiterruhm und glanzvolle Zukunft an! Sie hatte wohl schon zu jener Zeit den Jungen geliebt, der, kaum der Kadettenschule entwachsen, noch die Fähnrichsuniform trug.
Wie ein abgewiesener Bettler hatte er die letzte Bitte an sie gestellt, daß sie seine Werbung vergessen und mit niemand je darüber sprechen solle.
Vielleicht hatte sie ihr Versprechen gehalten, vielleicht nicht. Auch ein Weib erinnert sich gern seiner Siege und erzählt davon.
»Wenn sie es Joseph gesagt hat –« Er ballte die Hände in ohnmächtigem Grimm.
Seit jenem Abend war Albrecht von Heidenstamm ein einsamer Mensch geworden. Ein Sonderling war er jederzeit gewesen, vielleicht hätte er an der Seite Maries sein Wesen geändert, jetzt zog er sich ganz in sich selbst zurück.
Im Frühling darauf entriß Joseph ihm auf der Rennbahn die führende Stellung, und im nächstfolgenden Herbst eroberte Joseph Marie.
Dem glückte alles.
»Marie!«
Ein großer, schöner Fuchs wurde nahe an ihm vorbeigeführt, und irgend jemand fragte den Stalljungen, der das Pferd ritt:
»Wer ist das? Wie heißt der?«
Der Junge wandte träge den Kopf zur Seite, spuckte aus und sagte mit der mißmutigen Miene jemands, der diese neugierige Frage im Laufe des Nachmittags sehr oft beantworten muß:
»Frangipani.«
Albrecht horchte auf und musterte den Hengst.
»Frangipani.« Er erkannte das Pferd, das er seit einem Jahre nicht gesehen hatte, wieder. Der Hengst hatte sich ausgezeichnet entwickelt, er präsentierte sich glänzend im Haar, mit Muskeln bepackt, vielleicht etwas zu schwer, aber in allen andern Points das Bild eines Steeplers.
»Ja, wer Mut hat, gewinnt.« Er sagte es leise vor sich hin. Er, Albrecht, hatte das nie riskiert, eigne Rennpferde zu halten, die ihn hätten Geld kosten können! Immer vorsichtig, kühl, abwägend! Leute wie Joseph haben das Glück, die Spieler und Draufgeher, die über alle kleinlichen Bedenken sich fortsetzen und das Leben wie eine Hindernisbahn betrachten, wo der am ehesten den Erfolg hat, der ohne Bedenken über Gräben und Mauern fliegt.
Das sind die Leute, die bei den Weibern alle andern ausstechen, während die ernst-bedächtigen Bewerber ausgelacht werden.
Er sah seine Zukunft: ein Hagestolz, der einsam seinen Weg weiter gehen wird, schon jetzt fast zu alt, um sich noch um ein Weib zu bewerben. Er wird alles werden, was innerhalb seiner Carriere jemand erstreben kann: Oberst, General, schließlich eine vertrocknete Exzellenz, die in ihrem Lehnstuhl stirbt.
»Albrecht?«
Er wandte sich um: Joseph stand vor ihm und Marie.
»Wie geht's?«
»Danke.«
Beide reichten ihm die Hand wie einem Bekannten, den man zufällig trifft. Er hatte physische Mühe, Marie anzuschauen und einige gleichgültige Fragen an sie zu stellen:
»Hast du dich in Berlin gut unterhalten?«
»Sehr gut.«
»Wann reisest du wieder nach Hannover?«
»Wahrscheinlich schon morgen.«
»Ah, morgen.«
»Da geht Frangipani,« sagte Joseph, »wie gefällt er dir?«
»Gut.«
»Du reitest, höre ich, auch in der ›Armee‹?«
»Ja.«
»Wen?«
»Madagaskar.«
»Ja, richtig, ich habe davon gehört. Er hat keine besonderen Chancen.«
»Nein.«
»Pardon, Marie, einen Moment.« Joseph ließ sie neben Albrecht stehen und eilte einige Schritte nach rechts, wo sein alter Gönner, der General von Bernstorff, stand, der ihn mit einem Lächeln herübergewinkt hatte. Der General, der zu den Proponenten des Armeerennens gehörte und an diesem Tage zu Hoppegarten gewissermaßen die leitende Rolle spielte, stellte Joseph seinem Begleiter, dem Herzog von Bayern, vor:
»Gestatten Königliche Hoheit: Herr Leutnant Baron von Heidenstamm, unter den jungen Reiteroffizieren der preußischen Armee seit einigen Jahren der erfolgreichste.«
»Wer sind die Herren?« fragte Marie, und Albrecht nannte ihr die Namen: »Der Herzog Ludwig von Bayern und der General von Bernstorff.«
Sie sah Joseph im Gespräch mit Seiner Königlichen Hoheit über den Platz gehen, vor Frangipani eine Minute stehen bleiben und dann, immer noch neben dem Herzog, in dem Gewühl der Menschen verschwinden.
Dann atmete sie tief auf und sah Albrecht an, sie hatte fast vergessen, daß er neben ihr stand.
»Wollen wir weiter gehen?«
»Ja.«
Nur um etwas zu sagen, nannte er ihr einige Personen, denen sie begegneten:
»Das ist der Graf Lehndorff, der Oberlandstallmeister, Leiter von Graditz, der neben ihm der Erbprinz von Fürstenberg, da drüben der Kleine ist der Baron Oppenheim aus Köln, da euer Nachbar, Herr Manske aus Lehrte bei Hannover, da rechts Heyden- Linden –«
»Den kenne ich.«
Es gab viele hannoverische Bekannte auf dem Rennplatz, alle Augenblicke wurde Marie gegrüßt, die halbe Reitschule und fast alle Königsulanen schienen herübergekommen zu sein, um dem größten Offizierrennen des Jahres beizuwohnen.
Seit langer Zeit hatten die beiden sich nicht mehr allein zusammengefunden und so andauernd unterhalten. Sie gaben sich Mühe, unbefangen zu erscheinen, und Marie, die sonst ihm gegenüber schweigsam war, suchte in der nervösen, fieberhaften Spannung sogar bei diesem Begleiter eine Art von Trost.
»Albrecht!«
»Was?«
»Glaubst du, daß Joseph gewinnt?«
Er sah sie erstaunt an. Es war eine natürliche Frage, aber zwischen ihm und Marie gab es seit Jahren solche natürliche Fragen nicht mehr. Das wenige, was sie bei ihrem seltenen Zusammentreffen miteinander sprachen, war kalt, abgemessen, immer nur das Notwendigste.
»Ja, das glaube ich.«
»Wirklich?« Sie blickte ihm mit so großen, fürchtenden, hoffenden Augen ins Gesicht, daß er stutzte. Lag Joseph so viel an diesem Siege?
»Er hat das beste Pferd und ist ohne Frage auch der beste Reiter. Passiert ihm unterwegs kein Malheur, so wird er gewinnen, selbstverständlich.«
Marie atmete tief auf, es lag etwas wie Dankbarkeit in dem Blick, den sie ihm einen Moment schenkte.
Sie sprachen noch allerlei Gleichgültiges, bis sie ihre Loge gefunden hatte, wo Franziska und die andern Damen sie erwarteten.
Dort trennten sie sich, und Albrecht ging wieder die Treppen hinunter zum Sattelplatz.
Etwas Warmes war aus dieser Unterhaltung mit Marie in ihm haften geblieben, als ob nach langer Einsamkeit eine weiche Mädchenhand über seine Stirn gestreift hätte. Vielleicht gab es doch noch einen modus vivendi, der ihn zu seinem Bruder und Marie zurückführen konnte. Er mußte vergessen lernen. Er gehörte zu diesen beiden Menschen, sie waren seine nächsten Verwandten, sie meinten es vielleicht beide gut mit ihm, Joseph meinte es ganz sicher gut mit ihm. Sein schroffes Bevormunden hatte den Bruder ihm entfremdet, ganz natürlich, Joseph hätte in einer milderen und liebevolleren Führung des älteren Bruders vielleicht manchen dummen Streich weniger begangen.
Und Marie? Er liebte sie immer noch, aber sie war für ihn verloren, unwiederbringlich. Weshalb ihr ganz fremd werden, die nun seinem Bruder gehörte?
Er war in einer seltsam weichen Stimmung. Er ging in den Wageraum, um Joseph zu suchen und ihm einige freundliche Worte zu sagen, und als er ihn dort nicht fand, ging er weiter und fragte wiederholt bekannte Herren:
»Haben Sie vielleicht meinen Bruder gesehen?«
Man wies ihn dahin und dorthin, bis er ganz plötzlich und unvermutet in der Nähe der Totalisatortribüne mit ihm zusammenstieß.
»Joseph!«
»Hast du Marie zurückbegleitet? In ihre Loge?«
»Ja.«
»Besten Dank.«
Er wollte rasch weitergehen, aber Albrecht hielt ihn zurück:
»Einen Moment, Joseph, ich wollte, ich . . . Joseph, du hast heute einen großen Ritt vor dir, ich wünsche dir von ganzem Herzen, daß du Glück hast.«
Joseph fand nicht gleich eine Antwort. Das war ein so neuer, fremder Ton, den Albrecht anschlug, daß er einen Moment stutzte. Dann ergriff er hastig die dargebotene Hand, und es war, als ob auch bei ihm die fürchterliche Spannung dieses Tages sich löste:
»Ich danke dir, ich danke dir herzlich.«
»Nun komm, Joseph, wir wollen zur Wage gehen, es wird Zeit, sich zurecht zu machen.«
»Ja, ja.«
Was war das? Was bedeutete das? Der erste warme Ton aus Albrechts Munde! Er ging schweigend neben dem älteren Bruder, der seinen Arm genommen hatte und allerlei über den Kurs der Steeplechasebahn sprach, alles in einer freundschaftlichen, herzlichen Weise, wie ein älterer Berater, der die lange Erfahrung auf seiner Seite hat.
»Nimm dich in acht am Fließ, der Boden ist da sehr weich, man muß sehr genau Obacht geben.«
»Danke schön.«
Joseph ging vornübergeneigt, während er den ganzen Tag sich stramm aufrecht gehalten hatte. Seine Riesenenergie, die in entscheidenden Situationen ihn stets emporriß, hatte seit frühem Morgen nach einer schlaflosen Nacht ihn wie mit eisernen Klammern hochgerichtet. Er scherzte mit Marie, lachte mit den Damen, erwiderte in scheinbar bester Laune die tausend Fragen, die heute jeder, jeder, jeder an ihn stellte, und jetzt, bei dieser unerwarteten Anrede Albrechts, diesem unbegreiflich freundschaftlichen Entgegenkommen des älteren Bruders verließ ihn die künstliche Ruhe.
Es war ihm, als ob plötzlich der Boden unter ihm unsicher werde. Er hatte die Empfindung eines Spielers, dessen eiserne Ruhe im Augenblicke der größten Gefahr durch einen lange vergessenen weichen Ton, der ihm ins Ohr klingt, ins Wanken gerät.
Seit Jahren hatte Albrecht nicht mehr so zu ihm gesprochen, seit vielen Jahren, nicht mehr seit der Kinderzeit, in der Joseph den großen, berühmten Bruder vergöttert und der Große den Kleinen vielleicht aufrichtig geliebt hatte.
Im Ankleideraum trennten sie sich, Joseph ging noch einmal hinaus, um an dem Büfett nebenan ein Glas Sekt zu trinken. Dann zündete er eine Zigarette an und ließ sich noch ein zweites Glas geben.
Ein Herr aus dem Klub, den er nur flüchtig kannte, trat mit einem gezierten Lächeln an ihn heran.
»Nun, Herr Baron, wie steht's? Werden Sie gewinnen?«
Aber fast grob wandte er sich ab.
»Ich weiß nicht, kann sein. Pardon, ich habe noch etwas zu ordnen.«
Er setzte sich an den letzten Tisch in der halbdunkeln Ecke und tat, als ob er in einem Briefe läse, aber er las nicht.
Die Zigarette hielt er zwischen den Zähnen und die Hände um die schmale Tischplatte gespannt, als ob er sie zerbrechen wollte.
»Gib dir Mühe, nicht zu denken! Gib dir Mühe, nicht zu denken! Wenn du nachdenkst und duldest dieses Nachdenken, so bist du verloren. Nur ganz ruhig, – so, nimm eine neue Zigarette, so, zerbeiß sie, trink noch, so, nur nicht denken. Wenn du ruhig bleibst, Joseph, und denkst nicht nach, so gewinnst du. Es ist ja Spaß, Kinderspiel, ein Ritt wie alle. Das Pferd gewinnt von selber, du mußt es nur ruhig laufen lassen, den Gaul nicht irritieren. Nicht irritieren. Das ist die ganze Weisheit beim Rennreiten.«
Er atmete schwer. Er keuchte fast.
Ein Offizier schaute in die offene Tür, als ob er jemand suchte:
»Joseph!«
»Ja –?«
»Zum Donnerwetter, wo steckst du? Es ist die höchste Zeit!«
»Ich komme.«
Er ging zur Wage hinüber und kleidete sich um: englisch geschnittene Reitbeinkleider, leichte Stiefel von feinem, weichem Leder mit ganz niedrigen Absätzen, ein dünner, ungefütterter Waffenrock von minimalem Gewichte und die alte bequeme Offiziersmütze, die sich fest an den Kopf schmiegte.
Der Bursche gab ihm Sattel, Bügel, Gurten und Reitpeitsche, dann ging er hinüber in den kahlen Wageraum, der so angefüllt war von Menschen, daß er Mühe hatte, bis an die niedrigen Holzschranken vorzudringen, hinter denen die Wage sich befand.
Einige Minuten mußte er noch warten, dann kam an ihn die Reihe.
»Numero siebzehn, Frangipani,« rief der Beamte, der das Protokoll führte, »Reiter: Besitzer.«
»Fünfundsiebzig Kilo,« sagte Joseph, und setzte sich auf die eine Seite der Wage.
Der Mann, der die Gewichte dirigierte, legte fünfundsiebzig Kilo auf die Gewichtsseite, die Wage hob sich, schwankte, dann hing sie im Gleichgewicht.
»Fertig, weiter.«
Die letzten geschäftlichen Präliminarien des großen Rennens waren erledigt, nun konnte der Wettkampf seinen Anfang nehmen.
Joseph ging im Gefolge seiner Freunde über den Rennplatz, und während diese ihre letzten Meinungen über den Ausgang des Rennens austauschten, blieb er stumm, hielt die Hand um die Peitsche gepreßt und murmelte vor sich hin, was er seit einer Viertelstunde eintönig memorierte:
»Nur nicht nachdenken, nur nicht irritieren.«