Gustav Meyrink
Der Golem
Gustav Meyrink

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Mai

Auf meine Frage, welches Datum denn wäre – die Sonne schien so warm wie im Hochsommer und der müde Baum im Hof trieb ein paar Knospen – hatte der Gefangenwärter zuerst geschwiegen, dann aber mir zugeflüstert, es sei der 15. Mai. Eigentlich dürfe er es nicht sagen, denn es sei verboten, mit den Gefangenen zu sprechen, – insbesondere solche, die noch nicht gestanden hätten, müßten hinsichtlich der Zeit im unklaren gehalten werden.

Drei volle Monate war ich also schon im Gefängnis und noch immer keine Nachricht aus der Welt da draußen!

Wenn es Abend wurde, drangen leise Klänge eines Klaviers durch das Gitterfenster, das jetzt an warmen Tagen offen war.

Die Tochter des Beschließers unten spiele, hatte mir ein Sträfling gesagt.

Tag und Nacht träumte ich von Mirjam.

Wie es ihr wohl ging?!

Zuzeiten hatte ich das tröstliche Gefühl, als seien meine Gedanken zu ihr gedrungen und stünden an ihrem Bette, während sie schlief, und legten ihr lindernd die Hand auf die Stirne.

Dann wieder, in Momenten der Hoffnungslosigkeit, wenn einer nach dem andern meiner Zellengenossen zum Verhör gefuhrt wurde, – nur ich nicht, – drosselte mich eine dumpfe Furcht, sie sei vielleicht schon lange tot.

Da stellte ich dann Fragen an das Schicksal, ob sie noch lebe oder nicht, krank sei oder gesund, und die Anzahl einer Handvoll Halme, die ich aus dem Strohsack riß, sollte mir Antwort geben.

Und fast jedesmal »ging es schlecht aus«, und ich wühlte in meinem Innern nach einem Blick in die Zukunft; – suchte meine Seele, die mir das Geheimnis verbarg, zu überlisten durch die scheinbar abseits liegende Frage, ob wohl für mich dereinst noch ein Tag kommen würde, wo ich heiter sein und wieder lachen könnte.

Immer bejahte das Orakel in solchen Fällen, und dann war ich eine Stunde lang glücklich und froh.

Wie eine Pflanze heimlich wächst und sproßt, war allmählich in mir eine unbegreifliche, tiefe Liebe zu Mirjam erwacht, und ich faßte es nicht, daß ich so oft hatte bei ihr sitzen und mit ihr reden können, ohne mir damals schon klar darüber geworden zu sein.

Der zitternde Wunsch, daß auch sie mit gleichen Gefühlen an mich denken möchte, steigerte sich in solchen Augenblicken oft bis zur Ahnung der Gewißheit, und wenn ich dann auf dem Gange draußen einen Schritt hörte, fürchtete ich mich beinahe davor, man könnte mich holen und freilassen und mein Traum würde in der groben Wirklichkeit der Außenwelt in nichts zerrinnen.

Mein Ohr war in der langen Zeit der Haft so scharf geworden, daß ich auch das leiseste Geräusch vernahm.

Jedesmal bei Anbruch der Nacht hörte ich in der Ferne einen Wagen fahren und zergrübelte mir den Kopf, wer wohl dann sitzen möchte.

Es lag etwas seltsam Fremdartiges in dem Gedanken, daß es Menschen gab da draußen, die tun und lassen durften, was sie wollten, – die sich frei bewegen konnten und da und dort hingehen, und es dennoch nicht als unbeschreiblichen Jubel empfanden.

Daß auch ich jemals wieder so glücklich werden würde, im Sonnenschein durch die Straßen wandern zu können; – – ich war nicht mehr imstande, es mir vorzustellen.

Der Tag, an dem ich Angelina in den Armen gehalten, schien mir einem längstverflossenen Dasein anzugehören; – ich dachte daran zurück mit jener leisen Wehmut, wie sie einen beschleicht, wenn man ein Buch aufschlägt und findet dann welke Blumen, die einst die Geliebte der Jugendjahre getragen hat.

Ob wohl der alte Zwakh noch immer Abend für Abend mit Vrieslander und Prokop beim »Ungelt« saß und der vertrockneten Eulalia das Hirn konfus machte?

Nein, es war doch Mai: – die Zeit, wo er mit seinem Marionettenkasten durch die Provinznester zog und auf grünen Wiesen vor den Toren den Ritter Blaubart spielte.

Ich saß allein in der Zelle. – Vóssatka, der Brandstifter, mein einziger Gefährte seit einer Woche, war vor ein paar Stunden zum Untersuchungsrichter geholt worden.

Merkwürdig lange dauerte diesmal sein Verhör.

Da. Die eiserne Vorlegestange klirrte an der Tür. Und mit freudestrahlender Miene stürmte Vóssatka herein, warf ein Bündel Kleider auf die Pritsche und begann, sich mit Windeseile umzukleiden.

Den Sträflingsanzug warf er Stück für Stück mit einem Fluch auf den Boden.

»Nix hamms mer beweisen könna, dö Hallodri. – Brandstiftung! – Ja doder –« er zog mit dem Zeigefinger an seinem unteren Augenlid. »Auf den schwarzen Vóssatka sans jung. – Der Wind war's, hab i g'sagt. Und bi fest blimm. Den kennens iazt eispirrn, wanns'n derwischen – den Herrn von Wind. – No servus heit abend! – Do werd aufdraht. Beim Loisitschek.« – Er breitete die Arme aus und tanzte einen »G'strampften«. – »Nur einmahl im Leböhn blie–het der Mai.« Er stülpte sich mit einem Krach einen steifen Deckel mit einer kleinen blaugesprenkelten Nußhäherfeder darauf über den Schädel. – »Ja, richtig, das wird Ihna intrissirn, Herr Graf: wissens was Neies? Eana Freund, der Loisa, is ausbrochen! – Grad hab i's erfahrehn oben bei die Hallodri. Schon vurigen Monat – gegen Uldimoh hat er das Weide gesucht und ist längst ieber – pbhuit« – er schlug sich mit den Fingern auf den Handrücken – »ieber alle Bergöh.« –

»Aha, die Feile«, dachte ich mir und lächelte.

»Alsdann haltens Ihna jetzt auch bald dazu, Herr Graf,« der Brandstifter streckte mir kameradschaftlich die Hand hin, »daß Sie möglichst bei Zeitöhn freikommen. – Und wenn Sie mal kein Geld nicht habehn, fragen Sie sich nur beim Loisitschek nach dem schwarzen Vóssatka. – Kennte mich jedes Mädel durten. So! – Alsdann Servus, Herr Graf. War mir ein Vergniegen.«

Er stand noch in der Türe, da schob der Wärter schon einen neuen Untersuchungsgefangenen in die Zelle.

Auf den ersten Blick erkannte ich in ihm den Schlot mit der Soldatenmütze, der einmal neben mir bei Regenwetter in dem Torbogen der Hahnpaßgasse gestanden hatte. Eine freudige Überraschung! Vielleicht wußte er zufällig etwas über Hillel und Zwakh und alle die andern?

Ich wollte sofort anfangen, ihn auszufragen, aber zu meinem größten Erstaunen legte er mit geheimnisvoller Miene den Finger an den Mund und bedeutete mir, ich solle schweigen.

Erst als die Tür von außen abgesperrt und der Schritt des Gefangenwärters auf dem Gange verhallt war, kam Leben in ihn.

Mir schlug das Herz vor Aufregung.

Was sollte das bedeuten?

Kannte er mich denn, und was wollte er?

Das erste, was der Schlot tat, war, daß er sich niedersetzte und seinen linken Stiefel auszog.

Dann zerrte er mit den Zähnen einen Stöpsel aus dem Absatz, entnahm dem entstandenen Hohlraum ein kleines gebogenes Eisenblech, riß die anscheinend nur locker befestigte Schuhsohle ab und reichte mir beides mit stolzer Miene hin. –

Alles in Windeseile und ohne auf meine erregten Fragen auch nur im geringsten zu achten.

»So! Einen schönen Gruß vom Herrn Charousek.«

Ich war so verblüfft, daß ich kein Wort herausbringen konnte. –

»Brauchens' bloß Eisenblechl nähmen und Sohlen ausanand brechen in der Nacht. Oder wann sunst niemand siecht. – Ise nämlich hohl inewändig« – erklärte der Schlot mit überlegener Miene, »und finden Sie sich drinn eine Brieffel von Herrn Charousek.«

Im Übermaß meines Entzückens fiel ich dem Schlot um den Hals, und die Tränen stürzten mir aus den Augen.

Er wehrte mich voll Milde ab und sagte vorwurfsvoll:

»Missen sich mehr zusammennähmen, Herr von Pernath! Mir habens me nicht eine Minutten zum Zeitverlieren. Es kann sich soffort herauskommen, daß ich in der falschen Zellen bin. Der Franzl und ich habens me unt beim Pordjöh die Nummern mitsamm vertauscht.« –

Ich mußte wohl ein sehr dummes Gesicht gemacht haben, denn der Schlot fuhr fort:

»Wann Sie das auch nicht verstähn, macht nix. Kurz: ich bin hier, Pasta!«

»Sagen Sie doch,« fiel ich ihm ins Wort, »sagen Sie doch, Herr – – Herr – – –«

»Wenzel,« – half mir der Schlot aus, »ich heiße der schöne Wenzel.«

»Sagen Sie mir doch, Wenzel, was macht der Archivar Hillel, und wie geht es seiner Tochter?«

»Dazu ist jetz keine Zeit nicht«, unterbrach mich der schöne Wenzel ungeduldig. »Ich kann ich doch im näxen Augenblick herausgeschmissen werden. – Also: ich bin ich hier, weil ich einen Raubanfall extra eingestanden hab – –«

»Was, Sie haben bloß meinetwegen, und um zu mir kommen zu können, einen Raubanfall begangen, Wenzel?« fragte ich erschüttert.

Der Schlot schüttelte verächtlich den Kopf: »Wenn ich wirklich einen Raub auf all begangen hätt, mecht ich ihm doch nicht eingestähen. Was glauben Sie von mir!?«

Ich verstand allmählich: – der brave Kerl hatte eine List gebraucht, um mir den Brief Charouseks ins Gefängnis zu schmuggeln.

»So; zuverderscht« – er machte ein äußerst wichtiges Gesicht – »muß ich Ihnen Unterricht in der Ebilebsie gäben.«

»Worin?«

»In der Ebilebsie! – Gäbm S' amal scharf Obacht und merkens Ihna alles genau! – Alsdann schaugens här: Zuerscht macht me Speichel in der Goschen;« – er blies die Backen auf und bewegte sie hin und her, wie jemand, der sich den Mund ausspült – »dann kriegt me Schaum vorm Maul, sengen S' so«: – er machte auch dies. Mit widerwärtiger Natürlichkeit. »Nachhe drehte ma die Daumen in die Faust. – Nachhe kugelt me die Augen raus« – er schielte entsetzlich – »und dann – das ise sich bisl schwär – stoßt me so halbeten Schrei aus. Segen S', so: Bö – bö – bö, und gleichzeitig fallt me sich um.« Er ließ sich der Länge nach zu Boden fallen, daß das Haus zitterte, und sagte beim Aufstehen:

»Das ise sich die natierliche Ebilebsie, wie's uns der Dr. Hulbert gottsälig beim ›Bataljohn‹ gelernt hat.«

»Ja, ja, es ist täuschend ähnlich,« gab ich zu, »aber wozu dient das alles?«

»Weil Sie sich zuerscht aus der Zellen rausmissen!«, erklärte der schöne Wenzel. »Der Dr. Rosenblatt is doch ein Mordsochs! Wenn einer schon gar kan Kopf mehr hat, sagt der Rosenblatt immer noch: der Mann ise sich pumperlgesund! – Nur vor die Ebilebsie hat e' an Viechsräschpäkt. Wann aner daas gut kann: gleich ise drieben in der Krankenzelle. – – Und da ise sich das Ausbrechen dann ein Kinderspielzeug;« – er wurde tief geheimnisvoll – »den Fenstergitter in der Krankenzelle ise nämlich durchgesägt und nur schwach mit Dreck zusammengepappt. – Es ise sich das ein Geheimnis vom Bataljohn! – Sie brauchen dann bloß ein paar Nächte scharf aufpassen und, wenn Sie eine Seilschlingen vom Dach herunter bis vors Fenster kommen segen, heben Sie leise den Gitter aus, damit niemand nicht aufwacht, steckens die Schultern in die Schlinge, und mir ziegen Ihnen hinauf aufs Dach und lassen Ihnen auf der andern Seiten hinunter auf die Straßen. – Pasta.«

»Weshalb soll ich denn aus dem Gefängnis ausbrechen?« wandte ich schüchtern ein, »ich bin doch unschuldig.«

»Das ise doch kein Grund, um nicht auszubrechen!«, widerlegte mich der schöne Wenzel und machte vor Erstaunen kreisrunde Augen.

Ich mußte meine ganze Beredsamkeit aufbieten, um ihm den verwegenen Plan, der, wie er sagte, das Resultat eines »Bataillons« beschlusses war, auszureden.

Daß ich »die Gabe Gottes« von der Hand wies und lieber warten wollte, bis ich von selbst freikommen würde, war ihm unbegreiflich.

»Jedenfalls danke ich Ihnen und Ihren braven Kameraden auf das allerherzlichste,« sagte ich gerührt und drückte ihm die Hand. »Wenn die schwere Zeit für mich vorüber ist, wird es mein erstes sein, mich Ihnen allen erkenntlich zu zeigen.«

»Ise gar nicht nätig«, lehnte Wenzel freundlich ab. »Wann Sie ein paar Glas ›Pils‹ zahlen, nähmen wir sich dankbar an, abe sunst nix. Pan Charousek, was ise jetz Schatzmistr vom Bataljohn hat e' uns schon erzählt, was Sie für ein heimlicher Wohltäter sin. Soll ich ihm was ausrichten, wenn ich in paar Täg wieder herauskomm?«

»Ja, bitte,« fiel ich rasch ein, »sagen Sie ihm, er möchte zu Hillel gehen und ihm mitteilen, ich hätte soviel Angst wegen der Gesundheit seiner Tochter Mirjam. Herr Hillel solle sie nicht aus den Augen lassen. – Werden Sie sich den Namen merken?: Hillel!«

»Hirräl?«

»Nein: Hillel.«

»Hillär?«

»Nein: Hill–el.«

Wenzel zerbrach sich fast die Zunge an dem für einen Tschechen unmöglichen Namen, aber schließlich bewältigte er ihn doch unter wilden Grimassen.

»Und dann noch eins: Herr Charousek möge – ich lasse ihn herzlich drum bitten – sich auch, soweit es in seiner Macht steht, der »vornehmen Dame« – er weiß schon, wer darunter zu verstehen ist – annehmen.«

»Sie meinen sich wahrscheinlich die adlige Flietschen, die was da Gspusi ghabt hat mit dem Niemetz – dem Dr. Sapoli? – No, die hat sich doch scheiden lassen und ise mit dem Kind und dem Sapoli fürt.«

»Wissen Sie das bestimmt?«

Ich fühlte meine Stimme zittern. So sehr ich mich um Angelinas willen freute, – es krampfte mir doch das Herz zusammen.

Wieviel Sorge hatte ich ihretwegen getragen und jetzt – – – war ich vergessen.

Vielleicht glaubte sie, ich sei wirklich ein Raubmörder.

Ein bitterer Geschmack stieg mir in die Kehle.

Der Schlot schien mit dem Feingefühl, das verwahrlosten Menschen seltsamerweise eigen ist bei allen Dingen, die sich um Liebe drehen, erraten zu haben, wie mir zumute war, denn er blickte scheu weg und antwortete nicht.

»Wissen Sie vielleicht auch, wie es Herrn Hillels Tochter, dem Fräulein Mirjam geht? Kennen Sie sie?«, fragte ich gepreßt.

»Mirjam? Mirjam?« – Wenzel legte sein Gesicht in nachdenkliche Falten – »Mirjam? – Gäht sich die öfters in der Nacht zum Loisitschek?«

Ich mußte unwillkürlich lächeln. »Nein. Ganz bestimmt nicht.«

»Dann kenn ich sie nicht«, sagte Wenzel trocken.

Wir schwiegen eine Weile.

Vielleicht steht in dem Briefchen etwas über sie, hoffte ich.

»Daß den Wassertrum der Deiwel g'holt hat«, fing Wenzel plötzlich wieder an, »wärden Sie sich wohl schon gehärt haben?«

Ich fuhr entsetzt auf.

»No ja.« – Wenzel deutete auf seine Kehle. – »Murxi, murxi! Ich sag ich Ihnän; es war Ihnän schaislich. Wie sie den Laden aufgebrochen haben, weil er sich paar Täg nicht hat segen lassen, war ich natierlich der erschte drin; – wie denn nicht! – Und da hat e' durten g'sässen, der Wassertrum, in einem dreckigen Lähnsessel, die Brust voller Blut und die Augen wie aus Glas. – – – Wissen S', ich bin ich ein handfeste Kerl, aber mir hat sich alles gedräht, sag ich Ihnän, und ich hab' gemeint, ich hau ich ohnmächtig hi–iin. Furt' a furt' hab' ich mir vorsagen missen: Wenzel, hab' ich mir vorg'sagt, Wenzel, reg' dich nicht auf, es is doch bloß ein toter Jud. – Er hat eine Feile in der Kehle stecken gehabt und im Laden war sich alles umedum geschmissen. – Ein Raubmord natierlich.«

»Die Feile! Die Feile!« Ich fühlte, wie mir der Atem kalt wurde vor Grausen. Die Feile! So hatte sie also doch ihren Weg gefunden!

»Ich weiß ich auch, wer's war«, fuhr Wenzel nach einer Pause halblaut fort. »Niemand anders, sag ich Ihnän, als der blattersteppige Loiso. – Ich hab' ich nämlich sein Taschenmesser auf dem Boden im Laden entdeckt und rasch eing'stäckt, damit sich die Polizei nicht draufkommt. – Er ise sich durch einen unterirdischen Gang in den Laden – – –« er brach mit einem Ruck seine Rede ab und horchte ein paar Sekunden lang angestrengt, dann warf er sich auf die Pritsche und fing an, fürchterlich zu schnarchen.

Gleich darauf klirrte das Vorhängeschloß und der Gefängniswärter kam herein und musterte mich argwöhnisch.

Ich machte ein teilnahmsloses Gesicht und Wenzel war kaum zu erwecken.

Erst nach vielen Püffen richtete er sich gähnend auf und taumelte, gefolgt von dem Wärter, schlaftrunken hinaus.

Fiebernd vor Spannung faltete ich Charouseks Brief auseinander und las:

Den 12. Mai.

»Mein lieber armer Freund und Wohltäter!«

Woche um Woche habe ich gewartet, daß Sie endlich freikommen würden, – immer vergebens, – habe alle möglichen Schritte versucht, um Entlastungsmaterial für Sie zu sammeln, aber ich fand keins.

Ich bat den Untersuchungsrichter, das Verfahren zu beschleunigen, aber jedesmal hieß es, er könne nichts tun – es sei Sache der Staatsanwaltschaft und nicht die seinige.

Amtsschimmel!

Eben erst, vor einer Stunde, gelang mir jedoch etwas, von dem ich mir den besten Erfolg erhoffe: ich habe erfahren, daß Jaromir dem Wassertrum eine goldene Taschenuhr, die er nach der damaligen Verhaftung seines Bruders Loisa in dessen Bett gefunden hatte, verkauft hat.

Beim ›Loisitschek‹, wo, wie Sie wissen, die Detektivs verkehren, geht das Gerücht, man hätte die Uhr des angeblich ermordeten Zottmann – dessen Leiche übrigens noch immer nicht entdeckt ist – als corpus delicti bei Ihnen gefunden. Das übrige reimte ich mir zusammen: Wassertrum et cetera!

Ich habe mir Jaromir sofort vorgenommen, ihm 1000 fl gegeben – –« Ich ließ den Brief sinken, und die Freudentränen traten mir in die Augen: nur Angelina konnte Charousek die Summe gegeben haben. Weder Zwakh, noch Prokop, noch Vrieslander besaßen so viel Geld. Sie hatte mich also doch nicht vergessen! – Ich las weiter:

»– 1000 fl gegeben und ihm weitere 2000 fl versprochen, wenn er mit mir sofort zur Polizei ginge und eingestünde, die Uhr seinem Bruder zu Hause entwendet und verkauft zu haben.

Das alles kann aber erst geschehen, wenn dieser Brief durch Wenzel bereits an Sie unterwegs ist. Die Zeit reicht nicht aus.

Aber seien Sie versichert: es wird geschehen. Heute noch. Ich bürge Ihnen dafür.

Ich zweifle keinen Augenblick, daß Loisa den Mord begangen hat und die Uhr die Zottmanns ist.

Sollte sie es wider Erwarten nicht sein, – nun, dann weiß Jaromir, was er zu tun hat: – Jedenfalls wird er sie als die bei Ihnen gefundene agnoszieren.

Also harren Sie aus und verzweifeln Sie nicht! Der Tag, wo Sie frei sein werden, steht vielleicht bald bevor.

Ob trotzdem ein Tag kommen wird, wo wir uns wiedersehen?

Ich weiß es nicht.

Fast möchte ich sagen: ich glaube es nicht, denn mit mir geht's rasch zu Ende, und ich muß auf der Hut sein, daß mich die letzte Stunde nicht überrascht.

Aber eins halten Sie fest: wir werden uns wiedersehen.

Wenn auch nicht in diesem Leben und nicht wie die Toten in jenem Leben, aber an dem Tag, wo die Zeit zerbricht, – wo, wie es in der Bibel steht, der HERR die ausspeien wird aus seinem Munde, die lau waren und weder kalt noch warm. – – –

Wundern Sie sich nicht, daß ich so rede! Ich habe nie mit Ihnen über diese Dinge gesprochen und, als Sie einmal das Wort ›Kabbala‹ berührten, bin ich Ihnen ausgewichen, aber – ich weiß, was ich weiß.

Vielleicht verstehen Sie, was ich meine, und wenn nicht, so streichen Sie, ich bitte Sie darum, das, was ich gesagt habe, aus Ihrem Gedächtnis. – – Einmal, in meinen Delirien, glaubte ich – ein Zeichen auf Ihrer Brust zu sehen. – Mag sein, daß ich wach geträumt habe.

Nehmen Sie an, wenn Sie mich wirklich nicht verstehen sollten, daß ich gewisse Erkenntnisse gehabt habe – innerlich! – fast schon von Kindheit an, die mich einen seltsamen Weg geführt haben; – Erkenntnisse, die sich nicht decken mit dem, was die Medizin lehrt oder Gott sei Dank noch nicht weiß; hoffentlich auch nie erfahren wird.

Aber ich habe mich nicht dumm machen lassen von der Wissenschaft, deren höchstes Ziel es ist, einen – ›Wartesaal‹ auszustaffieren, den man am besten niederrisse.

Doch genug davon.

Ich will Ihnen erzählen, was sich inzwischen zugetragen hat:

Ende April war Wassertrum so weit, daß meine Suggestion anfing zu wirken.

Ich sah es daran, daß er auf der Gasse beständig gestikulierte und laut mit sich selbst sprach.

So etwas ist ein sicheres Zeichen, daß die Gedanken eines Menschen sich zum Sturm rotten, um über ihren Herrn herzufallen.

Dann kaufte er sich ein Taschenbuch und machte sich Notizen.

Er schrieb!

Er schrieb! Daß ich nicht lache! Er schrieb.

Und dann ging er zu einem Notar. Unten vor dem Hause wußte ich, was er oben machte: – er machte sein Testament.

Daß er mich zum Erben einsetzte, habe ich mir allerdings nicht gedacht. Ich hätte wahrscheinlich den Veitstanz bekommen vor Vergnügen, wenn's mir eingefallen wäre.

Er setzte mich zum Erben ein, weil ich der einzige auf der Erde bin, an dem er noch etwas gutmachen könnte, wie er glaubte. Das Gewissen hat ihn überlistet.

Vielleicht war's auch die Hoffnung, ich würde ihn segnen, wenn ich mich nach seinem Tode durch seine Huld plötzlich als Millionär sähe, und dadurch den Fluch wettmachen, den er in Ihrem Zimmer aus meinem Mund hat mit anhören müssen.

Dreifach hat demnach meine Suggestion gewirkt.

Rasend witzig, daß er heimlich also doch an eine Wiedervergeltung im Jenseits geglaubt hat, während er sich's das ganze Leben lang mühselig ausreden wollte.

Aber so ist's bei allen den Ganzgescheiten; man sieht es schon an der wahnwitzigen Wut, in die sie geraten, wenn man's ihnen ins Gesicht sagt. Sie fühlen sich ertappt.

Von dem Moment an, wo Wassertrum vom Notar kam, ließ ich ihn nicht mehr aus dem Auge.

Des Nachts horchte ich an den Verschlagbrettern seines Ladens, denn jede Minute konnte die Entscheidung fallen. –

Ich glaube, durch Mauern hindurch würde ich das ersehnte schnalzende Geräusch gehört haben, wenn er den Stöpsel aus der Giftflasche gezogen hätte.

Es fehlte vielleicht nur eine Stunde, und mein Lebenswerk war vollbracht.

Da griff ein Unberufener ein und ermordete ihn. Mit einer Feile.

Lassen Sie sich das Nähere von Wenzel erzählen, mir wird es zu bitter, alles das niederschreiben zu müssen.

Nennen Sie es Aberglaube, – aber, wie ich sah, daß Blut vergossen worden war – die Dinge im Laden waren befleckt davon, – kam es mir vor, als sei mir seine Seele entwischt.

Etwas in mir, – ein feiner, untrüglicher Instinkt – sagt mir, daß es nicht dasselbe ist, ob ein Mensch von fremder Hand stirbt oder von eigener: – daß Wassertrum sein Blut mit sich in die Erde hätte nehmen müssen, dann erst wäre meine Mission erfüllt gewesen. – Jetzt, wo es anders gekommen ist, fühle ich mich als Ausgestoßener, als ein Werkzeug, das nicht würdig befunden wurde in der Hand des Todesengels.

Aber ich will mich nicht auflehnen. Mein Haß ist von der Art, die übers Grab hinaus geht, und noch habe ich ja mein eigenes Blut, das ich vergießen kann, wie ich will, damit es dem seinigen nachgehe im Reich der Schatten auf Schritt und Tritt. – – –

Jeden Tag, seit sie Wassertrum verscharrt haben, sitze ich draußen bei ihm auf dem Friedhof und horche in meine Brust hinein, was ich tun soll.

Ich glaube, ich weiß es bereits, aber ich will noch warten, bis das innere Wort, das zu mir spricht, klar wird wie eine Quelle. – Wir Menschen sind unrein, und oft bedarf es langen Fastens und Wachens, bis wir das Flüstern unserer Seele verstehen. – – –

In der verflossenen Woche wurde mir offiziell vom Gericht mitgeteilt, daß mich Wassertrum zum Universalerben eingesetzt hat.

Daß ich für mich keinen Kreuzer davon anrühre, brauche ich Ihnen wohl nicht zu versichern, Herr Pernath. – Ich werde mich hüten, ›ihm‹ – für ›drüben‹ eine Handhabe zu geben.

Die Häuser, die er besessen hat, lasse ich versteigern, die Gegenstände, die er berührt hat, werden verbrannt, und was an Geld und Geldeswert sich dann ergibt, fällt nach meinem Tode zu einem Drittel Ihnen zu. –

Ich sehe im Geiste, wie Sie aufspringen und protestieren, aber ich kann Sie beruhigen. Was Sie bekommen, ist Ihr rechtmäßiges Eigentum mit Zinsen und Zinseszinsen. Schon lange wußte ich, daß Wassertrum vor Jahren Ihren Vater und seine Familie um alles gebracht hat, – erst jetzt bin ich in der Lage, es aktenmäßig nachweisen zu können.

Ein zweites Drittel wird unter die zwölf Mitglieder des »Bataillons« verteilt, die den Dr. Hulbert noch persönlich gekannt haben. Ich will, daß jeder von ihnen reich wird und Zutritt bekommt zur Prager – »guten Gesellschaft«.

Das letzte Drittel gehört zu gleichen Teilen den nächsten sieben Raubmördern des Landes, die mangels zureichender Beweise freigesprochen werden müssen.

Ich bin das dem öffentlichen Ärgernis schuldig.

So. Das wäre wohl alles.

Und jetzt, mein lieber, lieber Freund, leben Sie wohl und gedenken Sie zuweilen

Ihres

aufrichtigen und dankbaren

Innocenz Charousek.«

Tief erschüttert legte ich den Brief aus der Hand. Ich konnte mich nicht freuen über die Nachricht von meiner bevorstehenden Enthaftung.

Charousek! Armer Mensch! Wie ein Bruder kümmerte er sich um mein Schicksal. Bloß, weil ich ihm einst 100 fl geschenkt hatte. Wenn ich ihm nur einmal noch die Hand drücken könnte!

Ich fühlte: ja, er hatte recht; der Tag würde nie kommen.

Ich sah ihn vor mir: seine flackernden Augen, die schwindsüchtigen Schultern, die hohe, noble Stirn.

Vielleicht, daß alles ganz anders gekommen wäre, wenn eine hilfreiche Hand rechtzeitig in dies verdorrte Leben eingegriffen hätte.

Noch einmal las ich den Brief durch.

Wieviel Methode in Charouseks Irrsinn lag! Ob er überhaupt irrsinnig war?

Ich schämte mich beinahe, diesen Gedanken auch nur einen Augenblick geduldet zu haben.

Sagten seine Anspielungen nicht genug? Er war ein Mensch wie Hillel, wie Mirjam, wie ich selbst; ein Mensch, über den die eigene Seele Gewalt gewonnen hatte, – den sie durch die wilden Schluchten und Klüfte des Lebens emporführte in die Firnenwelt eines unbetreten Landes.

Er, der doch ein ganzes Leben auf Mord gesonnen, stand er nicht reiner da, als irgendeiner von denen, die naserümpfend umhergehen und angelernte Gebote eines unbekannten, mythischen Propheten zu befolgen vorgeben?

Er hielt das Gebot, das ihm ein übermächtiger Trieb diktierte, ohne an eine »Belohnung« hier oder jenseits auch nur zu denken.

Was er getan hatte, war es etwas anderes als frömmste Pflichterfüllung in des Wortes verborgenster Bedeutung?

»Feig, hinterlistig, mordgierig, krank, eine problematische – eine Verbrechernatur« – ich hörte förmlich, wie das Urteil der Menge über ihn lauten mußte, wenn sie mit ihren blinden Stallaternen in seine Seele hineinzuleuchten käme, – dieser geifernden Menge, die nie und nimmer begreifen wird, daß die giftige Herbstzeitlose tausendfach schöner und edler ist als der nützliche Schnittlauch. – – –

Wieder ging das Türschloß draußen, und ich hörte, daß man einen Menschen hereinschob.

Ich drehte mich nicht einmal um, so sehr war ich erfüllt von dem Eindruck des Briefes.

Kein Wort über Angelina, nichts von Hillel stand darin.

Freilich: Charousek mußte in größter Eile geschrieben haben, die Schrift verriet es mir.

Ob mir wohl noch ein Brief von ihm heimlich überbracht werden würde?

Ich hoffte heimlich auf den morgigen Tag, auf den gemeinsamen Rundgang der Gefangenen im Hof. – Da war es noch am leichtesten, daß mir irgendeiner vom »Bataillon« etwas zusteckte.

Eine leise Stimme schreckte mich aus meinen Grübeleien:

»Würden Sie gestatten, mein Herr, daß ich mich Ihnen vorstelle? Mein Name ist Laponder. Amadeus Laponder«.

Ich drehte mich um.

Ein kleiner, schmächtiger, noch ziemlich junger Mann in gewählter Kleidung, nur ohne Hut, wie alle Untersuchungsgefangenen, verbeugte sich korrekt vor mir.

Er war glattrasiert wie ein Schauspieler, und seine großen, hellgrün glänzenden, mandelförmigen Augen hatten das Eigentümliche an sich, daß, so geradeaus sie auch auf mich gerichtet waren, sie mich doch nicht zu sehen schienen. – Es lag so etwas wie – Geistesabwesenheit darin.

Ich murmelte meinen Namen und verbeugte mich ebenfalls und wollte mich wieder umdrehen, konnte aber lange den Blick von dem Menschen nicht wenden, so fremdartig wirkte er auf mich mit dem pagodenhaften Lächeln, das die aufwärts gezogenen Mundwinkel der feingeschwungenen Lippen beständig seinem Gesicht aufdrückten.

Er sah fast aus wie eine chinesische Buddhastatue aus Rosenquarz, mit seiner faltenlosen, durchsichtigen Haut, der mädchenhaft schmalen Nase und den zarten Nüstern.

»Amadeus Laponder, Amadeus Laponder«, wiederholte ich vor mich hin.

»Was er wohl begangen haben mag?«


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