Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Chinesen

Die Barbaren des Abendlandes, die sie hierher gebracht hatten, sahen schweigend zu, wie sie arbeiteten und starben. Ihr eignes Los freilich war dasselbe: sie arbeiteten und starben.

Man erzählt sich heute, daß unter jeder einzelnen Schwelle der Eisenbahnschienen, die den vier Meilen weiten Weg zum Berge Polaballa hinaufführen, eine Leiche ruhe und daß die kleinen darübergleitenden Lokomotiven keuchend hin und her schwanken, als ob ihre Räder von Geisterhänden zurückgehalten würden. Man hatte zuerst Belgier, dann Italiener, zuletzt Neger aus dem Tieflande des Kongo zu dem Bahnbau herangezogen; diese letzteren waren am allerwenigsten zu gebrauchen, denn sie gehören einer ganz traurigen, schmutzigen und durch den Alkohol degenerierten Rasse an und waren nicht viel besser als Schweine. Seit drei Jahren schon hatte man dies menschenmordende Werk begonnen und der schmerzensreiche zur Höhe führende Weg war immer noch nicht sehr weit fortgeschritten. Habt ihr je ein Ameisenvolk beobachtet, wie jedes einzelne Insekt mit einem großen Ei beladen in langer Reihe an einem Baumast emporstrebt? Fest an die Rinde geschmiegt, verfolgen die Tiere eifrig ihren Weg. Dann, wenn sie eine gewisse Stelle erreicht haben, die durchaus nicht schwieriger zu passieren erscheint als die zurückgelegte Strecke, stellt sich ihnen plötzlich ein unüberwindliches Hindernis entgegen. Was ist es? Man weiß es nicht, aber an dieser Stelle gleiten die Ameisen aus und fallen herab. Es kommen andere und wieder andere in unausgesetzter Reihenfolge und alle erreicht dasselbe Schicksal. – Der erste Anfang des Kongo-Eisenbahnbaues hatte mit solch unüberwindlich scheinendem Hindernis zu kämpfen; er hat unzählige Menschenleben gefordert und viele Millionen verschlungen. Europa aber schickte immer mehr Millionen und immer wieder andere Menschen.

Der Ingenieur, der den Bau dieser Eisenbahn übernommen und auch den Plan dazu entworfen hatte, war ein hervorragend genialer Mann, in dem sich alle Eigenschaften eines wirklichen Siegers vereinten. Er kannte keine Hindernisse, ging rücksichtslos auf sein Ziel los, war ganz vom Gelingen seines Vorhabens überzeugt und erkannte keinen anderen Willen über sich als den eigenen. Nacheinander hatte er Belgier, Italiener, Kongoneger und andere Neger von Santo Domingo zur Arbeit eingestellt, sie alle hatten nicht Stand halten können, waren dem mörderischen Klima zum Opfer gefallen und moderten nun in der Erde. Er ließ sich nicht entmutigen, sandte nach China, um dort Arbeiter zu dingen. Er kannte die Verhältnisse, wußte, wie übervölkert gewisse Gegenden Chinas sind, wußte, daß dort über vierhundert Millionen so eng aufeinander gepreßt leben, daß einer den andern durch seinen Atem vergiftet. Er glaubte, mit diesen Chinesen des Südens, die so absolut bedürfnislos und abgehärtet und dabei so außerordentlich fruchtbar sind, diesen Teil Afrikas neu bevölkern zu können. –

Heute nun war dieser Mann gekommen, um die Arbeiten in den Gräben zu inspizieren. Er war ein ungewöhnlich großer, kräftiger Mann, dessen Gestalt etwas Hünenhaftes hatte. Mit erhobenem Arme, wie zum Befehl, näherte er sich der Arbeiterkolonne. Der aufsichtsführende Ingenieur Guilmain trat zu ihm hin und sagte:

»Sie sterben auch!«

Die Chinesen arbeiteten ruhig und geduldig. Die, welche übriggeblieben waren: zweihundert von tausend. Es waren kleine, sehr magere Leute; die meisten von ihnen hatten eine sogenannte Hühnerbrust, was sofort ins Auge fiel, da sie bis zur Taille nackt waren. Sie trugen auch keine Hosen, ihre einzige Kleidung bestand aus einem Fetzen blauer Leinwand, den sie um die Hüften gebunden hatten. Trotz ihrer Magerkeit hatten sie aufgedunsene, unverhältnismäßig dicke Köpfe. Sie waren von gelber Farbe, hatten viereckige Gesichter, spitze Ohren und geschlitzte Augen; um ihren Mund huschte ein fortwährendes verlegenes Lachen, ungefähr so wie das eines Kindes, das gleich in Tränen ausbrechen wird. Sie beugten sich über ihre Werkzeuge. Vorwärts! Vorwärts! Asien mußte Afrika befruchten, damit Europa den Nutzen davon habe!

Guilmains Auge ruhte sinnend auf seinem Vorgesetzten. Selbst dieser Mann des Nordens, dieser starke Riese, vermochte der Hitze nicht zu widerstehen. Guilmain sah eine feuchte Stelle zu seinen Füßen, aber obwohl die Spur des von ihm niedertriefenden Schweißes ihn den ganzen Tag begleitete, ließ er sich dadurch doch in keiner Weise in seiner Tätigkeit hemmen; sein eiserner Wille besiegte selbst die Folgen dieses mörderischen Klimas. Nun ja, er konnte sterben, so gut wie jeder andere. Was weiter? Solange er lebte, würde er den Kampf nicht aufgeben und seinen Mann stellen.

»In dem Graben ist die Hitze bis auf sechsunddreißig Grad gestiegen. Es ist nicht zum aushalten«, sagte Guilmain. »Ein Chinese ist ja nur ein Chinese – aber sozusagen ist er doch auch ein Mensch und eine solche Hitze zersetzt das menschliche Blut.«

Der Chef zuckte die Achseln. Er blickte auf zu der Spitze des Polaballa und jenem ein wenig niedrigeren Hügel, durch den der Tunnel führen sollte, den man bereits in Angriff genommen hatte und der bestimmt war, der Ausgangspunkt jener großen Straße zu werden, durch die sich die Schätze Zentral-Afrikas ergießen sollten: gelbliche Elefantenzähne, große runde Kautschukballen und alle jene Reichtümer, die, seit der prähistorische große See in des Landes Innere sich verlaufen hat, der Kongo in seinem ungeheueren Wanste birgt.

Der von der Sonnenglut und dem Einfluß der Luft ausgedörrte Boden war mit dem undurchdringlich scheinenden afrikanischen Gneis bedeckt. Die Chinesen kratzten und arbeiteten langsam daran herum. Nur wenige Schritte weiter war man schon auf undurchdringliche Felsen gestoßen, die man vermittelst einer Mine gesprengt hatte. Drei Chinesen waren dabei, mit ihren Piken die Felstrümmer wegzuschaffen; sie bemühten sich augenblicklich um einen Block, der kaum viel größer war wie ein großer Pflasterstein und den der Chef selbst mit einer Hand gehoben hätte. Er verzweifelte.

Mit solchen Kräften sollte man sich bis zum Wasserfall des M'poso durcharbeiten! Der Mann, dessen großer und weitblickender Geist dieses ungeheuere Projekt geplant, das auszuführen er seine ganze Kraft einsetzte, ging methodisch zu Werke und hatte von vornherein die zu bauende Straße in verschiedene Etappen eingeteilt: er hatte bestimmt, daß das Bataillon der Chinesen sich bis zum M'poso durchzuarbeiten habe, selbst wenn es darüber zugrunde gehen sollte. Im Geiste sah er schon die schäumenden kühlen Wellen des Flusses – sie waren so rein und frisch und von ihrer tiefgrünen Farbe hob sich der Gischt und Schaum des von den Felsen stürzenden Wasserfalles in blendender Weiße ab. Das Auge vermochte sich nicht von diesem Anblick loszureißen, und die Vorstellung der kühlen Flut wirkte so auf die Einbildungskraft dieses starken Mannes, daß sie einen direkten Einfluß auf seinen Körper ausübte. Durch den Gedanken an den Wasserfall fühlte er sich erfrischt. Der Schweiß floß nicht mehr von seinen Gliedern; Körper und Geist erlangten ihre Frische zurück.

Man hatte mehrere Stapelplätze eröffnet, und wie Würmer, die an einem Baume nagen, hatte man, wo immer sich eine schwache Stelle zeigte, die den Werkzeugen Zulaß gewährte, in die Felsen einzudringen gesucht. Der Chef ging von einem Platze zum andern. Oberhalb des Felsufers des Kongo sollte der Weg eine Uferstraße bilden, die wie ein Schwalbennest an dem Felsen hing. Dann würde eine Zeit kommen, wo die Lokomotiven darüber hingleiten und dem nutzlosen, von Felsen umringten Flusse die Herrschaft abgewinnen würden.

»Kommen Sie mit zum Siebten«, sagte er zu Guilmain.

Er meinte die Stelle, wo man den siebten Kilometerstein auf die Straße gesetzt hatte, gerade da, wo der Flußweg beginnen sollte. Man war damit beschäftigt, aus der jäh abfallenden Böschung des felsigen Ufers eine Mauer zu konstruieren, durch die man eine Handbreit Terrain aufs Meter gewann. Hier würde man endlich die Stelle finden, von der aus man die Eisenbahnschienen legen konnte.

Guilmain sagte:

»Gestern ist hier ein Chinese hinuntergestürzt. Er ist bis in die Tiefe herabgefallen.«

»Nun,« sagte der Chef, »und hat man den Körper aufgefunden?«

»Die anderen«, murmelte der Ingenieur, »haben ihn gesucht. Und deshalb …«

Er vollendete seinen Satz in leisem Flüstertöne. Der Chef erschrak heftig.

»Man hat sie nicht da weggebracht? Man hat sie nicht weggebracht? Habe ich Ihnen nicht ausdrücklich gesagt, daß man sie wegbringen müsse? Wir hatten uns kontraktlich dazu verpflichtet! Und nun stehen ihre Särge immer noch unter der Felsmauer versteckt! Ein netter Kirchhof! Man soll sofort Kähne, Transportschiffe, alle verfügbaren Fahrzeuge zu Hilfe nehmen; man muß die Särge da fortholen! Muß sie vorläufig nach Boma führen, wie wir es ihnen versprochen haben!«

»Man wird keine Schiffe finden, die sich bereit erklären würden, eine so schmutzige Ladung an Bord zu nehmen. Die Bootsführer tun das nicht.«

Man hatte den Chinesen versprochen, wenn sie sterben sollten, ihre Leichen in den Särgen nach China zurückzubringen. Und man hatte nicht Wort gehalten. Das hatte der Chef nicht gewußt. Dieser Geschäftsmann, der als Bauer geboren worden, dann Soldat gewesen und nun kraft seines Geistes einen Plan von unermessener Bedeutung auszuführen unternommen hatte, war abergläubisch und hatte Achtung vor einem gegebenen Worte. Das ist eine Spielregel. Man mogelt nicht. Es bringt Unglück zu mogeln! Man kann die Menschen vergewaltigen – aber man bestiehlt sie nicht. Über Guilmains gebeugtes Haupt ergoß sich eine wahre Flut französisch-wallonischer Beleidigungen und Schmähreden.

»Man hätte unter allen Umständen für Transportschiffe sorgen müssen und wenn sie uns hunderttausend Franken und mehr gekostet hätten. Denn es war ihnen versprochen worden. Wir haben hier für dies und das zwanzigtausend Millionen verschleudert. Wer Großes schaffen will, knickert nicht mit Kleinigkeiten.«

Er hatte eine ungeschickte, plumpe Ausdrucksweise, und seine Worte überstürzten sich und dröhnten, als ob man eine Karre mit Steinen umschüttete. Er fuhr fort:

»Und wenn die Leute nun Bescheid wissen –?«

»Sie sind hinabgeklettert, um ihren Kameraden zu suchen«, sagte Guilmain in derselben Mundart. »Und viele von ihnen wissen jetzt darum …«

Ja, die Chinesen wußten darum. Tchao-Wang und Ah-Sing, die den Abgrund hinuntergeklettert waren, um ihren abgestürzten Kameraden zu suchen, hatten unter der Felsmauer die lange Reihe von Särgen gesehen. Sie erkannten sie, hatten sie doch selbst die Bretter dazu gesammelt und jene mystischen Zeichen auf den Deckel gemalt, die die bösen Geister verjagen und schützen sollten vor dem Genius des Todes, der der jüngste, der unerbittlichste und gefährlichste von ihnen allen ist.

Und ihnen war, als ob sie die weichen Fittiche der Tchong-Tués über sich rauschen hörten.

Tchong-Tué, das sind jene ungreifbaren, aus Wasser und Wind gebildeten rätselhaften Wesen, – die Geister der Verstorbenen, die uns unausgesetzt umgeben und die die ganze Erde erfüllen. Ganz gewiß bekennen sich offiziell die über vierhundert Millionen Chinesen zu dem Rationalismus und der Religion des Konfuzius. Aber dennoch existieren ungezählte Scharen von Animisten. Davon steht freilich nichts in den Büchern. Es gibt unterirdisch hausende Drachen, die die Erde erbeben machen, böse Genien, die den Schiffen nachstellen und sie scheitern lassen; die Lust ist erfüllt von Geistern, die Krankheiten und Seuchen verbreiten. Die Flüsse, die Berge, Felder und Wälder, die Häuser, kurz, die ganze Welt ist mit unheimlich waltenden Mächten erfüllt. Es gibt ja auch gute und segenbringende Geister, indessen ist es damit genau wie mit den Menschen: selbst den besten ist nicht zu trauen. Ihre Zahl wächst fortwährend, denn jedem der gestorben, entsteigt ein Nachtgespenst, das unsichtbar und fast immer Unheil verbreitend auf der Erde bleibt. Es gibt kaum etwas Schrecklicheres, wie dieser chinesische Glaube, und im Gegensatz dazu ist das Christentum eine große heilige und köstliche Religion. Die Seelen unserer Toten bleiben im Himmel oder in der Hölle, wo sie jedenfalls gut aufgehoben sind. Der heilige Petrus waltet des Schlüsselamtes an der Himmelspforte, der Teufel hat seine Mistgabel und die Türen der Hölle sind solide und lassen niemand entschlüpfen. Schon über neunzehn Jahrhunderte sind hier oder dort die Seelen unserer Toten gefangen, und das ist wirklich eine große Beruhigung, ein unendlicher Segen für uns. Nicht nur, daß sie uns nichts anhaben können, wir sind es sogar, die sie beschützen, indem wir für sie beten. Oh, wir Europäer haben es gut! Wir können ohne Furcht die ganze Welt bereisen. Aber die Chinesen, sie sterben vor Furcht.

Als die gelben Erdarbeiter erfuhren, daß die Särge unter den Uferklippen stehengeblieben waren, begriffen sie vollständig, warum sie so vom Unglück verfolgt werden. Die Larven ihrer Toten, die man nicht in ihr Land zurückgeführt hatte, die nicht den Opferspenden und Verehrungen ihrer Familien teilhaftig wurden, rächten sich an den Lebenden. »Gallenfieber«, sagten die Ärzte des Hospitals, – dieses Hospitals, das eine aus Brettern zusammengezimmerte Baracke war, die einem großen Sarge glich – wenn mal wieder ein Chinese starb. Redensarten! Die Wahrheit war, daß die Larven der Toten ihre Kameraden zu sich hinüberzogen.

Und es war ja so natürlich, daß diese unbefriedigten Geister, denen der ihnen zukommende Kultus entzogen wurde, denen keiner der Hinterbliebenen Weihrauch, Alkohol und andere Gaben zum Opfer brachte, täglich stärker, unruhiger, ausgehungerter und wütender wurden!

Tchao-Wang war der Führer der aus China importierten Mannschaft. Er beschloß, mit dem noch nicht dem mörderischen Klima verfallenen Rest seiner Leute nach China zurückzukehren.

Es war natürlich vorauszusehen, daß die Chinesen kein Schiff finden würden, das sie in ihre Heimat zurückbrächte. Aber sie wußten, daß sie von Osten hergekommen waren. Das Schiff, auf dem sie gefahren, war immer der Sonne gefolgt. Wie die meisten seiner Landsleute, glaubten Tchao-Wang und seine Gefährten, daß China im Mittelpunkte der Erde liegen müsse und daß die Sonne jeden Morgen aus dem Meere austauchte, um abends wieder darin unterzugehen. Sie hatten keinen Begriff von der ungeheuern Distanz, die sie von ihrem Lande trennte; die fortwährend auf und nieder sich bewegenden Wogen hatten sie über die Dauer ihrer Fahrt getäuscht. Sie glaubten, daß sie auch zu Fuße in zwei bis drei Monaten den Ausgangspunkt ihrer Reise erreichen würden. Als die Sonne unterging, warf Ah-Sing den Stiel seiner Hacke dem Gestirn entgegen, und das niederfallende Eisen zeigte ihm Nord und Süden an.

Sie hatten diese Vorsicht gebraucht, weil sie bei Tage unmöglich fliehen konnten und weil die Sternbilder dieser Hemisphäre ihnen unbekannt waren, was sie nicht wenig beunruhigt hatte.

Glücklicherweise schien der Mond hell in den ersten Nächten ihrer Flucht, und sie wußten, daß der Mond dieselben Bahnen zieht wie die Sonne. So marschierten die Chinesen denn dem Monde nach, nachdem sie vorher eines der am Ufer befindlichen Magazine ausgeplündert und sich reichlich mit Reis, Mehl und getrockneten Fischen verproviantiert hatten. Tagsüber verkrochen sie sich, der eine an den andern gedrückt, in Erdlöchern und unter Gesträuch. Sobald die Dämmerung eintrat, nahmen sie dann ihren Marsch wieder auf. Da man glaubte, daß sie versuchen würden, einen portugiesischen Hafen zu erreichen, um sich dort einzuschiffen, suchte man sie nur am Strande des Atlantik, so konnte es geschehen, daß sie nicht entdeckt wurden. Einige dieser Leute waren heimlichen Lastern ergeben, und das enge Zusammenleben, zu dem die kleine Truppe gezwungen war, trug nicht wenig dazu bei, sie noch mehr zu demoralisieren.

Nach der ersten Nacht sagte einer der Ah-Sing:

»Olga ist bei uns.«

Olga war eine Hündin, die mit einem europäischen Arzte aus dessen Heimatland mit herübergekommen war. Dieser Arzt war gestorben, wie so viele seiner Landsleute vor ihm. Das Klima, der Absinth, die furchtbare Erschöpfung und Langweile hatten ihn hingerafft. Was sein Sterben noch trauriger machte, als das der andern, war der Umstand, daß er sich seines Zustandes und des nahenden Endes so vollkommen bewußt war. Olga war eine Europäerin, sie war treu. Da sie nur eine Hündin war, vermochte sie es nicht gleich zu fassen, warum die andern Weißen ihren Doktor, weil dieser starr und regungslos dalag, in einen hölzernen Kasten legten und unter Steinen begruben. Das verlassene Tier hatte unvernünftigerweise in einer Weise geheult und geklagt, daß die Lebenden dadurch gezwungen waren, des Toten zu gedenken, und das war vielleicht der Grund, weshalb die weißen Männer sie mit Schlägen und Fußtritten regalierten. Da flüchtete Olga in das Lager der Chinesen. Ah-Sing, der sehr höflich und gutmütig war, nahm Olga freundlich auf; er machte sich zuerst daran, dem Tiere die quälenden Flöhe wegzufangen. Und wenn er einen gefunden hatte, behielt er ihn keineswegs, sondern gab ihn Olga zu fressen.

Dieser Höflichkeitsakt ist übrigens bei den wohlerzogenen Bettlern Pekings gang und gäbe. Olga war offenbar gerührt davon. Sie hatte eine leidenschaftliche Natur, und wenn sie etwas wünschte, wußte sie stets sich verständlich zu machen. Sie bellte und jaulte jämmerlich, wenn sie herauslaufen, wenn sie schlafen oder gestreichelt sein wollte; ganz besonders ungebärdig erwies sie sich, wenn sie Hunger hatte und zu essen begehrte. Da sie von Europa gekommen, so waren die Chinesen davon überzeugt, daß Olga sprechen könne, und bedauerten nur, ihre Sprache nicht zu verstehen. Sie liebten das Tier. Olga war das einzige weibliche Wesen unter den Chinesen und übte folglich einen versöhnenden Einfluß auf sie aus. Aber nach der dritten Nacht beschlossen sie, Olga zu töten. Sie wollten nichts Europäisches mehr in ihrer Mitte dulden.

Sie überschritten den Inkissi, den Kouilon und andere Flüsse, zwischen denen der traurige, hügelige Boden nur mit von der Sonnenglut versengtem Gras und verkrüppelten niederem Gesträuch bedeckt ist. Dann senkte sich das Terrain unter ihren Füßen und sie erreichten eine große, mit üppigem Graswuchs bedeckte Ebene, die wie ein sprossendes Reisfeld aussah. Nach einiger Zeit erreichten sie einen See, in dessen Mitte eine Insel lag. Es war der sogenannte Stanley-Pool, an dessen Ufern Belgier und Franzosen ansässig sind. Tchao-Wang wußte, daß diese im Nordwesten ihre Stadt hatten und beschloß daher, den See in südlicher Richtung zu umgehen.

Von diesem Augenblick an wagten die Chinesen es indessen auch, am hellen Tage zu marschieren. Ihre Zahl war auf Hundert zusammengeschmolzen. Als die Sonne aufging, wähnten sie ihrem Ziele sehr nahe zu sein. Voller Hoffnung drangen sie in den vor ihnen liegenden Wald.

Und in diesem großen Walde war es, wo sie starben. Es verlohnt sich nicht zu sagen, wie sie starben, man muß ja nicht schreiben, nur um zu schreiben. Es genügt zu sagen, sie gingen der Sonne entgegen und einer nach dem andern fand den bitteren Tod. Und endlich blieb nur einer von allen übrig, ihr Führer Tchao-Wang.

Viele wurden von den Bangalas erschlagen und aufgefressen. Denn die Bangalas sind Kannibalen. Es ist ein sehr häßliches Volk. Sie machen sich einen tiefen Hauteinschnitt, der von der Nase bis oben in die Stirne reicht, dann streuen sie ein gewisses Gift in die Wunde, ein Gift, das die Eigenschaft besitzt, die Haut unnatürlich aufzuschwellen. Die Narbe bekommt dann das Aussehen eines Hahnenkammes; sie sehen auch ganz wie böse, schwarze Hähne aus. Menschenfresser sind sie. Diese Chinesen waren ja natürlich keine vollwertigen Menschen; niemand in der Welt, selbst der Neger glaubt, daß die Chinesen überhaupt ganz richtige Menschen seien – das anzunehmen wäre ja einfältig. Aber sie schmeckten dennoch nicht schlecht, und die Bangalas hatten reichliche Mahlzeiten.

Andere wurden von den Schrecken des Waldes verschlungen. Dieser Wald hatte eine unermeßliche Ausdehnung und er war so dicht, daß das Licht der Sonne nur gebrochen durch die ineinander verwachsenen Bäume fiel. Sie drangen nur sehr langsam vorwärts, und volle fünf Monate lang sahen sie den hellen Tag nur dann, wenn ein Fluß die ungeheuere grüne Wildnis durchschnitt. Geschickt und erfinderisch, wie sie waren, stellten sie dann Flöße her und verbanden die dazu verwendeten Baumstämmchen durch Seile von Lianen. Ein anderes Mal töteten sie mehrere Eingeborene, um sich in den Besitz ihrer Kähne zu setzen, und in diesen ruderten sie ein paar Tage den Kongo herauf.

Die Luft auf diesem Flusse war unausgesetzt von einem drückend heißen Nebel erfüllt. Wenn das Auge der Chinesen morgens die Sonne suchte, so erschien sie ihnen nur wie eine mattweiße, von dichten Nebelschleiern verhüllte Scheibe. Mittags hatte sich dann der Schleier zu einem undurchdringlichen, schwer niederfallenden Regen verdichtet. Oft auch erhob sich ganz plötzlich ein jäher Wirbelsturm, der die Bäume zittern machte und das Wasser aufrührte; er toste zuweilen mit einer solchen Kraft, daß sie glaubten, die Welt müsse untergehen. Der Kongo war hier so breit, daß man, wenn nicht gerade Inseln darin lagen, von der Mitte aus die Ufer nicht mehr sehen konnte. Stieß man aber auf Inselgruppen, so verlor man völlig die Richtung. Sie verirrten sich und gerieten in die großen Netze, die die Bangalas ausspannten, um Fische zu fangen. An solchen Tagen bekamen die Bangalas Fleisch genug.

Die wenigen Flüchtlinge, die diesen Gefahren entronnen – es waren ihrer nur zehn – verließen den Fluß und versuchten wieder, durch den Wald zu dringen; sie vermieden ängstlich die Dörfer der Bangalas, die vereinzelt am Ufer des Kongo liegen. Der Wald ist jedoch so düster, daß es sehr schwer ist, sich darin zu orientieren. Die mächtigen, von Lianen umsponnenen Bäume überwuchern alles und rauben allem Unterholz und den kleineren Pflanzen die Nahrung; selbst die Tiere finden nichts mehr zu essen darin. Man hört wohl das Zwitschern der Vögel in den Baumwipfeln und vernimmt auch das Geräusch der hin und her huschenden Affen. Aber man sieht nichts. Der Fußboden ist mit Aas bedeckt, in dem Schlangen und allerlei Insekten ihr Leben fristen. Die Chinesen sammelten einige Arten der letzteren; der den toten Ameisen entsteigende eigentümlich erfrischende würzige Duft belebte ihre Kräfte. Ein andres Mal gerieten sie an eine Stelle, die ganz von einem zarten Duft durchdrungen war, wie er das Gemach schöner, geliebter Frauen erfüllt.

Es waren jedoch keine Blumen, die diesen süßen Duft ausatmeten, sondern Pilze. Sie machten sich begierig darüber her, aber nachdem sie nur einige davon gegessen, empfanden sie eine große Übelkeit und heftigen Brechreiz.

Zum Glück fanden sie an demselben Orte unter dem den Boden bedeckenden faulenden Laub der Bäume eine Art großer, häßlich aussehender Würmer, die jedoch nicht giftig waren. Es war nicht weit von dieser Stelle, daß Ah-Sing, als er eine Baumwurzel aufhob, ein schauerlich aussehendes Wesen entdeckte. Es war ein kugelförmig, phantastisch gebildetes Tier, dessen Augen leuchteten wie gleißendes Gold. Es war mit einer Art klebrigen Leims überzogen, an dem sich Kot und allerlei Unrat festgesetzt hatte. Ah-Sing ergriff ein Stäbchen und reizte das seltsame Geschöpf damit, da blähte es sich auf und zog sich langsam wieder zusammen. Als Ah-Sing fortfuhr, es mit seinem Stäbchen zu verfolgen, erhob es sich und kroch langsam voran. Es war eine Kröte.

Sie war so groß wie der Kopf eines Menschen. Ihr ganzer ekelhafter Körper, vom Bauche an bis aufwärts zu dem von borstigen Haaren starrenden Rücken, war mit widrigen gelben Pusteln bedeckt. Wütend darüber, daß man es aus seiner Ruhe aufgescheucht, spie das scheußliche Tier Gift und Galle aus. Dann, nachdem es sich von neuem unter dem welken Laube verkrochen hatte, stieß es einen langen, durchdringenden Klageton aus, ähnlich jenem andern Rufe, mit dem die Kröten ihre Weibchen herbeizulocken pflegen.

Ah-Sing, der sehr hungrig war, dachte zuerst daran, ob man dies seltsame Tier nicht essen könne! Da sein Auge länger darauf ruhte, fühlte er sich plötzlich von einer geheimnisvollen, dunklen Angst erfüllt. Als er einen langen gabelförmigen Zweig suchte, um damit die Kröte abermals zu reizen und zum Aufstehen zu bewegen, rief Tchao-Wang:

»Oh, nicht doch, tu dem Tier nichts, es ist so alt! Es ist ganz gewiß der Gott dieses Waldes.«

Die ungeheuere Größe der Kröte machte sie glauben, daß sie sicher mehrere Jahrhunderte alt sein müsse. Und wenn sie so alt war, wußte sie natürlich alles. Sie herrschte über diese Fäulnis, weil sie sie überlebt hatte. Es sind die Greise, denen die Weisheit der Welt sich offenbart hat, und wer sehr lange lebt, der wird selbst ein Gott und kennt den Unterschied zwischen dem Guten und dem Bösen. Die europäischen Barbaren teilten zwar diesen Glauben nicht, dennoch war er nicht ganz falsch. Jedenfalls unterlag es keinem Zweifel, daß dieses Tier uralt sein müsse. Wahrscheinlich stammte es von den großen Reptilien ab, die in der Urzeit die Erde beherrschten, jenen phantastischen Ungeheuern, die ein Gemisch von heißem Schlamm und Wasser unter den glühenden Strahlen einer tollen Sonne aus dem Meere erstanden.

»Töte es nicht! Es ist der Gott des Waldes!«

Und in der Tat schien diese Kröte eine Verkörperung des Waldes zu sein. Sie war ebenso schmutzig, feucht, grün und gelblich, sie war ebenso gigantisch und formlos, ebenso von schrecklichem todbringenden Geifer erfüllt. Das Wunderbarste aber waren ihre Augen, seltsame, durchdringende Augen, die alles zu wissen schienen, schöne und doch traurige Augen, die wie Gold schimmerten. Warum auch wäre sie furchtlos an ihrem Orte geblieben, wenn sie kein Gott gewesen wäre?

Die Flanken der Kröte zitterten. Sie fuhr fort, mit lauten klagenden Tönen ihre Weibchen zu rufen. Und zweifellos war dieser morastige Ort sehr günstig für die Fortpflanzung und Entwicklung der Kröten. Hinter Baumwurzeln oder umgestürzten Bäumen verborgen antworteten die Weibchen mit zwei aufeinanderfolgenden langen Tönen auf den lockenden Ruf. Die Pilze atmeten einen süßen Duft aus, der die ganze Atmosphäre erfüllte.

Die Chinesen verneigten sich tief und riefen:

»Wir werden dich nicht töten, mächtiger Gott der Kröten! Schütze uns. Wir werden dir zu essen geben. Wir wissen, daß du stark bist. Komm mit uns.«

Sie suchten Würmer und Fliegen für das Tier. Tchao-Wang flocht einen Korb, bereitete darin ein Lager aus Lumpen und hob die Kröte behutsam darauf.

So zog die Kröte mit ihnen. Und sie ließ Tag und Nacht ihre Klage- und Lockrufe erschallen.

*

Indessen drangen sie immer tiefer in den unergründlichen Wald, und je weiter sie kamen, um so düsterer und trauriger wurde es unter den hohen Bäumen.

Die Chinesen zogen an den Ufern stiller Flüsse dahin, Flüsse, deren Flut beinahe bewegungslos dahinglitt und deren Anblick genügte, das Herz mit einem undefinierbaren Grauen zu erfüllen.

Langsam und schwarz flossen ihre trägen Wasser unter den Bäumen dahin, von deren Gipfeln unausgesetzt schwere Tropfen herabrieselten. Die Ufer waren mit einem undurchdringlichen Unterholz bewachsen, das von einem festen Geranke von Lianen, Orchideen und anderen Wucherpflanzen überspannt war und in dem allerlei Schlangen ihr Wesen trieben. – Die Sonne, die Sonne. Wie sollte man den Weg innehalten und der Sonne entgegenziehen, da man sie nicht mehr sah? Dichte Nebel verhüllten ihr Antlitz, und selbst bei Tage erhellte nur ein mattes Dämmerlicht ihren Pfad; die Dunkelheit der Nacht aber war so undurchdringlich und so drückend, daß sie die Wange wie mit Fledermausflügeln zu berühren schien.

Dann geschah es, daß die Bewohner des himmlischen Reiches eines Tages von einer Elefantenherde überrascht wurden. Die gewaltigen Tiere hatten in dem Flusse gebadet und durchbrachen dann plötzlich das die Ufer umgebende hohe Unterholz, das sie mit dem Rücken und dem Kopfe überragten. Ihr Gewicht war ein so kolossales, daß sie mit ihren vier gewaltigen Füßen tief in dem schlammigen Boden versanken. Das saftige Schilf ringsum diente ihnen zum willkommenen Schmause und sie setzten ihre großen Ohren so rasch in fächelnde Bewegung, daß ein Luftzug die Blätter der sie umgebenden Pflanzen bewegte. Die ältesten unter ihnen hatten Stoßzähne, deren Länge die Größe eines ausgewachsenen Menschen übertraf. Ihre Haut hatte ein zerrissenes und verwittertes Aussehen, als ob die Zeit und der Schlamm, in dem sie so gern wühlten, selbst dieses unzerstörbare Elfenbein zu zerstören sich bemühte.

Einer der Chinesen wurde von den Füßen der Elefanten zertreten. Als dann die Herde weitergezogen war, sahen die andern Chinesen, daß sie eine breite Spur hinter sich zurückgelassen, einen Weg, der durch das Dickicht der Pflanzen bis zu dem trägen Wasser führte. Und nun endlich sahen sie die Sonne wieder. Und da sie ihren Weg weiter verfolgten, kamen sie in eine freundlichere, lichtere Gegend. Anstatt mit dem düstern Laube des Urwaldes, waren die Bäume nun mit leuchtend grünen Blättern geschmückt. Eine Art großer Schnecken kroch an ihren Zweigen empor, um den hervorquillenden Saft zu saugen. Ein ganz blauer Vogel flog dem Lichte entgegen. Tchao-Wang fand die Richtung wieder und deutete mit der Hand gen Sonnenaufgang.

Kurz darauf gerieten sie in ein dicht mit Disteln besetztes Terrain, deren scharfe und vergiftete Stacheln die Füße der Überlebenden verletzten und ihnen unerträgliche Schmerzen verursachten. Da sie ihre Wunden nicht waschen und pflegen konnten, schlug der Brand hinein und viele von ihnen, die den dadurch entstandenen Qualen nicht zu widerstehen vermochten, nahmen sich selbst das Leben. Dann wurden sie ganz plötzlich mit einem Regen ganz kleiner feiner Pfeile überschüttet. Diese Pfeile waren kaum größer als Nähnadeln, aber sie waren mit einem Gift getränkt, dessen Wirkung eine so starke war, daß der Getroffene sofort wie vom Blitze erschlagen zusammenbrach. Wenn ein solcher Pfeil sein Ziel erreicht hatte, sah man einen kleinen Schatten durch die Bäume fliehen, der kaum größer war als der eines Kindes. Es waren die in diesem Walde lebenden Zwerge, die ihr Reich verteidigten. Obgleich sie keine Menschenfresser waren, hatten sie durch eine lange und grausame Erfahrung die anders wie sie gebildeten Menschen hassen und fürchten gelernt, und sie verfolgten und töteten sie mit größter Grausamkeit.

Auch Ah-Sing und Tchao-Wang würden wie ihre Gefährten unfehlbar den Tod gefunden haben, wenn sie nicht durch ein höchst seltsames Abenteuer gerettet worden wären. Sie hatten sich in ein dichtes Gehölz verkrochen, aus dem sie nicht hervorzukommen wagten. Zuerst aßen sie Schnecken, Blätter und verschiedene Arten kleiner Blutegel, die sie zerquetschten. Sie wurden bei dieser Lebensweise aber immer matter und fühlten sich endlich so schwach, daß sie zu sterben glaubten, und um ihren Körper vor den Tchong-Tonés zu verbergen, bedeckten sie sich gegenseitig mit Reisern und schliefen dann ein.

Sie wurden durch eine Liebkosung erweckt und sahen mit Erstaunen eine der Zwergfrauen des Waldes, die sich über sie neigte.

Sie war vollständig nackt, aber nicht schwarz, sondern von wachsgelber Farbe. Sie hatte eine schmiegsame Gestalt, mit einem zurücktretenden Schädel, kleinen, feinen Brüsten und einem unverhältnismäßig dicken Bauch. Sie blickte ernst, aber nicht unfreundlich auf die beiden Chinesen und deutete mit fragender Gebärde auf die Kröte. Tchao-Wang verneigte sich tief vor dem Tiere und machte der Zwergin durch Zeichen begreiflich, daß dies ein Gott sei: da verneigte auch sie sich vor der Majestät des Fetisches. Die Chinesen machten ihr nun begreiflich, daß sie sehr hungrig seien, worauf sie mit Hilfe eines sehr kleinen Bogens, an dessen Pfeil ein Baumblatt befestigt war, geschickt einen Affen schoß und ihnen gab. Nachdem sie sich gestärkt und neue Lebenskraft gewonnen, schloß die Zwergin sich ihnen an und begleitete sie. Aber als Tchao-Wang und Ah-Sing, deren Sinnlichkeit entfacht wurde, sich ihrer bemächtigen wollten, sah sie sie erstaunt an und wußte dann geschickt ihren Händen zu entschlüpfen. Es dauerte längere Zeit, bis sie wieder zum Vorschein kam.

Später, als sie näher mit ihr bekannt wurden, einige Worte ihrer Sprache erlernten und sich auch durch Zeichen zu verständigen wußten, erfuhren sie, daß die Männer und Frauen ihres Geschlechtes fast das ganze Jahr über getrennt voneinander lebten und sich nur zu gewissen Zeiten vereinigten, nämlich dann, wenn sie, wie dies genau so bei den Hirschen und den Hindinen der Fall ist, sich von dem großen Delirium der Liebe ergriffen fühlen. Dieser Zeitpunkt trifft genau mit jenen Tagen zusammen, wo das Wild brünstig wird, weniger scheu und daher leichter zu erlegen ist; man hat dann mehr zu essen. Wenn man dann gut und reichlich gegessen hat und der Magen voll befriedigt ist, erwacht der Begattungstrieb in diesem wilden Stamme; die Geschlechter versammeln sich nachts um große Feuer, man tanzt und die Paare vereinigen sich in freier Wahl.

Mavé war noch Jungfrau, aber sie war entwickelt und sie wußte, daß die Zeit der Liebe bald für sie kommen werde und daß sie dann nach dem Manne rufen würde, anstatt ihn zu fliehen. Denn während der Brunstzeit kann und darf kein Mädchen, keine Frau sich dem werbenden Manne verweigern.

Aber zu jeder anderen Zeit müssen diese kleinen Frauen vor dem Manne fliehen, ihn beißen, ja ihn töten, da dann die Liebe eine Beleidigung ist. So will es die Sitte dieses seltsamen Stammes.

Manchmal indessen werden Jungfrauen oder auch alte Frauen, die keine Kinder haben, durch den dunkeln Instinkt der Mütterlichkeit dazu getrieben, den Verwundeten oder Verhungerten beizuspringen. Es war ein solches Gefühl, dem Mavé gehorcht hatte. Sie hatte außerdem ein Vorgefühl davon, daß der große Zeitpunkt sich nahe.

Sie war ein ganz eigentümliches Geschöpf: lebhaft und heiter, aber außerordentlich furchtsam und scheu. Das linkische Wesen und die Schwäche der Chinesen schienen ihr einigermaßen Mut einzuflößen. Aber wenn sie auch nur einen Ton in ihrer Muttersprache über die Lippen brachten, war sie mit einem Satze verschwunden und kam stundenlang nicht mehr zum Vorschein. Diese fremde Sprache erschreckte sie mehr als der Versuch, sie zu besitzen. Sie kletterte dann schnell die Bäume hinauf, aber keineswegs wie Menschen dies tun, sondern indem sie den Stamm umfaßte, die Hand- und Fußfläche dagegen stützte und wie ein Affe blitzschnell daran herauflief. Niemals gelang es ihnen, ihr ein Lächeln zu entlocken: die Pygmäen sind beinahe Tiere, und sie können nicht lachen. Sie war aufmerksam, ernst, beinahe traurig und zu andern Zeiten seltsam zärtlich. Die Chinesen amüsierten sich damit, ihr mit der Hand über die Brust oder den Rücken entlang zu streicheln, wie man es mit Katzen tut. Sie kauerte sich dann vor Vergnügen wie ein Ball zusammen, und ihre geöffneten Lippen zeigten das Zahnfleisch und die weißen Zähne. Es ist dies eine Gnade, die die Natur jenen untergeordneten Wesen erweist, die außer in dem sehr kurzen Augenblick der Begattung unfähig sind, Liebe zu empfinden. Ihr Körper ist seltsamerweise sehr empfänglich für Liebkosungen.

Wieder hatte der Wald sein Aussehen gewechselt. Mavé allerdings war hier zu Hause und sie kannte ihn, wie eine Ameise die Gräser einer Wiese kennt. Sie hatte keine Angst davor. Der Weg wurde allmählich weniger beschwerlich, ja, sogar angenehm und reizvoll. Mühelos schritten die beiden immer noch verstörten Männer dahin, während die kleine Frau wie eine Statuette neben ihnen herlief. Abends neigten sie sich tief vor dem Gotte, den Tchao-Wang immer noch mit sich trug. Das Ungeheuer schlief jetzt fast unausgesetzt. Wenn es für kurze Zeit erwachte, um Fliegen zu verzehren, dann leuchteten seine goldenen Augen in übernatürlichem Glanze und es gab leise sanfte Klagetöne von sich.

Ah-Sing und Tchao-Wang bemerkten, daß die Pygmäen geschlitzte, schrägstehende Augen hatte wie die Frauen ihres Landes. Sie wurde ihnen dadurch noch lieber. Da sie beide Enthaltsamkeit übten, waren sie nicht eifersüchtig aufeinander. Es gab aber jetzt Augenblicke, wo der Anblick ihrer kleinen Gefährtin ihnen so genußreich erschien, daß sie Opium zu rauchen glaubten.

Dann öffnete sich eine sumpfige Grasebene vor ihren Augen, der ersten, der sie begegnet, seit sie Stanley-Pool verlassen. Sie war mit Palmen-, Brot- und Käsebäumen durchsät. Vielfarbige Kolibris schienen ihre einzigen Bewohner zu sein. Ihre kleinen Flügelchen nervös hin und her bewegend, um sich in der Luft zu erhalten, schienen sie mit der Spitze ihres Schnabels, der kurz und spitz wie der Rüssel eines Insektes ist, den Honig aus den weißen, rosaen und violetten Kelchen der Blumen zu saugen. In den Spitzen der Bäume hatten große rote Spinnen ihre Netze ausgebreitet, so hoch, daß man die Fäden derselben nicht mehr erkennen konnte. Man hätte sie für zwischen dem Himmel und der Erde schwebende Sterne halten können.

Mavé stieß einen Schrei der Bewunderung aus und ergriff Ah-Sings Hand mit einem Gesicht, dessen Ausdruck vollständig verändert war. Zum ersten Male las man darin, daß sie ihm vertraute und sich ihm zu unterwerfen bereit sei. Sie fing an daran zu denken, daß die verhängnisvolle große Stunde nahe sei! Aber Tchao-Wangs Züge verfinsterten sich, er drängte zur Eile. Man gebrauchte jedoch zwei volle Tage, ehe man die Grasebene durchschritten hatte. Dann traten sie wieder in den Schatten des Waldes.

Am Abend rasteten sie in der Nähe eines Bruchs, der von hohen Palisanderbäumen umstanden war. Der Boden war mit dichtem, feuchtem Moose bedeckt. Sie zündeten ein Feuer an, neben dem sie alle drei einschliefen und das dann langsam verlöschte.

Mitten in der Nacht erwachte Tchao-Wang. Die Luft war mit einem eigentümlichen Geräusch erfüllt, das ihnen jedoch nicht unbekannt war: es war der Lockruf der Krötenweibchen. Ganz gewiß mußte es hier Hunderte von diesen Tieren geben. Aber diese Nacht erschien auch Tchao-Wang ganz anders zu sein als die früheren. Er hatte in der letzten Zeit gut und reichlich gegessen, er empfand keine Angst mehr und fühlte sich im Vollbesitz seiner Kraft. Der Krötengott neben ihm war ebenfalls unruhig geworden, er dehnte und blähte sich, stieß unausgesetzt zwei laute vibrierende Töne aus, die einem sehnsüchtigen Schmerzensschrei ähnlich waren. Dann erhob er sich mühsam in seinem Korbe, ließ sich über dessen Rand weg auf den Boden fallen und watschelte nun langsam dem feuchten Orte entgegen, von dem die Lockrufe seines Geschlechtes ertönten. Tchao-Wang streckte seine Hände nach der Stelle aus, wo, wie er glaubte, Mavé im Moose schlummerte.

Sie war nicht mehr da. Ah-Sing aber war ebenfalls verschwunden. Er begriff sofort: der große Zeitpunkt war gekommen, die Zeit, wo die Geschlechter sich vereinigen. Er rief laut:

»Ah-Sing! Ah-Sing!«

Er erhielt keine Antwort; dann plötzlich schwirrte ihm ein Pfeil um die Ohren. Es war Mavé, die ihn töten wollte, weil sie ihre Wahl getroffen und die nun befürchtete, daß Tchao-Wang, weil sie das getan, mit Ah-Sing um ihren Besitz kämpfen würde.

Er wiederholte seinen Ruf:

»Ah-Sing, töte sie und kehre zu mir zurück, komm und ziehe mit mir.«

Ah-Sing antwortete ihm:

»Nein, geh allein.«

Er fügte noch einige schreckliche Beleidigungen hinzu, weil die Liebe ihn toll gemacht hatte. Dann floh er mit Mavé weit, weit weg, dem Sonnenuntergange zu.

So geschah es, daß dieser furchtbare Wald, dem es nicht gelungen war, Ah-Sing das Leben zu nehmen, dennoch Besitz von ihm ergriff. Und Ah-Sing kam niemals wieder daraus hervor. Tchao-Wang verfolgte ihn mehrere Tage vergebens, er fand ihn nicht.

Es ist sehr, sehr selten, daß ein Chinese weint, aber als Tchao-Wang begriffen, daß er seinen Gefährten verloren hatte, da schluchzte er bitterlich.

Er war tagelang, ohne eine Richtung innezuhalten, planlos umhergeirrt; durch einen günstigen Zufall geriet er dann endlich an den Rand dieses schrecklichen Waldes.

Er traute zuerst seinen eigenen Augen nicht, als er den weiten Horizont wieder erblickte. Vor ihm lag ein gewelltes Terrain mit weiten Wiesen, die mit so feinem, zartem und kurzem Gras bedeckt waren, daß, wenn man mit der Hand darüberstrich, man die Empfindung hatte, als berühre man einen weichen Teppich. Büffel-, Giraffen- und Antilopenherden weideten friedlich nebeneinander, ohne die geringste Unruhe zu zeigen.

Hoch oben aber in der klaren Luft zogen große Geier ihre Kreise, und blau und hoch wölbte sich der Himmel über ihnen.

Hinter ihm erhob sich der dunkle Wald.

Da fing Tchao-Wang an laut zu lachen.

Er setzte die Kröte auf die Erde.

»Hier ist das Land der Kräuter«, sagte er. »Du aber bist der Gott des Waldes. Hier hast du keine Macht mehr – und … und ich liebe den Wald durchaus nicht.«

Und dann ergriff er den größten und schwersten Stein, den er finden konnte und schleuderte ihn auf das Tier. Es zerplatzte wie ein mit üblem Unrat gefüllter Schlauch und übergoß den grünen Rasen mit Blut, Gift und Geifer.

Das war die Rache, die Tchao-Wang an dem Walde nahm.

*

Er wurde von Negern aus Zanzibar, von Muselmännern und Sklavenhändlern freundlich aufgenommen. Keineswegs aus besonderem Mitleid, sondern weil er eine lebende Kuriosität war. Sein Zopf war in Unordnung geraten, und da sein Kopf nicht mehr rasiert worden, umgab ihn sein zottiges Haar wie eine wilde Mähne. Seine Kleidung war ihm längst in Lumpen vom Leibe gefallen, und sein nackter Körper zeigte die Merkmale äußersten Verfalls; eine dicke Geschwulst entstellte seine Leisten, seine Beine waren mit Geschwüren bedeckt und an seinen Füßen fehlten zwei Zehen, die die Erdflöhe zernagt hatten. Das merkwürdigste aber war sein Bart, der in langen und farblosen Zotteln um sein Gesicht und bis tief auf die Brust hing. Er war vom Fieber ergriffen und sprach im Delirium. Das war das einzige, was die Araber, die sich seiner annahmen, nicht bemerkten, denn sie kannten seine Sprache nicht.

Erst später kam einer von ihnen auf den Einfall, ihn mit ein paar englischen Worten anzureden, freilich war es ein sehr verdorbenes schlechtes Englisch. Tchao-Wang antwortete darauf in seinem Pidgin-englisch, das zu verstehen dem schwarzen Sohne Zanzibars große Mühe machte. Indessen wußte er sich zu helfen, indem er das, was ihm in des Chinesen Englisch unverständlich blieb, in seiner Weise zu ergänzen wußte und seinen Begleitern schlankweg erzählte, daß dieser Idiot mit den schmutzigen Haaren aus dem Walde käme, wo er von Schlangen mit menschlichen Gesichtern verfolgt worden sei, die ihm Pfeile nachgesandt hätten. Man war keineswegs erstaunt über diese Mitteilung und begnügte sich damit zu fragen, ob denn der Idiot mit den schmutzigen Haaren sich nicht erinnere, Menschen mit einem Hundekopf begegnet zu sein, und ob er auch den König des düsteren Sees gesehen? Man sagt, daß dieser die Gestalt einer großen Schlange habe und in einem steinernen Hause lebe, das auf einer runden Insel gelegen sei und daß er stets von einer großen Zahl verliebter Frauen umgeben sei und von ihnen bedient würde. Der große Urwald ist wie die Nacht und wie der Tod; da man ihn nicht ergründen kann, bevölkert ihn die Phantasie der Menschen mit Wundern aller Art.

Tchao-Wang frug sie, wohin sie gingen, und wenn sie ihm von Zanzibar sprachen, verstand er nicht, was sie meinten; er begriff jedoch, daß die Karawane dem Osten entgegenzöge, und das genügte ihm. Man gab ihm aus Mitleid die Überreste der Mahlzeiten. Und so humpelte er neben dem Zuge der Sklaven dahin. Die glücklicheren dieser Leute waren dazu bestimmt, an Araber in Yemen verkauft zu werden, in denen sie gütige und gerechte Herren fanden und wo ihnen ein gutes Los zuteil ward. Der größte Teil dieser Leute aber war von den Agenten europäischer Kreuzer unter dem trügerischen Namen von freien Arbeitern angeworben worden, und nun dazu verurteilt, auf deutschen und englischen Plantagen zu sterben.

Ein Tagemarsch folgte auf den andern. Endlich kam der Tag, an dem Tchao-Wang sich mit Staunen an dem Ufer eines unermeßlichen Wassers sah, das kein Ende zu haben schien. Es war der große Indische Ozean. Eine leichte Brise bewegte die Flut, die in kleinen Wogen an das Ufer schlug, eine Menge Krabben liefen auf dem Sande umher. Der Himmel spiegelte sich in dem Meere, wie in einem zerbrochenen Spiegel.

*

Kleine Küstenschiffe führten die Sklaven an ihren Bestimmungsort. Ein andres Fahrzeug nahm Tchao-Wang mit nach Zanzibar.

Die ersten menschlichen Wesen, denen der Chinese dort begegnete, waren Parsis, die eine Hochzeit feierten. Es dämmerte schon, und die Neuvermählten wurden von Fackelträgern in ihre Wohnung geleitet. Dem Zuge voran wurde in bronzenem Becken das heilige Feuer getragen, das göttliche Symbol des ewigen Lichtes, des alles befruchtenden, Leben schaffenden guten Prinzipes der Welt. Mit Blumen bekränzt und singend folgten die Gespielen und Freunde des jungen Paares.

»Hier ist Indien,« dachte der Chinese, »nun bin ich nicht mehr allzuweit von der Heimat und auf dem richtigen Wege nach dem Reiche der Mitte.«

Aber sehr bald befand er sich wieder unter einer vollständig schwarzen Bevölkerung. Da waren die Bewohner von Mosambik, deren Haut nach gesalzenem Fisch riecht; Zulus von hohem, stattlichem Wuchs und kriegerischem Aussehen, Suahelis, Somalis mit wadenlosen Beinen, die Juden aus Abessinien, die auch schwarz sind, ferner alle Arten von Mischlingen, Abkömmlinge der Europäer, der Portugiesen, Engländer, Deutschen, Franzosen und Belgier mit eingeborenen Frauen. Es war hier genau so wie auf der andern Seite Afrikas. Tchao-Wang hatte den ganzen ungeheuren Weg zurückgelegt und so viel Elend erduldet, um dasselbe Bild wiederzufinden, dieselben Kostüme, dieselbe Unverschämtheit und Brutalität. Er war von einem Ozean zum andern gezogen und hatte sein Vaterland noch immer nicht erreicht!

Es war zuviel für den Verstand des armen Chinesen. Seine Gedanken verwirrten sich. Willenlos ließ er sich von dem Zufall treiben. Er fühlte sich verlassener und verlorener als in der Wildnis und den Schrecken des Waldes, und wie ein gehetztes Tier irrte er planlos durch die Straßen, um ein Winkelchen zu finden, wo er sich ausstrecken und schlafen konnte. Obwohl die Nacht schon ganz herabgesunken war, herrschte doch noch ein reges und geräuschvolles Leben in der Stadt. Es halten sich vorübergehend immer ziemlich viele Weiße in Zanzibar auf, die ihr Glück in den Minen von Transvaal oder Madagaskar versuchen wollen, oder für die Arbeiten der Eisenbahn von Uganda oder auch von deutschen Kaufhäusern engagiert worden sind. Sie alle werden, wenn sie Zanzibar erreicht haben, sehr bald von einem unheimlichen Vorgefühl, einer gewissen Todesahnung übermannt. Sind diese Leute doch fast alle Unglückliche, gescheiterte Existenzen, die aus irgendeinem dringenden Grunde, einer Jugendtorheit, vielleicht gar eines Verbrechens halber ihr Vaterland verlassen mußten; es finden sich kaum Philosophen, Künstler und Gelehrte unter ihnen. Meistens haben sie sich auf das Schiff begeben, ohne nur eine Ahnung davon zu haben, was sie in der neuen Welt erwartet, wie weit und wie ganz verschieden sie von ihrer Heimat ist. Daher kommt es denn, daß diese Leute, wenn sie in Zanzibar gelandet sind, zunächst nur das Bedürfnis empfinden, sich zu betäuben und deshalb zu den Frauen gehen. Es geschieht dies keineswegs, weil sie etwa lasterhafter sind als andere Männer, o nein, viele unter ihnen möchten am liebsten weinen. Ihnen geht es wie so vielen andern, die trinken, um die Vergangenheit zu vergessen. Sie stürzen sich in das Leben, um der quälenden Gedanken Herr zu werden und um so schnell wie möglich einen Blick in die neuen Verhältnisse zu tun. Sie nennen das Bekanntschaft machen. Und dabei benehmen sie sich den Frauen gegenüber meist wie kleine Kinder, weil sie eben Furcht haben.

Das ist der Grund, weshalb es in Zanzibar so sehr viele Frauen gibt, und zwar Frauen aller Art und für jeden Geschmack: Negerinnen, Französinnen, Engländerinnen, Deutsche, Walachinnen und sogar Japanerinnen!

Die Japanerinnen hausen in der Nähe des deutschen Konsulats, nicht weit von der Straße, in der die Elfenbeinhändler ihre Waren feilhalten. Und dort war es, wo Tchao-Wang im Vorübergehen plötzlich die ihm so wohlbekannten Töne des Pidgin-Englisch, jener Sprache des äußersten Ostens, vernahm.

Er blieb stehen, und in dem verzweifelten Ton der Bettler von Schanghai bat er in derselben Mundart um ein Almosen.

Fräulein Kußmäulchen führte gerade einen schwer betrunkenen englischen Midshipman über eine mit Eaisy-chairs und mit Champagnerflaschen beladenen Pfeilertischchen besetzte Veranda, als plötzlich die Musik jenes ihr so wohlbekannten Jargons, das ihr die Bilder vergangener Zeiten vorzauberte, ihr Ohr traf. Sie spitzte die Ohren. Und da sie ein sehr gutes Mädchen war, rief sie Tchao-Wang heran und ließ ihm eine große Schale voller Reis und kleiner gedörrter Fische vorsetzen.

Und nachdem er sich ordentlich satt gegessen hatte, bat sie ihn, ihr seine Geschichte zu erzählen.

Die Luft war mit dem faden Dufte von Champagner, Whisky, Schminke und billigem Parfüm erfüllt. Aber durch die weitgeöffneten Fenster des Gemaches, in das Fräulein Kußmäulchen ihren Gast geführt, drang auch vom Lande her der würzige Geruch der Pfefferbäume, und der volle Mond leuchtete am westlichen Himmel.

Tchao-Wang erzählte ihr alles, was er erlebt und was er gelitten hatte, und Fräulein Kußmäulchen, die sich ein kindliches und empfängliches Gemüt bewahrt hatte, hörte andächtig zu und wunderte sich sehr, denn Tchao-Wangs Geschichte erschien ihr sehr seltsam und sehr schön.

Als er geendet hatte, fügte Tchao-Wang hinzu:

»Du bist beinahe so, als ob du meinem Volke angehörtest. Deine Haut atmet nicht jenen entsetzlichen Duft aus, der den Weißen eigentümlich ist, jenen scharfen, eigentümlichen Geruch, der dem der Tiger ähnelt! Was ja auch sehr natürlich ist, da der Europäer sich wie der Tiger, von Fleisch nährt. Ich weiß auch, daß dein Vaterland, wenn es auch nicht das meine ist, doch gen Osten liegt. Ganz gewiß ist es das Land, wo die Sonne geboren wird, und folglich muß mein Vaterland vor dem deinen liegen. Zeige mir den Weg dahin, ich will die Heimat erreichen, und wenn ich auf meinen Knien hinrutschen müßte.

Aber Fräulein Kußmäulchen schüttelte den Kopf. »Die Sonne wird nicht bei uns geboren«, sagte sie. »Sie steigt jeden Morgen entweder aus dem Wasser, oder hinter den Hügeln empor, je nach dem Orte, wo man sich befindet. Das ist in Japan wie überall anders auch. Ich habe die Weißen befragt, die hierher kommen. Sie haben mir ganz unglaubliche Dinge erzählt, die ich nicht alle verstanden habe. Das aber habe ich begriffen, daß die Erde rund ist. Die Sonne wird nicht neugeboren, so wenig wie sie stirbt. Es sind nur die Menschen, die Tiere und Pflanzen, die sterben. Aber die Sonne und die Erde sind ewig. Ich glaube das ganz bestimmt, weil die Weißen es mir gesagt haben. Und die sind sehr klug und wissen alles.«

»Ach, Kußmäulchen,« rief da Tchao-Wang weinend, »du erzählst mir da schier unglaubliche Dinge. Und dennoch – wenn alles so wäre, wie man dir gesagt, ich meine, wenn die Erde rund ist –, dann brauchte ich ja wirklich immer nur geradeaus zu gehen, um schließlich doch in China anzukommen?«

»Nein,« sagte sie altklug, »das würdest du niemals! Die Weißen würden es verhindern.«

»Du bist sehr gut«, sagte Tchao-Wang. »Ich bin arm und du hast mir zu essen gegeben. Möchten die Schatten deiner Ahnen sich deines Wortes erfreuen und in ewigem Ruhme leben. Aber bitte, erkläre mir doch, warum die Weißen mich daran verhindern würden, mein Land wieder zu sehen?«

»Weil sie dich nicht dahin führen werden. Sie werden dich immer nur dahin führen, wo sie dich gebrauchen können. Hast du jemals gesehen, daß ein Pferd oder ein Ochse auf der Wiese gestorben wäre, wo er geboren ist? Die Erde ist groß, und die Weißen allein wissen sich darauf zurechtzufinden. Die andern Menschen aber finden niemals den Weg zu der Stätte zurück, von der sie ausgegangen sind. Und selbst diese Weißen, wie wenige von denen, die hier gewesen, kehren noch einmal hierher zurück. Die Erde ist zu groß, selbst für sie, sie verschlingt die Menschen. Geht es mir besser? Auch ich möchte gern nach Japan zurückkehren. Aber ich muß hierbleiben.«

Dann verließ sie Tchao-Wang, um gleich darauf mit einer Pfeife zurückzukehren, die nur einen ganz kleinen Kopf hatte. Mit einem großen Bambusrohre zündete sie ein Lämpchen an, tauchte eine Nadel in ein kleines Näpfchen, das eine klebrige Masse enthielt, hielt diese Nadel dann über das Licht der Lampe und ließ den daran haftenden zähen Tropfen kochen. Ein leises, knisterndes Geräusch und ein seltsam feiner Duft erfüllte die Luft. Tchao-Wang beobachtete mit freudestrahlendem Auge das Gebaren des Mädchens und sagte dann:

»Hast du es in Japan gelernt, Opium zu rauchen?«

»Nein,« antwortete sie, »in Saigon. Es war ein Franzose, der mich zuerst den Zauber des schwarzen Rauches kennen gelehrt hat. Er ist tot. Und ich bin hier.«

»Hast du Geld?« fragte sie plötzlich der Chinese.

Sie antwortete ihm an diesem Abend nicht auf diese Frage, weil sie Furcht vor ihm hatte. Aber später entwickelte ihr Tchao-Wang seine Pläne.

Denn Tchao-Wang ist in Zanzibar geblieben. Er hat sich mit Fräulein Kußmäulchen vermählt und mit ihr eine Opiumrauchstube eröffnet, die ganz besonders von den Europäern besucht wird. Denn Tchao-Wang hat ein besonderes Auge dafür, die ankommenden Europäer zu erkennen, die das Opium lieben, und weiß geschickt, sie seinem Etablissement zuzuführen. Wenn dann nach einiger Zeit ihre Wangen hohl, ihre Hände feucht und zittrig werden, dann freut er sich in seinem Herzen, weil diese Weißen auch ihr Vaterland nicht wieder sehen werden – – des schwarzen Rauches wegen.


 << zurück weiter >>