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Über Stephan Milow

Von Robert Reinhard

Am 9. März 1906 war für die feinsinnigen Literaturkenner ein Festtag seltener Art. Einer der bedeutendsten und doch wohl infolge seiner Gemütstiefe und Bescheidenheit wenig bekannten österreichischen Meister wurde 70 Jahre alt.

Einzelne hervorragende Blätter und Zeitschriften brachten »Jubiläumsartikel«, Professoren und Akademien beglückwünschten den Dichter zu seinem Ehrentage, aber im Volke, das leider gerade den tiefsten Dichter nur selten zu würdigen weiß, blieb es ganz still. Wie richtig sagt doch Milow in seiner letzten Gedichtsammlung: » Fallende Blätter

Nur eigene Prüfung erschließt das Wesen,
Man schaut die Dinge zu wenig an;
Hat einer etwas darüber gelesen,
So dünkt er sich schon ein weiser Mann.

Es waren einmal zwei junge österreichische Leutnants, der eine schwarz, der andere braun, die hatten nicht bloß zur Fahne, sondern auch zu den Musen geschworen. Darum hielten sie es beide nicht lange beim Truppendienste aus, sondern machten es wie früher oder später so mancher Musensohn im Offiziersrocke, wie Detlev von Liliencron, Martin Greif, Karl Baron Torresani, Georg von Ompteda u.v.a. Sie legten ihn ab und widmeten ihr ganzes Leben der Kunst. Leichter, als wenn sie beim Kriegerstande geblieben wären, ist es ihnen darum doch nicht geworden. Denn nicht die Kämpfe sind die schwersten, in denen die Menschen mit Schwertern und Schießgewehren einander gegenüberstehen: das innere Ringen eines dichterischen Geistes um seine Kunst und um die Anerkennung seiner Kunst ist vielleicht mit weit größerem Herzleid verbunden. Aber unsere lieben Leutnants wurden nicht müde darin, und als sie siebzig Jahre alt wurden, lag hinter jedem eine Reihe von Büchern, und jeder wurde von einer größeren oder kleineren Gemeinde von treuen Verehrern gefeiert.

Die zwei Leutnants und Freunde von Anno dazumal waren Ferdinand von Saar und Stephan von Millenkovich, der sich als Dichter Stephan Milow nennt. Bekanntlich ist der um drei Jahre ältere Saar am 24. Juli 1906 seinem Freunde und der Mitwelt durch den Tod entrissen worden. Ihre Leutnantszeit verbrachten sie gemeinsam in Wien, wohin Milow – der als Sohn des Kordonkommandanten in Orsova geboren und im Olmützer Kadettenhause erzogen wurde, – 1852 im siebzehnten Lebensjahre als frischgebackener Offizier ins 37. Linieninfanterieregiment eingereiht worden war. Bis 1870 lebte Milow in Wien, nachdem er sich schon 1854 aus dem Truppendienste in das Militärgeographische Institut zu wissenschaftlicher Verwendung hatte versetzen lassen. Er brachte es daselbst bis zum Hauptmann. Ein schweres Nervenleiden zwang ihn, den Abschied zu nehmen, worauf er sich mit Frau und Kindern auf dem kleinen Anwesen in Ehrenhausen bei Graz niederließ. Von 1880 bis etwa 1900 lebte er in Görz, seither aber mit seiner ihn sorgsam betreuenden Gattin in der nächsten Nähe Wiens, im reizenden Mödling; die Nähe Wiens war für ihn um so erwünschter, als einer seiner Söhne unter dem Namen Max Morold eine geachtete Stellung als Schriftsteller und Kritiker in Wien einnimmt.

Wie sein Freund Saar hat Milow auch in Wien singen und sagen gelernt. Die Anfänge beider Dichter sind für deren Entwicklung bezeichnend. Bei Saar die wuchtige Doppeltragödie »Kaiser Heinrich IV.«, bei Milow die Charakterstudie » Arnold Frank«, die im vorliegenden Bande an erster Stelle abgedruckt wurde.

Dieses novellistische Kunstwerk stellt ein vollwertiges und doch ganz selbständiges Gegenstück zu Grillparzers »Armen Spielmann« dar. Von irgendwelcher Nachahmung kann schon darum keine Rede sein, weil Grillparzers Novelle erst in der von Laube und Weilen im Jahre 1873 besorgten Gesamtausgabe dieses Dichters, also später als die Erstausgabe von »Arnold Frank« (1872) weiteren Kreisen zugänglich wurde. Es sei auch hier auf den eingehenden Artikel im »Neuen Wiener Tagblatt« vom 9. März 1906 verwiesen.

Die treue Freundschaft, die Milow mit seinem Freunde und Gesinnungsgenossen Saar durch mehr als fünfzig Jahre verknüpfte, schildert der Dichter selbst in folgenden schlichten Worten: »... Ferdinand von Saar lernte ich im Jahre 1854 kennen. Wir waren damals beide blutjunge Leutnants und sahen uns zum ersten Male im Burgtheater. Zwischen den beiden Kameraden war bald ein Gespräch angeknüpft, und was auf der einen und andern Seite gesagt wurde, trug wohl dazu bei, es immer lebhafter zu gestalten. Wir merkten es einander an, daß wir uns in Literatur und Kunst mehr versenkt hatten, als es gewöhnlich bei jungen Offizieren der Fall ist. Endlich trafen wir uns ohne besondere Verabredung fast täglich im Burg- und manchmal auch im Hofopern-Theater. Natürlich führte dieser Verkehr zuletzt zu dem gegenseitigen Geständnisse, daß jeder von uns den Musen huldige; wir schlossen Freundschaft und teilten uns unsere dichterischen Versuche, zunächst lauter Lyrisches mit.«

Immer inniger wurden diese Beziehungen, so daß Saar dem Jugendfreunde zu dessen 70. Wiegenfeste bei Übersendung eines Lorbeerbäumchens die schönen Verse zurufen konnte:

»Lorbeer, den wir einst erstrebten,
Aber doch nicht voll erlebten,
Grüne nun mit dunklem Schimmer
Dir im stillen Dichterzimmer,
Um im Alter dich zu mahnen
An vereinte Jugendbahnen.«

Beiden Freunden war die elegische Grundstimmung gemeinsam, der starke Einfluß, den die Philosophie Schopenhauers wenigstens auf deren Erstlingswerke ausübte. Je älter sie wurden, um so freier trachteten sie von dieser Philosophie zu werden, und jeder entwickelte in eigener Weise den Charakter seiner Persönlichkeit. Während aber Saar als der aktuellere Dichtergeist stets im Kontakte mit den Zeitströmungen blieb, hat Milow als der philosophische Denker stets seinen Gedanken den Stempel seiner Subjektivität aufgedrückt. Sein » König Erich« in dem gleichnamigen Trauerspiele ist nur ein »Arnold Frank« auf dem Königsthrone, das heißt: »Der seiner Aufgabe nicht gewachsene Mann in einer höheren Region.« – Über dieses bereits in zweiter umgestalteter Auflage vorliegende Kunstwerk schrieb vor Jahren die »Grazer Tagespost«, daß der vierte Akt dieses geschichtlichen, lebenswahren Trauerspieles sich kühn dem Schönsten anreihen kann, was die dramatische Literatur in dieser Hinsicht geschaffen hat. Es ist und bleibt eine beschämende Tatsache, daß Hof- und Provinzbühnen beständig über den Mangel gemütstiefer, historischer Charaktertragödien klagen, wo das anerkannt Gute so nahe liegt.

Milow hat in den herrlichen lyrischen Zyklen, die in seinen drei Gedichtbänden » Gedichte«, » Aus dem Süden« (Verlag von A. Bonz & Co., Stuttgart) und » Fallende Blätter« (Verlag von F. Leichter in Ohlau) wiederkehren, mit großer Zartheit alle Schattierungen der aufkeimenden und verwehenden Sehnsucht und Leidenschaft der Liebe besungen und darin Töne angeschlagen, wie es nur Künstlerhand vermag. Möchten sich doch weitere Kreise in diese Gedichte (von denen ein volkstümlicher Auswahlband jüngst von Eduard Engel in seiner trefflichen » Geschichte der deutschen Literatur« [S. 966 ff.] mit allem Nachdrucke verlangt wird) liebevoll versenken, dann würden auch sie den tiefen Dichter und Denker schätzen und verehren. Er gehört zu den treuesten Jüngern des Frankfurter Philosophen und rief dem Toten, dessen Bedeutung er auch in prächtigen Strophen verständnisinnig würdigte, die Worte nach:

»Abgründe weißt du kühn zu überbrücken,
Das Tiefstgeheime zeigt dir sein Gesicht,
Und du enthüllst es hohen Ernstes allen,
Die mit erglühtem Sehnen zu dir wallen.«

Doch hat die Weltanschauung Schopenhauers den Dichter nicht zum Pessimisten gemacht, so sehr ihn auch eigene körperliche Hinfälligkeit an die Eitelkeit alles Irdischen gemahnte. Milow, der sich in seiner Jugend im Wiener Burgtheater an den hehren Gestalten eines Schiller und Goethe mit derselben Begeisterung erwärmte, wie an dem von ihm früh erfaßten und hochverehrten Dichter Friedrich Hebbel, genoß das trauliche Familienleben in glücklichster Ehe mit einer wahrhaft edlen Frau – aus dem freiherrlichen Geschlechte der Reichlin-Meldegg, – der er in seinen Liebesliedern in oft rührender Weise gedenkt. Aus den hier in Frage kommenden Gedichten sei wenigstens das verbreitetste »Ewig« angeführt, wiewohl man aus diesen und ähnlichen in alle Anthologien übernommenen Liedern niemals die vielseitige Sprachkraft und Innigkeit des Sängers ohne eigene gründliche Vertiefung in sein Gesamtwert auch nur ahnen kann.

Ewig!

Aus tausend Knospen bricht die Kunde,
Es ist nur Täuschung aller Tod!
So klingt es schmetternd in der Runde,
So spricht das goldne Morgenrot.

Wir stehen unter Blütenbäumen –
Mit Jubel denk' ich's, daß du mein,
Ich rufe laut in sel'gen Träumen:
»O dieses Glück muß ewig sein!«

Da fallen welke Blüten nieder,
Es schauert leis der Lenz im Wind:
»Ja, ewig!« sagst du lächelnd wieder
Und blickst auf unser spielend Kind.

So erscheint der Dichter als wahrhaft guter Mensch, dessen Feuerseele nach Wahrheit ringt. Er betrachtet alles vom Standpunkte der Ewigkeit und sieht in der Liebe einen »läuternden Feuerdrang«, der jeden kleinen Schmerz, jeden kleinen Gedanken »all die Nichtigkeit des täglichen Seins« verzehrt. – Denn seine Gedichte legen ein Zeugnis ab, wie der Dichter nicht nur mit körperlichen sondern auch mit seelischen Leiden gekämpft hat, wie konsequent er sich über den trostlosen Pessimismus, über das feige Verzagen emporzuringen wußte:

»Sprich nicht von Schmerz! Gleichst du den andern allen,
Die kommen, leben und dann ohne Spur
Nach kurzem Treiben in das Nichts zerfallen,
So trag es still! Was bist du der Natur,
Die Millionen fort und fort erneut?
Was liegt an dir, du Stäubchen ohne Wert,
Wie Jeder Tag sie achtlos rings verstreut?
Was soll dein Schrei, der Schonung heiß begehrt?
Doch bist du mehr und willst du dich von jenen
Als auserwählt und gottbegnadet scheiden,
So schäme dich der Klagen und der Tränen:
Dein Vorzug sei's und dein Besitz, zu leiden!«

Aber sehr bezeichnend sagt der Dichter von sich selbst: »Ein jedes Bittre, das der Kampf des Lebens mir verhängt, weckt neue Kraft in mir.« – So gelangt der Dichter allmählich zu einem schmerzlosen, ja fast heiteren Pessimismus, und in dem Gedichte » Glücklos« kennzeichnet sich sein ganzes Wesen:

»Glücklos bin ich, da umsonst ich ringe,
Da, was andre sich geholt so leicht,
Meiner hoffend ausgespannten Schwinge
Unerreichbar allezeit entweicht.

Glücklos bin ich, da voll Überschwanges
Aus der Brust umsonst mein Sehnen bricht,
Glücklos und so voll des tiefsten Dranges,
Doch, Geschick, unglücklich bin ich nicht!«

Dieselbe geschlossene Persönlichkeit, die uns schon aus dem ersten Bande der »Gedichte« (1865) entgegentrat, spiegelt sich auch in dem letzten Gedichtbande »Fallende Blätter« (1903) wider und klingt in folgende herrliche Worte aus:

»Einen Menschen möcht' ich lieben,
Einen Menschen möcht' ich bilden,
Wie der Künstler Menschen bildet:
Bilden ihn mit meiner Liebe,
Lehren ihn die Freud' am Schönen,
Lehren ihn, sich rein bewahren,
Immer milden Sinns und hold sein,
Lehren ihn des Herzens Treue,
Lehren alles Menschenwerte.«

Mag nun der Dichter das menschliche Ringen und Streben in Liebe, Hoffnung, Leid oder Entsagung zusammenfassen, mag er im » Liede von der Menschheit« den tiefsten Welträtseln nachforschen, aus jedem Gedichte spricht Wahrheit, Welterkenntnis und das ernste Bewußtsein des berufenen Sängers.


Peter Rosegger äußerte sich bereits vor mehr als 20 Jahren über die erste Gesamtausgabe der »Gedichte« Milows (1882) in seinem » Heimgarten«: »In diesem Gesamtbilde tritt uns nicht so sehr eine abgegrenzte Subjektivität entgegen, als vielmehr die Stimmung unserer Zeit. Der Dichter flieht sie scheinbar, diese Zeit, aber selbst ihr leiblich Kind, entgeht er ihr nicht. Hier die Sehnsucht nach der rettenden Gottheit; dort die Liebe zu den Mitmenschen und wieder das Evangelium des Eigennutzes; hier die fromme Naturanbetung; dort wieder die Erkenntnis, daß die äußere Natur in Beziehung zum Menschen herzlos ist. Hier die Glut der sinnlichen Leidenschaft, dort die kühle Philosophie des Entsagens ... So geht es fort auf der Tonleiter unserer modernen Stimmungen, so daß Milows Gedichte ein treues Abbild der Zeit geben, aber derart, daß sie im Zeitlichen künstlerisch das Ewige festhalten. Größte Anerkennung und Ehre verdienen die Liebeslieder, deren viele wegen der Tiefe ihrer Empfindung und Innigkeit an Chamissos rsaquo;Frauenliebe und Lebenrlsaquo; erinnern und zum Allerbesten gehören, was die Weltliteratur in dieser Beziehung aufzuweisen hat

Ich habe diesem Urteile Roseggers nichts hinzuzufügen, als daß sich diese künstlerische Eigenart Milows mit den Jahren nur noch reiner ausgestaltet hat und besonders in den geistvollen Sprüchen der letzten Sammlung, welcher der eingangs angeführte Vierzeiler entnommen ist, eine Fülle echter Lebensweisheit birgt, die versöhnend wirkt und die Harmonie zwischen Gemüt und Welt zu vermitteln geeignet ist.

Mit Recht bezeichnet Eduard Engel den Dichter als »den bedeutendsten Sänger unter den Österreichern seines Zeitalters.« Daß aber Ferdinand Kürnberger, dessen »Literarische Herzenssachen« und »Siegelringe« Dutzende moderner Essaybände aufwiegen, eben weil er auch selbst ein feinfühlender Dichter war, Milows künstlerische Bedeutung schon vor drei Jahrzehnten erfaßte, sollen nachfolgende kleine Bruchstücke eines mehrjährigen Briefwechsels erweisen, der kürzlich im »Jahrbuche der Wiener Grillparzer-Gesellschaft« (1906, S. 246 ff.) im Druck erschienen ist. Schon der erste Brief beginnt in folgender charakteristischer Weise:

Wien, 23. Jänner 1877 nachts.

Lieber Unbekannter!

Endlich wieder einmal ein Dichter, der mich an Goethe erinnert. Wie mich das freut! – Sie wissen gar nicht, wie sehr Sie mir persönlich recht geben und Worte, die ich oft gebrauchte, bestätigen. – Es ist die unbewußte Perfidie eines tierischen Instinktes in der heutigen Verhimmelung und Vergötterung der »Klassiker«. Das Schwindelgelichter braucht ihnen ja um so weniger zu gleichen, je unnahbar ferner sie hinaufgerückt werden. Kann denn ein Mensch »Götter« erreichen? Kann man das verlangen! Und so erschleichen Sie sich indirekt und auf Umwegen ein milderes Verlangen und Fordern ... Das war mir das überraschend Liebe und Süße, als ich Ihre Gedichte durchblätterte. Sie haben es so leicht, so frei, so unbefangen, so im besten Sinne österreichisch und naturvoll, was uns allen von der Ilm her fast in die Wiege gesungen ist. O wie kenne ich sie, diese vertrauten Töne, die so bescheiden anschlagen, die so maßvoll ausklingen, die soviel Tiefe und Leidenschaft haben, ohne zu schreien, wahrend andere Schreier sie nicht haben ...


Ein wie inniges Freundschaftsbündnis allmählich diese beiden umschloß, das beweisen Kürnbergers Briefe. Da es wenig bekannt sein dürfte, daß dieser gestrenge Wiener Zensor und gefürchtete Kritiker auch ein naiver, guter Mensch gewesen ist, so sei wenigstens der Schluß seines letzten Briefes, der von Graz am 8. Januar 1879 an seine lieben Freunde in Ehrenhausen abging, angeführt: ...

»Eigentlich ist es peinlich, Christkindlgaben zu kritisieren. Soll's aber schon geschehen, so lassen Sie mich mit Freuden bezeugen und das Zeugnis wiederholen, daß das Christkindl von Ehrenhausen Verstand mit Liebenswürdigkeit verbindet. – Die Mappe macht mir recht viel Freude, und die Sachertorte gehört zu den wenigen Weihnachtsnäschereien, die ich verdauen kann. Daß Sie erstere oft und oft in meinem Reisetäschchen sehen werden, das erwarten Sie übrigens nicht; dazu ist sie mir viel zu kostbar. Sie soll im edelsten meiner antiken Möbelschränke wohlgehütet im geglätteten Lädchen ruhen, und nicht hinaus ins feindliche Leben, was ihrem zarten Teint und ihrer köstlichen Frische vorzeitig schaden könnte. Auch von meinen Schriften soll sie nichts zu sehen bekommen. Ich fragte das süße Kind soeben: Was willst du werden? und da antwortete es: Ein Kustos der Briefe von Stephan Milow! – Tausend Dank, meine Verehrtesten, was ich bald mündlich zu wiederholen hoffe. Viele Grüße auch für die Eltern und glückliches neues Jahr in der Höhe und im Tale des unsterblichen Hügels!

Ganz der Ihrige
Ferdinand Kürnberger.

Dies war der letzte inhaltsreiche Brief. Im selben Jahre stattete Kürnberger dem Freunde noch einen Besuch in Ehrenhausen ab, ging dann nach München zu Kaulbach, erkrankte dort und starb bereits am 14. Oktober 1879. In Mödling bei Wien, wo jetzt Stephan Milow lebt, liegt er begraben.


Vielleicht findet sich später einmal Gelegenheit, den getreuen Abdruck der geistvollen Kritik Kürnbergers, die über Milows »Gedichte« in der » Gegenwart« erschienen ist, zu bringen, worauf hier aus Raumrücksichten nicht eingegangen werden kann.


Man verzeihe, wenn getreu dem Spruche, daß der Appetit mit dem Essen wächst, anläßlich der vorliegenden vier Novellen, so ausführlich auf die leider noch nicht im Auswahlbande vorliegenden Gedichte eingegangen wurde. Aber schon Martin Greif sagt, daß »des Dichters schönstes Buch seine Lieder sind«. Ferdinand von Saar spricht von der Lyrik »als der Blüte und Krone der Dichtkunst«. Einer der feinsten Kenner wahrer Poesie, Theodor Storm, faßte seine Ansicht über echte Kunst in die Worte zusammen: »Am vollendetsten erscheint mir das Gedicht, dessen Eindruck zunächst ein sinnlicher ist, aus dem sich dann der geistige wie von selbst ergibt, wie aus der Blüte die Frucht.«

Von den vier Novellen, welche dem Publikum hier geboten werden, bilden zu den ernsten Stücken, der schon eingangs erwähnten Charakterstudie » Arnold Frank« und der Novelle » Rache« die so geistvolle, anbei erstmalig veröffentlichte Humoreske » Gunter und Siegfried« und die ergreifende Erzählung » Die junge Mutter« vollwertige Gegenstücke. Auf die letztgenannte, dem Sammelbande » Frauenliebe« (1893) entnommene Novelle soll im späteren Zusammenhange zurückgegriffen werden.

Die nachfolgenden Begleitworte zu Milows dramatischer und erzählender Tätigkeit mögen nur als dringende Anregung zu eigener Lektüre aufgefaßt werden.

Von Milows im Jahre 1888 erschienenen drei dramatischen Werken dürften die beiden einaktigen Lustspiele » Die ungefährliche Frau« und » Bedrängte Herzen« selbst einem Provinzpublikum zusagen. Im ersten Stücke liest ein Hugo von Rosen mehreren hartnäckigen Heiratskandidatinnen gehörig den Text, während sich das zweite Stück durch eine Fülle köstlicher Einfälle und durch einen reizenden Dialog auszeichnet.

In der vorhin erwähnten, im Jahre 1879 erschienenen und 1888 in neuer Fassung herausgegebenen Tragödie » König Erich« wird in dem gleichnamigen schwedischen Titelhelden ein Charakter verkörpert, dessen mit Güte gepaarte Schwäche zur tragischen Schuld wird. Es ist überaus traurig, daß sich bisher nicht einmal die österreichischen Bühnen der dramatischen Werke eines Milow und Saar angenommen haben.

In seinem neuesten Schauspiele » Jenseits der Liebe« (Wien, Verlag »Austria« 1907) sucht der Dichter einen Stoff aus der heutigen Gesellschaft trotz des modernen Kostümes und der Prosa des Dialoges zu den Höhen des großen Dramas zu erheben und einen Konflikt zweier Männer um ein Weib wie Goethes »Iphigenie« ausklingen zu lassen. In der Mitte der Handlung steht eine edle, herzbezwingende Frauengestalt, von der es wie Abendsonnenschein durch das ganze Stück flutet. Dieser geistvolle Versuch einer Verknüpfung des antiken und modernen Dramas sollte schon wegen der in sich geklärten Weltanschauung, ja schon wegen der eigenartigen Durchführung eines psychologisch interessanten erotischen Falles nicht vergeblich an die Tore unserer Hofbühnen pochen. Freilich darf nicht verschwiegen werden, daß zu dieser » Kammerkunst«, die aus den Stücken eines Saar, Milow und J. J. David spricht, erst das sensationsgierige Publikum erzogen werden müßte.

Milows erzählende Prosa wurde bereits 1866 mit der Erzählung »Verlorenes Glück« eingeleitet, die das Schicksal einer Frau schildert, die, als sie ihre Liebe hingegeben, ihrer mit einem andern geschlossenen Ehe nicht froh werden kann und schließlich unter der Wucht ihrer ihm verschwiegenen Schuld zusammenbricht. Solche scharf umrissene und lebensvoll charakterisierte Gestalten treten uns auch in den »Zwei Novellen« (1872) entgegen, die in »Marzia« und dem hier neu vorliegenden »Arnold Frank« ein immer klareres Schilderungsvermögen aufweisen. Aus dem im Jahre 1883 erschienenen Novellenbande »Wie Herzen lieben« sei besonders »Zwei Freunde« als die Krone dreier Erzählungen hervorgehoben. Der Sammelband »Frauenliebe« (1893) enthält vier Erzählungen. Von ihnen ist besonders eine außerordentlich charakteristisch für den Dichter, wie eine Frau auf die Jugendfreundin ihres Mannes eifersüchtig wird und dadurch den anscheinend freiwilligen Tod ihres Gatten verschuldet. Erst durch die Liebeswirren ihres Sohnes gelangt die Witwe zu einer versöhnlicheren Anschauung der Wirklichkeit. – Ergreifend wirkt ferner die Geschichte einer jungen Mutter in ihrem Verhältnisse zu ihrem von der Natur vernachlässigten Kinde. Diese bereits früher erwähnte Novelle wurde in unseren Auswahlband aufgenommen.

Der im Jahre 1890, wie die meisten Werke bei A. Bonz & Co. in Stuttgart erschienene einbändige Roman »Lebensmächte«, aus dem nur die prachtvolle Schilderung von Triest und seiner Gesellschaft hervorgehoben sei, weist in seinen vier Büchern eine derart ruhige und klare Schreibweise auf, daß dieses Werk in unserer »nervösen« Zeit ein wahres Labsal bedeutet. Über den Inhalt sei nichts verraten, als daß es sich um einen umfassenden Gesellschaftsroman handelt, zumal mit einer trockenen Detaillierung sich die Feinheit der Durchführung nicht klarlegen läßt.

Nicht durch Erzählung fabelhafter Geschehnisse und abenteuerlicher Konflikte sucht der Dichter zu wirken, sondern er läßt jedwede romanhafte Ausschmückung beiseite und faßt die Form der Novelle bei ihrem Kern, indem er uns wie Theodor Storm eigenartige, anziehungskräftige Naturen mit scharfer dichterischer Beobachtungsgabe lebenswahr schildert. Das gelingt ihm so vortrefflich, daß der Leser alsbald von der ruhigen Entwickelung der Schilderung ganz erfaßt und ergriffen wird. Damit feiert Milow seinen stillen Triumph. Denn von vornherein verwirft der Dichter die Mittel, welche eine ausschweifende Phantasie unseren Erzählern in der Regel nur in zu reicher Anzahl zur Verfügung stellt.

Milows im Jahre 1897 erschienenen erzählenden Dichtungen »Höhen und Tiefen«, die das ganze soziale Leben umfassen, sein derzeit in zweiter verbesserter Auflage vorliegendes »Lied von der Menschheit« (F. Leichter in Ohlau) und die Gesamtausgabe seiner »Deutschen Elegieen« bedeuten den Gipfelpunkt seiner Gedankenpoesie.

Unter allen Dichtungen dieses Genres der Laienbreviere wird man diese »Deutschen Elegieen«, die ähnlich wie Saars Idyll aus dem deutsch-mährischen Volksleben »Hermann und Dorothea« zur mannhaften nationalen Selbstzucht erziehen wollen, als die gehaltvollsten bezeichnen müssen. An der Wiege seines Sohnes steht der Dichter in idyllischer Umgebung und denkt über die Pflichten und Aufgaben nach, die sein Kind einmal erfüllen, die Ideale, denen er einst folgen muß. Zumindest gehört dieses Meisterwerk, das der Stuttgarter Verlag A. Bonz & Co. prächtig ausgestattet hat, in jedes deutsche Haus. Bei der herrschenden Abneigung gegen gediegene deutsch-österreichische Dichtung dürfte aber dieser Verleger jedoch bei diesem Werke kaum auf seine Kosten gekommen sein.

Dem Volke der Dichter und Denker rufe ich als Mahnruf das herrliche Gedicht Milows »An die Lebenden« zu, da dieser Dichter wie kaum ein zweiter der bedeutendsten Deutsch-Österreicher bei Lebzeiten noch in weitesten Kreisen volkstümlich zu werden verdient:

An die Lebenden.

Begnadetes Geschlecht der Erde,
Hinwandelnd in der Sonne Strahl,
O schüttle ab des Staubs Beschwerde
Und laß die stete Sehnsuchtsqual!

Was frommt dir's, nachzugrübeln schauernd
Den dunklen Rätseln dieser Welt?
Der Dinge Flucht zu schauen trauernd,
Bis endlich dich die Zeit auch fällt?

Du trägst das Sein, dein ist die Stunde,
Ermiß es nur, ist das nicht viel?
Und fühlst du's recht im Herzensgrunde,
So fragst du nicht erst, wo das Ziel.

Du knüpfst, wie du voll Lebensflammen
Dich schaffend regst, was je gelebt,
Mit all der Fülle schön zusammen,
Die werdend einst ins Licht noch strebt.

Rückblickend wecken deine Augen,
Was längst zum Moder hingerafft,
Und aller Zukunft Wurzeln saugen
Aus dir des Wachstums freud'ge Kraft.

So juble, frei von allen Schmerzen,
Zu deinem Tagwerk froh bereit:
So juble – sieh, in deinem Herzen
Schließt sich der Ring der Ewigkeit!«


Wien-Budweis, April 1907.
Robert Reinhard.


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