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I.
Die deutsche Literatur hat in den letzten Jahren zahlreiche Memoirenwerke von Frauen empfangen, teils Originale, teils Übersetzungen. Aber trotz dieser Memoirenflut hoffe ich, daß dieses Bruchstück eines großen schwedischen Memoirenwerks in Deutschland einen sympathischen Leserkreis finden wird.
Dieses Reisejournal behandelt Malla Silfverstolpes Reise durch Deutschland und ihren Aufenthalt in Berlin, alles in allem die Zeit vom Juli 1825 bis zum Juli 1826. Sowohl auf dieser Reise wie während des ungefähr zehn Monate langen Besuchs in Berlin kam sie in mehr oder weniger lebhafte Berührung mit mehreren der bedeutendsten Persönlichkeiten des damaligen Deutschlands. Einige derselben – z. B. E. M. Arndt, Henrik Steffen und Amalie v. Helvig, geborene Imhoff, kannte sie schon von deren Besuchen in Schweden her. Andere – wie August von Platen, Jean Paul, Schelling – traf sie auf der Fahrt. An Berlin kam sie durch Amalie v. Helvigs Haus und ihre Freunde in nahezu tägliche Berührung mit dem Kreise, der sich teils um Amalie v. Helvig selbst, teils um eine Rahel, eine Bettina, versammelte. Da tauchen beispielsweise Fouqué und Chamisso auf, W. v. Humboldt und Savigny, Schadow und Feldmarschall Gneisenau, Felix Mendelssohn und Henriette Herz. Die Eindrücke dieser und anderer Persönlichkeiten, die die von den Meinungen des Berliner Milieus unbeeinflußte, ganz unbefangene Schwedin ihrem Tagebuch anvertraut, müssen für deutsche Leser jenes Interesse haben, das ein frischer und neuer Blick für bekannte Persönlichkeiten und Dinge dem an sie Gewöhnten stets bereitet. Man empfängt hier ein lebendiges Bild dessen, was in diesem Winter Berlin beschäftigte, wenn man Frau Silfverstolpe z. B. die Musik beurteilen hört, die mit Zelter als Dirigenten aufgeführt wurde, oder Frau Devrients Spiel im Kätchen von Heilbronn, Schleiermachers Predigten und die neuen Werke in den Ateliers der bildenden Künstler. Man empfängt den starken Eindruck, wie tief die deutsche Literatur zu diesem Zeitpunkt die in geistiger Hinsicht lebendigsten Menschen Schwedens durchdrungen hatte. Und schließlich erhält man ein sehr unmittelbares Bild einer Persönlichkeit, die ihren Zauber nie verlieren kann: Bettina von Arnim.
Malla Silfverstolpe besaß keinerlei künstlerische Gestaltungsgabe. Aber ihr Herz ist so offen, ihre geistige Neugierde so rege, ihre Sympathie so willig, sich zu ergeben, ihr Auge so wach, ihre Darstellung so ehrlich und einfach, daß die Skizzen, die sie von Bettina gibt, mir ebenso wertvoll erscheinen, wie irgendeine der mit literarischen Ansprüchen entworfenen.
Frau Silfverstolpe ist zuerst von Bettina geblendet und berückt, während der erste Eindruck, den sie von Rahel empfing, ein viel schwächerer und kühlerer war. So allgemach erkennt sie Rahels Größe, während die Bettinas für sie abnimmt. Und dieser Eindruck ist ganz unparteiisch, denn Bettina zeigt sich sehr liebenswürdig gegen die seelenvolle Schwedin, sehr eifrig bemüht, sie zu gewinnen, und sehr offenherzig in ihren Mitteilungen über sich selbst und Goethe. Mit Rahel hingegen wurde die Obristin Silfverstolpe nicht vertraut, und ihr Verkehr ging über das rein Gesellschaftliche nicht hinaus. Aber immer mehr ergriff Rahel sie durch ihre Echtheit, immer weniger verließ sie sich auf Bettina, über die ihr Schlußurteil lautete: »Der Fehler an ihr ist, daß ihr ganzes Herz im Kopfe steckt, in der Phantasie.«
Wir, die wir uns Bettinas fortwirkendem Zauber nicht entziehen können, sind dankbar für jeden kleinen Zug, jede Augenblicksstimmung, die der Phantasie helfen kann, ihr Bild erstehen lassen. Und in dieser Hinsicht ist die Dankbarkeitsschuld gegen Frau Silfverstolpe groß, deren Schilderung gerade von solchen kleinen, erhellenden Zügen überquillt, aufgezeichnet mit einer Ausführlichkeit, wie sie sie keiner anderen der prominenten Gestalten Berlins widmet.
Es ist eigentümlich, daß nicht Rahel, sondern Bettina der Mittelpunkt von Frau Silfverstolpes Berliner Eindrücken wird. Denn durch ihre Seelenrichtung wie durch ihr Schicksal wäre sie prädestiniert gewesen, Rahel näherzukommen. Daß dies nicht geschah, bestätigt zum hunderttausendsten Male, daß die Ursachen, die die Seelen einander finden oder abstoßen lassen, tief verborgen in der Welt des Unterbewußten liegen.
* * *
Malla Silfverstolpe war wie Rahel lange eine einsame Seele gewesen, mitten in einem großen Kreise von Freunden einsam, aber nicht durch ihre eigene Verschlossenheit. Sie war im Gegenteil auf steter Ausschau nach vollem Verständnis und Hingabe. Aber während Rahel dies schließlich in Varnhagen fand, lebte und starb Malla Silfverstolpe, »um den Traum vom Leben betrogen«. Ihre innere Geschichte ist die Geschichte, wie ein liebedürstendes Herz allmählich die Entsagung lernt und Trost darin sucht, jenes »Genie der Freundschaft« auszubilden, das einer ihrer Freunde in ihr gefunden hat. Ein Genie, das oft bei jenen Frauen entdeckt wird, die das Gold einer großen Liebe hätten geben können, aber gezwungen waren, dies Gold in viele Silbermünzen umzuwechseln.
Sie lernt ihr Glück in dem Glück finden, das andere erringen, sie nimmt mit ihrer ganzen Wärme an den Schicksalen ihrer Freunde teil, ohne von ihnen dieselbe Teilnahme an ihrem eigenen Geschick zu verlangen, so schwer es ihr auch fällt, sie nicht zu erwarten. Aber ehe sie dies lernt, hat sie viel gelitten. Denn sie ist eine egozentrische Natur, wenn auch keine egoistische. Sie kann für ihre Freunde Opfer bringen, mit ihnen leiden und sich freuen, aber sie hofft immer noch, auch selbst zu empfangen, nicht nur geben zu müssen. Und bald mit Schmerz, bald mit Bitterkeit erfährt sie ein Mal ums andere, daß sie selbst, die allzu stark das Leben andrer lebte, niemanden hatte, an den sie sich lehnen, von dem sie Rat und Trost verlangen konnte.
Die egozentrischen Naturen unterscheiden sich von den geborenen Altruisten weniger in ihren Handlungen, als in dem innersten Willen ihrer Seele, der auf ihre eigene Entwickelung, ihre eigenen Erlebnisse gerichtet ist. Nach und nach lehrt das Leben sie, »sich selbst zu vergessen und für andre zu leben«, jene Fähigkeit, die der geborene Altruist von Natur aus hat. Wie Rahel – ebenfalls eine egozentrische Natur – lebte Malla Silfverstolpe ein im äußeren Sinne nach außen gekehrtes, im inneren Sinne gesammeltes Leben, gesammelt um das, was das Pathos ihres Lebens war, das Bedürfnis zu lieben und geliebt zu werden.
Sie war eine von jenen, die mit einer großen Erwartung in den Augen herumgehen, einer Erwartung, die das Leben nie erfüllt, eine der Anspruchslosen, die in einem einzigen Punkte anspruchsvoll sind; eine der Gebenden, die in einer Hinsicht sehr fordernd sind; eine der Zartbesaiteten, die durch eine kleine Freundlichkeit »himmelhoch jauchzend« und über das Gegenteil »zu Tode betrübt« sein können – mit einem Worte: eine der ewig Dürstenden, weil das Leben noch nicht Quellen hat, tief genug für solcher Seelen Labsal.
Sie war eine der Frauen, von denen unsere Zeit so viele hat, Frauen, die von der Liebe auch die Freundschaft wollen und darum in der Freundschaft leicht der Liebe zu begegnen glauben.
Ihre ungewöhnlich ehrlichen Memoiren zeigen, daß dieser Wille die Tragik ihres Lebens ward. Die Liebe kommt diesen Frauen oft so nahe, daß man nicht versteht, warum sie an ihnen vorübergeht, ohne die Krone des Lebens auf ihr Haupt zu drücken.
* * *
II.
Man sieht nicht selten, daß die Menschen, die ihre Mutter nie gekannt haben, heimatloser im Leben werden als andere. Malla Montgomery gehörte zu diesen früh Mutterlosen.
Sie wurde 1782 in Finnland geboren, aber anderthalb Jahre alt zu ihren Großeltern mütterlicherseits gebracht, die sich nach dem Tode der Mutter ihrer annahmen. Auf ihrem Schlosse wuchs sie heran und erhielt in dem intelligenten und aristokratischen großelterlichen Hause sowohl zärtliche Pflege wie die beste Bildung der damaligen Zeit.
In ihrer Jugend war die anmutige, lebhafte und begabte Erbin von vielen Bewunderern umschwärmt, für die sie ihrerseits ein wenig schwärmte, ohne jedoch von einem tieferen Gefühl ergriffen zu werden. Schließlich entschied sie sich für einen dieser Anbeter, den Rittmeister Silfverstolpe, und heiratete ihn 1807.
Bald mußte sie erfahren, daß keine tiefere Sympathie sie und ihren aller Achtung werten Gatten verband. Die Ehe wurde leer an Glück. Nicht einmal Mutterfreuden schenkte sie ihr, und ihre letzten Jahre wurden überdies durch die Kränklichkeit des Mannes und ökonomische Sorgen verdüstert. 1812 war das Ehepaar vom Lande nach Upsala übergesiedelt, wo der Mann 1819 starb.
Der Umzug nach Upsala hatte in Frau Silfverstolpes Leben eine Veränderung zum Guten herbeigeführt. Hier traf sie geistesverwandte Menschen und versammelte einen Kreis um sich, der ihr geistiges Leben bereicherte. Zu diesem Kreise gehörten die genialen Männer, die die geistigen Führer des damaligen Upsalenser Lebens waren, einer Zeit, die später als Upsalas Goldalter bezeichnet wurde. In erster Linie stand da Erik Gustaf Geijer, Schwedens bedeutendster Historiker, dabei ein tiefer Denker und ein echter Dichter, der überdies seine Lyrik selbst in Musik gesetzt hat. Ein anderer war Atterbom, ein großer Dichter, der seine geistige Weckung durch die deutschen Romantiker empfangen hatte und nun selbst der Führer der neuen romantischen Schule Schwedens war.
Als vermögende, vornehme Dame, Witwe und kinderlos, folglich ohne nähere Familienverpflichtungen, war die Obristin Silfverstolpe schon durch ihre äußere Unabhängigkeit besonders dazu geeignet, ihr Heim zum Sammelpunkt des geistigen Lebens in Upsala zu machen. Aber sie war es nicht weniger durch ihre inneren Eigenschaften, ihr brennendes Interesse für Literatur, Musik und bildende Kunst, ein Interesse, das nicht durch irgendwelche eigene Ansprüche, sich auf einem dieser Gebiete auszuzeichnen, gefärbt wurde. Sie war im Gegenteil eine jener Frauen, die Goethe mit Eleonorens Worten charakterisiert hat:
Ich freue mich, wenn kluge Männer sprechen,
Daß ich verstehen kann, wie sie es meinen.
Ihr gastliches Heim wurde von Studenten wie von Professoren aufgesucht, von in Upsala Wohnenden wie von vorübergehenden Besuchern der Stadt. Die regelmäßigen Empfänge fanden Freitag statt, und diese »Freitag-Abende«, an denen man die Fragen der Zeit und die Ereignisse des Tages besprach, literarische Werke vorlas und Musik machte, wurden zu einem der Lichtzentren des damals so glanzvollen Upsala.
Die Hausfrau ließ allen volle Freiheit und trat ohne alle jene Ansprüche oder diplomatische Künste auf, wie sie anderen Schöpferinnen berühmter Salons nicht selten eigen waren. Sie war eine viel zu unmittelbare, mit ihren eigenen inneren Problemen beschäftigte Seele, ein viel zu leidenschaftlicher und infolgedessen oft leidender Mensch, um methodisch einen Salon schaffen zu wollen oder zu können. Sie hielt ganz einfach ihr Haus, ihr Herz und ihre Intelligenz offen. Die Menschen kamen, fühlten sich wohl und kamen wieder, dies war das ganze Geheimnis, weshalb die »Abende der Obristin« ein großer gesellschaftlicher Erfolg wurden und zugleich ein Freudequell für ihr im Innersten noch immer armes Leben. Arm, weil Mallas ganze Genialität darin bestand, was ich Kongenialität nennen möchte: dem Wunsch und der Gabe, in die Seele andrer ein- und darin aufzugehen. Diese innerste Kraft ihres Wesens konnte sie nie betätigen. Die Ehe hatte, wie schon angedeutet, keine Verwendung dafür. Später erlebt sie, was Rahel erlebte – und ihr spätes Glück wurde –, was Frauen in unserer Zeit oft zu ihrem Glück erleben: daß sie bei einem bedeutend jüngeren Manne die Seelenverwandtschaft finden, die sie erträumt haben.
Zweimal erlebte Malla für ihr eigen Teil das Glück dieses Zusammenhangs des ganzen Wesens. Aber beide Male hatten die jungen Männer ihr erotisches Gefühl einem jungen Weibe geschenkt, und Malla war für sie bloß die mütterliche Freundin, die nur durch ihr eigenes großes Gefühl einen neuen Lebensinhalt gewann. Dieses große Gefühl ohne Namen – da Freundschaft ein zu kühles, Liebe ein zu warmes Wort dafür ist – brachte Malla Silfverstolpe das erstemal einem jungen Manne, Kernell, entgegen, der in Erlangen an der Lungenschwindsucht starb. Er hatte Geistlicher werden wollen, und sein ebenso tiefer wie heller religiöser Glaube hatte sowohl bei seinen Lebzeiten wie nach seinem Tode einen großen wohltätigen Einfluß auf Mallas unruhigen, suchenden Geist ausgeübt. Der musikalische, schönheitsliebende, nach jeder Richtung reich begabte junge Mann besaß jenes starke Lebensgefühl, jenen strahlenden Lebenswillen, der Schwindsüchtigen oft eigen ist. Seine Briefe – von denen gerade die inhaltsreichsten an Malla Silfverstolpe gerichtet sind – wurden nach seinem Tode herausgegeben. Das kleine Bändchen war eins der Bücher, die ich in meiner frühesten Jugend liebte und las und immer wieder las, und nach dieser Gestalt bildete ich mir mein männliches Ideal.
Kernell starb in Erlangen, wo sein nächster Umgang August von Platen gewesen war, der auch bis zuletzt bei ihm weilte. Kernell schreibt an Malla, der einzige, der ihn abends besuche, sei ein Poet von Platen, »Graf und ohne alle Frage der Erste unter den jüngeren Dichtem Deutschlands, ein Genie, eine Phantasie ohne Grenzen, ganz und gar Dichter, mit Leib und Seele«. »Aber«, fährt Kernell fort, »mit ihm zu leben, erfordert unendliche Geduld – ich habe nie einen Menschen getroffen, mit dem es schwerer auszuhalten wäre. Er steht vom frühen Morgen bis zum späten Abend in lichterlohen Flammen, zumeist der Satire oder des Grolls. Will man löschen, wird es nur schlimmer – man muß ihn brennen und verbrennen lassen.«
Eines der Ziele von Mallas Reise 1825 war Kernells Grab in Erlangen zu besuchen und Platen zu treffen. Ihr einer Reisekamerad hatte denselben Wunsch. Dieser Reisekamerad war A. F. Lindblad, damals ein genialer, aber unbekannter junger Musiker, der sich später in Schweden und auch in Deutschland einen großen Namen als Liederkomponist machte. Lindblad war mit Kernells Schwester verlobt, und Malla Silfverstolpe hatte ihre Sympathie für Kernell auf Lindblad übertragen. Der zweite Zweck der Reise war also, daß sie als Stütze für Lindblad in Berlin sein wollte, wo dieser bei Zelter Musik studierte. In dieser Zeit knüpfte Lindblad das Freundschaftsband mit Felix Mendelssohn, das das ganze Leben lang währte und durch einen lebhaften Briefwechsel befestigt wurde. Aber daß die ganze Reise zur Wirklichkeit wurde, kam daher, daß Mallas freundschaftlicher Blick entdeckt hatte, wie nötig Geijer sowohl körperliche Ruhe wie geistige Erquickung brauchte. Sie lockte ihn, sich diese zu gönnen, indem sie Berlin als Endziel aufstellte. Denn Berlin hatte in Amalie von Helvig einen starken Magnet für Geijer wie für Malla. Letztere hatte überdies in Helvig einen alten Bewunderer und auch Lehrer – aus der Zeit, als Helvig sich in Mallas Jugend als Offizier in schwedischen Diensten in Stockholm aufhielt. Als Helvig sich dann später mit Amalie v. Imhoff verlobte, schrieb er an seine Braut, »das einzige weibliche Wesen, das er an Reizen und Tugenden mit ihr vergleichen könne, sei Malla Montgomery«. Als Amalie von Helvig 1804 nach Schweden kam, lernte Malla auch sie kennen. Eine geistig sehr fruchtbare Freundschaft entstand zwischen ihnen. Diese Freundschaft wurde durch Briefe unterhalten, und als Amalie von Helvig 1814-16 wieder Schweden besuchte, wohnte sie und ihre Schwester Louise in Upsala bei Frau Silfverstolpe. So lernte Amalie Mallas Upsalenser Kreis kennen. Zwischen Amalie, die durch ihre Ehe gebunden war, und dem sieben Jahre jüngeren Geijer, gebunden durch sein Gefühl für seine junge, liebenswürdige Braut, entstand eines jener großen Gefühle ohne Namen, ein Gefühl, das in beider Leben eingriff und auch das ganze Leben hindurch durch einen Briefwechsel unterhalten wurde, von dem Geijers Briefe unauffindbar zu sein scheinen, während die Amaliens von Geijers Enkelin, Frau Anna Hamilton-Geete verwahrt werden, die sie auch herausgeben wird.
Für Geijer brachte das Wiedersehen mit Amalie keinerlei Enttäuschung mit sich. Für Malla scheint dies hingegen der Fall gewesen zu sein. Einerseits Amaliens unglückliche Ehe, andrerseits ihre Schriftstellerei ließen ihr, wie Malla meint, nicht jene Seelenfreiheit, wie sie eine wirkliche, lebendige Freundschaft verlangt.
* * *
III.
Durch das oben Gesagte dürften deutsche Leser hinlänglich orientiert sein, um mit vollem Verständnis dieses Reisejournal lesen zu können, das beiläufig ein Viertel von Mallas Memoiren ausmacht.
Auf Kernells Aufforderung – um die Leere nach seiner Abreise zu zerstreuen – begann Malla 1822 ihre Memoiren auszuarbeiten, für die frühesten Jahre unterstützt durch die Erinnerung, für die späteren durch ein von ihrem 13. Jahre an geführtes Tagebuch. Sie hatte damals noch nicht den leisesten Gedanken an die Öffentlichkeit. Sie schreibt im Gegenteil – und zwar gerade in Berlin, im Anschluß an ihre Beobachtungen über Amalie von Helvig – folgendes:
»Ich möchte keine Schriftstellerin sein. Nein, das ist ein zu teuer erkauftes Vergnügen. Eine einzige Art von Seligkeit und Ruhm gibt es für die Frau. Kann sie sie nicht erreichen, oder ist es auf Erden für sie damit vorbei, so muß sie geduldig der Befreiung harren und alle Anlagen unterdrücken, die hienieden keine Nahrung oder Entwickelung gefunden haben. Dieses Schreiben für eine Allgemeinheit, für Beifall, für Ruhm bedingt seine eigenen, bis dahin unbekannten Versuchungen und Leiden. Selten wird man sich wohl ganz davon freimachen können.«
Einerseits ihre eigene ehrliche, der Wahrheit und Selbstprüfung fähige Natur, andrerseits der schon erwähnte Mangel aller literarischen Absichten haben ihre Memoiren selten aufrichtig gemacht. Sie beurteilt sich selbst, ehe sie über andre ein Urteil fällt. Sie berichtigt ihre in einer zufälligen Verstimmung hingeworfenen ungerechten Urteile. Sie kennt ihre Schwächen, während sie doch ahnt, daß ihre Stärke, die Stärke der großen Hingebung, eine Grundursache dieser Schwächen ist. Sie gehört einer Generation an, die noch daran arbeitete, was die Kirche die Heiligung des Menschen nennt, eine Arbeit, die die Menschen nicht zugleich mit dem Kirchenglauben hätten über Bord werfen sollen.
In ihren letzten Lebensjahren kam ihr der Gedanke, daß ihre Erfahrungen als Führung und Warnung für andere, im Leben ebenso verirrte und im tieferen Sinne unerzogene Menschenkinder, wie sie ihrem Dafürhalten nach in der Jugend eines war, fortwirkende Bedeutung haben könnten.
Weder mit dem Wunsche noch dem Verbote der Veröffentlichung ließ sie ihre Memoiren in den Händen zurück, von denen sie sie geschätzt wußte. Diese Memoiren bildeten lange einen geliebten Schatz in einem engeren Kreise, wo ihre Lektüre Feierstunden bereitete. Allmählich brach sich in diesem Kreise der Gedanke Bahn, daß sie veröffentlicht werden sollten. Dies geschah auch ungefähr fünfzig Jahre nach Malla Silfverstolpes Tod, der sie in ihrem Heim in Upsala ereilte. Die Herausgeberin war die dazu Berufenste, nämlich A. F. Lindblads Tochter, Frau Malla Grandinson, selbst nach Malla genannt und in ihrer Mädchenzeit eine der vielen aus dem Jugendkreise, der mit Verehrung und Liebe zu der Obristin Silfverstolpe aufsah und die Besuche in ihrem Heim zu den großen Freuden des Lebens zählte.
Das ungeheure Material hat zu einer Reihe von Weglassungen genötigt. Aber im übrigen hat bei der Herausgabe die größte Pietät gewaltet. Keine Zusätze oder Änderungen sind vorgekommen, sondern man erhält einen völlig unverfälschten Originaltext.
Stilistisch besitzen die Memoiren keinerlei Originalität. Ihr literarischer Wert besteht in einer oft anschaulichen Schilderung und vielen feinen Reflexionen. Für Schweden haben sie überdies literarhistorischen Wert durch die Blitzlichter, die sie auf die Sitten und die bedeutendsten Menschen der Zeit werfen, unter denen wir beispielsweise die europäisch bekannten Namen Tegnèr und Almquist – dessen ausgewählte Werke jetzt endlich in deutscher Übertragung im Inselverlag erschienen sind – Friederike Bremer und Jenny Lind nennen können.
Für Deutschland dürfte der größte Wert des Reisejournals in den Eindrücken der Persönlichkeiten Bettinas und Rahels liegen. Diese Überzeugung hat mich schon bei einer früheren Gelegenheit In der Vorrede zu einer neuen Auflage meines Buches über Rahel Varnhagen. veranlaßt, meinen deutschen Leserkreis auf Malla Silfverstolpes Memoiren aufmerksam zu machen.
Der tiefste Inhalt des Buches – den allerdings nur das Werk in seiner Gesamtheit ganz vermitteln kann – ist die innere Geschichte, die es offenbart. Man verfolgt da den Werdegang einer reichen, aber unruhigen und unausgeglichenen Frauenseele zu immer mehr Harmonie und Klarheit, Güte und Milde. Eine Entwickelung, die sich unter großen Leiden, durch bessere Erfahrungen vollzieht und nie ganz gelingt. Das aufrührerische, fordernde Herz spricht bis zuletzt, und man empfängt den seltsamen Eindruck, den man oft empfangen würde, könnte man in die Seelen blicken: daß eine alte hochverehrte Dame, die ihren Zeitgenossen so würdig und so fertig erschien, bis zuletzt ein armes, leidendes und kämpfendes Menschenkind geblieben ist.
* * *
Die Herausgeberin hat diese Memoiren ganz richtig eingeschätzt, wenn sie sagt, daß ihre größte Bedeutung im Psychologischen liegt, darin, daß sie »von den Freuden, den Schmerzen und der Selbstzucht des inneren Lebens einer seelenvollen und ewigkeitsdürstenden Frau erzählen.«
Durch diesen Wert haben Malla Silfverstolpes Memoiren ihren modernen Zug erhalten, den Zug, der in die weibliche Memoirenliteratur durch George Sand kam, Europas erste befreite Frau. George Sand wollte aufrichtig schreiben wie Augustinus oder Rousseau, aber sie tat es nicht, konnte es nicht, da sie ihre » Histoire de ma vie« bei Lebzeiten herausgab. Vor ihr hatten andere Frauen Memoiren geschrieben, aber es fehlte ihnen völlig der Charakter des Selbstbekenntnisses. Sie waren nur Zeitchronik. Ich denke z. B. an die Memoiren der Marquise de Créquy, die so fesselnd, so amüsant, so lebendig als Kulturbilder sind, daß ich sie mit 14 Jahren mit Entzücken las, und dabei doch so diskret, daß mein Vater sie mir ruhig in die Hand gab. Die Damen des 18. Jahrhunderts blieben nämlich immer, auch mit der Feder in der Hand, in ihrer Form Damen. Viel von dieser seinen Zurückhaltung hat Malla Silfverstolpe von dem Säkulum mitbekommen, in dem sie geboren wurde, während sie vermöge ihrer ganzen Seelenrichtung dem Jahrhundert angehört, das George Sand einleitete, dem Jahrhundert, in dem die Frau individuelle Entwickelung und bürgerliche Freiheit erstrebt und immer mehr und mehr errungen hat.
Malla Silfverstolpe hat sowohl die Chronik ihrer Zeit wie ihr eigenes Seelenbild gegeben. Zu ersterem hat sie u. a. das lebhafte Personalinteresse des Ancien Régime mitgebracht, zu letzterem den Takt derselben Zeit. Und doch hat sie ein viel aufrichtigeres Seelenbild erzielt, als das, dessen George Sand und ihre zahllosen Nachfolgerinnen in unmittelbarer oder mittelbarer Beichte fähig waren. Denn ehrliche Memoiren schreiben ist schwer. Und ist man nicht von Geburt und Gewohnheit eine durch und durch ehrliche Natur, ist es einfach unmöglich.
Ob es Malla Silfverstolpe ganz gelungen ist, ehrlich zu sein, kann die Nachwelt nicht mit Sicherheit entscheiden. Ihr reiner Wille ist sonnenklar. Sie ist eine der »neuen« Frauen in dem Sinne, daß sie sich psychologisch für ihre eigene Individualität interessiert, aber eine der »Alten« in dem Sinne, daß sie die Vervollkommnung dieser Individualität nach dem christlichen Ideale anstrebt. Aber hierbei selbst zwischen dem unterscheiden zu können, was sie wollte und was sie wirklich war, das dürfte vielleicht ihre wie fast aller Menschen psychologische Möglichkeiten überstiegen haben.
So wie die Memoiren sind, geben sie uns das Bild einer Frau von großem Lebenshunger, tiefem Glücksdurst und brennender Ewigkeitssehnsucht, genährt dadurch, daß dieser Lebenshunger und Glücksdurst nie gestillt wurde. Einer Frau, die unablässig nach Resignation, Kühle, Entsagung, Seelenfrieden und Seelenfreiheit strebt und doch stets bereit ist, von neuem zu lieben und zu leiden, zu lauschen, zu lernen, ihren geistigen Horizont zu erweitern, mit anderen Worten, sich fesseln und beunruhigen zu lassen, ihr Gleichgewicht und ihren Frieden zu verlieren. Mit einem Worte: eine unverwüstlich lebendige Seele.
Malla Silfverstolpes Gestalt steht als interessante Repräsentantin des Zusammenpralls zweier Zeitalter in der Geschichte der Frau da. Sie vereinigt Züge des Typus, der vergehen muß – der Dame des ancien régime – und des Typus, der kommen muß: des modernen individuellen Weibes.
Aber in erster Linie steht sie vor uns als das, was alle menschlich bedeutenden Menschen immer gewesen sind und immer bleiben werden: Eine Einsame und Eigene.