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Ich habe einen Besuch bei lieben Freunden vor, die mir herzlich zugetan sind. Mit dem Zug käm' ich hin, dem spaßigen, kleinen chemin de fer de ceinture, und es ist eigentlich schade, sich den Bahnhof St. Lazare mit seinem Sonntag-Morgen-Trubel entgehn zu lassen, wenn die Pariser mit ihren Freundinnen oder ihren Frauen nach einem beliebten Ausflugsort fahren. Ich eile nie diese breiten Treppen hinan, die zu den hohen, weiten Hallen führen mit ihren Bücherständen (darauf die Romane mit den reizenden gelben Umschlägen) und ihren kleinen, ringsum blau gestrichenen guichets, ohne das Gefühl einer glücklichen Leichtheit – eines Frohsinns, den ich dem Pariser Mai zuschreibe. Aber die Straßenbahn, die über die Place de la Concorde geht, fährt bis nach Passy, und so sehr ich den spaßigen, kleinen chemin de fer de ceinture liebe, ich liebe diese Straßenbahn noch mehr. Sie dampft an den Kais hin zwischen der Seine und dem Garten der Champs-Elysées, meilenweit zwischen blühenden Kastanien, so daß der Fahrdamm mit den Schatten der Kastanienblätter wie ein Schachbrett ausgelegt ist; die Zweige hängen einem zu Häupten, und in einem Augenblick gelinden Sinnentaumels greife ich nach einer Blüte, liebkose sie einen Moment und werfe sie dann fort. Die beherzten kleinen Dampfboote stemmen sich der Flut entgegen und steuern auf die Landungsplätze zu. Der muntre Fluß ist mir lieber als die melancholische Themse, an deren Ufern die blöde Moral wie Unkraut wuchert. Sieh nur die weißen Bauten, die Säulen, die Treppen mit ihrem Geländer, die Kuppeln in der blauen Luft, die denkmalgeschmückten Rasenplätze! Paris, wie alle heidnischen Städte, ist voll Statuen. Ein bißchen später rollen wir an Gärten vorbei – Fröhlichkeit ist in der Luft ... Und dann tauchen allmählich die Straßen von Passy auf, schäbige Straßen, wie in London. Ich mag sie nicht. Dafür entschädigt der Bahnhof; der kleine Bahnhof unter Bäumen wie aus einer Spielzeugschachtel gleicht einem Kartenhaus, aus dem der Zug in die phantastischen Wunder des Landes hinausdampft. Der helle Wald, an dem er entlang eilt, mutet an wie der Putzwarenladen der Jahreszeit.
Es ist eine Freude, in Paris alles zu beobachten: die auf ihrem Bock eingenickten Kutscher, die unter den Kastanienbäumen duselnden Pferdchen, die Arbeiter, die sich mit ihrer Bluse über einen grün gestrichenen Tisch in der Laube lehnen und Wein trinken zu sechzehn Sous das Liter, die Villen in Auteuil mit ihren reichen Holzschnitzereien, ihren prächtigen Eisengittern und die sommerliche Stille um die girlandenbekränzten Villen. Auteuil ist so französisch, seine Symbolik hat etwas Bezauberndes. Auteuil gleicht einer Blume, deren Blüte sich dem Kusse der Luft erschließt, deren Wurzeln sich tastend im fruchtbaren Erdreich Raum suchen. Ach, dies Frankreich, seine Weinberge und Gärten, sein Sinnenleben! Gedanken kommen ungerufen, meine Gedanken singen im Chor, und ich weiß kaum, was sie singen. Sie singen wie die Sonne. Fragt mich nicht nach ihrer Bedeutung! Sie bedeuten so viel und so wenig wie die Sonne, zu der ich gehöre – die Sonne Frankreichs, an der ich mich dreißig Tage laben werde. Der Mai bringt mich zu lieben, teuren Freunden, die mich in Auteuil erwarten; der Juni führt mich wieder von ihnen fort. Da liegt die Villa! Und dort, unter den wie Girlanden schmückenden Bäumen, sitzt mein Freund in hellgelbem Anzug vor der Staffelei. Wie die Sonne durch das Blätterwerk spielt, über das üppige, lange Gras hüpft! Und inmitten blühender Rhododendren sitzt ein kleines Mädchen von vier Jahren, sein Modell; Kleid und Mützchen nehmen sich ganz unmöglich weiß aus unter dem hohen, grellen Hellgrün.
Jahr um Jahr derselbe herzliche Empfang, derselbe spontane Willkomm in diesem Garten mit Rhododendren und blühenden Kastanien. Ich möchte im Garten bleiben, aber ich darf nicht, denn das Frühstück ist fertig, et il ne faut pas faire manquer la messe à Madame. La messe! Wie weich das Wort ist! Wir nehmen kaum daran Anstoß, eine alte Dame in ihrem Wagen fortfahren zu sehn, pour entendrela messe. Die vom Glauben gesäuberte Religion ist etwas Erquickliches, fast etwas Liebliches. Es gibt Früchte, die getrocknet besser schmecken als frisch; eine solche Frucht ist die Religion, und wenn nichts von ihr übrig bleibt als die angenehme, vertraute Gewohnheit, läßt sie sich gutheißen. Denn ohne unsre Gewohnheiten wäre das Leben ein unbeschriebenes Blatt, wär' es ganzleicht, ohne Perspektive, wie man von einem Bilde sagen würde. Unsre Gewohnheiten sind unsre Geschichte; sie erzählen, woher wir gekommen und wie wir zu dem geworden, was wir sind. Das ist ein gar nicht übler Gedanke, leider reicht die Zeit nicht, ihn auszudenken – da kommt der Doktor! Er lüftet sein Hauskäppchen; wie schön ist die Gebärde! Er hat etwas Würdevolles, wie es nur Herzensgüte verleiht; und seine Güte ist reine Veranlagung, unabhängig von jeder Formel, ein Ding an sich wie Manets Malerei. Degas hat einmal gesagt: ›Ein Mensch, dessen Profil nie einer gesehn hat‹; der Ausspruch paßt auf die schöne Güte, die über sein Gesicht strömt, ein Licht aus dem Paradies. Doch warum aus dem Paradies? Das Paradies ist eine häßliche Erfindung der Kirche, und Engel sind eine häßliche hebräische Erfindung. Es wäre unverzeihlich, wollte man in Auteuil an Engel denken. Ein Engel ist ein Snob im Vergleich mit dem lieben Doktor, und ein Engel hat Flügel.
Nun, die hatte auch das wundervolle Hühnchen, das man für den Bedarf der Tafel gemästet, wie ein Gemüse gezüchtet hatte. Ein lieber Vogel, den man nie herumlaufen und sich langweilen ließ wie unser unbeholfenes englisches Huhn. Er lebte, um fett zu werden, ohne sich irgendwelches unnütze Wissen oder Lebensverlangen anzueignen. Er wurde in zarten Jahren ein Kapaun, und dann führte man ein Röhrchen in seinen Schlund ein und päppelte ihn künstlich, bis er kaum noch gehn konnte, bis er nur noch nach seinem Bette wankte, und da lag er denn, glücklich verdauend, bis die Stunde nahte, wo er aufs neue gestopft wurde. So wuchs er heran ohne Wissen, ohne Empfindung, ohne Gefühl vom Dasein und bewegte sich allmählich, friedsam auf den ihm vorgezeichneten Lebenszweck zu – auf eine köstliche Mahlzeit! Gibt es einen idealeren Lebenszweck, größeren Ruhm, als ein fettes Hühnchen zu sein? Die Hammelgerippe, die in Fleischerläden hängen, erfüllen nachgrade das Gewissen Europas mit Grauen. Einem Hammel den Hals durchschneiden, ist ein widerlicher Akt; aber einem Vogel mit einer langen Schere, die eigens dazu gemacht ist, die Zunge abknipsen, ist standesgemäß. Nun ja, er schlägt ein paar Augenblicke die Flügel, aber wir dürfen uns dadurch, daß die Federn herumspritzen, nicht aus dem Gleichgewicht bringen lassen. Der Mensch ist barmherzig und hat das Hühnchen vor dem Leben bewahrt. Wie ein Spargel ist es gewachsen. Da wir grade von Spargeln reden – es sind welche da aus Argenteuil, dick wie ein Regenschirm und wundervoll saftig! Noch ein Wort über den Wein. In England schmecken französische Rotweine wie Tinte, aber in Frankreich schmecken sie nach der Sonne. Die Melonen sind erst im Juni gut – die hier kommt gewiß aus Algier. Immerhin, es ist die Sorte, die ich am liebsten mag: die nahrhafte, rote Melone, die man nur in Frankreich bekommt; etwas für den Augenblick und dann vergessen. Aber das Hühnchen bleibt einem immer in der Erinnerung; noch in zwanzig Jahren werd' ich von einem Hühnchen erzählen, das eine zwanzigjährige Unsterblichkeit gewann, indem es ein fettes Hühnchen ward. Wer von uns wird so lang unsterblich bleiben?
Als wir von Tische aufstehn, ruft mich der Doktor in sein Arbeitszimmer: er will mir eine ausgezeichnete Zigarre geben, bevor er sich von mir verabschiedet; und nachdem ich sie angesteckt, folge ich meinem Freund ins Atelier am Ende des Gartens, einen luftigen Salon, den er in mattgelben und dunkelblauen Farben eingerichtet hat. An den Wänden hängen Proben der großen modernen Meister – Manet und Monet. Diese Ansicht einer Ebene von Monet – ist sie nicht leicht hingeworfen? Sie ist flüssig wie ein japanisches Aquarell: der tiefe Himmel verschwimmt in dem fahlen Licht, der Kirchturm des Städtchens taucht in dem Dunst auf. Und da die berühmte Tanzstunde von Degas – die Tänzerin kommt die Wendeltreppe herab, nur ihre Beine sind sichtbar, da die Treppe das Bild mitten durchschneidet. Rechts sieht man die Ballettschule und den Tanzlehrer; es hat etwas nicht geklappt, er streckt die Hände aus und macht ihnen dringende Vorhaltungen; eine Gruppe Balletteusen sitzt im Vordergrund auf Stühlen, ihre Mütter bedecken ihnen die Schultern mit Tüchern – gute Mütter, die ängstlich auf das Wohl ihrer Töchter, auf ihr Vorwärtskommen im Leben bedacht find.
Dies Bild verrät einen wißbegierigen, spürenden, ätzenden Geist, und auf den schottischen Schal ist man so wenig gefaßt wie auf ein Adjektiv bei Flaubert. Ein Porträt von Manet hängt dicht daneben, wuchtig, dauerhaft, rätselvoll wie die Natur. Degas ist der intellektuellere, aber wie wenig bedeutet Intellekt im Vergleich mit einer Begabung wie der Manets! Gestern war ich im Louvre, und nachdem ich vom vielen Betrachten und Reben müde geworden war – ich hatte dort einen besondern Auftrag zu erledigen –, bog ich zu meiner Erholung in den Saal Carré ein, wanderte darin umher und wartete auf Anregung. Vor langer Zeit war mir die Mona Lisa ein Erlebnis, und ich weiß noch, wie mich Tizians Grablegung bezaubert hat; ein andermal war ich von der unparteiischen Glätte eines Terborchschen Interieurs entzückt, aber dieses Jahr bannte mich Rembrandts Porträt seiner Frau. Das Gesicht erzählt ihr Leben, ihre weibliche Schwäche, und es scheint, als kenne sie die Bürde ihres Geschlechts und die Bürde ihres Sonderschicksals – sie ist Rembrandts Frau, eine Dienerin, eine Trabantin, eine Wächterin. Der Eindruck, den dies Bild hervorbringt, ist fast körperlicher Art. Es überfällt einen wie Musik, wie ein plötzlicher Parfümhauch. Tritt man näher, so schwinden die Augen zu braunen Schatten dahin; entfernt man sich, so beginnen sie ihre Geschichte zu erzählen. Der Mund ist bloß ein kleiner Schatten, aber welche sehnsüchtige Zärtlichkeit liegt darauf! Die Farbe des Gesichts ist weiß, mit Asphalt schwach getönt, und durch das Gelb der Wangen bricht etwas rosa Krapp durch. Sie trägt eine Pelzjacke, aber der Pelz war für Rembrandt keine Mühe, er strebte nicht nach realistischem Ausdruck. Es ist Pelz – das genügt. In den Ohren hängen graue Perlen, auf der Brust steckt eine Spange, und unten auf dem Bilde streckt sich eine Hand aus dem Rahmen. Diese Hand gemahnt, wie das Kinn, an die alte Mär, daß Gott ein wenig Lehm nahm und daraus den Menschen schuf. Dies Kinn und die Hand und der Arm sind, ohne mit Geschicklichkeit zu prunken, geformt, wie die Natur formt. Das Bild sieht ans, als sei es auf die Leinwand gehaucht, Hat nicht ein großer Dichter gesagt, Gott habe seinen Odem in Adam geblasen? Und hier verhält es sich ebenso. Die andern Bilder scheinen daneben trocken und unbedeutend. Die in der Literatur berühmte Mona Lisa, die ein paar Meter davon entfernt hängt, kommt mir gemacht vor im Vergleich mit diesem Porträt. Ich habe ihr langweiliges Lächeln damit entschuldigen hören, sie lächle über den Unsinn, den sie über sich reden höre. Dies zaudernde Lächeln, das es mir in der Jugend angetan hatte, dünkt mich jetzt nur noch eine Grimasse und die blassen Berge so wenig geheimnisvoll wie ein Globus oder eine Landkarte in geringer Entfernung. Die Mona Lisa ist eine Art Rätsel. ein Akrostichon, ein poetisches Dekokt, eine Ballade, ein Rondell, ein Villanell, das heißt eine Ballade mit wiederkehrendem Schlußreim, eine Sestine – das ist sie: eine Sestine. Die Mona Lisa, die im Motiv mehr Literatur als Malerei ist, hat viele Dichter angezogen. Wir müssen ihr viele mittelmäßige Verse verzeihn um einer unvergleichlichen Prosastelle willen. Sie hat die rätselhafte Mißhandlung der Ölfarbe, das trockne Lasieren mit terre verte, hinter sich und ist in den Besitz des ewigen Lebens gelangt, hat ihre Unsterblichkeit in Paters Prosa gefunden. Degas ist schon im Absterben begriffen; Jahr um Jahr wird er mehr dahinwelken, bis eines Tags ein großer Prosaschriftsteller erstehn und seinen Geist in das ihm eigne Medium übertragen wird – in die Literatur. Die Mona Lisa und die Tanzstunde sind intellektuelle Bilder, sie wurden mehr mit dem Hirn als mit dem Temperament gemalt; und was ist aller Intellekt neben einer Begabung wie der Manets! Leonardo machte Wege, Degas macht Witze. Gestern hab ich einen gehört, der mich weit mehr entzückt hat als alle Wege, denn ich habe das Radeln aufgegeben. Irgend jemand sagte, er mache sich nichts aus Daumier, worauf Degas eine Weile still blieb; endlich sagte er: »Würden Sie Raffael einen Daumier zeigen, er würde ihn bewundern, würde den Hut abziehn; aber wenn Sie ihm einen Cabanel zeigten, würde er seufzend sagen: ›Daran bin ich schuld‹.«
Meine Gedanken werden durch das Klavier unterbrochen; mein Freund spielt, und es ist eine Freude, Musik in seinem luftigen Atelier zu hören. Aber ich muß einige Weiber besuchen, Weiber, die ich jedesmal in Paris besuche, und ich habe mich schon zu lang im Atelier aufgehalten. Ich muß fort.
Doch wohin soll ich gehn? Meine Gedanken pilgern durch die Gassen Passys und messen die Entfernung zwischen Passy und dem Triumphbogen. Einen Augenblick möchte ich mich wohl unter die Bäume setzen und die Menschen beobachten, die vom Rennen zurückkommen. Wäre sie nicht tot, ich könnte in ihrem Häuschen einkehren, das in den Festungswerten zwischen Fliederbüschen liegt. Da hängt ihr Porträt an der Wand, von Manet gemalt, mit dem Barett, das sie zu tragen pflegte. Wie wundervoll der Pinselstrich ist! Die Perlen – wie gut sind sie wiedergegeben! Und während ich über seine erstaunliche Technik nachsinne, sehe ich sein Atelier vor mir, sehe das schlanke Weib hereintreten, hell wie eine Teerose: Mary Laurant. Die Tochter eines Bauern und die Geliebte aller bekannten Männer jener Zeit – ich hätte vielleicht sagen sollen: aller hervorragenden Männer. Ich nannte sie immer toute la lyre.
Als ich sie das letztemal sah, sprachen wir von Manet. Sie erzählte mir, sie lege jedes Jahr ihm den ersten Flieder aufs Grab. Bringt ihr einer ihrer vielen Freunde etwa Blumen aufs Grab? Das Denkwürdige an ihr war ihre Lebenslust, ihr Verlangen, alle Freuden des Daseins auszukosten, und wie sie sich dieses Wunsches bewußt war, den Augenblick zu genießen. Evans, der bekannte Zahnarzt, setzte ihr fünfzigtausend Francs jährlich aus; war der eines Abends wütend, als er Manet auf der Treppe begegnete! Um ihren Liebhaber loszuwerden, lud sie ihn zum Essen ein in der Absicht, nach Tisch Migräne vorzuschützen ... Er bestand darauf, sie müsse sich hinlegen. Doch sobald ihr Gast fort war, legte sie den Schlafrock ab, unter dem sie ihr Ballkleid anhatte, und winkte Manet, der an der Straßenecke wartete, mit dem Taschentuch zu. Aber als sie zusammen hinuntergingen, wem begegneten sie? Dem Zahnarzt qui a oubli´s ses carnets. Er war so verblüfft, seine schöne, aber ungetreue Geliebte zu treffen, daß er die nächsten drei oder vier Tage nicht zu ihr kam. Mary fragte sehr wenig nach seinem Ärger: ein andrer Freund hatte ihr nämlich schon fünfzigtausend Francs jährlich ausgesetzt, und da sie nun so ungefähr ihre hunderttausend Francs im Jahr hatte, widmete sie sich der Liebe zu Künstlern und der Unterhaltung mit denen, die Bücher schrieben, komponierten und Bilder malten.
Wir Menschen sind kompliziertere Geschöpfe als die Tiere; wir lieben vermittels der Phantasie, wenigstens stachelt die Phantasie die Sinne und leistet ihnen gewissermaßen Adjutantendienste. Die Kellnerin verliebt sich in Nummer eins, weil er die Gläser besser auswischt als Nummer zwei, und Mary verliebte sich in Coppée um seines Sonetts ›Le lys‹ willen, und er wurde ihr gleichgültig, als er Gedichte machte wie ›La nourrice‹‹ oder ›Le petit épicier de Montrouge qui cassait le sucre avec mélancolie‹. Um diese Zeit, als sich ihr Verhältnis seinem Ende zuneigte, wurde ich Mitbewerber.
Da kam eines Tags Madame Albazi in Manets Atelier, ein herrliches Wesen, in einem von russischen Steppenpferden gezogenen Wagen – so sagte sie; aber wer kann wissen, ob ein Pferd aus der Steppe oder vom Roßkamm kommt? Und es ist auch nicht von Belang, wenn die Dame ungewöhnlich fesselnd ist, wenn man bei ihr denkt: das wäre die Mätresse für einen Attila! Nicht ganz so hat Manet sie gesehn, aber etwas davon hat sie auf seinem Pastell. Da hält sie einen weit aufgeschlagenen Schildpattfächer über ihren Busen, und auf einem der Fächerstäbchen hat Manet seinen Namen gezeichnet. Ein großer Maler weiß allemal, wo er zu signieren hat, und er zeichnet nie zweimal an der gleichen Stelle. Sie war zu Manet gekommen, um ihm zu sagen, daß sie ihm an diesem Tage nicht sitzen könne, weil sie ins Bois fahre, und nach kurzer Unterhaltung bat sie mich und einen jungen Mann, der zufällig in Manets Atelier anwesend war, sie zu begleiten; und wir fuhren dahin, von den russischen Pferden gezogen, und der junge Mann und ich überlegten den ganzen Weg, wer von uns beiden die meiste Chance bei der Gräfin hätte. Wir rangen heiß um sie; aber an diesem Tag erwählte ich das klügere Teil: ich ließ ihn schwatzen, Gedichts aufsagen und alle seine Aphorismen herunterrasseln, die er seit Jahren gesammelt hatte. Eine innere Stimme raunte mir zu, daß sein Witz umsonst sei, denn sie war schwarz wie ein Rabe und ich goldgelb wie eine Sonnenblume. An der Ecke der Rue de Ponthieu wurden wir ihn los. Einige Tage später saß sie Manet. Das Pastell hängt jetzt bei einem Freund von mir; ich habe es ihm geschenkt. Das Bild einer Frau, die man kennt, hat man nie so gern um sich wie das Bild einer Unbekannten. Die eignen Erinnerungen und die Auffassung des Malers befehden sich. Ich denke mit Freuden zurück an die lange, feine Nase, die sprühenden Augen und den Mund, der einer roten Frucht glich. Das Pastell hat mir einmal gehört, es hing in meinem Zimmer; denn mit jener geistigen Anmut, die ihm stets eigen, sagte Manet eines Tags: »Ich habe Ihnen immer ein Bild versprochen«, und er suchte unter den Pastellen an der Wand und kehrte sich mit den Worten um: »Das da kommt Ihnen wohl von Rechts wegen zu.« Als ich Hals über Kopf aus Paris floh und meine Sachen versteigert wurden, kam die Gräfin zur Auktion und erstand ihr Bild. Sie ließ es dann später einem Händler ab, von den Preisen gelockt, die Manets Bilder erzielten, und als ich hörte, daß es feilgeboten werde, kaufte ich es – wie gesagt – für einen Freund.
Nun habe ich die ganze Geschichte erzählt, ohne etwas zu unterschlagen, bis auf den einen Zug, daß Jahre danach, als ich ›Les Confessions d'un jeune Anglais‹ in der Revue Indépendante veröffentlicht hatte, Mary Laurant mich kommen ließ – ah, sie war sehr unternehmungslustig: sie schickte den Herausgeber der Zeitschrift zu mir, und es wurde ein Zusammentreffen verabredet. Sie war wundervoll in ihrem Garten. Sobald ich kam, sagte sie: »Mein lieber ..., Sie müssen mich jetzt verlassen; ich möchte mit unserm Freund hier allein bleiben.« Mary war schön, aber sie wollte um ihres Witzes willen geliebt und bewundert werden, und als ich sie fragte, warum sie Evans, den bekannten Zahnarzt, nicht aufgebe, antwortete sie: »Das wäre gemein. Ich begnüge mich damit, ihn zu betrügen.« Alsdann – diese vertrauliche Mitteilung schien eine besondere Bedeutung zu haben – setzte sie hinzu: »Ich bin kein Weib, das man im Garten gewinnen kann.« Ihr Garten war ein zwischen Fliederbüschen versteckter kosiger Winkel in den Festungswerken. Sie wollte mir ihr Haus zeigen; wir gingen hinein und plauderten lange in ihrem Boudoir. Doch ich wußte, daß sie damals Mallarmés Geliebte war, und deshalb ist aus diesem caprice litéraire nichts geworden.
Meine Gedanken stoßen überall auf Weiber. Warum nicht? Womit sollen sie sich sonst beschäftigen? Etwa mit Kupferbergwerken? Die Weiber sind der rechtmäßige Inhalt alles männlichen Denkens. Wir heucheln Teilnahme für andre Dinge. Im Rauchzimmer hab ich zugehört, wenn sich Männer von der Jagd unterhielten, und mir gesagt: ›Euer Interesse ist ja nur Mache – an welches Weib denkt ihr?‹ Wir vergessen der Weiber für kurze Zeit, wenn wir an die Kunst denken, aber nur vorübergehend. Die rechtmäßige Beschäftigung für den männlichen Verstand ist das Weib. Ich lausche meinem Freund, der mir Musik vorspielt – Musik, die mich kühl läßt: Brahms –, und überlege, welches von den Weibern, die ich früher gekannt habe, ich am liebsten besuchen möchte.
Im Frühling wäre der Spaziergang von Passy nach den Champs-Elysées angenehm und nicht zu weit. Ich sehe gar zu gern die Rasenplätze, die Pappeln und Villen, die hohen Eisengitter und die in den Bäumen versteckten Blumenvasen. Das ist Paris. Der Geist des Landes, der Geist, welcher einer langen Vergangenheit entstammt und sich als ererbte Schönheit und Kraft definieren läßt, offenbart sich überall in Paris; und einen schöneren Tag, die schlanken, weißen Hauser, die Villen, die Bäume und die Rasenplätze zu sehn, kann man sich kaum denken. Ich würde mich für all das interessieren, aber mein wirtliches Interesse wäre doch bei einer kleinen Anhöhe, einer Reihe Häuser (acht oder neun) dicht am Triumphbogen, den gewöhnlichsten der ganzen Gegend. Sie war fürs Gewöhnliche, und ich habe mich oft gefragt, was mich zu ihr hinzog. War es nur ihr blondes, hinten hochgekämmtes Haar, ihre duftende Haut, oder waren es ihre perversen, verfeinerten Sinne? Nein, es war mehr, aber man frage mich nicht nach weiteren Erklärungen. Ich denke mit Vergnügen an das Rauschen ihres geblümten Kleides, das wie ein Parfüm vorüberzog, wenn sie aus ihrem frivolen Schlafzimmer in den Salon kam. Ein geschmackloser Raum, steif und spießbürgerlich trotz den Krönchen, die über den Porträts angebracht waren. Ich sehe das Bild zweier Kinder: sie ist die schönere, und in ihren blauen Augen und den dünn geschweiften Lippen ist eine Mischung von Verlangen und Unstetigkeit. Wie das Kind war, ist das Weib: Georgette hat es fertiggebracht, eine ganze Wand ihres Schlafgemachs mit Trophäen zu tapezieren, die sie auf den Schlachtfeldern der mit glühendem Eifer getanzten Kotillons erbeutet hat. Das andre Kind ist von gelassenerem Wesen, und selbst auf dem Bilde verraten seine leicht gebräunten Löckchen weniger Sinnlichkeit als die der Schwester. Seine Augen haben etwas Nachdenklicheres, und es wäre keine Kunst gewesen, der einen Schwester Kinder, der andern Kotillon-Auszeichnungen zu prophezein.
Wir saßen oft auf dem Balkon ihres Schlafzimmers, lasen, plauderten oder beobachteten den hinter dem Mont Valérien verblassenden Himmel, wenn die Schatten vorüberglitten und die Silhouette des Berges markierten. In Stunden wie der jetzigen, wenn wir in einem Atelier träumen, denken wir derer, die uns betrogen, durch die wir gelitten haben, und in solchen Stunden tauchen Gesichter aus der Vergangenheit auf, Gesichtsfragmente, die Rundung eines Nackens, die Weiße einer Hand und – die Augen. Ich sehe ihre Augen vor mir ...
Eines Tages im Garten, der in üppigem Juniglanz gleißte, ging ihr Gatte mit einem Freund vor uns her, und ich bestürmte sie. »Mir ist's recht«, sagte sie und blickte zu mir auf, »Sie können mich jetzt küssen.« Aber ihr Gatte war vor uns, er war ein untersetzter Mann, und da war ein tiefes Wasser, und ich sah einen Streit voraus, einen unerquicklichen – gesteh deine Schuld, dann bist du sie los: ich getraute mich nicht, sie zu küssen, und ich glaube, sie hat mir diesen Mangel an Courage nie verziehn. All das liegt zwanzig Jahre zurück. Ist es nicht albern, einen ganzen Nachmittag an so dummes Zeug zu denken? Doch aus solchem Zeug ist unser Leben gemacht. Soll ich sie jetzt besuchen und auf der absteigenden Linie sehn? Das graue Haar in dem Blond ist bei ihr noch nicht zum Vorschein gekommen, es wird nie grau werden, aber als ich sie zuletzt sah, war sie ein bißchen eingeschrumpft. Und nächstes Jahr wird sie noch älter sein. In ihrem Alter zählt jedes Jahr doppelt. Andre verdienen eher einen Besuch. Aber wenn ich dieses Jahr nicht zu ihr gehe, werde ich dann nächstes gehn?
Im Geiste geh ich an ihrem Haus vorüber und denke an einen Mann, von dem sie mir viel erzählt hat: um seinetwillen ist sie von Hause weggerannt. Er war als alter Mann in einen schimpflichen Skandal verwickelt – ein schmutziges, aber bezeichnendes Ende für den Don Juan des neunzehnten Jahrhunderts. Vielleicht liebte sie den großen, bärtigen Kerl, dessen Photographie sie mir einmal gezeigt hat. Er hat sich umgebracht, weil ihm seine Mittel nicht erlaubten, auf dem Fuße zu leben, wie er es wünschte. So hat sie es dargestellt. Ich glaube aber, es waren Erpressungen im Spiel: sie mußte den Verwandten des Toten für die Herausgabe von Briefen Geld bezahlen.
Diese sinnlichen Amerikanerinnen gleichen Orchideen. Wer würde zwischen einer Orchidee und einer Rose schwanken? Sie war dunkeln, ungeschlachten Männern gewogen, die aussahen, als ob sie Koffer schleppen könnten, daneben auch dem weiblichen Geschlecht. »Mädchen verstehn sich besser aufs Lieben als die Männer«, sagte sie einmal zu mir. Es sind nun zwanzig Jahre her, daß sie sich mir in ihrem schummerigen Coupé an den Hals warf, und es war, als sei ein Geist der Sinnlichkeit aus einer Welt von Wohlgerüchen und Spitzen hervorgetreten.
Ich stelle mir vor, ich sei die Champs-Elysées hinunter- und über die Place de la Concorde gegangen. Die Seine fließt vorbei, ganz so wie zu der Zeit, als Notre Dame im Bau begriffen war, ganz so, wie es in tausend Jahren sein wird. Auch in tausend Jahren werden Männer noch stehn bleiben und dem Lauf des Flusses zusehn, werden dabei an kleine blonde Frauen denken und den Schauder, den diese durch alle Poren rieseln lassen können – jetzt, aber nicht mehr in zwanzig Jahren. John Donne, Ehrwürden, behauptet, gewisse Geistererscheinungen brächten nicht das Haar zum Stehn, sondern das Fleisch in Aufruhr; die meinen regen mich lediglich zu dem Gedanken an, daß Flüsse nicht dazu da sind, Schiffe ins Meer zu tragen, sondern unser Gedächtnis flottzumachen.
Gar manches liebe Mal bin ich über den Pont Neuf gegangen auf meinem Wege zu einem andern Weib – gleichfalls einer Amerikanerin! Es kommt die Zeit, wo unsre Wünsche vertrocknen und absterben, aber das sexuelle Interesse erlischt nie, und es bereitet uns Vergnügen, in mittleren Jahren an die zu denken, die wir in der Jugend genossen haben. Sie, die mir jetzt vorschwebt, wohnt weit draußen im Quartier latin, in einer schlecht gepflasterten Straße. Wie mein Wagen von einer Seite auf die andre geschleudert wurde! Ich bin so oft dort gewesen, daß ich alle Läden kenne, weiß, wo sie aufhören, und gegenüber ihrem Haus, da wo die Straße bergab geht, steht eine weißgetünchte Wand. Die Concierge ist noch dieselbe, etwas dicker, etwas schwerfälliger; sie hatte immer ein Kind auf dem Arm, jetzt gibt es bei ihr keine Kinder mehr; sie sind wohl erwachsen und in die Welt gezogen. Früher war es am Fuß der Treppe immer stockfinster, und ich bin manchmal auf den Stufen ausgeglitten, so eilig hatte ich es. Der Ton der Klingel ist mir noch gegenwärtig und die fieberhafte Aufregung, mit der ich wartete.
Ihre Wohnung machte den Eindruck, als hätte nie jemand darin gesessen. Selbst im Atelier herrschte steife Ordnung, und die Prachtbände auf den Tischen sahen aus, als wären sie nie aufgeschlagen worden. Sie hielt nur einen Dienstboten, ein kleines, rothaariges Mädchen. Als ich das Mädchen nach einer Abwesenheit von so vielen Jahren noch vorfand, sprach ich mit Lizzie von der alten Zeit. Sie erzählte mir, wie es ihrem Mädchen ergangen. Es hatte gekündigt, weil es heiraten wollte, und war nach zehnjähriger unglücklicher Ehe wieder zu seiner alten Herrin gekommen, zu dieser scheinheiligen, vorsichtigen, abgefeimten Amerikanerin, die unter der Maske ihres schlichten Wesens eine tolle Sinnlichkeit verbarg. Lizzie hatte bestimmt viele Liebhaber, aber ich wußte bloß von ihr, daß sie sinnlich war, denn schließlich konnte mir dies Geheimnis nicht vorenthalten werden.
Sie war religiös, eine fromme Protestantin. Und indem ich an sie denke, schweifen meine Gedanken übers Meer, und ich stehe in der Londoner Nationalgalerie vor van Eycks Bild und studiere die feierliche Sinnlichkeit in den Zügen des Mannes. Er hat beim Sprechen die Hand erhoben wie ein Kanzelredner; Geste und Ausdruck sagen uns ebenso deutlich, als ob wir ihn hörten, daß er seinem Weib Belehrungen zuteil werden läßt (Ermahnungen sind sein Steckenpferd), wenn er ihr zu verstehn gibt, ihr jetziger Zustand – die abermalige Schwangerschaft – sei ein Akt des göttlichen Willens. Sie hört ihm zu, doch, wie seltsam! ein Ausdruck, als ob sie ihn teilweise begriffe, spiegelt sich in ihrem Gesicht, das eher einen Meerschweinchen- als einen Kaninchen-Typus wiedergibt. Die beiden sind scharf differenziert; offenbar lag es mit in der Absicht des Malers, uns zu zeigen, welche Kluft zwischen zwei menschlichen Wesen sein kann. Der Mann ist sich peinlich klar über sich, die Frau von einer glücklichen Unbewußtheit. Alles auf dem Bilde verrät Ordnung; das Gesicht des Mannes zeugt von einem Verstand, der sich tagaus tagein, jahraus jahrein gleichbleibt, von unveränderlichen Leidenschaften, unveränderlichem Beten. Seine Tracht, der breitrandige Hut, der in langen, geraden Falten herabfallende Rock, die Schnabelschuhe – all das gehört durchaus zu ihm. Vom Zimmer sieht man nur wenig, aber den Leuchter, der an der Decke hängt und von dem gegenüberstehenden Spiegel zurückgestrahlt wird, kann man nicht vergessen. Diese Reflexe haben sich dreihundert Jahre gehalten, sie sind heute noch ebenso wie an dem Tag, als sie gemalt wurden; das gleiche gilt für den Mann. Er lebt ewig, ist ein Typus, den die Natur immer wieder hervorbringt, denn er ist wohl unbedingt notwendig im Leben.
Dieser nüchterne, flämische Raum ist für den Charakter meiner Geliebten fast ebenso bezeichnend wie ihre eignen Gemächer. Ich spürte immer ein Frösteln, ein Gefühl der Förmlichkeit, wenn die Tür aufging, während ich in ihrem abgezirkelten Salon auf sie wartete. Jeder Stuhl stand an seinem bestimmten Platz, illustrierte Prachtwerke mit Goldschnitt lagen auf den Tischen ... In ihren Zimmern war es nicht sehr hell; schwere Gardinen klebten an den Fenstern, gewirkte Tapeten bedeckten die Wände; auf dem Flur standen Truhen aus Eichenholz. Nun wird man sich diese Frau vorstellen können, wie sie an einem Eichentisch auf mich wartete, sich ihrer Gedanken ein wenig schämte, aber ihrer nicht Herr zu werden vermochte. Einmal hörte ich sie Klavier spielen – es machte einen affektierten Eindruck auf mich.
Da ich meine Gedanken in die Vergangenheit zurücklenke, steigt Vergessenes wieder zur Oberfläche. Jetzt taucht eins ihrer Kleider auf! ein dunkelgrünes, ganz das gleiche Olivengrün wie der Rock des Mannes. Sie trug ihr Haar kurz wie ein Knabe, und der von kleinen Locken über und über bedeckte Kopf beeinträchtigte keineswegs den Typus der Neuengländerin, in deren Sprachschatz noch biblische Redensarten vertreten sind. Lizzie war ein wundersamer Nachkömmling der Puritaner, die auf der ›Mayflower‹ über den Atlantischen Ozean fuhren und sich in Neu-England ansiedelten. Paris hatte sie nicht verändert. Sie war le grave Puritan du tableau; ich sage absichtlich: le grave Puritan, denn von einem gehorsamen, kindlichen Weibe war nichts in Lizzie, abgesehn von ihrem Geschlecht. Da ihre Natur mit ihren Idealen im Kampfe lag, hatte ihr Wesen etwas Studiertes, und sie trug eine gezierte Heiterkeit zur Schau, mit der sie nicht zu brechen wagte. Sie gab ihre Seele nie völlig preis, verfiel nie in Vertraulichkeiten; bis zu einem gewissen Grade blieben wir uns daher immer fremd. Denn Liebende kennen einander erst, sobald sie sich ihre Enttäuschungen und ihre Heimlichkeiten mitteilen; die heftigste Erregung sagt uns wenig, man vergißt sie, – der Augenblick jedoch, wenn ein Weib seufzt und sich zu schlichter Vertraulichkeit versteht, schwebt uns noch nach Jahren vor und ruft sie uns zurück, mag sie nun unter der Erde sein oder tausend Meilen entfernt. Dieses Intime fehlte ihr, aber sie hatte etwas Wahres und Wirkliches an sich, etwas, das ich heute nicht in Worte kleiden kann; sie war eine gescheite Frau – das war es, und deshalb huldige ich ihr alljährlich durch einen Besuch.
Vor zwanzig Jahren begannen diese Höflichkeits-Visiten; sie sind nicht immer erfreulich, doch ich finde mich damit ab. Unsre Unterhaltung ist oft gekünstelt, es gibt peinliche Verlegenheitspausen; dann blicken wir uns an und denken gewiß der Veränderungen, die die Zeit bewirkt hat. Einer ihrer größten Reize war ihre Figur – ich habe selten eine hübschere gesehn –, und sie hat sich deren Grazie noch zum Teil bewahrt. Aber ihre Hände verraten ihr Alter; sie sind an den Gelenken dicker geworden, die Hände, die einst so schlank waren. Voriges Jahr hat sie sich eine alte Frau genannt; es schien mir eine Schande und ganz überflüssig, so etwas zu sagen, denn kein Mann hört es gerne, wenn eine Frau, die er geliebt hat, von ihrem Alter spricht. Warum soll man auf sein Alter aufmerksam machen, besonders wenn man es Lügen straft? Und sie sah voriges Jahr erstaunlich jung aus für eine Frau von fünfundfünfzig Jahren; so alt behauptete sie zu sein. Auch nach meinem Alter erkundigte sie sich. Die Frage ging mir gegen den Strich, und eh ich es recht gewahr wurde, hatte ich sie angeschwindelt. Ich hasse Menschen, die mich zu Notlügen zwingen. Unser Beisammensein wurde peinlich, und um ihm ein Ende zu machen, fragte sie mich, ob ich nicht ihren Gatten begrüßen wolle.
Wir fanden den alten Mann allein in seinem Atelier, unter dem Schein der Lampe in die Betrachtung eines Kupferstichs versunken. Er glich weit mehr einem Bild als irgendeiner seiner Malversuche. Sie fragte ihn, ob er sich meiner erinnere, worauf er sich erhob und etwas vor sich hinbrummelte. Um ihm auf die Sprünge zu helfen, erwähnte ich, daß ich sein Schüler gewesen. Der gute Alte sagte, natürlich erinnere er sich, er wolle mir gerne seine Bilder zeigen, aber Lizzie warf ein – vermutlich sagte sie es aus Nervosität, es war jedoch eine höchst taktlose Bemerkung –: »Ich glaube, Liebster, Mr. ... macht sich gar nichts aus deinen Bildern.« So berühmt man auch sein mag, es kränkt einen immer zu hören, daß jemand, selbst wenn der Betreffende noch so unbedeutend ist, für unsre Kunst nichts übrig hat. Doch ich rettete die Situation durch einige, wie ich glaube, scharfsinnige, witzige Bemerkungen. Nicht immer fällt einem das rechte Wort im rechten Augenblick ein, doch es wäre grausam, ihr Vorwürfe zu machen und mich damit herauszureißen, daß sie mir unrecht tue, daß ich wie alle Kunstfreunde meine Meinung oft geändert hätte, aber nach vielen Irrfahrten wieder auf das Wahre gekommen fei. Und um den Alten hinters Licht zu führen, fing ich von Ingres an. Meiner Liebe zu ihm sei ich stets treu geblieben; wie könne ich Ingres lieben, ohne ihn zu lieben? Das Gegenteil war die Wahrheit, aber der alte Herr gab eine sehr feine Antwort. Seine eigne hohe Stellung außer acht lassend, entgegnete er: »Wir können Ingres beide lieben, aber wahrscheinlich lieben wir nicht denselben Ingres.« Ich behauptete, keinen Ingres zu kennen, für den ich nicht schwärme, und fragte ihn, welchen er bewundere, und wir plauderten dann vergnüglich über die Apotheose Homers und die Bilder im Museum zu Montauban. Darauf sagte der alte Mann: »Ich muß Mr. ... meine Bilder zeigen.« Er hatte gewiß nur an sie gedacht während der ganzen Zeit, als wir über das Museum in Montauban sprachen. »Ich muß Ihnen meine Madonna zeigen.« Und er fügte erklärend hinzu, das Gesicht des Jesusknäbleins sei noch nicht fertig.
Es war wundervoll, diesen alten Herrn zu sehn, der bald achtzig sein mußte und an seinen Bildern das gleiche Interesse nahm wie vor fünfzig Jahren. Ein stumpfsinniger Leser denkt vielleicht, die Hauptsache sei doch gewesen, daß ich einmal seine Frau geliebt. Aber wie könnte das den Ausschlag geben! Überlege einen Augenblick, lieber Leser – alle Leser sind lieb, selbst die stumpfsinnigsten –, und du wirst innewerden, daß du noch in herkömmlichen Anschauungen und Vorurteilen befangen bist. Vielleicht, lieber Leser, denkst du, sie und ich hätten auf die Knie fallen und beichten sollen. Hätten wir es getan, er würde uns für rohes Pack gehalten haben – voilà tout.
Was wird aus ihr werden, wenn er einmal stirbt? Wird sie nach Boston zurückkehren? Werd ich sie je wiedersehn? Voriges Jahr hab ich mir zugeschworen, sie nicht mehr zu besuchen. Ihr war es wohl ebenso angenehm, wenn ich wegblieben ... Und sie hat recht; denn wenn ich nicht bei ihr bin, ist sie bei mir. Aber in demselben Zimmer, von den vertrauten Möbeln umgeben, sind wir durch die unübersteigbare Vergangenheit getrennt. Will ich sie mir erhalten, so muß ich mit ihr brechen. Der Gedanke erheitert mich; ich habe ihn wohl aus irgendeinem Buch, es kommt mir vor, als sei er angelesen. Hab ich einmal gelesen, daß ein Mann seiner Geliebten den Laufpaß gab, um sie völliger zu besitzen? Einerlei – heute trifft es jedenfalls auf mich zu: wenn ich sie besitzen will, darf ich sie nie wiedersehn. Trotzdem war es ein nettes Erlebnis, einmal eine ganze Woche lang die zu besuchen, die ich damals geliebt habe; und ich kann mir einen Beau Brummel der Gefühle vorstellen, der alljährlich nach Paris geht und bei jeder seiner Mätressen einen Tag verbringt.
Es hat damals noch andre gegeben. Da war zum Beispiel eine Madame ... Schon der Name ist schön, echt französisch, er versetzt mich ins Mittelalter nach Mittelfrankreich; denn ich habe mir von jeher eingebildet, die schlanke Frau, die so schnell im Denken und so aufrichtig in ihren Worten war, die ihre Seele so flink austeilte wie Karten, müsse in der Nähe von Tours geboren sein. Sie war so ganz Französin, daß sie aus dem Herzen Frankreichs stammen mußte; so französisch wie der Bordeaux; wie Balzac, der auch aus Tours stammte. Ihre Stimme, ihre Gedanken, ihre Worte hatten etwas Hinreißendes; in ihrer Gesellschaft war man wirklich in Frankreich, und als ihr Geliebter machte man alle Situationen eines französischen Liebesromans durch. Sie bewohnte das, was man in Paris ein Hotel nennt; es hatte seinen eignen Concierge, und es machte einem Spaß, den Mann sagen zu hören: ›Oui, monsieur, Madame la Marquise est chez elle‹, und man fühlte sich geschmeichelt, in einem mit blauer Seide ausgespannten Boudoir unter einem Louis XVI.-Kronleuchter aus Bergkristall auf eine Marquise zu warten und von ihren Lippen die Worte zu vernehmen: »Ich fürchte, Sie denken zu oft an mich.« Dabei bog sie die Hände über die Stuhllehne, so daß es mir leicht gemacht wurde, sie zu ergreifen. Sie hätten seit fünfhundert Jahren nichts in der Küche getan, sagte sie – ein guter Witz im rechten Augenblick. Der Salon führte in ein zwanzig Fuß hohes Treibhaus, das den Garten fast ganz einnahm; hier empfing die Marquise ihre Besucher.
Ich weiß nicht mehr, wer der Liebhaber der Marquise war, als sie ihre letzte Fête veranstaltete, und welches Stück gespielt wurde; ich weiß nur noch, daß das Gros der Gäste bei leichten Erfrischungen sitzenblieb, als ob sie den Abendschmaus witterten, und daß wir, um sie loszuwerden, uns förmlich von der Marquise verabschieden mußten. Wir krochen dann hinten ums Haus, schlichen auf der Dienstbotentreppe in die Schlafzimmer und hielten uns da versteckt, bis die andern Gäste anständigerweise nicht länger bleiben konnten. Sobald der letzte fort war, wurde die Bühne abgeschlagen und der Tisch gedeckt. Werde ich je den Augenblick vergessen, als das Glasdach des Treibhauses sich blau zu färben begann und die erwachenden Sperlinge piepsten! Wie übernächtig wir alle aussahen, aber wir blieben bis acht Uhr morgens. Dieses Fest wurde mit den letzten Vermögensresten der armen Marquise bezahlt. Sie verarmte dann vollends, und ihre Tochter Suzanne ging zur Bühne und entdeckte ein gewisses schauspielerisches Talent, das ihr Glück geworden ist. Ich will heut abend ins Vaudeville, wo sie auftritt; vielleicht verabreden wir, gemeinsam das Grab ihrer Mutter zu besuchen. Auf den Friedhof zu gehn und Azalienblüten aufs Grab zu streun – das wäre eine hübsche sentimentale Narretei.
Aber meine abenteuerliche Rundfahrt würde im ganzen sieben Besuche umfassen. Madame ... wäre Nummer vier. Ich höre, sie verliert ihr Augenlicht; sie soll in einem etwa fünfzig Meilen von Paris entfernten Schloß aus der Zeit Ludwigs XIII. leben, einem Schloß mit hohen Giebeln und vielen Läden, steifen Gärten mit Brückengeländern und Fischteichen et des charmilles – was heißt das? Hainbuchengänge. In einem solchen Laubgang mit einer fast erblindeten Frau zu promenieren und mit ihr von der Vergangenheit zu plaudern, das wäre wahrhaftig ein Erlebnis, ›weit über Menschliches hinaus‹.
Madame ... kreuzte unsern Liebesroman. Sie würde auch zu der Galerie gehören – also Nummer fünf –, und weitere zwei werden mir noch beim Abendessen einfallen.
Doch jetzt muß ich fort, der Tag ist zu Ende. Paris hebt sich von einem strohfarbenen Himmel ab. Ich muh fort, der Tag ist vorüber. Irgendwo wird die Einleitung zum Tristan gespielt, die letzten Töne rieseln an mein Ohr. Und ich sage mir: wieder ist ein herrlicher Tag hinab, ein Tag des Nachdenkens über Kunst und Frauen – gibt es etwas andres, worüber man nachdenken könnte? Zum Glück wird es morgen ebenso sein wie heute. Morgen werde ich wieder über Kunst und Frauen nachdenken; und übermorgen werde ich mich mit dem befassen, was ich den guten alten Bischof M'Cormac in seiner Predigt einmal nennen hörte, ›die entwürdigende Leidenschaft der Liabe‹.