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Anton Bruckner war von bäuerlicher Herkunft. Er gehörte aber auch, wie mit Recht bemerkt wurde, sozusagen der geistigen Aristokratie des Bauernstandes an: sein Vater und sein Großvater waren Lehrer gewesen, und er selbst wurde von klein auf für den Lehrberuf herangebildet. Eine besonders tiefe oder gründliche Bildung war es allerdings nicht, die er für diesen Beruf brauchte und die ihm sein Vater mitgeben konnte. Am 4. September 1824 in Ansfelden, einem Dorfe Oberösterreichs, geboren, verlor er den Vater schon mit zwölf Jahren und mußte, wie erzählt wird, gleich nach dessen Tode aushilfsweise Schule halten und Meßner- und Organistendienste leisten. Gewiß spricht dies für seine Fähigkeiten, und zwar nicht bloß für seine musikalischen, aber es versetzt uns auch mitten in den Vormärz und in eine altertümliche Schulverfassung, die zur Not für den Unterricht sorgte und die Person des Lehrers in fortwährender Abhängigkeit erhielt: in wirtschaftlicher Abhängigkeit von den Gutsherren und den besser gestellten Eltern der Schulkinder und in geistiger Abhängigkeit vom Pfarrer. Der Lehrer war damals eigentlich nur ein Meßner, der zugleich Unterricht erteilte. Insofern der Meßner überdies auch Organist zu sein hatte, war Bruckner, dessen musikalisches Talent sich frühzeitig regte, hier vollkommen am Platze. Mit zehn Jahren ließ er sich zum ersten Male auf der Orgel hören, als Sängerknabe im Stifte zu St. Florian erlernte er von seinem zwölften bis zu seinem sechzehnten Jahre systematisch die Elemente des Klavier- und Violinspiels, des Orgelspiels und der Harmonielehre, ein Jahr lang bereitete er sich in Linz auf den Lehrberuf vor und war demnach mit siebzehn Jahren (1841) »Schulgehilfe«. Je früher er dieses Ziel erreichte und je mehr er dabei, dank seinem Talente und seiner angeborenen Liebenswürdigkeit und Fügsamkeit, »Protektion« genoß – wie etwa im Stifte zu St. Florian –, um so mehr mußte sich jene äußere Demut bei ihm herausbilden, ohne welche damals auch ältere, reifere, innerlich gefestigte Lehrpersonen sich schwer behaupten konnten. Ein kindliches Gemüt und ein echtes Künstlernaturell, das dem Leben praktisch nicht gewachsen ist, würden an sich schon hinreichen, um vieles zu erklären, was den späteren Bruckner, den großstädtischen Musiklehrer und Hoforganisten, eigentümlich auszeichnete. Aber den wahren Schlüssel zu seiner Unerfahrenheit und Ungeschicklichkeit in allen »weltlichen« Dingen und namentlich auch zu seiner weitgehenden, manchmal peinlich anmutenden Unterwürfigkeit gegen Berufsgenossen, Vorgesetzte und – Feinde haben wir erst in der Hand, wenn wir uns daran erinnern, daß er einst »Schulgehilfe« war. Der Mann, der als Knabe, als Jüngling und auch noch im Beginn seiner Reife jedem Geistlichen die Hand küssen mußte, hatte schließlich als ergrauter Künstler das Mißgeschick, den überquellend warmherzigen, aber feinen und weltmännischen Franz Liszt dadurch gegen sich einzunehmen, daß er ihm die Hand küßte und ihn mit »Herr Kanonikus« ansprach; und der Mann, der sich in den schönsten Jahren seiner Entwicklung von den Vertretern der »besitzenden« Klasse, Amtsleuten und Grundbesitzern, mitleidige Gunst und verletzende Geringschätzung mit tiefen Bücklingen gefallen lassen mußte, war als Greis imstande, dem untergeordnetsten Vertreter irgendeines »führenden« Blattes ein lautes: »Küss' die Hand, Herr Redakteur!« zuzurufen. Dazwischen und daneben gab es bei ihm aber auch Bauernschlauheit und bäuerischen Trotz und Eigensinn, als notwendiges und heilsames Gegengewicht gegen die äußere »Knechtseligkeit«. Dem Großstädter freilich und dem nach allen persönlichen Schwächen starker künstlerischer Naturen lüstern ausspähenden Tageskritiker bot ein solches Gemisch von Kindesunschuld und knorriger Härte Angriffspunkte genug für Schmähsucht, Spottlust und müßigen Klatsch. Die Tragödie des Künstlers wurde also noch gesteigert durch das Tragikomische im Dasein eines Bauern, der in die Großstadt verschlagen wurde, und eines von der modernen Welt umrauschten »Schulgehilfen« ältesten Stiles.
Als Schulgehilfe in Windhag hatte Bruckner außer der Wohnung (und wahrscheinlich auch Verpflegung) beim Schulmeister zwei Gulden monatlich. Was er darüber brauchte, durfte er als Musikant verdienen. Nach zwei Jahren (1843) wurde er in gleicher Eigenschaft – angeblich strafweise wegen Unterlassung einer ihm aufgetragenen Feldarbeit – nach Kronsdorf versetzt. Dort lieh ihm ein Bauer ein Klavier, und wenn Bruckner in die Schule kam, hatte er schon stundenlang am frühen Morgen Bach studiert. Nach weiteren zwei Jahren (1845) erhielt er die Lehrerstelle in St. Florian, und im Alter von siebenundzwanzig Jahren (1851) war er dort stellvertretender Stiftsorganist. Nun mochte er sich als Krösus fühlen: mit freier Station und achtzig Gulden Jahresgehalt! Aber mehr befriedigte ihn seine Tätigkeit. Der Lehrberuf wurde durch den Beruf des Musikers verdrängt. Die regelmäßige Teilnahme am feierlichen Gottesdienste in allen Formen und Verwandlungen, die das Kirchenjahr mit sich bringt, und das Studium auf der prachtvollen großen Orgel des berühmten Stiftes gaben seiner persönlichen Frömmigkeit und seinem künstlerischen Eifer die reichste Nahrung. In den zehn Jahren dieses Aufenthaltes zu St. Florian wurde er durch nicht rastende Arbeit zu dem fabelhaften Orgelspieler und bedeutenden Kirchenkomponisten, als der er zuerst in die Öffentlichkeit trat. Mit Linz und sogar mit Wien knüpfte er jetzt musikalische Verbindungen an. Sechter, Preyer, Aßmayer wurden auf ihn aufmerksam, prüften, ermunterten, förderten ihn. Bei dem Wettspiele um die Domorganistenstelle in Linz am 25. Januar 1856 ging Bruckner nicht nur einstimmig als Sieger hervor, sondern machte er geradezu den Eindruck eines vollendeten Meisters. Er ward Domorganist und gewann als solcher die bewundernde Freundschaft des Bischofs Rudigier, der ihm auch mehrjährige Studien bei Sechter in Wien ermöglichte. Kein letztes Winkelchen der großen, labyrinthischen Gebäude Harmonielehre und Kontrapunkt wollte der im Lernen und Arbeiten ganz glückselige Magister der Tonkunst unerforscht lassen. Im Jahre 1861 legte er vor Sechter, Dessoff, Herbeck und Hellmesberger in Wien eine »Reifeprüfung« im kontrapunktischen Spiele ab, und als das achttaktige Prüfungsthema in einer gewaltigen improvisierten Fuge durch die lichten Hallen der Piaristenkirche brauste, da kamen sich die prüfenden Herren Professoren und Direktoren klein und nichtig neben dem großen Künstler vor, dessen außerordentliches Wissen und Können zugleich von göttlichem Schwunge beseelt war. Damals nahte sich Bruckner, dessen Ansprüche an das Leben immer nur sehr bescheidene waren, der völlig in der Kunst aufging und dessen bis dahin komponierte Musikstücke zum kirchlichen Gebrauche bereits Anerkennung gefunden hatten, einem Gipfel: stolz und kühn wagte er sich jetzt – erst jetzt – an umfangreiche und liebevoll durchgearbeitete Kompositionen, zu welchen er auch das moderne Orchester heranzog. Und hier beginnt nun auch die Tragik dieses Künstlerschicksals.
Es ist auffallend, daß Bruckner, der große Organist, nichts für Orgel geschrieben hat; aber es ist leicht erklärbar: die Orgel war für ihn etwas Persönliches. Saß er während des Gottesdienstes vor dem Instrumente, so ging gleichsam der Inhalt der heiligen Handlung und des kirchlichen Gesangstextes in sein Spiel über und nahm dort eine neue, subjektive Gestaltung an, die ganz und gar vom Spieler abhängig war: wie er in diesem Augenblicke das Göttliche empfand, so hatte die Orgel es auszusprechen. Der naive Überschwang seines Entzückens ließ ihn manchmal wohl über die Schranken des Gottesdienstes und der Kirchenmusik hinausgehen, so daß die Geistlichkeit am Altare und die Sänger auf dem Musikchore Mühe hatten, im rechten Geleise zu bleiben. Innerhalb der gebotenen Schranken aber bewährte er die echte Überlieferung des Organistenberufes. Der starre Mechanismus der Orgel und die strengen Regeln der musikalischen Mathematik sind mit dem feststehenden Kult und den unverrückbaren Glaubenssätzen der Kirche zu vergleichen; wie nun aber diese Glaubenssätze zu lebendigen Erfahrungen der Gläubigen werden sollen, wie die Formen des Kults dem gläubig Ergriffenen als dramatisch bewegte Handlung erscheinen, wie jede Art von Gottesdienst sich aus dem Gott im Innern, aus einer Gemütsstimmung zu rechtfertigen hat, so ist es seit den ältesten Zeiten die Orgel, die dem persönlichen Verhältnisse des Christen zu dem Gegenstande seiner Anbetung den freiesten, allmenschlichen Ausdruck verleiht. Der Meisterschaft des Organisten bleibt es vorbehalten, je nach der Bedeutung des Festes und den Ereignissen, an die es geknüpft ist, je nach der Stimmung des Tages und der Stunde einen und denselben religiösen und musikalischen Inhalt in stets wechselnden Formen und Bildungen zu variieren und zu paraphrasieren. Und darin eben war Bruckner unerschöpflich. Von den Fugen über die Kaiserhymne, die er an Kaisers Geburtstag und auch sonst zu spielen pflegte, war gewiß nicht eine der anderen gleich und keine hat er jemals aufgeschrieben. Denn da war nichts nachzuahmen und nichts zu wiederholen. Bruckner an der Orgel, das war er selber, der Herzschlag seines Wesens. Wer ihm folgen wollte, der mußte trachten, auf eigenen Füßen, mit eigener Kraft ans Ziel zu kommen. Ohne Geistesgegenwart und augenblickliche Eingebung ist ein guter Organist überhaupt nicht denkbar.
Bruckner komponierte nun aber auch für andere, nicht bloß für sich selbst. Den Mechanismus der Orgel setzt ein Einziger in Bewegung; wo aber Sänger und Instrumentalisten, die ein Ganzes bilden wollen, sich gemeinsam betätigen, da muß jeder seinen Teil auf dem Notenpult vor sich haben und aus genauen Zeichen, die vor fremder Willkür geschützt sind, den maßgebenden Willen desjenigen ablesen können, der durch seine »Komposition« das Zusammenwirken und die einheitliche Betätigung erst ermöglicht. Und dies gerade war der Ehrgeiz Bruckners: nicht bloß den erhabenen Eindruck seines subjektiven Orgelspiels zu hinterlassen, der ja doch nur zu bald verwehen und verklingen mußte und dessen immer nur die zufälligen Hörer teilhaftig werden konnten, sondern auch etwas objektiv Gültiges und allgemein Zugängliches von sich zu geben und außer sich zu stellen, oder mit anderen Worten: nicht bloß zu wirken, sondern auch Werke zu schaffen. Den meisten Künstlern ergeht es umgekehrt: frühzeitig lernen sie die Reize und Vorteile des »Marktes« kennen und vermehren in der Regel die »Literatur«, bevor sie noch große Künstler sind; wenn sie dann sehen, wie just ihr Tiefstes und Eigenstes im Marktverkehre nicht den rechten Wert behauptet und die Aufführung ihrer Werke oft mehr einer Entweihung als verehrender Huldigung gleichkommt, ersehnen sie nichts heftiger als die ungebrochene, reine Wirkung auf Wohlgesinnte und Gleichgesinnte. Von Richard Wagner, der ausgeprägtesten Künstlernatur des neunzehnten Jahrhunderts, wissen wir, daß er in der zweiten Hälfte seines Lebens eigentlich nur noch ein Ziel kannte: von ihm selbst geleitete Aufführungen seiner Werke vor einem geladenen Publikum; die sonstigen Schicksale seiner Partituren wurden ihm gleichgültig. Bruckner hingegen war es beschieden, daß er von Anfang an, so oft er an der Orgel saß, auch schon eine Gemeinde um sich versammelte; in jeder Kirche konnte er gleichsam sein Bayreuth aufschlagen. Und diese von der elementaren Klangwirkung bis zum Erlebnis wahrhaft großer Kunst sich steigernden Wirkungen, denen sich weder die Bauern im Dorfe noch die Musikgelehrten in der Weltstadt entziehen konnten, diese persönlichen Triumphe einer unvergleichlichen Begabung brachten es erst mit sich, daß Bruckner in der zweiten Hälfte seines Lebens endlich auch nach – Fernwirkungen verlangte, nach Wirkungen, die über Raum und Zeit hinaus reichten, so daß Menschen, die er nie gesehen und denen er nie etwas »vorgespielt«, sich in seinem Namen versammeln konnten und er war mitten unter ihnen. Zur Zeit seiner Wiener Studien war es ihm vermutlich auch vergönnt, große musikalische Werke in vollendeter Ausführung zu hören und so recht zu fühlen, wie über Länder und Meere und Jahrhunderte hinweg das Genie zur Welt spricht. Da kam denn der Bruckner, den wir heute nennen und meinen, zur vollen Reife und wurde auch für die Literatur und die Musikgeschichte, was er von je gewesen – Komponist, schaffender Tonkünstler.
Aber wir dürfen nicht vergessen, daß es eben auch schon früher einen sehr bedeutenden Bruckner gegeben hat. Die merkwürdige Tatsache, daß ein Musiker erst mit vierzig Jahren ernstlich zu komponieren anfängt, dann aber auch gleich überaus wuchtig in die Erscheinung tritt, verliert alles Rätselhafte, wenn wir bedenken, daß auch der Organist Bruckner fortwährend schuf, daß seine Phantasie und Erfindungsgabe und sein längst erprobtes Können sich jetzt nur neuer Mittel bediente, um nach außen zu wirken. Auch der oft bemerkte Mangel einer künstlerischen Entwicklung in seinen Symphonien, ihre innere Verwandtschaft in Stil und Stimmung, ist damit von selbst gegeben: seine menschliche Entwicklung war bereits auf einen Höhepunkt gelangt, als er Symphoniker wurde, und auch musikalisch hatte er bereits unendlich viel Stoff aufgespeichert, der jetzt nur zu verwerten war; es handelte sich für ihn im wesentlichen darum, einer neuen Technik Herr zu werden. Wie das Gefüge und namentlich auch die Orchestration seiner Symphonien bis zuletzt immer noch ein wenig an die Orgel erinnerte, so dürfen wir auch die von rauschenden Figuren umspielten Choräle der dritten, vierten und fünften Symphonie, die krönende Doppelfuge der fünften und vieles andere geradezu als Aufzeichnungen und Transkriptionen früherer Gebilde auffassen, die er schon als Organist mit sich herumgetragen oder zu tönendem Leben erweckt hatte.
Daß er von der Orgel zum Orchester und zur Symphonie kam, ist nicht minder natürlich. Wo war seine an der Orgel errungene Freiheit und Kühnheit des Gestaltens wirksamer und erfolgreicher anzuwenden als in der modernen Instrumentalmusik, die alles kann, was sie will, jedem Ausdrucksbedürfnis zu dienen weiß und in den mannigfaltigsten Klangkombinationen über den Reichtum der Orgel noch beträchtlich hinausgeht? Der Gesang ist an das Wort gebunden und vermag eine größere Mannigfaltigkeit seiner Bildungen nur aus dem Worte selbst zu schöpfen. Dies lag jedoch der individuellen Veranlagung und dem Bildungsgange Bruckners ferne. Die menschliche Stimme hörte er am liebsten in der Kirche zu rituellen Texten, deren altehrwürdige Formeln ihm durch den Atem der Sänger zu seelenvollen Bekenntnissen wurden. Für sein Wirken außerhalb der Kirche bot sich ihm das Orchester, das ihm nicht nur die Orgel ersetzte, sondern auch das Sprechende des Gesanges im Ausdruck ermöglichte und zu der strengen oder weichen, herben oder süßen Linienführung noch die Farbe hinzubrachte, blühende, leuchtende Farbe, in der die geheimsten Empfindungen erst ganz ausschwingen und verzittern konnten. Schon als Kind war Bruckner überglücklich gewesen, wenn am Fronleichnamstage zur Prozession in seinem Heimatsdorfe Pauken und Trompeten aus Linz kamen. Der Sinn für Klangfarbe war immer in ihm lebendig und wurde besonders genährt durch seinen Natursinn. In Wald und Flur Oberösterreichs erlauschte er nicht bloß die holdesten Melodien, sondern auch die verführerischesten Klänge. Kunstvoll behandelte er die Register der Orgel, die gleichsam verschiedene Instrumente darstellen, und ging häufig von der Gebundenheit des kirchlichen Stils und der kontrapunktischen Arbeit zu symphonischen Gemälden über, die den Hörer an Waldesrauschen, Vogelgezwitscher und an das Heulen des Sturmes erinnern mochten. Aber da fehlte noch immer das An- und Abschwellen des einzelnen Tones, wie es den Holzblasinstrumenten so herrlich eigen ist, mit denen sonst die Orgelstimmen am meisten Verwandtschaft haben, da fehlte das zarte Schimmern und helle Gleißen der Blechblasinstrumente, für die Bruckner seit jenen kindlichen Fronleichnamstagen stets eine innige Vorliebe hegte, da fehlte das wonnige Jauchzen und lockende Säuseln der Geigen, deren schwungvolle Handhabung doch gerade in Österreich heimisch ist, da war es, bei der erhabenen Schwerfälligkeit der »Königin der Instrumente« und ihren hohen Aufgaben, doch nicht möglich, die kernigen Volksweisen und frischen Tanzrhythmen erschallen zu lassen, die dem ländlichen Oberösterreicher, trotz Kirche und Orgel, im Blute lagen. Im Orchester fand er, was ihm fehlte und was er suchte. Hier konnte er endlich auch so humoristisch ausgelassen sein, wie es der derben und fröhlichen Seite seines Wesens entsprach; hier konnte er endlich farbensatte Landschaftsbilder malen und sie mit allen tönenden Reizen der heimatlichen Gegend schmücken; hier konnte er endlich die ganze ahnungsschwere Mystik erklingen lassen, deren Schauer sich so oft im Dämmerlichte der Kirchen mit den Weihrauchwolken und den schräg einfallenden Sonnenstrahlen auf ihn herabgesenkt hatten. Es mußte ihm sein wie dem Bräutigam, der die Braut heimführt, als er von der Orgel zum Orchester kam. – Vielleicht denken wir auch an Franz Liszt, der vom Klaviere aus den gleichen Weg nahm, und halten uns dabei gegenwärtig, daß, abgesehen von der Individualität und Geistesrichtung Liszts, der intim-poetische Charakter beinahe jeder Art von Klavierkomposition von vornherein nach der symphonischen Dichtung wies, während der Organist und Kontrapunktiker naturgemäß reiner Symphoniker wurde.
Bruckner hat sichs sauer genug werden lassen. Er verwarf seine früheren Kompositionen, die seither verschollen sind und zum Teil vernichtet sein dürften August Göllerich hat einige dieser Kompositionen in Linz aufgeführt. (Siehe das Verzeichnis am Schlusse!), und unterzog sich dem ernstesten Studium der Formenlehre und der Instrumentation beim Theaterkapellmeister Otto Kitzler in Linz, einem sehr tüchtigen Manne, dem Bruckner bis an sein Ende die treueste Dankbarkeit bewahrte. Beethoven war die Grundlage des Studiums. Aber auch die Partitur des »Tannhäuser«, den Kitzler damals in Linz zur Aufführung brachte, lernte Bruckner genau kennen. Man kann sich vorstellen, wie gerade diese Partitur mit der Gegenüberstellung des Pilgerchores und der Venusbergmusik auf ihn wirkte. So viele Saiten seines Gemütes und seiner künstlerischen Sehnsucht mußten da heftig mittönen. Gerade diese Partitur in diesem Augenblick seines Lebens: Bruckner mußte Wagnerianer werden. Die moderne Musik hatte den Domorganisten, den Schüler und Nacheiferer Bachs an ihr Herz gerissen. Aber wie frei und selbständig blieb trotzdem sein Geist! Bruckners erste große Schöpfung, seine Messe in d-moll, die im Jahre 1864 im Linzer Dome zur ersten Aufführung kam, verrät durchaus keinen Einfluß Wagners, und seine erste Symphonie (in c-moll), die gleich nach der Messe entstand, zeigt ihn höchstens in rein technischen Zügen, wie sie so manches Instrumentalwerk der neueren Zeit aufweist. Sowohl der Messe als der Symphonie merkt man vielmehr an, daß Bruckner die Früchte langjähriger Arbeit niederlegen und den Inhalt eines gereiften Lebens aussprechen wollte. Es sind Erstlingswerke, aber keine Jugendwerke. Ein Mann und Künstler tritt vor uns hin, und »Sturm und Drang« ist nur insofern vorhanden, als Bruckner im berauschenden Gefühle seiner Herrschaft über die neue Sprache gleich zu viel auf einmal geben wollte; daher ein gewisses Übermaß des Ausdruckes und der Ausdrucksmittel, namentlich in der Symphonie eine gewisse Ungeheuerlichkeit, so daß dieses kyklopische Werk, das am Beginn der langen Reihe steht, noch heute als das schwierigste und unzugänglichste unter allen zu betrachten ist Sehr Beachtenswertes über diese Symphonie hat August Stradal in Nr. 6 u. 7 des Jahrganges 1912 der »Neuen Zeitschrift für Musik« veröffentlicht.. Die Messe, weitaus einfacher, wurde 1867 von Herbeck in Wien aufgeführt; vor der Symphonie aber entsetzten sich alle, die die Partitur erblickten, auch Hans von Bülow, den Bruckner im Sommer 1865 bei den denkwürdigen ersten Aufführungen von »Tristan und Isolde« in München persönlich kennen lernte. Der Meister des »Tristan« selber nahm Bruckner huldvoll auf, der »bekannt« schroffe, einseitige, nur den eigenen Plänen und Zielen lebende Meister, der aber mitten in den heißen und aufregenden »Tristan«-Tagen Zeit und Huld für den neuen Symphoniker übrig hatte, der diesem einige Jahre später die noch unveröffentlichte Partitur des Schlußchores der »Meistersinger« für eine Aufführung in Linz überließ, der die Widmung der dritten Symphonie Bruckners mit freudigem Danke annahm und im ersten »Parsifal«-Jahre, dem letzten Jahre seines Lebens, in Bayreuth, eine frühere Zusage bekräftigend, zu Bruckner sagte: »Verlassen Sie sich auf mich, ich werde Ihre Werke aufführen, ich selbst!« So sehr hatte die Seele dieses Künstlers zu jenem gesprochen, in ihrer menschlichen Erscheinung sowohl als auch in ihren Werken, die jener doch nur flüchtig und zum größten Teile gar nicht kannte. Wagner wurde zur Lebenssonne Bruckners. Der »Tristan« in München und dann später die Wagner-Aufführungen in Wien und Bayreuth scheinen auf den Symphoniker einen unauslöschlichen Eindruck gemacht und ihn immer tiefer in den reinen Zauber Wagners verstrickt zu haben. Je älter Bruckner wird, um so leichter läßt sich eine Ähnlichkeit seiner melodischen Einfälle oder seines symphonischen Stiles mit der Art Wagners feststellen, und im Adagio der letzten, nachgelassenen Symphonie, im letzten Symphoniesatze, den er überhaupt geschrieben, finden wir beinahe schon Zitate: ein unerhört breites, über sieben Takte ausgegossenes Thema, das uns gleichsam vom »Tristan« bis zum »Parsifal«, von Erdenschmerz zu Himmelsseligkeit emporführt und beim Rückblicke auf den durchmessenen Leidensweg den Dank an den hehren Genius kündet, der auf diesem Wege vorangeschritten und den »Ahnenden« nachfolgen ließ.
Die erste Symphonie war in der Tat die erste Station auf einem Leidenswege. Alle die Enttäuschungen und Entmutigungen, die nur der Mittelmäßigkeit erspart bleiben, die aber den jüngeren Künstler allmählich treffen und in der Jugend nicht bloß leichter ertragen werden, sondern auch Talent und Charakter des Werdenden stählen und daher mittelbar zu seiner künstlerischen Entwicklung beitragen, als »ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft« – hier trafen sie den Gewordenen plötzlich und erbarmungslos, in einem Alter, das nach dem gewohnten Lauf der Dinge auch den minder Glücklichen doch schon einige Erfolge und einige Ruhe zu gönnen pflegt. Und wie er sich innerlich stärker getroffen fühlen mußte als andere, so zeigte er ja auch der Welt ein Gesicht, mit dem sie wirklich, wenn wir ihren Unverstand und ihre Teilnahmslosigkeit gegenüber neuen künstlerischen Erscheinungen als etwas Begreifliches oder Notwendiges hinnehmen wollen, nichts Gescheites anfangen konnte. Der »normale« Künstler macht seine Entwicklung vor den Augen des Publikums durch: je mehr Feinde er erwirbt, desto mehr Freunde hat er auch schon gewonnen, bei jedem neuen Werke fallen die einen ab und wachsen andere zu, denn jedes neue Werk hat neue Eigentümlichkeiten und verrät zugleich den Zusammenhang mit den früheren, man sieht das spätere aus den früheren hervorwachsen, man ist erfreut oder verärgert, erwärmt oder abgekühlt, staunt oder entrüstet sich, vermag dem Fluge nicht zu folgen, findet aber schließlich, wenn das Ziel erreicht ist, daß auch ein befremdendes Zickzack und seltsam gewählte Ruheplätze dem richtigen Zwecke dienten, und immer ist – auch bei größter Meinungsverschiedenheit – eine Debatte möglich, immer sind Argumente vorrätig, die sich aus dem Wesen des Künstlers ableiten lassen, man hat einen Schlüssel in der Hand, man kennt oder glaubt wenigstens die Individualität des Künstlers zu kennen, weil man ihn eben schon längere Zeit beobachtet, seine Sprünge oder seinen ruhigen Gang abmißt. Bruckner aber fiel anscheinend vom Himmel oder trat wie Minerva gepanzert aus dem Kopfe des Zeus hervor, und niemand hatte noch diese Rüstung gesehen, niemand besaß einen vorbereitenden Maßstab für das Sonderbare der neuen Erscheinung. Diese Erscheinung rührte sich auch sozusagen nicht mehr vom Flecke und zeigte kein augenfälliges Wachstum. Alle hergebrachten Begriffe versagten in psychologisch-biographischer Hinsicht. Da hatte es denn auch die Ästhetik schwer. Dazu das Stigma für gewisse Leute, namentlich in Wien, daß Bruckner sich zu Wagner bekannte und sogar dessen Gunst genoß – förmlich ein Kainszeichen, denn ein überzeugter Wagnerianer wurde damals von einem Teile der Kritik wie ein Brudermörder behandelt. Anderseits kostete es gerade den Wagnerianern Mühe, dem reinen Symphoniker, der in der Form wieder von Beethoven ausging, freundlich gerecht zu werden. Hätte nicht Wagner selbst seine Hand über ihn gehalten, die Wagnerianer würden ihn vielleicht ebenso gering geschätzt haben wie seinen »Antipoden« Brahms. Bülow schätzte Brahms höher und empfand vieles bei Bruckner als »Karikatur«. Liszt, der sonst für alles und jedes in der Musik einen Sinn übrig hatte, vermißte gänzlich den rhapsodischen Schwung, die Lyrismen, das » rubato« des Tempos und der Empfindung, die den Lisztschen Orchesterstil auszeichnen, und erschrack so sehr über die zahlreichen Sequenzen und Imitationen bei Bruckner, daß er eines der melodienreichsten, eingänglichsten Werke des letzteren mit – Clementi verglich. Diese allgemeine Ratlosigkeit, die den Urteilsfähigsten hemmte, läßt es uns schmerzlich begreifen, daß die in Vorurteilen befangene zünftige Kritik und die durch alles schwer Zugängliche, Liebe und Aufmerksamkeit Erfordernde gewissermaßen persönlich gereizte Tagespresse den herzensguten, übertrieben bescheidenen Bruckner im Tone womöglich noch schmählicher behandelte als andere Künstler, die der Presse und der Zunft allerdings auch persönlichen Verdruß bereitet hatten, wie z. B. Wagner oder Hugo Wolf. Mit einer beinahe unmännlichen, aber auch rührenden und entwaffnenden Engelsgeduld ließ Bruckner die unverhüllte Gemeinheit einiger Hauptgegner jahrzehntelang über sich ergehen. Aber er mußte sich in die neue Rolle doch erst hineinfinden; er mußte rasch nachlernen, was andere mit dem eigenen Werden und Wachsen sich ganz von selber aneignen: das Gefaßtsein, das innere Erhabensein über Torheit und Angriffe, mag man nun nach außen hin – je nach dem angebornen Temperamente – in Demut oder in zorniger Aufwallung dagegen reagieren. Als Bruckner seine erste Symphonie, von der niemand etwas wissen wollte, im Jahre 1868 selber in Linz zur ersten Aufführung brachte, da war weder das Orchester dieser Aufgabe gewachsen noch das Linzer Publikum zu solchem Genusse reif. Der sogenannte Achtungserfolg war ein nicht wegzuleugnender Mißerfolg für den Gottestrunkenen, der geglaubt hatte, mit seinen Werken die Welt erobern zu können. Der Mann, der an ein unmittelbar die Herzen bewegendes Wirken gewöhnt war, hatte sich das Komponistsein wahrhaftig anders vorgestellt. Und eine tiefe Mutlosigkeit überfiel ihn; auch ihn, den schlicht Gläubigen, erfaßte jene faustische Stimmung: »der Gott, der mir im Busen wohnt, kann tief mein Innerstes erregen; der über allen meinen Kräften thront, er kann nach außen nichts bewegen. Und so ist mir das Dasein eine Last, der Tod erwünscht, das Leben mir verhaßt.« In einem Schreiben an Herbeck, der nach dem Tode Sechters die Berufung Bruckners als Lehrer an das Wiener Konservatorium vermittelte, hat der Unglückliche seiner Verzweiflung offen Ausdruck gegeben; seinen Freunden hat er später wiederholt erzählt, er sei damals wirklich nahe daran gewesen, sich das Leben zu nehmen. Was ihn tröstete und erhob, war wieder nur die Kunst, seine eigene, aus dem Tiefsten quellende Kunst. Bei der Komposition einer neuen Messe (in f-moll )ward ihm Selbstvertrauen und Gottvertrauen neu geschenkt, und wie aus Dankbarkeit und zum ewigen Gedächtnis an jene wundersame Errettung aus der großen Krisis seines Lebens nahm er vier Takte aus dem »Benedictus« dieser Messe in den langsamen Satz seiner zweiten Symphonie (in c-moll) hinüber, an bedeutsamster Stelle. Diese zweite Symphonie sollte dem Schicksale der ersten schon dadurch entrückt sein, daß sie absichtlich kleiner und leichter angelegt war. Sie ist die »zahmste« unter allen Brucknerschen Symphonien, und ihre Vergleichung mit der ersten beweist unter anderem auch, wie wenig mit der Angabe der Tonart, die bei beiden Werken dieselbe ist, über das Wesen oder die Grundstimmung eines Tonstückes gesagt ist. Der Welt aber schien auch die zweite noch zu ausschweifend, und als sie im Jahre 1876 in einem Wiener Gesellschaftskonzert aufgeführt wurde, schloß Hanslick den betreffenden Konzertbericht vor dem Brucknerschen Werke, um, wie er sich ausdrückte, nicht der Schmach gedenken zu müssen, die dem Musikvereinssaal durch die Aufführung angetan worden sei. Doch Bruckner war jetzt gefaßt und blieb gefaßt bis ans Ende. Als in seinen letzten Jahren Leidenszüge sich in sein gutmütiges Imperatorenantlitz eingruben, da mochte es zweifelhaft sein, ob sie seelisches oder bloß körperliches Leiden verrieten, als Vorboten des Todes.
Inzwischen behauptete er als Theoretiker und Orgelspieler unbestritten seinen Rang. Der Berufung ans Konservatorium (1868) folgte die Ernennung zum Hoforganisten. 1869 spielte er in der Kathedrale zu Nancy und in Notre Dame zu Paris, 1871 in der Alberthalle und im Krystallpalaste zu London, wo er dreizehn Konzerte geben mußte. Die Musiker dieser Städte gerieten außer sich über sein Spiel, namentlich über seine Improvisationen; Gounod umarmte ihn unter Tränen. Auch bei der Wiener Weltausstellung (1873) befestigte er seinen internationalen Ruf. Oft und oft mußte er nach Linz zurückkehren, um dem Bischof Rudigier vorzuspielen, den er damit stärkte und »heilte«. Den Sommer verbrachte er, so lange er lebte, am liebsten in St. Florian, und auch in anderen Stiften und Klöstern Oberösterreichs und Steiermarks kehrte er häufig ein, um zum staunenden Entzücken der Geistlichkeit, der Lehrerschaft, der »Sommerfrischler« und der ganzen Bevölkerung die Orgel und die Herzen zu rühren. Wie er alte Orgelphantasien in seinen Symphonien erneuerte, so übertrug er jetzt auch seine Symphonien auf die Orgel, verwob ein Adagio eigener Schöpfung mit einem Bruchstück aus dem »Ring der Nibelungen«, verarbeitete Wagnersche Themen nach dem strengsten Kontrapunkt und schuf aus der absteigenden C-dur-Tonleiter ein erschütterndes Tongemälde. 1875 war er auch Lektor an der Wiener Universität geworden, wie erzählt wird, sehr gegen den Willen Hanslicks, der gleichfalls an der Universität lehrte und abgesehen von seiner kritischen Gegnerschaft einen Kollegen unbequem finden mußte, der im Freundeskreise das scharfe, aber gerechte Wort sprach: »Vom Kontrapunkt weiß der Herr Doktor so viel wie der Rauchfangkehrer von der Astronomie.«
Dem Komponisten Bruckner wurde es darum nicht leichter als irgendeinem Unberühmten: nur mit den größten Mühen waren Verleger und Aufführungen zu erlangen. Die Philharmoniker, das erste Orchester Wiens und eines der ersten der Welt, ließen sich zwar als »Mitwirkende« herbei, dann und wann eine Symphonie von Bruckner aufzuführen, in ihren eigenen Konzerten aber durfte Bruckner erst am 11. Februar 1883 und auch da nur mit den beiden Mittelsätzen seiner sechsten Symphonie zum ersten Male erscheinen – zwanzig Jahre, nachdem er Komponist geworden war. Das Interesse, welches diese Aufführung erregte, wurde zwei Tage später durch den plötzlichen Tod Richard Wagners jäh verdrängt. Nun war ja auch an Wagner noch so vieles gut zu machen; »Tristan und Isolde« beispielsweise war in Wien noch gar nicht aufgeführt – mehr als zwanzig Jahre nach der Vollendung des Werkes. Der große Schirmherr der Brucknerschen Kunst aber war dahin gegangen und die Hoffnung auf die von Wagner beabsichtigten Aufführungen der Symphonien vernichtet. Da sandte der Verewigte, wie Bruckner einmal mit poetisch-feiner Wendung bemerkte, einen Abgesandten: den Wiener Akademischen Wagner-Verein. Nachdrücklich und unermüdlich trat dieser von nun an für Bruckner ein. Der Dirigent des Vereines, der seither verstorbene Josef Schalk, zählt zu den treuesten und verdientesten Vorkämpfern Bruckners. Nur muß man sich die Verhältnisse recht vergegenwärtigen: in der Stadt, die die Hochburg aller zähen und verbissenen Antiwagnerianer war, konnte ein Wagner-Verein, noch dazu mit Bruckner, nur sehr allmählich etwas ausrichten; und wenn auch der Kreis jener, die Bruckner kennen und schätzen lernten, sich stetig erweiterte, so muß man doch ferner bedenken, daß gerade in Wien die Kritik überaus mächtig ist und ein neues Werk oder ein neuer Künstler dort in der Regel erst dann anerkannt wird, wenn es die Kritik erlaubt. Die Wiener Kritik spielte ihre Rolle des Verschweigens und Verlästerns mit einer gewissen Todesverachtung weiter. Es schien ihr nicht einmal eine Ahnung davon zu dämmern, daß Bruckner siegen müsse und der Rückzug unausbleiblich sei. Oder war es vielleicht doch eine Ahnung, ja sogar kluge Taktik, daß die »vornehmeren« Kritiker sich mehr aufs Verschweigen verlegten und das Verlästern minder namhaften »Kräften« überließen, die ohnehin noch vor dem Siege Bruckners abwirtschafteten? Ein Beispiel genüge zur Charakteristik ihrer Tonart: »Bruckner komponiert wie ein Betrunkener«. Außerhalb Wiens wird man in dieser drastischen Wendung allerdings nur einen Beweis von Unverständnis und keine empörende Roheit erblicken. In Wien aber sind derartige Ausdrücke immer persönlich gemeint: wer das schrieb, hat Bruckner einmal fröhlich kneipen gesehen oder auch nur davon gehört, daß Bruckner einer feuchtfröhlichen Erholung nach des Tages Last ebensowenig abgeneigt war wie ein vielgeplagter Kritiker, und die Leser verstanden solche Anspielungen; der kritische Vergleich war eine gehässige Verleumdung. Dem typischen Wiener Kritiker von damals blieben auch die Alltagsliebhabereien eines höheren Menschen nicht verborgen, und er zog sie in den Kreis seiner Betrachtung. Bruckner aß gern Selchfleisch mit Knödeln, und ein »Musikschriftsteller« verkündete dies mit dem bekannten Satze: »Der Mensch ist, was er ißt.« Auch nach dem Tode Bruckners (»der Tod hat eine reinigende Macht«, meint Schiller) war in einem »glänzend« geschriebenen Nachrufe nicht nur von dem Cäsarenkopf, sondern auch von den »Elefantenfüßen« des Verblichenen die Rede; Bruckner hatte nämlich zeitlebens die Gewohnheit, sehr weite Beinkleider zu tragen, die ihm ein plumpes und beinahe komisches Aussehen gaben. Es war nicht so übertrieben, wie man unwillkürlich annimmt, wenn Bruckner dem echten und gediegenen Musikschriftsteller Theodor Helm, der nach der Aufführung des Brucknerschen Streichquintetts durch die Quartettgesellschaft Hellmesberger im Jahre 1885 eine begeisterte Rezension geschrieben hatte, brieflich für den »Heldenmut« dankte, womit dieser »in so traurigen Zeiten« für jenen eintrat. Lief doch Helm tatsächlich Gefahr, durch sein Eintreten für Bruckner seine Stellung bei einem Blatte zu verlieren, das sich »Deutsche Zeitung« nannte! Und sind es nicht wahrlich traurige Zeiten, in denen ein ernst strebender und streng geschulter Künstler bei seinen Landsleuten keine Anerkennung seines Strebens, keine Achtung vor seinem Wollen und Können findet?
Den Ruhm, den Bruckner als schaffender Tonkünstler endlich doch noch erleben durfte, verdankt er seinen Erfolgen außerhalb Österreichs. Artur Nikisch, ein Schüler Bruckners vom Wiener Konservatorium her, führte die siebente Symphonie Ende 1884 in Leipzig, Hermann Levi, der »Parsifal«-Dirigent, dasselbe Werk im März 1885 in München auf. Wie groß die Begeisterung war, mit der namentlich die Münchener den ihnen völlig neuen Mann und seine Schöpfung allsogleich ins Herz schlossen, dafür spricht eine reizende Begebenheit: nach einer Aufführung der »Walküre« im Hof- und Nationaltheater, der auch Bruckner beigewohnt hatte, bat Levi den Wiener Meister, noch im Theater zu bleiben, und ließ ihm, als das Haus leer und finster geworden war, von dem gleichfalls zurückgebliebenen Orchester die zweite Hälfte des Adagios der siebenten Symphonie mit der grandiosen Steigerung, die noch jeden Hörer machtvoll entzündet hat, vorspielen, ihm ganz allein. Oftmals hatte das Orchester dem Könige von Bayern in nächtlicher Einsamkeit vorspielen müssen und wollte nun auch einem Könige im Reiche der Kunst eine »Separatvorstellung« geben. Ende 1890 erweckte Bruckners vierte Symphonie wieder unermeßlichen Jubel in München unter Levi. Die Tagesblätter des Deutschen Reiches und Österreichs veröffentlichten das Dankschreiben, das Paul Heyse nach dieser Aufführung an Bruckner richtete. Außer Levi und Nikisch machten auch Mahler, Mottl und andere an verschiedenen Orten mit Bruckner »Sensation«. Berlin ehrte ihn ganz besonders. Amerika lernte sein Tedeum kennen. Dem also Gefeierten brachte schließlich auch Wien seine Huldigungen dar. Hans Richter war es jetzt, der hier Bruckner zum Siege führte. Das Ausland hatte den Ansporn gegeben, und siehe da! auf einmal ging es auch in Wien. Jeder Erfolg in der Fremde war der Vorläufer eines Wiener Triumphes. 1885 brachte Hellmesberger das Streichquintett. 1886 spielten die Philharmoniker unter Richter die siebente, 1890 die dritte, 1891 die erste, 1892 die noch nirgends aufgeführte achte Symphonie (wieder in c-moll). Auch das Tedeum, das zwischen der siebenten und achten entstanden ist, nahm 1886 von Wien aus den Weg durch das Reich und über den Ozean. Nach einer Aufführung des Tedeums in Linz, die besonders glanzvoll ausgefallen war, fühlte Bruckner tief innigst, wie wohl es tut, in der Heimat geehrt zu sein. Mit sechzig bis siebzig Jahren wußte er endlich, warum er gelebt und wozu er geschaffen hatte.
Noch waren nicht alle Blütenträume gereift; noch hatte er Anfeindungen und Kränkungen zu erfahren; noch war es ihm nicht vergönnt, seine fünfte Symphonie zu hören, und er sollte sterben, ohne sie je gehört zu haben. Dafür kam, wie erwähnt, seine erste jetzt wieder zu Ehren. 1891 verlieh ihm die Universität Wien die Doktorswürde. Der Staat und sein Heimatland Oberösterreich widmeten ihm ein jährliches Gehalt, so daß er es als betagter und schon halb gebrechlicher Mann wenigstens nicht mehr nötig hatte, durch Privatunterricht seine immer noch kargen Einnahmen zu erhöhen. Der Kaiser überließ ihm eine Wohnung in einem hofärarischen Gebäude. Sein Heim, ein rechtes Junggesellenheim – nach seinem eigenen Geständnisse war er vor lauter Musizieren und Komponieren nicht zum Heiraten gekommen –, wurde durch die Fürsorge seiner Freunde und Gönner immer anmutender und behaglicher. Nur daß dies alles ein wenig verspätet war! Denn kaum sah er seinen Ehrgeiz befriedigt und war seine materielle Lage eine anständige geworden, so stürzten Alter und Kränklichkeit um so heftiger über ihn herein, als hätten sie nur darauf gelauert, den stillen Dulder um sein letztes Glück zu betrügen. Er litt an der Wassersucht, und wenn er auch scherzte, er sei froh, daß er das Wasser im Bauch und nicht im Kopf habe, so stand es doch schlimm genug mit ihm: das Wasser drang bis an die Brust und verursachte schwere Atemnot; das Orgelspiel und jede sonstige Aufregung, so auch das Anhören eigener Kompositionen und die Teilnahme an Festlichkeiten, etwa zu seinem siebzigsten Geburtstage, war ihm verboten. Er hielt sich nicht allzu ängstlich an dieses Verbot und schien trotzdem wieder aufzuleben. Aber seine Tage waren gezählt, seine Zeit war erfüllt. Er hatte ja alle die Werke geschaffen, durch die er weiter wirken konnte, auch wenn er nicht mehr da war.
Wer heute nach Wien kommt, wird es nicht glauben wollen, wie man dort einst an ihm gehandelt. Heute sind seine Symphonien in Wien volkstümlich. Wenn die Philharmoniker oder der Konzertverein oder das Tonkünstlerorchester Bruckner spielen, so ist ein ausverkaufter Saal in der Regel gesichert, und die Aufführung wird zum Musikfest, so andächtig ist die Stimmung der Zuhörer, so hingebungsvoll der Eifer der Mitwirkenden. Aber auch in Konzerten, die ausdrücklich als »volkstümliche« bezeichnet sind, auch vor der Schuljugend und der Arbeiterschaft Wiens bewährt Bruckner seine unwiderstehliche Kraft. Sogar das Zöglingsorchester der staatlichen Musikakademie spielt öffentlich Bruckner. Seine Apostel in Österreich sind seine ehemaligen Schüler August Göllerich und Ferdinand Löwe. Göllerich, vom Meister selbst, dem er innig befreundet war, zu seinem Biographen bestimmt, von den Erben mit der Durchforschung des gesamten künstlerischen Nachlasses betraut, leitet die Festkonzerte der oberösterreichischen Brucknerstiftung: alljährlich ist ein großes Werk Bruckners in Linz, der Hauptstadt Oberösterreichs und der langjährigen Stätte Brucknerschen Lebens und Wirkens, würdig aufzuführen. Auch Löwe war schon als Jüngling im Wiener Akademischen Wagner-Verein dem Meister persönlich nahe gekommen. Anlage und Entwicklung befähigten ihn in besonderem Maße, die Schöpfungen Bruckners so aufzufassen und darzustellen, daß alle Schroffheiten gemildert, alle Unebenheiten ausgeglichen erschienen. So war gerade er berufen, die wienerische Volkstümlichkeit Bruckners anzubahnen. Im Jahre 1898 kam er mit dem Kaim-Orchester aus München nach Wien und spielte den Wienern zum ersten Male die fünfte Symphonie vor – der Eindruck war unbeschreiblich. Durch diese »sensationelle« Aufführung eroberte er sich erst den ihm gebührenden Platz in der Heimat. Fünf Jahre später erlebten die Wiener die von ihm geleitete Uraufführung der Neunten im Konzertverein – die Hörer waren überwältigt. Als 1905 der Allgemeine Deutsche Musikverein seine 41. Tonkünstlerversammlung in Graz abhielt, zum ersten Male in österreichischen Landen, da erklärte Löwe, das Amt des Festdirigenten nur dann zu übernehmen, wenn er auch Bruckner zu dirigieren habe. Er wählte die Achte und erlebte die Genugtuung, daß sie widerspruchslos als die glanzvollste Darbietung, als der strahlende Gipfel des Festes anerkannt wurde. So sind die Namen Löwe und Bruckner untrennbar verbunden. Und diese Siege wollen etwas bedeuten. Denn just die Fünfte, Achte und Neunte sind, abgesehen von den Scherzi, Kompositionen, mit denen nicht zu spaßen ist, prunkhaft feierliche Kompositionen, die mit »Orgelton und Glockenklang« einherbrausen und ein gedankenloses Schwelgen, einen bloß träumerischen Genuß gar nicht aufkommen lassen. Sie verlangen Arbeit beim Genusse, und solche Arbeit leistet der Wiener noch weniger gern als die übrige Menschheit. Aber Wien ist heute die Brucknerstadt, und nur Beethoven und Richard Wagner schlagen dort so elementar ein wie Bruckner. Es muß also etwas Elementares, Zwingendes in diesen Werken sein. Es spricht aus ihnen mit überzeugender Gebärde jene Persönlichkeit, die vordem an der Orgel ihres Eindruckes unfehlbar sicher war. Mit einem großen Redner hat ein Wiener Kritiker nach einer Aufführung der Fünften den Symphoniker Bruckner verglichen, und was derselbe Schriftsteller als vorübergehende »Aphasie« dieses Redners bezeichnet, gewisse Stockungen des Redeflusses, gewisse Stauungen der melodischen Strömung, das hat bei anderen, ernst zu nehmenden Beurteilern die liebevollste Auslegung erfahren. Es gibt Brucknerianer, so überschwenglich wie nur je die Anhängerschaft irgendeines Großen; und auch die nie Begeisterten wissen heute, daß sie der urwüchsigen Begabung und dem außerordentlichen Können des originellen Mannes Gerechtigkeit schuldig sind. Mit einem Wort: Bruckner ist an der Tagesordnung. Es gibt keine deutsche Musikgesellschaft, die seinen Namen nicht ehren würde. Neben Nikisch treten aus der Dirigentenschar des Deutschen Reiches hauptsächlich Karl Muck und Franz Mikorey als Brucknerdirigenten hervor. Sogar Richard Strauß, den seine Eigenart eher von Bruckner trennt als mit ihm verbindet, hat nicht selten und bei festlichen Anlässen Bruckner dirigiert. Mit vorsichtiger Einschränkung kann man endlich auch von einer Schule Bruckners unter den Komponisten reden: sein Schüler Gustav Mahler war unverkennbar von ihm beeinflußt, sein Landsmann Josef Reiter zeigt wesensverwandte Züge; Fritz Klose, Guido Peters, Roderich Mojsisovics, Kamillo Horn, Max Oberleithner, Felix Weingartner wandeln in ihren symphonischen Werken nicht selten – mehr oder weniger bewußt und nachdrücklich – auf Brucknerschen Spuren. Der Musikalienhandel, der sich früher kaum an Bruckner heranwagte, macht jetzt mit ihm gute Geschäfte; die zum Teil überaus schwierigen zwei- und vierhändigen Klavierauszüge von Josef und Franz Schalk, Ferdinand Löwe, August Stradal, Cyrill Hynais werden fleißig gekauft und gründlich studiert. Auch handliche Studienpartituren wurden auf den Markt gebracht; ebenso die Klavierauszüge kleinerer Brucknerscher Chorwerke, die keineswegs zu seinen bedeutendsten Schöpfungen zählen und sich dennoch steigender Beliebtheit erfreuen. Was hätte der allzu Bescheidene, in Demut Gefaßte Schöneres erhoffen mögen?
Nur daß dies alles verspätet kam! Am 11. Oktober 1896 hat der einzigartige Künstler der Welt Lebewohl gesagt. Das ganze musikalische Wien war bei der Leichenfeier, auch Brahms, den ein kindisch-boshaftes Parteiwesen hartnäckig gegen ihn ausspielte. In der Stiftskirche zu St. Florian wurde die irdische Hülle, dem Wunsche des Verstorbenen gemäß, zur letzten Ruhe gebettet. Zwei Denkmäler, im Stadtparke und im Arkadenhofe der Universität, erinnern die Wiener an den Großen, der unerkannt unter ihnen gewandelt.