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Kürzlich hatte der siegreiche König von England Heinrich, der achte dieses Namens, ein mit allen Tugenden eines hervorragenden Fürsten gezierter Herrscher, einige nicht belanglose Meinungsverschiedenheiten mit Karl, dem erhabenen König von Kastilien. Zu den Verhandlungen darüber und zur Beilegung dieser Streitigkeiten schickte mich König Heinrich als Abgesandten nach Flandern, und zwar zusammen mit dem unvergleichlichen Cuthbert Tunstall, den der König erst kürzlich unter überaus starkem und allgemeinem Beifall mit dem Amte des Archivars betraut hat. Über seine Vorzüge will ich nichts sagen, nicht als ob ich fürchtete, infolge unserer Freundschaft könnte mein Urteil zu wenig den Tatsachen entsprechen, sondern weil seine Tüchtigkeit und Gelehrsamkeit größer ist, als ich sie rühmen könnte, und außerdem überall bekannter und berühmter, als daß sie noch gerühmt zu werden brauchte, ich müßte denn, wie man sagt, die Sonne mit der Laterne zeigen wollen. In Brügge trafen wir – so war es verabredet – die Beauftragten des Königs Karl, alles treffliche Männer. Unter ihnen befand sich der Präfekt von Brügge, ein hochangesehener Mann, der Führer und das Haupt der Abordnung; ihr Sprecher und ihre Seele jedoch war Georg Temsicius, der Propst von Cassel, ein Redner von einer nicht nur erworbenen, sondern auch angeborenen Beredsamkeit, außerdem ein überaus erfahrener Jurist und im Verhandeln ein vortrefflicher Meister durch seine Begabung und beständige Praxis. Ein und das andere Mal kamen wir zusammen, ohne in gewissen Fragen eine rechte Einigung zu erzielen. Da verabschiedeten sich die anderen für einige Tage von uns und reisten nach Brüssel, um sich bei ihrem Fürsten Bescheid zu holen. Inzwischen begab ich mich – die Geschäfte brachten es so mit sich – nach Antwerpen. Während meines Aufenthaltes dort kam häufig außer anderen, aber immer als liebster Besucher, Peter Ägid aus Antwerpen zu mir. Er genießt großes Vertrauen bei seinen Landsleuten und nimmt eine angesehene Stellung ein, verdient aber die angesehenste. Man weiß nämlich nicht, wodurch sich der junge Mann mehr auszeichnet, ob durch seine Bildung oder seinen Charakter; ist er doch ein sehr guter Mensch und zugleich ein großer Gelehrter, außerdem ein Mann von lauterer Gesinnung gegen alle, seinen Freunden gegenüber aber von solcher Herzlichkeit, Liebe, Treue und aufrichtigen Neigung, daß man kaum einen oder den anderen irgendwo findet, den man als einen ihm in jeder Beziehung gleichwertigen Freund bezeichnen möchte. Er besitzt eine seltene Bescheidenheit; niemandem liegt Verstellung so fern wie ihm; niemand ist schlichter und zugleich klüger. Ferner kann er sich so gefällig und harmlos-witzig unterhalten, daß der so angenehme Umgang und die so liebe Plauderei mit ihm zu einem großen Teile mich die Sehnsucht nach der Heimat und dem heimischen Herd, nach meiner Frau und meinen Kindern leichter ertragen ließ; denn schon damals war ich über vier Monate von daheim fort, und in überaus beängstigender Weise quälte mich das Verlangen, sie wiederzusehen.
Eines Tages hatte ich in der wunderschönen und vielbesuchten Liebfrauenkirche am Gottesdienst teilgenommen und schickte mich an, nach Beendigung der Feier von dort in meine Herberge zurückzukehren, da sehe ich Peter zufällig sich mit einem Fremden unterhalten, einem älteren Manne mit sonnverbranntem Gesicht und langem Bart. Der Mantel hing ihm nachlässig von der Schulter herab, und seinem Aussehen und seiner Kleidung nach war er ein Seemann. Sobald mich Peter erblickte, kam er auf mich zu und grüßte. Als ich antworten wollte, nahm er mich ein wenig beiseite und fragte: »Siehst du den da?« Dabei zeigte er auf den, mit dem ich ihn hatte sprechen sehen. »Den wollte ich gerade jetzt zu dir bringen.« – »Er wäre mir sehr willkommen gewesen«, antwortete ich, »und zwar deinetwegen.« – »Nein«, sagte er, »vielmehr seinetwegen, wenn du den Mann nur schon kenntest. Denn niemand in der ganzen Welt kann dir heutzutage so viel von unbekannten Menschen und Ländern erzählen, und, wie ich weiß, bist du ja ganz versessen darauf, so etwas zu hören.« – »Also war meine Vermutung«, sagte ich, »gar nicht so falsch. Denn gleich auf den ersten Blick habe ich ihn als Seemann erkannt.« – »Und doch hast du dich stark geirrt; er fährt wenigstens nicht als Palinurus, sondern als Odysseus oder vielmehr als Plato. Denn dieser Raphael – so heißt er nämlich, und sein Familienname ist Hythlodeus – ist nicht wenig bewandert im Lateinischen und sehr bewandert im Griechischen, und zwar hat er die griechische Sprache deshalb mehr getrieben als die der Römer, weil er sich ganz der Philosophie gewidmet und erkannt hatte, daß auf dem Gebiete der Philosophie im Lateinischen nichts von irgendwelcher Bedeutung vorhanden ist außer einigem von Seneca und Cicero. Dann überließ er sein vom Vater ererbtes Gut, in dem er wohnte, seinen Brüdern, schloß sich – er ist nämlich Portugiese – dem Amerigo Vespucci an, um sich die Welt anzusehen, und war dessen ständiger Begleiter auf den drei letzten seiner vier Seereisen, die man schon hier und da gedruckt lesen kann. Von der letzten jedoch kehrte er nicht mit ihm zurück. Er bemühte sich vielmehr darum und erpreßte von Amerigo die Erlaubnis, zu jenen vierundzwanzig zu gehören, die am Ende der letzten Seereise in einem Kastell zurückgelassen wurden. So blieb er denn dort zurück, entsprechend seiner Sinnesart, die mehr nach einem Aufenthalte in fremdem Lande als nach einem Grabmale verlangt. Führt er doch dauernd solche Sprüche im Munde wie ›Unter dem Himmelsgewölbe ruht, wer keine Urne hat‹ und ›Zum Himmel ist es von überall her gleich weit‹. Dieser Wagemut wäre ihm ohne Gottes gnädigen Beistand nur allzu teuer zu stehen gekommen. Nach Vespuccis Abreise durchstreifte er dann zusammen mit fünf Kameraden aus dem Kastell zahlreiche Länder und gelangte schließlich durch einen wunderbaren Zufall nach Taprobane und von dort nach Caliquit. Hier hatte er das Glück, portugiesische Schiffe anzutreffen, auf denen er schließlich wider Erwarten heimkehrte.«
Als Peter mit seiner Erzählung fertig war, dankte ich ihm für seine Gefälligkeit und seine Bemühungen, mir die Unterhaltung mit einem Manne zu ermöglichen, die mir seiner Meinung nach willkommen war, und wandte mich Raphael zu. Wir begrüßten einander, wechselten jene bei der ersten Begegnung mit Fremden allgemein üblichen Redensarten und gingen dann in meine Wohnung. Hier setzten wir uns im Garten auf eine Rasenbank und fingen an, miteinander zu plaudern.
Da erzählte uns denn Raphael, wie er es zusammen mit seinen im Kastell zurückgebliebenen Kameraden nach Vespuccis Abreise angestellt habe, durch Freundlichkeiten und Schmeicheleien allmählich die Zuneigung der Eingeborenen zu gewinnen, nicht nur ohne Gefahr, sondern auch in Freundschaft unter ihnen zu leben und damit auch noch die Gunst und Wertschätzung eines Fürsten – sein und seines Landes Name sei ihm entfallen – zu erlangen. In seiner Freigebigkeit – so erzählte er weiter – versah dieser ihn und fünf seiner Kameraden reichlich mit Lebensmitteln und Geld für eine Expedition, die sie dann zu Wasser mit Fahrzeugen und zu Lande mit Wagen unternahmen und auf der sie ein höchst zuverlässiger Führer zu anderen Fürsten geleitete, an die sie warme Empfehlungsschreiben mithatten. Dann gelangten sie nach einer Reise von vielen Tagen zu festen Plätzen, Städten und gar nicht schlecht eingerichteten volkreichen Staaten. Zwar liegen unter dem Äquator, wie Raphael erzählte, und von da aus auf beiden Seiten etwa bis zur Grenze der Sonnenbahn wüste und der dörrenden Sonnenglut dauernd ausgesetzte Einöden: Unwirtlichkeit ringsum und ein trostloser Anblick, abschreckend alles und unkultiviert, Schlupfwinkel von wilden Tieren und Schlangen oder schließlich auch von Menschen, die Bestien weder an Wildheit noch an Gefährlichkeit nachstehen. Fährt man aber weiter, so wird alles allmählich milder: das Klima weniger rauh, die Erde von einladendem Grün schimmernd, zahmer die Natur der Lebewesen. Endlich bekommt man Menschen, Städte und feste Plätze zu Gesicht, und unter ihnen herrscht ein ununterbrochener Handelsverkehr, nicht nur untereinander und mit den Nachbarn, sondern auch mit fernen Völkern, und zwar zu Wasser und zu Lande.
Dadurch bot sich für Raphael die Gelegenheit, viele Länder diesseits und jenseits des Meeres zu besuchen; denn jedes Schiff, das ausgerüstet wurde, nahm ihn und seine Begleiter sehr gern mit. Wie er erzählte, hatten die Schiffe, die sie in den ersten Ländern zu sehen bekamen, flache Kiele und Segel aus zusammengenähten Papyrusblättern oder aus Weidengeflecht, anderswo auch aus Häuten. Auf der Weiterfahrt begegneten sie Schiffen mit spitzgeschnäbelten Kielen und Segeln aus Hanf; am Ende war alles so wie bei uns. Die Seeleute waren nicht unerfahren in Meeres- und Himmelskunde. Aber einen außerordentlichen Dank erntete Raphael dafür, daß er sie im Gebrauch des Kompasses unterwies, den sie bis dahin überhaupt noch nicht kannten. Deshalb hatten sie sich auch nur zaghaft ans Meer gewöhnt und vertrauten sich ihm nicht ohne Grund nur im Sommer an. Jetzt aber achten die Seeleute im Vertrauen auf den Magnetstein die Gefahren des Winters gering, allerdings mehr sorglos als gefahrlos. Daher besteht die Gefahr, diese Erfindung, die ihnen, wie man glaubte, großen Vorteil bringen werde, könne infolge ihrer Unvorsichtigkeit große Schäden verursachen.
Was Raphael an den einzelnen Orten, wie er erzählte, gesehen hat, das alles hier mitzuteilen, würde zu weit führen und ist auch nicht der Zweck dieses Buches. Vielleicht werde ich es einmal an anderer Stelle erzählen, besonders alles das, dessen Kenntnis von Nutzen ist, wie z. B. in erster Linie die richtigen und klugen politischen Maßnahmen, die er bei gesitteten Völkern wahrgenommen hat. In betreff dieser Dinge befragten wir ihn nämlich am meisten, und über sie sprach er auch am liebsten, während wir es vorläufig unterließen, uns nach Ungeheuern zu erkundigen, dem Langweiligsten, das es gibt. Denn Scyllen und räuberische Celänonen, menschenfressende Lästrygonen und dergleichen abscheuliche Ungeheuer sind fast überall zu finden, aber Bürger, die in einem vernünftig und weise geleiteten Staate leben, wohl nirgends. Wenn er nun aber auch bei jenen unbekannten Völkern viele verkehrte Einrichtungen wahrgenommen hat, so hat er doch auch nicht weniges aufgezählt, was als Beispiel dienen kann, die Fehler unserer Städte, Nationen, Völker und Herrschaften zu verbessern, und worüber ich, wie gesagt, an anderer Stelle einmal sprechen muß. Jetzt will ich nur seinen Bericht über Sitten und Einrichtungen der Utopier wiedergeben, wobei ich jedoch das Gespräch vorausschicke, in dessen Verlauf ihn eine Wendung dazu veranlaßte, diesen Staat zu erwähnen.
Mit großer Klugheit hatte Raphael aufgezählt, was hier und dort falsch war – sicherlich war es sehr viel auf beiden Seiten des Ozeans –, dann aber auch, welche Maßnahmen bei uns und ebenso bei jenen anderen verständiger sind. Er hatte nämlich Sitten und Einrichtungen eines jeden Volkes so fest im Gedächtnis, als hätte er an jedem von ihm besuchten Orte sein ganzes Leben zugebracht. Da staunte Peter und meinte: »Ich muß mich in der Tat wundern, mein Raphael, daß du nicht in die Dienste eines Königs trittst; denn das weiß ich zur Genüge: es gibt keinen, dem du nicht sehr willkommen wärest, da du es mit diesem deinen Wissen und dieser deiner Kenntnis von Gegenden und Menschen verstehst, ihn nicht bloß zu unterhalten, sondern auch durch Beispiele zu belehren und ihm mit deinem Rat zu helfen. Auf diese Weise könntest du für dich selbst ausgezeichnet sorgen und zugleich allen deinen Angehörigen sehr nützen.«
»Was meine Angehörigen betrifft«, erwiderte Raphael, »so kümmern die mich wenig; ihnen gegenüber habe ich nämlich, wie ich glaube, meine Pflicht so ziemlich erfüllt. Denn was andere erst, wenn sie alt und krank sind, abtreten, ja sogar auch dann nur ungern, wenn sie es nicht länger behalten können, das habe ich unter meine Verwandten und Freunde verteilt, und zwar zu einer Zeit, da ich nicht mehr bloß gesund und frisch war, sondern sogar schon in jungen Tagen. Sie müßten also, meine ich, mit meiner Freigebigkeit eigentlich zufrieden sein und dürften nicht außerdem noch verlangen und erwarten, daß ich mich ihretwegen einem König als Knecht verdinge.«
»Halt!« sagte da Peter. »Ich meinte, du solltest nicht ein Knecht, sondern ein Diener von Königen werden.«
»Das ist nur ein ganz kleiner Unterschied«, antwortete Raphael.
»Wie du die Sache auch nennen magst«, sagte da Peter, »ich bin jedenfalls der Ansicht, daß das der Weg ist, nicht nur anderen in persönlichem und öffentlichem Interesse zu nützen, sondern auch deine eigene Lage glücklicher zu gestalten.«
»Glücklicher? auf einem Wege, vor dem mir graut?« fragte Raphael. »Jetzt lebe ich, ganz wie es mir beliebt, und das ist, wie ich sicher vermute, bei den wenigsten Fürstendienern der Fall. Es gibt ja auch genug Leute, die sich um die Freundschaft der Mächtigen bemühen. Da sollte man es nicht für einen großen Verlust halten, wenn diese auf mich und den einen oder den anderen meinesgleichen verzichten müssen.«
»Es ist klar, mein Raphael«, erwiderte ich, »daß du weder nach Reichtum noch nach Macht verlangst. Und fürwahr, einen Mann von dieser deiner Gesinnung verehre und achte ich nicht weniger als irgendeinen der Mächtigsten. Indessen wirst du, wie mir scheint, durchaus deiner selbst und deiner edlen Gesinnung, ja eines wahren Philosophen würdig handeln, wenn du es fertig brächtest, selbst unter Verzicht auf etwas persönliche Bequemlichkeit, deine Begabung und deinen Eifer dem Wohle des Gemeinwesens zu widmen. Das könntest du aber niemals mit so großem Erfolge tun, als wenn du zum Rate eines großen Fürsten gehörtest und ihm richtige und gute Ratschläge erteiltest, und das würdest du ja, wie ich sicher weiß, tun. Denn ein Fürst ist gleichsam ein nie versiegender Quell, von dem sich ein Sturzbach alles Guten und Bösen auf das ganze Volk ergießt. Dein theoretisches Wissen aber ist so vollkommen, daß du gar keine große praktische Erfahrung nötig hast, und deine Lebenserfahrung anderseits so groß, daß du gar kein theoretisches Wissen brauchst, um einen ausgezeichneten Ratgeber jedes beliebigen Königs abzugeben.«
»Da befindest du dich in einem doppelten Irrtum, mein lieber Morus«, erwiderte Raphael, »einmal hinsichtlich meiner und sodann hinsichtlich der Sache selbst. Ich besitze nämlich gar nicht die Fähigkeit, die du mir zuschreibst, und auch wenn ich sie im höchsten Grade besäße, würde ich doch selbst durch den Verzicht auf meine Muße den Interessen des Staates in keinerlei Weise dienen. Erstens nämlich beschäftigen sich die Fürsten selbst alle zumeist lieber mit militärischen Dingen, von denen ich nichts verstehe und auch nichts verstehen möchte, als mit den segensreichen Künsten des Friedens, und weit größer ist ihr Eifer, sich durch Recht oder Unrecht neue Reiche zu erwerben als die schon erworbenen gut zu verwalten. Ferner ist von allen Ratgebern der Könige jeder entweder in Wahrheit so weise, daß er den Rat eines anderen nicht braucht, oder er dünkt sich so weise, daß er ihn nicht gutheißen mag. Dabei pflichten sie unter schmarotzerischen Schmeicheleien den ungereimtesten Äußerungen derer bei, die bei dem Fürsten in höchster Gunst stehen und die sie sich deshalb durch ihre Zustimmung verpflichten wollen. Und gewiß ist es ganz natürlich, daß einem jeden seine eigenen Einfälle zusagen. So findet der Rabe ebenso wie der Affe am eigenen Jungen seinen Gefallen. Wenn aber jemand im Kreise jener Leute, die auf fremde Meinungen eifersüchtig sind oder die eigenen vorziehen, etwas vorbringen sollte, das, wie er gelesen hat, zu anderer Zeit vorgekommen ist oder das er anderswo gesehen hat, so benehmen sich die Zuhörer gerade so, als ob der ganze Ruf ihrer Weisheit gefährdet wäre und als ob man sie danach für Narren halten müßte, wenn sie nicht imstande sind, etwas zu finden, was sie an dem von den anderen Gefundenen schlecht machen können. Wenn sie keinen anderen Ausweg wissen, so nehmen sie ihre Zuflucht zu Redensarten wie: So hat es unseren Vorfahren gefallen; wären wir doch ebenso klug wie sie! Und nach einem solchen Ausspruch setzen sie sich hin, als hätten sie damit die Sache völlig und trefflich erledigt. Gerade als ob es eine große Gefahr bedeutete, wenn sich jemand dabei ertappen läßt, in irgend etwas gescheiter zu sein als seine Vorfahren! Und doch lassen wir alle ihre guten Einrichtungen mit großem Gleichmut gelten; wenn sie aber bei irgend etwas hätten klüger zu Werke gehen können, so ergreifen wir sofort gierig diese Gelegenheit und halten hartnäckig daran fest. Das ist auch die Quelle dieser hochmütigen, sinnlosen und eigensinnigen Urteile, auf die ich schon oft gestoßen bin, besonders aber auch einmal in England.«
»Hör einmal!« rief ich da, »du bist auch bei uns gewesen?«
»Allerdings«, antwortete er, »und zwar habe ich mich dort einige Monate aufgehalten, nicht lange nach jener Niederlage, die den Bürgerkrieg Westenglands gegen den König durch eine beklagenswerte Niedermetzelung der Aufständischen gewaltsam beendete. In jener Zeit hatte ich dem ehrwürdigen Vater Johannes Morton, dem Erzbischof von Canterbury, Kardinal und damals auch noch Lordkanzler von England, viel zu danken, einem Manne, lieber Peter – dem Morus erzähle ich damit nichts Neues –, den man nicht weniger wegen seiner Klugheit und Tüchtigkeit als wegen seines Ansehens verehren muß. Er war von mittlerer Statur, sein Rücken war von seinem, wenn auch hohen Alter noch nicht gebeugt; seine Miene flößte Ehrfurcht, nicht Scheu ein. Im Verkehr war er nicht unzugänglich, aber doch ernst und würdevoll. Er fand ein Vergnügen daran, Bittsteller bisweilen etwas schroffer anzureden, aber nicht etwa in böser Absicht, sondern um die Sinnesart und Geistesgegenwart eines jeden auf die Probe zu stellen. Über letztere Eigenschaft, die ihm ja selber gleichsam angeboren war, freute er sich stets, wofern keine Unverschämtheit damit verbunden war, und sie schätzte er als geeignet zu der Führung der Geschäfte. Seine Rede zeugte von feiner Bildung und Energie; seine Rechtserfahrung war groß, seine Begabung unvergleichlich, sein Gedächtnis geradezu fabelhaft stark. Diese ausgezeichneten Naturanlagen vervollkommnete er noch durch Studium und Übung. Seinen Ratschlägen schenkte der König, wie es schien, während meiner Anwesenheit das größte Vertrauen, und sie waren eine starke Stütze für den Staat. Denn in frühester Jugend und gleich von der Schule weg an den Hof gebracht, war er sein ganzes Leben lang in den wichtigsten Geschäften tätig gewesen und von mannigfachen Schicksalsstürmen beständig hin und her geworfen worden, und dadurch hatte er sich unter vielen großen Gefahren eine Lebensklugheit erworben, die nur schwer wieder verlorengeht, wenn sie auf diese Weise gewonnen wird.
Als ich eines Tages an seiner Tafel saß, wollte es der Zufall, daß einer von euren Laienjuristen zugegen war. Dieser begann – ich weiß nicht, wie er darauf kam –, eifrig jene strenge Justiz zu loben, die man damals in England Dieben gegenüber übte. Wie er erzählte, wurden allenthalben bisweilen zwanzig an einem Galgen aufgehängt. Da nur sehr wenige der Todesstrafe entgingen, wundere er sich, so meinte er, um so mehr, welch widriges Geschick daran schuld sei, daß sich trotzdem noch überall so viele herumtrieben. Da sagte ich – vor dem Kardinal wagte ich es nämlich, offen meine Meinung zu äußern –: »Da brauchst du dich gar nicht zu wundern; denn diese Bestrafung der Diebe geht über das, was gerecht ist, hinaus und liegt nicht im Interesse des Staates.
Als Sühne für Diebstähle ist die Todesstrafe nämlich zu grausam, und, um vom Stehlen abzuschrecken, ist sie trotzdem unzureichend. Denn einerseits ist einfacher Diebstahl doch kein so schlimmes Verbrechen, daß es mit dem Tode gebüßt werden müßte, anderseits aber gibt es keine so harte Strafe, diejenigen von Räubereien abzuhalten, die kein anderes Gewerbe haben, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Wie mir daher scheint, folgt ihr in dieser Sache – wie ein guter Teil der Menschheit übrigens auch – dem Beispiel der schlechten Lehrer, die ihre Schüler lieber prügeln als belehren. So verhängt man harte und entsetzliche Strafen über Diebe, während man viel eher dafür hätte sorgen sollen, daß sie ihren Unterhalt haben, damit sich niemand der grausigen Notwendigkeit ausgesetzt sieht, erst zu stehlen und dann zu sterben.«
»Dafür ist ja doch zur Genüge gesorgt«, erwiderte er. »Wir haben ja das Handwerk und den Ackerbau. Beides würde sie ernähren, wenn sie nicht aus freien Stücken lieber Gauner sein wollten.«
»Halt, so entschlüpfst du mir nicht!« antwortete ich. »Zunächst wollen wir nicht von denen reden, die, wie es häufig vorkommt, aus inneren oder auswärtigen Kriegen als Krüppel heimkehren wie vor einer Reihe von Jahren aus der Schlacht gegen die Cornwaller und unlängst aus dem Kriege mit Frankreich. Für den Staat oder für den König opfern sie ihre gesunden Glieder und sind nun zu gebrechlich, um ihren alten Beruf wieder auszuüben, und zu alt, um sich für einen neuen auszubilden. Diese Leute wollen wir also, wie gesagt, beiseite lassen, da es nur von Zeit zu Zeit zu einem Kriege kommt, und betrachten wir nur das, was tagtäglich geschieht!
Da ist zunächst die so große Zahl der Edelleute. Selber müßig, leben sie wie die Drohnen von der Arbeit anderer, nämlich von der der Bauern auf ihren Gütern, die sie bis aufs Blut aussaugen, um ihre persönlichen Einkünfte zu erhöhen. Das ist nämlich die einzige Art von Wirtschaftlichkeit, die jene Menschen kennen; im übrigen sind sie Verschwender, und sollten sie auch bettelarm dadurch werden. Außerdem aber scharen sie einen gewaltigen Schwarm von Tagedieben um sich, die niemals ein Handwerk gelernt haben, mit dem sie sich ihr Brot verdienen könnten. Diese Leute wirft man sofort auf die Straße, sobald der Hausherr stirbt oder sie selbst krank werden; denn lieber füttert man Faulenzer durch als Kranke, und oft ist auch der Erbe gar nicht in der Lage, die väterliche Dienerschaft weiter zu halten. Inzwischen leiden jene Menschen tapfer Hunger oder treiben tapfer Straßenraub. Was sollten sie denn sonst auch tun? Haben nämlich erst einmal ihre Kleider und ihre Gesundheit durch das Herumstrolchen auch nur ein wenig gelitten, so mag sie, die infolge ihrer Krankheit von Schmutz starren und in Lumpen gehüllt sind, kein Edelmann mehr in Dienst nehmen. Aber auch die Bauern getrauen es sich nicht; denn sie wissen ganz genau: einer, der in Nichtstun und genießerischem Leben groß geworden und gewohnt ist, mit Schwert und Schild einherzustolzieren, mit von Eitelkeit umnebelter Miene auf seine gesamte Umgebung herabzublicken und jedermann im Vergleich mit sich zu verachten, eignet sich keineswegs dazu, einem armen Manne mit Hacke und Spaten für geringen Lohn und karge Kost treu zu dienen.«
»Und doch müssen wir gerade diese Menschenklasse ganz besonders hegen und pflegen«, erwiderte der Rechtsgelehrte. »Denn gerade auf diesen Männern, die mehr Mut und Edelsinn besitzen als Handwerker und Landleute, beruht die Kraft und Stärke unseres Heeres, wenn es einmal nötig ist, sich im Felde zu schlagen.«
»In der Tat«, antwortete ich, »ebenso gut könntest du sagen, um des Krieges willen müsse man die Diebe hegen und pflegen; denn an ihnen wird es euch ganz gewiß nie fehlen, solange ihr diese Menschenklasse noch habt. Und gewiß, Räuber sind keine feigen Soldaten und die Soldaten nicht die feigsten unter den Räubern: so gut passen diese Berufe zueinander. Indessen ist diese weitverbreitete Plage keine Eigentümlichkeit eures Volkes; sie ist nämlich fast allen Völkern gemeinsam. Frankreich z. B. sucht eine noch andere, verderblichere Pest heim: das ganze Land ist auch im Frieden – wenn jener Zustand überhaupt Frieden ist – von Söldnern überschwemmt und bedrängt. Sie sind aus demselben Grunde da, der euch bestimmt hat, die faulen Dienstleute hierzulande durchzufüttern, weil nämlich närrische Weise der Ansicht gewesen sind, das Staatswohl erfordere die ständige Bereitschaft einer starken und zuverlässigen Schutztruppe besonders altgedienter Soldaten; denn zu Rekruten hat man kein Vertrauen. Daher müssen sie schon deshalb auf einen Krieg bedacht sein, um geübte Soldaten zur Hand zu haben, und sie müssen sich nach Menschen umsehen, die kostenlos abgeschlachtet werden können, damit nicht, wie Sallust so fein sagt, Hand und Herz durch Untätigkeit zu erschlaffen beginnen.
Wie verderblich es aber ist, derartige Bestien zu füttern, hat nicht bloß Frankreich zu seinem eigenen Schaden erfahren; auch das Beispiel der Römer, Karthager, Syrer und vieler anderer Völker beweist es. Bei diesen allen haben die stehenden Heere bald bei dieser und bald bei jener Gelegenheit nicht bloß die Regierung gestürzt, sondern auch das flache Land und sogar die festen Städte zugrunde gerichtet. Aber wie unnötig ist solch ein stehendes Heer! Das kann man schon daraus ersehen, daß auch die französischen Söldner, die doch durch und durch geübte Soldaten sind, sich nicht rühmen können, im Kampfe mit euren Aufgeboten sehr oft den Sieg davongetragen zu haben. Ich will jetzt nichts weiter sagen; es könnte sonst den Anschein erwecken, als wollte ich euch, die ihr hier zugegen seid, schmeicheln. Aber man kann gar nicht glauben, daß sich eure Handwerker in der Stadt und eure ungeschlachten Bauern auf dem Lande vor dem faulen Troß der Edelleute sehr fürchten außer denjenigen, denen es infolge ihrer körperlichen Schwäche an Kraft und Kühnheit fehlt oder deren Energie durch häusliche Not geschwächt wird. So wenig ist also zu befürchten, daß diese Leute etwa verweichlicht werden könnten, wenn sie für einen nützlichen Lebensberuf ausgebildet und in Männerarbeit geübt werden. Vielmehr erschlaffen jetzt ihre gesunden und kräftigen Körper – die Edelleute geruhen nämlich, nur ausgesuchte Leute zugrunde zu richten – durch Nichtstun, oder sie werden durch fast weibische Beschäftigung verweichlicht. Auf keinen Fall liegt es, will mir scheinen, – wie es sich auch sonst mit dieser Sache verhalten mag – im Interesse des Staates, nur für den Kriegsfall, den ihr doch nur habt, wenn ihr ihn haben wollt, eine unermeßliche Schar von Menschen dieser Sorte durchzufüttern, die den Frieden so gefährden, auf den man doch um so viel mehr bedacht sein sollte als auf den Krieg.
Und doch ist das nicht der einzige Zwang zum Stehlen. Es gibt noch einen anderen, der euch, wie ich meine, in höherem Grade eigentümlich ist.«
»Welcher ist das?« fragte der Kardinal.
»Eure Schafe«, sagte ich. »Sie, die gewöhnlich so zahm und genügsam sind, sollen jetzt so gefräßig und wild geworden sein, daß sie sogar Menschen verschlingen sowie Felder, Häuser und Städte verwüsten und entvölkern. In all den Gegenden eures Reiches nämlich, wo die feinere und deshalb teurere Wolle gewonnen wird, genügen dem Adel und den Edelleuten und sogar bisweilen Äbten, heiligen Männern, die jährlichen Einkünfte und Erträgnisse nicht mehr, die ihre Vorgänger aus ihren Gütern erzielten. Nicht zufrieden damit, daß sie mit ihrem faulen und üppigen Leben der Allgemeinheit nichts nützen, sondern eher schaden, lassen sie kein Ackerland übrig, zäunen alles als Viehweiden ein, reißen die Häuser nieder, zerstören die Städte, lassen nur die Kirchen als Schafställe stehen und, gerade als ob bei euch die Wildgehege und Parkanlagen nicht schon genug Grund und Boden der Nutzbarmachung entzögen, verwandeln diese braven Leute alle bewohnten Plätze und alles sonst irgendwo angebaute Land in Einöden.
Damit also ein einziger Verschwender, unersättlich und eine grausige Pest seines Vaterlandes, einige tausend Morgen zusammenhängenden Ackerlandes mit einem einzigen Zaun umgeben kann, vertreibt man Pächter von Haus und Hof. Entweder umgarnt man sie durch Lug und Trug oder überwältigt sie mit Gewalt; man plündert sie aus oder treibt sie, durch Gewalttätigkeiten bis zur Erschöpfung gequält, zum Verkauf ihrer Habe. So oder so wandern die Unglücklichen aus, Männer und Weiber, Ehemänner und Ehefrauen, Waisen, Witwen, Eltern mit kleinen Kindern oder mit einer Familie, weniger reich an Besitz als an Zahl der Personen, wie ja die Landwirtschaft vieler Hände bedarf. Sie wandern aus, sage ich, aus ihren vertrauten und gewohnten Heimstätten und finden keinen Zufluchtsort. Ihren gesamten Hausrat, der ohnehin keinen großen Erlös bringen würde, auch wenn er auf einen Käufer warten könnte, verkaufen sie um ein Spottgeld, wenn sie ihn sich vom Halse schaffen müssen. Ist dann der geringe Erlös in kurzer Zeit auf der Wanderschaft verbraucht, was bleibt ihnen dann schließlich anderes übrig, als zu stehlen und am Galgen zu hängen – nach Recht und Gesetz natürlich – oder sich herumzutreiben und zu betteln, obgleich sie auch dann als Vagabunden eingesperrt werden, weil sie herumlaufen, ohne zu arbeiten? Und doch will sie niemand als Arbeiter in Dienst nehmen, so eifrig sie sich auch anbieten. Denn mit der Landarbeit, an die sie gewöhnt sind, ist es vorbei, wo nicht gesät wird; genügt doch ein einziger Schaf- oder Rinderhirt als Aufsicht, um von seinen Herden ein Stück Land abweiden zu lassen, zu dessen Bestellung als Saatfeld viele Hände notwendig waren.
So kommt es auch, daß an vielen Orten die Lebensmittel wesentlich teurer geworden sind. Ja, auch die Wolle ist so im Preis gestiegen, daß eure weniger bemittelten Tuchmacher sie überhaupt nicht mehr kaufen können und dadurch in der Mehrzahl arbeitslos werden. Nachdem man nämlich die Weideflächen so vergrößert hatte, raffte eine Seuche eine unzählige Menge Schafe hinweg, gleich als ob Gott die Habgier der Besitzer hätte bestrafen wollen mit der Seuche, die er unter ihre Schafe sandte und die – so wäre es gerechter gewesen – die Eigentümer selbst hätte treffen müssen. Mag aber auch die Zahl der Schafe noch so sehr zunehmen, der Preis der Wolle fällt nicht, weil der Handel damit, wenn man ihn auch nicht Monopol nennen darf, da ja nicht bloß einer verkauft, sicher doch ein Oligopol ist. Die Schafe befinden sich nämlich fast sämtlich in den Händen einiger weniger, und zwar eben der reichen Leute, die keine Notwendigkeit dazu drängt, eher zu verkaufen, als es ihnen beliebt, und es beliebt ihnen nicht eher, als bis sie beliebig teuer verkaufen können. Wenn ferner auch die übrigen Viehsorten in gleicher Weise im Preise gestiegen sind, so ist dafür derselbe Grund maßgebend, und zwar hierfür erst recht, weil sich nämlich nach Zerstörung der Bauernhöfe und nach Vernichtung der Landwirtschaft niemand mehr mit der Aufzucht von Jungvieh abgibt. Jene Reichen treiben nämlich nur Schafzucht, ziehen aber kein Rindvieh mehr auf. Sie kaufen vielmehr anderswo Magervieh billig auf, mästen es auf ihren Weiden und verkaufen es dann für viel Geld weiter. Und nur deshalb empfindet man, meine ich, den ganzen Schaden dieses Verfahrens noch nicht in vollem Umfange, weil jene bis jetzt die Preise nur dort hochgetrieben haben, wo sie verkaufen. Schaffen sie aber erst einmal eine Zeitlang das Vieh schneller fort, als es nachwachsen kann, so nimmt dann schließlich auch dort, wo es aufgekauft wird, der Bestand allmählich ab, und es entsteht dann durch starken Mangel notwendigerweise eine Notlage. So hat die ruchlose Habgier einiger weniger das, was das ganz besondere Glück dieser eurer Insel zu sein schien, gerade euer Verderben werden lassen. Denn diese Verteuerung der Lebensmittel ist für einen jeden der Anlaß, soviel Dienerschaft wie möglich zu entlassen: wohin, so frage ich, wenn nicht zur Bettelei oder, wozu man ritterliche Gemüter leichter überreden kann, zur Räuberei?
Was soll man aber dazu sagen, daß sich zu dieser elenden Verarmung und Not noch lästige Verschwendungssucht gesellt? Denn sowohl die Dienerschaft des Adels wie die Handwerker und fast ebenso die Bauern selbst, ja, alle Stände überhaupt, treiben viel übermäßigen Aufwand in Kleidung und zu großen Luxus im Essen. Denke ferner an die Kneipen, Bordelle und an die andere Art von Bordellen, ich meine die Weinschenken und die Bierhäuser, schließlich an die so zahlreichen nichtsnutzigen Spiele, wie Würfelspiel, Karten, Würfelbecher, Ball-, Kugel- und Scheibenspiel! Treibt nicht alles dies seine Anbeter geradeswegs zum Raube auf die Straße, sobald sie ihr Geld vertan haben?
Bekämpft diese verderblichen Seuchen! Trefft die Bestimmung, daß diejenigen, die die Gehöfte und ländlichen Siedlungen zerstört haben, sie wieder aufbauen oder denen abtreten, die zum Wiederaufbau bereit sind und bauen wollen! Schränkt jene üblen Aufkäufe der Reichen und die Freiheit ihres Handels ein, der einem Monopol gleichkommt! Die Zahl derer, die vom Müßiggang leben, soll kleiner werden; der Ackerbau soll wieder aufleben; die Wollspinnerei soll wieder in Gang kommen, damit es eine ehrbare Beschäftigung gibt, durch die jene Schar von Tagedieben einen nutzbringenden Erwerb findet, sie, die die Not bisher zu Dieben gemacht hat oder die jetzt Landstreicher oder müßige Dienstmannen sind und ohne Zweifel dereinst Diebe sein werden! Soviel steht fest: wenn ihr diesen Übelständen nicht abhelft, so mögt ihr euch umsonst eurer Gerechtigkeit bei der Bestrafung von Diebstählen rühmen! Eure Justiz blendet wohl durch den Schein, aber gerecht oder nützlich ist sie nicht. Wenn ihr den Menschen eine klägliche Erziehung zuteil werden und ihren Charakter von zarter Jugend an allmählich verderben laßt, um sie offenbar erst dann zu bestrafen, wenn sie als Erwachsene die Schandtaten begehen, die man von Kindheit an bei ihnen dauernd erwartet hat, was tut ihr da anderes, ich bitte euch, als daß ihr sie erst zu Dieben macht und dann bestraft?«
Schon während ich so sprach, hatte sich jener Rechtsgelehrte zum Reden fertig gemacht und sich entschlossen, jene übliche Methode der Schuldisputanten anzuwenden, die sorgfältiger wiederholen als antworten; in dem Grade macht für sie ihr Gedächtnis einen guten Teil ihres Ruhmes aus. »Was du da sagst, klingt in der Tat recht hübsch«, erwiderte er. »Freilich darf man nicht vergessen, daß du als Fremder über diese Dinge mehr nur etwas hast hören als genau erforschen können, was ich mit wenigen Worten beweisen werde. Und zwar will ich zuerst deine Ausführungen der Reihe nach durchgehen; sodann will ich zeigen, worin du dich infolge von Unkenntnis unserer Verhältnisse getäuscht hast; zum Schluß will ich alle deine Thesen entkräften und widerlegen.
Um also mit dem ersten Teile meines Versprechens zu beginnen, so hast du, wie mir scheint, ...«
»Still!« rief da der Kardinal. »Da du nämlich so anfängst, wirst du, wie mir scheint, nicht mit einigen wenigen Worten nur antworten wollen. Deshalb soll dir für den Augenblick die Mühe zu antworten erspart bleiben. Wir wollen dir jedoch diese Verpflichtung uneingeschränkt für eure nächste Zusammenkunft aufheben, die ich schon morgen stattfinden lassen möchte, falls ihr, du und Raphael, nichts anderes vorhaben solltet. Inzwischen aber hätte ich von dir, mein Raphael, sehr gern gehört, warum du der Ansicht bist, Diebstahl sei nicht mit dem Tode zu bestrafen, und welche andere Strafe du selbst vorschlägst, die mehr dem öffentlichen Interesse entspricht; denn dafür, den Diebstahl einfach zu dulden, bist du doch gewiß auch nicht. Wenn man aber jetzt sogar trotz der Lebensgefahr das Stehlen nicht läßt, welche Gewalt oder welche Befürchtung könnte dann die Verbrecher abschrecken, nachdem ihnen erst einmal ihr Leben gesichert ist? Würden sie es nicht so auffassen, als ob die Milderung der Strafe sie gewissermaßen durch eine Prämie zum Verbrechen geradezu ermuntere?«
»Ich bin durchaus der Ansicht, gütiger Vater«, erwiderte ich, »daß es ganz ungerecht ist, einem Menschen das Leben zu nehmen, weil er Geld gestohlen hat; denn auch sämtliche Glücksgüter können meiner Meinung nach ein Menschenleben nicht aufwiegen. Wollte man nun aber sagen, diese Strafe solle die Rechtsverletzung oder die Übertretung der Gesetze, nicht das gestohlene Geld aufwiegen, müßte man dann nicht erst recht jenes strengste Recht als größtes Unrecht bezeichnen? Denn weder darf man Gesetze nach Art eines Manlius billigen, so daß bei einer Gehorsamsverweigerung auch in den leichtesten Fällen sofort das Schwert zum Todesstreiche gezückt wird, noch so stoische Grundsätze, daß man die Vergehen alle als gleich beurteilt und der Ansicht ist, es sei kein Unterschied, ob einer einen Menschen tötet oder ihm nur Geld raubt, Vergehen, zwischen denen überhaupt keine Ähnlichkeit oder Verwandtschaft besteht, wenn Recht und Billigkeit überhaupt noch etwas gelten. Gott hat es verboten, jemanden zu töten, und wir töten so leichten Herzens um eines gestohlenen Sümmchens willen? Sollte es aber jemand so auffassen wollen, als ob jenes göttliche Gebot die Tötung eines Menschen nur insoweit verbiete, als sie nicht ein menschliches Gesetz gebietet, was steht dann dem im Wege, daß die Menschen auf dieselbe Weise unter sich festsetzen, inwieweit Unzucht zu dulden sei und Ehebruch und Meineid? Gott hat einem jeden die Verfügung nicht nur über ein fremdes, sondern sogar über das eigene Leben genommen; wenn aber menschliches Übereinkommen, sich unter gewissen Voraussetzungen gegenseitig töten zu dürfen, so viel gelten soll, daß es seine dienstbaren Geister von den Bindungen jenes Gebotes befreit und diese dann ohne jede göttliche Strafe Menschen ums Leben bringen dürfen, die Menschensatzung zu töten befiehlt, bleibt dann nicht jenes Gottesgebot nur insoweit in Geltung, als Menschenrecht es erlaubt? Und so wird es in der Tat dahin kommen, daß auf dieselbe Weise die Menschen festsetzen, inwieweit Gottes Gebote beachtet werden sollen! Und schließlich hat sogar das mosaische Gesetz, obwohl erbarmungslos und hart, da es für Sklavenseelen, und zwar für verstockte, erlassen war, den Diebstahl trotzdem nur mit Geld und nicht mit dem Tode bestraft. Wir wollen doch nicht glauben, daß Gott mit dem neuen Gesetz der Gnade, durch das er als Vater seinen Kindern gebietet, uns größere Freiheit gewährt hat, gegeneinander zu wüten!
Das sind die Gründe, die ich gegen die Todesstrafe vorzubringen habe. In welchem Grade aber widersinnig und sogar verderblich für den Staat eine gleichmäßige Bestrafung des Diebes und des Mörders ist, das weiß, meine ich, jeder. Wenn nämlich der Räuber sieht, daß einem, der wegen bloßen Diebstahls verurteilt ist, keine geringere Strafe droht, als wenn der Betreffende außerdem noch des Mordes überführt wird, so veranlaßt ihn schon diese eine Überlegung zur Ermordung desjenigen, den er andernfalls nur beraubt hätte. Denn abgesehen davon, daß für einen, der ertappt wird, die Gefahr nicht größer ist, gewährt ihm der Mord sogar noch größere Sicherheit und mehr Aussicht, daß die Tat unentdeckt bleibt, da ja der, der sie anzeigen könnte, beseitigt ist. Während wir uns also bemühen, den Dieben durch allzu große Strenge Schrecken einzujagen, spornen wir sie dazu an, gute Menschen umzubringen.
Was ferner die übliche Frage nach einer besseren Art der Bestrafung anlangt, so ist diese viel leichter zu finden als eine noch weniger gute. Warum sollten wir denn eigentlich an der Nützlichkeit jener Methode der Bestrafung von Verbrechen zweifeln, die, wie wir wissen, in alten Zeiten so lange den Römern zugesagt hat, die doch so große Erfahrung in der Staatsverwaltung besaßen? Diese pflegten nämlich überführte Schwerverbrecher zur Arbeit in den Steinbrüchen und Bergwerken zu verurteilen, wo sie dauernd Fesseln tragen mußten. Jedoch habe ich in dieser Beziehung auf meinen Reisen bei keinem Volke eine bessere Einrichtung gefunden als in Persien bei den sogenannten Polyleriten, einem ansehnlichen Volke mit einer recht verständigen Verfassung, das dem Perserkönig nur einen jährlichen Tribut zahlt, im übrigen aber unabhängig ist und nach eigenen Gesetzen lebt. Sie wohnen weitab vom Meere, sind fast ganz von Bergen eingeschlossen, begnügen sich in jeder Beziehung durchaus mit den Erträgnissen ihres Landes und pflegen mit anderen Völkern wenig Verkehr. Infolgedessen sind sie auch, einem alten Herkommen ihres Volkes entsprechend, nicht auf Erweiterung ihres Gebietes bedacht. Innerhalb dieses selbst aber bieten ihnen ihre Berge sowie das Geld, das sie dem Eroberer zahlen, mühelos Schutz vor jeder Gewalttat. Völlig frei vom Kriegsdienst, führen sie ein nicht ebenso glänzendes wie bequemes Leben in mehr Glück als Vornehmheit und Berühmtheit, ja nicht einmal dem Namen nach, meine ich, hinreichend bekannt außer in der Nachbarschaft. Wer nun bei den Polyleriten wegen Diebstahls verurteilt wird, gibt das Gestohlene dem Eigentümer zurück, nicht, wie es anderswo Brauch ist, dem Landesherrn, weil dieser nach ihrer Meinung auf das gestohlene Gut ebenso wenig Anspruch hat wie der Dieb selbst. Ist es aber abhanden gekommen, so ersetzt und bezahlt man seinen Wert aus dem Besitz der Diebe, den Rest behalten ihre Frauen und Kinder unverkürzt, und die Diebe selbst verurteilt man zu Zwangsarbeit. Nur wenn schwerer Diebstahl vorliegt, sperrt man sie ins Arbeitshaus, wo sie Fußfesseln tragen müssen; sonst behalten sie ihre Freiheit und verrichten ungefesselt öffentliche Arbeiten. Zeigen sie sich widerspenstig und zu träge, so legt man sie zur Strafe nicht in Fesseln, sondern treibt sie durch Prügel zur Arbeit an; Fleißige dagegen bleiben von Gewalttätigkeiten verschont; nur des Nachts schließt man sie in Schlafräume ein, nachdem man sie durch Namensaufruf kontrolliert hat. Die dauernde Arbeit ist die einzige Unannehmlichkeit in ihrem Leben. Ihre Verpflegung ist nämlich nicht kärglich. Für diejenigen, die öffentliche Arbeiten verrichten, wird sie aus öffentlichen Mitteln bestritten, und zwar in den einzelnen Gegenden auf verschiedene Weise. Hier und da nämlich deckt man den Aufwand für sie aus Almosen; wenn diese Methode auch unsicher ist, so bringt doch bei der mildtätigen Gesinnung jenes Volkes keine andere einen reicheren Ertrag. Anderswo wieder sind gewisse öffentliche Einkünfte für diesen Zweck bestimmt. In manchen Gegenden findet dafür auch eine feste Kopfsteuer Verwendung. Ja, an einigen Orten verrichten die Sträflinge keine Arbeit für die Öffentlichkeit, sondern, wenn ein Privatmann Lohnarbeiter braucht, so mietet er die Arbeitskraft eines beliebigen von ihnen auf dem Markte für den betreffenden Tag und zahlt dafür einen festgesetzten Lohn, nur etwas weniger, als er für freie Lohnarbeit würde zahlen müssen. Außerdem steht ihm das Recht zu, faule Sklaven zu peitschen. Auf diese Weise haben sie niemals Mangel an Arbeit, und außer seinem Lebensunterhalt verdient jeder täglich noch etwas, was er an die Staatskasse abführt. Sie allein sind alle in eine bestimmte Farbe gekleidet und tragen das Haar nicht vollständig geschoren, sondern nur ein Stück über den Ohren verschnitten, und das eine Ohr ist etwas gestutzt. Speise, Trank und Kleidung von seiner Farbe darf sich jeder von seinen Freunden geben lassen; wer dagegen ein Geldgeschenk gibt oder annimmt, wird mit dem Tode bestraft; und nicht weniger gefährlich ist es auch für einen Freien, aus irgendeinem Grunde von einem Sträfling Geld anzunehmen, und ebenso für die Sklaven – so nennt man nämlich die Sträflinge –, Waffen anzurühren. Jede Landschaft macht ihre Sklaven durch ein eigenes, unterscheidendes Zeichen kenntlich, das abzulegen bei Todesstrafe verboten ist. Dieselbe Strafe trifft auch den, der sich außerhalb seines Bezirks sehen läßt oder mit einem Sklaven eines anderen Bezirks ein Wort spricht. Die Planung einer Flucht ist ebenso gefährlich wie ihre Ausführung; schon von einem solchen Plane gewußt zu haben, bedeutet für den Sklaven den Tod und für den Freien Knechtschaft. Dagegen sind auf Anzeigen Preise ausgesetzt, und zwar erhält ein Freier Geld, ein Sklave dagegen die Freiheit; beiden aber gewährt man Verzeihung und Straflosigkeit, auch wenn sie von der Sache gewußt haben. Dadurch will man verhüten, daß es mehr Sicherheit bietet, auf einem schlimmen Plane zu beharren als ihn zu bereuen.
So also ist diese Angelegenheit gesetzlich geregelt, wie ich es beschrieben habe. Wie menschlich und zweckmäßig dieses Verfahren ist, kann man leicht einsehen. Übt es doch nur insoweit Strenge aus, als die Verbrechen beseitigt werden; dabei kostet es kein Menschenleben, und die Übeltäter werden so behandelt, daß sie gar nicht anders können, als gut zu sein und den Schaden, den sie vorher angerichtet haben, durch ihr weiteres Leben wieder gutzumachen.
Daß ferner Sträflinge in ihre alte Lebensweise verfallen könnten, ist durchaus nicht zu befürchten. Infolgedessen halten sich auch Fremde, die irgendwohin reisen müssen, unter keiner anderen Führung für sicherer als unter der jener Sklaven, die dann von einer Gegend zur anderen unmittelbar wechseln. Denn sie besitzen nichts, was sie zu einem Raubüberfall reizen könnte: in der Hand haben sie keine Waffe, Geld würde ihre verbrecherische Tat nur verraten, und der Ertappte müßte mit Bestrafung und völliger Aussichtslosigkeit, irgendwohin fliehen zu können, rechnen. Wie sollte es nämlich jemand auch fertig bringen, völlig unbemerkt zu fliehen, wenn sich seine Kleidung in jedem Stück von der seiner Landsleute unterscheidet? Er müßte sich denn gerade nackend entfernen. Ja, auch in dem Falle würde den Ausreißer das Ohr verraten. Aber könnten die Sträflinge nicht vielleicht an eine Verschwörung gegen den Staat denken? Wäre das nicht doch eine Gefahr? Als ob irgendeine Gruppe solch eine Hoffnung hegen dürfte, ehe nicht die Sklaven zahlreicher Landschaften unruhig geworden und aufgewiegelt sind, denen es nicht einmal erlaubt ist zusammenzukommen, miteinander zu sprechen oder sich gegenseitig zu grüßen, die also noch viel weniger eine Verschwörung anzetteln könnten! Sollte man ferner annehmen dürfen, sie würden diesen Plan inzwischen unbesorgt ihren Anhängern anvertrauen, während sie doch wissen, daß Verschweigen gefährlich, Verrat aber höchst vorteilhaft ist? Und dabei hat niemand so gänzlich die Hoffnung aufgegeben, doch irgendwann einmal die Freiheit wieder zu erlangen, wenn er sich gehorsam zeigt und eine Besserung in der Zukunft zuversichtlich erwarten läßt. Wird doch in jedem Jahre ein paar Sklaven zum Lohn für geduldiges Ausharren die Freiheit wieder geschenkt.«
So sprach ich. Als ich dann noch hinzufügte, es liege meiner Meinung nach gar kein Grund vor, dieses Verfahren nicht auch in England anzuwenden, und zwar mit viel größerem Erfolg als jenen Rechtsbrauch, den der Jurist so sehr gelobt hatte, da erwiderte mir dieser sofort: »Niemals ließe sich dieser Brauch in England einführen, ohne daß der Staat dadurch in die größte Gefahr geriete!« Und bei diesen Worten schüttelte er den Kopf, verzog den Mund und schwieg dann, und alle Anwesenden stimmten ihm zu. Da meinte der Kardinal: »Man kann nicht so leicht voraussagen, ob die Sache günstig oder ungünstig ausgeht, solange man sie überhaupt noch nicht erprobt hat. Aber nach Verkündigung eines Todesurteils könnte ja der Landesherr einen Aufschub der Vollstreckung anordnen und unter Einschränkung der Privilegien der Asylstätten dieses neue Verfahren erproben. Sollte es sich durch den Erfolg als zweckmäßig bewähren, so wäre es wohl richtig, es zur dauernden Einrichtung zu machen. Andernfalls könnte man ja die vorher Verurteilten auch dann noch hinrichten, und das wäre von nicht geringem Vorteil für den Staat und nicht ungerechter, als wenn es gleich geschähe, und auch in der Zeit des Aufschubs könnte keine Gefahr daraus erwachsen. Ja, wie mir sicher scheint, würde dieselbe Behandlung auch den Landstreichern gegenüber sehr angebracht sein; denn gegen sie haben wir zwar bis jetzt eine Menge Gesetze erlassen, aber trotzdem noch nichts erreicht.«
Sobald der Kardinal das gesagt hatte – dasselbe, worüber sich alle verächtlich geäußert hatten, als sie es von mir hörten –, wetteiferte jeder, ihm das höchste Lob zu spenden, besonders jedoch seinem Vorschlag in betreff der Landstreicher, weil er den von sich aus hinzugefügt hatte.
Vielleicht wäre es besser, das, was jetzt folgte, gar nicht zu erwähnen – es war nämlich lächerlich –, aber ich will es doch erzählen; denn es war nicht übel und gehörte in gewissem Sinne zu unserer Sache. Es stand zufällig ein Schmarotzer dabei, der offenbar den Narren spielen wollte, sich aber so schlecht verstellte, daß er mehr einem wirklichen Narren glich, indem er mit so faden Äußerungen nach Gelächter haschte, daß man häufiger über seine Person als über seine Worte lachte. Zuweilen jedoch äußerte der Mensch auch etwas, was nicht ganz so albern war, so daß er das Sprichwort bestätigte: »Wer viel würfelt, hat auch einmal Glück.« Da meinte einer von den Tischgenossen, ich hätte mit meiner Rede gut für die Diebe gesorgt und der Kardinal auch noch für die Landstreicher; nun bleibe nur noch übrig, von Staats wegen auch noch die zu versorgen, die durch Krankheit oder Alter in Not geraten und arbeitsunfähig geworden seien. »Laß mich das machen!« rief da der Spaßvogel. »Ich will auch das in Ordnung bringen! Denn es ist mein sehnlicher Wunsch, mich vom Anblick dieser Sorte Menschen irgendwie zu befreien. Mehr als einmal sind sie mir schwer zur Last gefallen, wenn sie mich mit ihrem Klagegeheul um Geld anbettelten. Niemals jedoch konnten sie das schön genug anstimmen, um auch nur einen Pfennig von mir zu erpressen. Es ist bei mir nämlich immer das eine von beiden der Fall: entweder habe ich keine Lust, etwas zu geben, oder ich habe nicht die Möglichkeit dazu, weil ich nichts zu geben habe. Infolgedessen werden die Bettler jetzt allmählich vernünftig. Um sich nämlich nicht unnötig anzustrengen, reden sie mich gar nicht mehr an, wenn sie mich vorübergehen sehen. So wenig erhoffen sie von mir noch etwas, in der Tat nicht mehr, als wenn ich ein Priester wäre. Aber jetzt befehle ich, ein Gesetz zu erlassen, dem zufolge alle jene Bettler ohne Ausnahme auf die Benediktinerklöster verteilt und zu sogenannten Laienbrüdern gemacht werden; die Weiber aber, ordne ich an, sollen Nonnen werden.«
Da lächelte der Kardinal und stimmte im Scherz zu, die anderen dann auch im Ernst. Indessen heiterte dieser Witz über die Priester und Mönche einen Theologen, einen Klosterbruder, so auf, daß er, sonst ein ernster, ja beinahe finsterer Mann, jetzt gleichfalls anfing, Spaß zu machen. »Aber auch so«, rief er, »wirst du die Bettler nicht loswerden, wenn du nicht auch für uns Klosterbrüder sorgst!«
»Aber das ist doch schon geschehen«, erwiderte der Parasit. »Der Kardinal hat ja vortrefflich für euch gesorgt, indem er für die Tagediebe Zwangsarbeit festsetzte; denn ihr seid doch die größten Tagediebe.«
Da blickten alle auf den Kardinal. Als sie aber sahen, daß er auch diese Bemerkung nicht zurückwies, fingen sie alle an, sie mit großem Vergnügen aufzunehmen; nur der Klosterbruder machte eine Ausnahme. Der nämlich, mit solchem Essig übergossen, geriet dermaßen in Zorn und Hitze – worüber ich mich auch gar nicht wundere –, daß er sich nicht mehr beherrschen konnte und zu schimpfen anfing. Er nannte den Menschen einen Taugenichts, einen Verleumder, einen Ohrenbläser und ein Kind der Verdammnis und führte zwischendurch schreckliche Drohungen aus der Heiligen Schrift an. Jetzt aber begann der Witzbold ernsthaft zu spaßen, und da war er ganz in seinem Element. »Zürne nicht, lieber Bruder!« sagte er. »Es steht geschrieben: ›Durch standhaftes Ausharren sollt ihr euch das Leben gewinnen.‹« Darauf erwiderte der Klosterbruder – ich will nämlich seine eigenen Worte wiedergeben –: »Ich zürne nicht, du Galgenstrick, oder ich sündige wenigstens nicht damit. Denn der Psalmist sagt: ›Zürnt und sündigt nicht!‹« Darauf ermahnte der Kardinal den Klosterbruder in sanftem Tone, sich zu mäßigen. Doch der antwortete: »Herr, ich spreche nur in redlichem Eifer, wie ich es tun muß. Denn auch heilige Männer haben einen redlichen Eifer bewiesen, weswegen es heißt: ›Der Eifer um dein Haus hat mich verzehrt‹. Und in den Kirchen singt man:
›Die Spötter Elisas,
Während er hinaufsteigt zum Hause Gottes,
Bekommen den Eifer des Kahlkopfs zu spüren‹,
wie ihn vielleicht auch dieser Spötter da, dieser Possenreißer, dieser Bruder Liederlich noch zu spüren bekommen wird.«
»Du handelst vielleicht in ehrlicher Erregung«, sagte der Kardinal, »aber mir will scheinen, es würde möglicherweise frömmer, bestimmt aber klüger von dir sein, wenn du nicht mit einem törichten und lächerlichen Menschen einen lächerlichen Streit beginnen wolltest.«
»Nein, Herr, das würde nicht klüger von mir sein«, erwiderte er. »Sagt doch selbst der weise Salomo: ›Antworte dem Narren gemäß seiner Narrheit!‹, wie ich es jetzt tue und ihm die Grube zeige, in die er fallen wird, wenn er nicht recht auf der Hut ist. Wenn nämlich die vielen Spötter Elisas, der doch nur ein Kahlkopf war, den Eifer des Kahlkopfes zu spüren bekommen haben, um wieviel mehr wird ein einziger Spötter den Eifer der vielen Klosterbrüder zu spüren bekommen, unter denen sich doch viele Kahlköpfe befinden! Und außerdem haben wir ja noch eine päpstliche Bulle, auf Grund deren alle, die sich über uns lustig machen, der Kirchenbann trifft.«
Sobald der Kardinal sah, daß der Streit kein Ende nehmen wollte, gab er dem Schmarotzer einen Wink, sich zu entfernen, und brachte die Rede auf ein anderes Thema, das auch Anklang fand. Bald darauf stand er von der Tafel auf, entließ uns und widmete sich seinen Lehnsleuten, deren Anliegen er sich anhörte.
»Sieh da, mein lieber Morus, wie lang ist doch die Geschichte geworden, mit der ich dich belästigt habe! Ich hätte mich entschieden geschämt, so ausführlich zu werden, wenn du es nicht dringend zu wissen verlangt hättest und wenn es mir nicht den Eindruck gemacht hätte, als wolltest du auch nicht ein Wort von jenem Gespräch ausgelassen wissen; mit solcher Aufmerksamkeit hörtest du mir zu. Ich mußte dies jedoch alles erzählen – freilich hätte es wesentlich kürzer geschehen können –, um die Urteilsfähigkeit dieser Leute ins rechte Licht zu rücken: wovon sie nämlich nichts wissen wollten, als sie es aus meinem Munde hörten, eben das billigten sie auf der Stelle, als es der Kardinal billigte, und zwar gingen sie in ihrer Lobhudelei so weit, daß sie sich sogar die Einfälle seines Schmarotzers, die sein Herr im Scherz nicht zurückwies, in schmeichlerischer Weise gefallen ließen und sie beinahe für Ernst nahmen. Daraus kannst du ermessen, wie hoch die Höflinge mich mit meinen Ratschlägen einschätzen würden.«
»In der Tat, mein lieber Raphael«, erwiderte ich, »deine Erzählung war ein großer Genuß für mich; so klug und treffend zugleich hast du alles gesagt. Außerdem war es mir währenddem so, als befände ich mich wieder in meiner Heimat, und nicht bloß dies, sondern als erlebte ich gewissermaßen noch einmal meine Kindheit, bei der angenehmen Erinnerung an jenen Kardinal, an dessen Hofe ich als Knabe erzogen worden bin. Lieb und wert warst du mir ja auch sonst schon, mein Raphael, aber um wieviel teurer du mir durch die so hohe Ehrung des Andenkens an jenen Mann geworden bist, kannst du dir kaum vorstellen. Im übrigen kann ich bis jetzt meine Ansicht in keinerlei Weise ändern; ich bin vielmehr entschieden der Meinung, wenn du dich entschließen könntest, deine Abneigung gegen die Fürstenhöfe aufzugeben, so könntest du mit deinen Ratschlägen der Öffentlichkeit den größten Nutzen stiften. Deshalb ist dies deine höchste Pflicht, die Pflicht eines braven Mannes. Und wenn vollends dein Plato der Ansicht ist, die Staaten würden erst dann glücklich sein, wenn entweder die Philosophen Könige seien oder die Könige sich mit Philosophie befaßten, wie fern wird da das Glück noch sein, wenn es die Philosophen sogar für unter ihrer Würde halten, den Königen ihren guten Rat zuteil werden zu lassen.«
»Sie sind nicht so ungefällig«, antwortete er, »daß sie das nicht gern tun würden – sie haben es ja auch schon durch die Veröffentlichung zahlreicher Bücher getan –, wenn nur die Machthaber bereit wären, die guten Ratschläge auch zu befolgen. Aber ohne Zweifel hat Plato richtig vorausgesehen, daß die Könige nur dann die Ratschläge philosophierender Männer gutheißen werden, wenn sie sich selbst mit Philosophie beschäftigen. Sind sie doch von Kindheit an mit verkehrten Meinungen getränkt und von ihnen angesteckt, was Plato in eigener Person am Hofe des Dionysius erfahren mußte. Oder meinst du nicht, ich würde auf der Stelle fortgejagt oder verspottet werden, wenn ich am Hofe irgendeines Königs gesunde Maßnahmen vorschlüge und verderbliche Saaten schlechter Ratgeber auszureißen versuchte?
Wohlan, stelle dir vor, ich lebte am Hofe des Königs von Frankreich und säße mit in seinem Rate, während man in geheimster Zurückgezogenheit unter dem Vorsitze des Königs selbst in einem Kreise der klügsten Männer mit großem Eifer darüber verhandelt, mit welchen Ränken und Machenschaften der König es fertig bringen kann, Mailand zu behaupten, jenes immer aufs neue abfallende Neapel wiederzugewinnen, ferner Venedig zu vernichten und sich ganz Italien zu unterwerfen, sodann Flandern, Brabant und schließlich ganz Burgund seinem Reiche einzuverleiben und außerdem noch andere Völker, in deren Land der König schon längst im Geiste eingefallen ist. Hier rät der eine, mit den Venetianern ein Bündnis zu schließen, aber nur für so lange, als es den Franzosen Nutzen bringt; mit ihnen gemeinschaftliche Sache zu machen, ja auch einen Teil der Beute ihnen anzuvertrauen und dann wieder zurückzuverlangen, wenn alles nach Wunsch gegangen ist; ein anderer wieder schlägt vor, deutsche Landsknechte anzuwerben; ein dritter, Schweizer mit Geld kirre zu machen; ein vierter, sich die Gunst der kaiserlichen Majestät durch Gold wie durch ein Weihgeschenk zu erkaufen. Ein anderer wieder rät dem Fürsten, sich mit dem König von Aragonien gütlich zu einigen und ihm gleichsam als Unterpfand des Friedens das Königreich Navarra abzutreten, das ihm aber gar nicht gehört. Unterdessen will ein anderer den Prinzen von Kastilien durch eine Aussicht auf eine Verschwägerung ins Garn locken und einige Granden seines Hofes durch eine bestimmte Barzahlung auf die Seite Frankreichs ziehen. Nun aber stößt man auf die allergrößte Schwierigkeit, was man nämlich bei alledem in betreff Englands beschließen soll: immerhin müsse man mit ihm doch wenigstens Friedensverhandlungen anknüpfen und das immer unsicher bleibende Bündnis durch recht starke Bande befestigen; die Engländer solle man zwar Freunde nennen, ihnen aber wie Feinden mißtrauen und deshalb die Schotten für jeden Fall schlagfertig, gleichsam auf Posten, in Bereitschaft halten und sie sofort auf die Engländer loslassen, sobald sich diese irgendwie rührten. Außerdem müsse man einen hohen, in der Verbannung lebenden Adligen unterstützen, und zwar im geheimen – eine offene Protektion lassen nämlich die Verträge nicht zu –, der den englischen Thron für sich beanspruche. Das solle für den König von Frankreich eine Handhabe sein, den König von England im Zaume zu halten, dem er nicht trauen dürfe.
Und nun denke dir, hier, bei einem solchen Drange der Geschäfte, wenn so viele ausgezeichnete Männer um die Wette Ratschläge für den Krieg erteilen, stünde ich armseliges Menschenkind auf und hieße plötzlich den Kurs ändern, schlüge vor, Italien aufzugeben, und behauptete, man müsse im Lande bleiben; das eine Königreich Frankreich sei schon fast zu groß, als daß es ein einziger gut verwalten könne; der König solle doch nicht glauben, er dürfe noch an die Einverleibung anderer Reiche denken; und ich riete ihnen dann weiter, dem Beispiele der Achorier zu folgen, eines Volkes, das der Insel Utopia im Südosten gegenüberliegt. In alten Zeiten hatten sie einmal einen Krieg geführt, um ihrem König den Besitz eines zweiten Reiches zu sichern, das er auf Grund einer alten Verwandtschaft als sein Erbe beanspruchte. Als sie endlich ihr Ziel erreicht hatten, mußten sie jedoch einsehen, daß die Behauptung des Landes keineswegs leichter war als seine Eroberung, daß vielmehr ohne Unterlaß Auflehnungen im Inneren oder Überfälle auf die Unterworfenen von außen daraus entstanden, daß sie so dauernd entweder für oder gegen jene kämpfen mußten, daß sich niemals die Möglichkeit bot, das Heer zu entlassen, daß sie selber inzwischen ausgebeutet wurden, daß ihr Geld ins Ausland ging, daß sie ihr Blut für ein wenig Ruhm eines Fremden vergossen, daß der Friede im Inneren durchaus nicht gesicherter war, daß der Krieg die Moral verdarb, daß die Raubsucht den Menschen gleichsam in Fleisch und Blut überging, daß die Rauflust infolge der Metzeleien zunahm und daß man die Gesetze nicht mehr achtete. Und das alles, weil der König sein Interesse, das durch die Sorge für zwei Reiche zersplittert wurde, jedem einzelnen nicht nachdrücklich genug zuwenden konnte. Da nun die Achorier sahen, diese so schlimmen Zustände würden auf andere Weise kein Ende nehmen, faßten sie endlich einen Entschluß und ließen ihrem Fürsten in überaus höflicher Form die Wahl, welches Reich von beiden er behalten wolle; beide könne er nämlich nicht länger behalten; sie seien ein zu großes Volk, um von einem ›halbierten‹ König regiert zu werden, wie sich ja auch niemand gern mit einem anderen seinen Maultiertreiber würde teilen wollen. So sah sich denn jener brave Fürst gezwungen, sein neues Reich einem seiner Freunde zu überlassen – der übrigens bald darauf gleichfalls verjagt wurde – und sich mit dem alten zu begnügen. Ferner würde ich darauf hinweisen, daß alle diese kriegerischen Versuche, die um des Königs willen so viele Völker in Unruhe versetzen würden, durch irgendein Mißgeschick schließlich doch ohne Erfolg enden könnten, nachdem seine Geldmittel erschöpft und sein Volk ruiniert seien. Ich würde ihm deshalb raten, sein ererbtes Reich nach Möglichkeit zu pflegen und zu fördern und es zu höchster Blüte zu bringen, seine Untertanen zu lieben und sich von ihnen lieben zu lassen, mit ihnen zusammen zu leben, sie mit Milde zu regieren und andere Reiche in Frieden zu lassen, da ihm ja schon genug und übergenug zugefallen sei. Mit was für Ohren, meinst du, mein Morus, müßte man da wohl meine Rede aufnehmen?«
»Wahrhaftig, nicht mit sehr geneigten«, erwiderte ich.
»Fahren wir also fort!« sagte er. »Die Ratgeber irgendeines Königs debattieren und klügeln mit ihm aus, mit welchen Schelmenstreichen sie Gelder für ihn aufhäufen können. Einer rät dazu, den Geldwert zu erhöhen, wenn der König selber eine Zahlung zu leisten hat, ihn aber anderseits unter das rechte Maß zu senken, wenn ihm eine Zahlung zu leisten ist. Auf diese Weise bezahlt er eine große Schuld mit wenig Geld und erhält für eine kleine ausstehende Forderung viel. Ein anderer wieder schlägt vor, eine Kriegsgefahr vorzutäuschen, unter diesem Vorwand Geld aufzubringen und dann zum geeignet erscheinenden Zeitpunkt Frieden zu schließen, und zwar unter feierlichen Zeremonien; dadurch solle der breiten Masse des dummen Volkes vorgegaukelt werden, der fromme Fürst habe offenbar aus Mitleid kein Menschenblut vergießen wollen. Ein dritter ruft ihm gewisse alte, von Motten angefressene und längst nicht mehr angewendete Gesetze ins Gedächtnis, nach denen sich kein Mensch mehr richte, weil sich niemand besinnen könne, daß sie überhaupt jemals erlassen worden seien, und er fordert ihn auf, Strafgelder für diese Nichtbefolgung einzuziehen: kein Ertrag sei ergiebiger und zugleich ehrenhafter, da er ja die Maske der Gerechtigkeit zur Schau trage. Ein vierter wieder fordert den König auf, unter Androhung hoher Geldstrafen eine Menge Verbote zu erlassen, zumeist von Handlungen, die nicht den Interessen des Volkes dienen, gegen Geld aber Leuten Dispens zu erteilen, deren Privatinteressen ein Verbot im Wege steht. Auf diese Weise ernte er den Dank des Volkes und habe doppelten Gewinn, einmal aus der Bestrafung der Leute, die ihre Erwerbsgier ins Netz lockt, und sodann aus dem Verkauf der Vorrechte an andere, für um so mehr Geld natürlich, je gewissenhafter der Fürst ist; denn ein guter Herrscher begünstigt nur ungern einen Privatmann zum Nachteile seines Volkes und deshalb nur für viel Geld. Wieder ein anderer sucht den König zu überreden, Richter anzustellen, die in jeder beliebigen Sache zu seinen Gunsten entscheiden; außerdem solle er sie einladen, in seinem Palaste und in seiner Gegenwart über seine Angelegenheiten zu verhandeln; dann werde keiner seiner Prozesse so offensichtlich faul sein, daß nicht einer der Richter, sei es aus Lust am Widerspruch oder aus Scheu vor Wiederholung von schon Gesagtem oder im Haschen nach der königlichen Gunst irgendeinen Ritz entdecken würde, in den man eine Rechtsverdrehung einklemmen könne. Wenn dann erst einmal bei Meinungsverschiedenheit der Richter über die an sich völlig klare Sache debattiert und die Wahrheit in Frage gestellt werde, so biete sich dem König die günstige Gelegenheit, das Recht zu seinem eigenen Vorteil auszulegen, und die anderen würden sich aus Hochachtung oder aus Furcht seiner Meinung anschließen. Und in diesem Sinne fällt dann später der Gerichtshof unbedenklich das Urteil; denn es kann ja niemandem an einem Vorwand fehlen, sich zugunsten des Fürsten zu entscheiden. Genügt es ihm doch, daß entweder die Billigkeit für ihn spricht oder der Wortlaut des Gesetzes oder die gewaltsam verdrehte Auslegung des Sinnes eines Schriftstückes oder, was gewissenhaften Richtern schließlich mehr gilt als alle Gesetze, des Fürsten unbestreitbares Recht der obersten Entscheidung. Kurz, alle Ratgeber sind der gleichen Ansicht und wirken zusammen im Sinne jenes Wortes des Crassus, keine Menge Gold sei groß genug für einen Fürsten, der ein Heer unterhalten müsse. Außerdem kann nach ihrer Meinung ein König gar kein Unrecht tun, mag er es auch noch so sehr wünschen; denn der gesamte Besitz aller seiner Untertanen wie auch diese selbst sind, so glauben sie, sein Eigentum, und jedem einzelnen gehört nur so viel, wie ihm seines Königs Gnade noch läßt. Der aber muß großen Wert darauf legen, daß dieser Rest möglichst gering ist; denn seine Sicherheit beruht darauf, daß sein Volk nicht durch Reichtum oder Freiheit übermütig wird, weil beides eine harte und ungerechte Herrschaft weniger geduldig ertragen läßt, während anderseits Armut und Not abstumpfen, geduldig machen und den Untertanen in ihrer Bedrängnis den großzügigen Geistesschwung der Empörung nehmen.
Nun stelle dir wieder vor, ich stünde jetzt noch einmal auf und behauptete, alle diese Pläne seien für den König unehrenhaft und verderblich; denn nicht nur seine Ehre, sondern auch seine Sicherheit beruhe weniger auf seinem eigenen Reichtum als auf dem seiner Untertanen. Ich würde dann weiter ausführen, daß sich diese einen König nicht in dessen, sondern in ihrem eigenen Interesse wählen, um nämlich, dank seiner eifrigen Bemühung, selber in Ruhe und Sicherheit vor Gewalttaten zu leben. Deshalb hat der Fürst, so würde ich weiter sagen, die Pflicht, mehr auf seines Volkes Wohlergehen als auf sein eigenes bedacht zu sein, genau so wie es die Pflicht eines Hirten ist, mehr für die Ernährung seiner Schafe als für seine eigene zu sorgen, wenigstens in seiner Eigenschaft als Schafhirt. Denn in der Armut des Volkes einen Schutz zu sehen, ist, wie schon die Erfahrung lehrt, ein gewaltiger Irrtum. Wo könnte man nämlich mehr Zank und Streit finden als unter Bettlern? Und wer ist eifriger auf Umsturz bedacht als der, dem seine augenblickliche Lage so gar nicht gefallen will? Oder wen beseelt schließlich ein kühneres Verlangen nach einem allgemeinen Durcheinander, in der Hoffnung auf irgend welchen Gewinn, als den, der nichts mehr zu verlieren hat? Sollte nun aber wirklich ein König von seinen Untertanen so sehr verachtet oder gehaßt werden, daß er sie nicht anders im Zaume halten kann, als indem er mit Mißhandlungen, Ausplünderung und Güterparzellierung gegen sie vorgeht und sie an den Bettelstab bringt, dann wäre es wirklich besser für ihn, er legte seine Herrschaft nieder, als daß er sie mit Hilfe solcher Künste behauptet; sie retten ihm wohl den Namen seiner Herrschaft, aber ihrer Erhabenheit geht er bestimmt verlustig. Denn es ist eines Königs nicht würdig, über Bettler zu herrschen, sondern vielmehr über reiche und glückliche Menschen. Eben das meint sicherlich der hochgemute und geistig überlegene Fabricius mit der Antwort, er wolle lieber Reichen gebieten als selber reich sein. Und in der Tat! Als einzelner in Vergnügen und Genüssen schwimmen, während ringsherum andere seufzen und jammern, das heißt nicht Hüter eines Thrones, sondern eines Kerkers sein. Kurzum: wie es demjenigen Arzte an jeder Erfahrung fehlt, der eine Krankheit nur durch eine andere zu heilen versteht, so mag der seine völlige Unfähigkeit zur Herrschaft über Freie ruhig eingestehen, der das Leben der Staatsbürger nur dadurch zu bessern weiß, daß er ihnen nimmt, was das Leben lebenswert macht. Ja wahrhaftig, er soll doch lieber seine Trägheit oder seinen Stolz aufgeben; denn diese Laster ziehen ihm in der Regel die Verachtung oder den Haß seines Volkes zu. Er soll rechtschaffen von seinen Mitteln leben und seine Ausgaben den Einnahmen anpassen. Er soll ferner die Missetaten einschränken und lieber durch richtige Belehrung seiner Untertanen verhüten, als sie erst anwachsen zu lassen und dann zu bestrafen. Gesetze, die gewohnheitsmäßig aus der Übung gekommen sind, soll er nicht aufs Geratewohl erneuern, zumal wenn sie schon lange nicht mehr angewendet und niemals vermißt worden sind. Er soll auch niemals für ein derartiges Vergehen eine Geldstrafe einziehen, was der Richter auch einem Privatmanne als unbillig und unlauter untersagen würde. Ferner würde ich jenen Ratgebern ein Gesetz der Macarenser mitteilen, die gleichfalls nicht eben weit von Utopia entfernt wohnen. An dem Tage seiner Regierungsübernahme verpflichtet sich nämlich ihr König unter Darbringung feierlicher Opfer eidlich, nie auf einmal mehr als tausend Pfund Gold oder den entsprechenden Wert in Silber in seinen Kassen zu haben. Diese Bestimmung soll ein vortrefflicher König getroffen haben, dem das Wohl seines Landes mehr als sein persönlicher Reichtum am Herzen lag. Mit dieser Maßnahme wollte er in seinem Volke einer Geldknappheit infolge Anhäufung einer zu großen Geldsumme vorbeugen. Er sah nämlich ein, dieser Betrag werde für den Monarchen groß genug sein zum Kampfe gegen die Rebellen und groß genug für die Monarchie zur Abwehr feindlicher Angriffe; dagegen sei er nicht groß genug, um zu Einfällen in fremdes Gebiet Lust zu machen. Das war der hauptsächlichste Grund für den Erlaß des genannten Gesetzes. Der nächste Grund aber war, daß jener König glaubte, auf diese Weise einen Mangel an den Zahlungsmitteln verhütet zu haben, die täglich im Handelsverkehr der Bürger im Umlauf waren. Auch war er der Ansicht, ein König werde bei allen unvermeidlichen Ausgaben, die den Staatsschatz über das gesetzliche Maß hinaus belasten, keine Möglichkeiten zu einer gewaltsamen Maßnahme suchen. Einen solchen König werden die Bösen fürchten und die Guten lieben. Würde ich also dies und noch mehr dergleichen bei Leuten vorbringen, die leidenschaftlich den entgegengesetzten Grundsätzen huldigen, was für tauben Ohren würde ich da wohl predigen?«
»Stocktauben, ohne Zweifel«, erwiderte ich. »Und in der Tat, darüber wundere ich mich auch gar nicht. Auch will es mir, um die Wahrheit zu sagen, nicht angebracht erscheinen, derartige Reden zu halten und solche Ratschläge zu erteilen, die, wie man sicher weiß, niemals befolgt werden. Was könnte denn auch der Nutzen einer so ungewöhnlichen Rede sein, oder wie sollte sie überhaupt eine Wirkung ausüben auf Leute, die von einer ganz anderen Überzeugung voreingenommen und tief durchdrungen sind? Unter lieben Freunden, im vertraulichen Gespräch, ist solches theoretisches Philosophieren nicht ohne Reiz, aber in einem Rate von Fürsten, wo mit gewichtiger Autorität über Fragen von Bedeutung verhandelt wird, ist für so etwas kein Platz.«
»Da haben wir ja«, rief er, »was ich immer sagte: An Fürstenhöfen will man eben von Philosophie nichts wissen.«
»Gewiß«, erwiderte ich, »es ist wahr: nichts von dieser rein theoretischen Philosophie, die da meint, jeder beliebige Satz sei überall am Platze. Aber es gibt ja noch eine andere Art von Philosophie, die die besonderen Bedingungen ihres Landes und ihrer Zeit besser kennt. Ihr ist die Bühne, auf der sie zu spielen hat, bekannt, sie paßt sich ihr an und führt ihre Rolle in dem Stück, das gerade gegeben wird, gefällig und mit Anstand durch. Das ist die Philosophie, die für dich in Betracht kommt. Wie wäre es übrigens, wenn du bei der Aufführung einer Komödie des Plautus, gerade während die Haussklaven untereinander Possen treiben, in der Tracht eines Philosophen auf der Bühne erschienest und aus der Octavia die Stelle hersagtest, in der Seneca mit Nero disputiert? Wäre es da nicht besser, du trätest nur als Statist auf, anstatt Unpassendes zu deklamieren und dadurch eine solche Tragikomödie vorzuführen? Du würdest ja das Stück, das man gerade spielt, verderben und über den Haufen werfen, indem du so ganz Verschiedenartiges durcheinandermengst, selbst wenn das, was du bringst, der wertvollere Beitrag wäre. Was für ein Stück gerade aufgeführt wird, darin mußt du so gut wie möglich mitspielen, und du darfst das ganze Stück nicht deshalb in Unordnung bringen, weil dir ein hübscheres von einem anderen Verfasser in den Sinn gekommen ist.
So ist es im Staate, so bei den Beratungen der Fürsten. Kann man verkehrte Meinungen nicht mit der Wurzel ausrotten und kann man Übeln, die sich durch lange Gewohnheit eingenistet haben, nicht nach seiner innersten Überzeugung abhelfen, so darf man deshalb doch nicht gleich den Staat im Stiche lassen und im Sturme das Schiff nicht deshalb preisgeben, weil man den Winden nicht Einhalt gebieten kann. Man darf auch nicht den Menschen eine ungewöhnliche und lästige Rede aufdrängen, die, wie man weiß, auf Leute, die entgegengesetzter Meinung sind, gar keinen Eindruck machen wird. Man muß es lieber auf einem Umwege versuchen und sich bemühen, an seinem Teile alles geschickt zu behandeln und, was man nicht zum Guten wenden kann, wenigstens zu einem möglichst kleinen Übel werden zu lassen. Denn unmöglich können alle Verhältnisse gut sein, solange nicht alle Menschen gut sind. Darauf aber werde ich wohl noch manches Jahr warten müssen.«
»Dieses Verhalten«, meinte er, »hätte nichts anderes zur Folge, als daß ich, in dem Bestreben, die Raserei anderer zu heilen, selber mit ihnen zu rasen anfinge. Denn wenn ich die Wahrheit sagen will, so muß ich so reden; ob es dagegen eines Philosophen würdig ist, die Unwahrheit zu sagen, weiß ich nicht. Mir wenigstens widerstrebt es. Es mag schon sein, daß meine Rede jenen Leuten vielleicht unwillkommen und lästig ist. Trotzdem aber sehe ich nicht ein, warum sie ihnen bis zur Unschicklichkeit ungewöhnlich erscheinen sollte. Wenn ich nun entweder das anführte, was Plato in seinem Staate fingiert, oder das, was die Utopier in ihrem Staate tun, so könnte das, obgleich es an sich das Bessere wäre – und das ist es auch wirklich –, doch unpassend erscheinen, weil es hier Privatbesitz der einzelnen gibt, dort aber alles gemeinsamer Besitz aller ist.
Wie ist es denn nun aber eigentlich mit meiner Rede? Abgesehen davon, daß den Leuten, die auf einem anderen Wege kopfüber vorwärtsstürzen wollen, ein Mann nicht lieb sein kann, der sie zurückruft und auf Gefahren aufmerksam macht, was enthielt sie denn sonst, das nicht überall gesagt werden dürfte oder sogar gesagt werden sollte? Müßte man freilich alles als unerhört und widersinnig beiseite lassen, was verkehrter menschlicher Anschauung zufolge als seltsam erscheint, dann müßten wir unter den Christen das meiste von allem geheimhalten, was Christus gelehrt und uns so streng zu verleugnen verboten hat, daß er uns sogar geboten hat, auch das, was er seinen Jüngern nur ins Ohr geflüstert hatte, öffentlich auf den Dächern zu verkünden. Steht doch diese Lehre zum größten Teile weit weniger im Einklang mit unseren heutigen Sitten als meine Rede, nur daß die Volksredner in ihrer Schlauheit, wie mir scheint, deinen Rat befolgt haben. Als sie nämlich sahen, daß die Menschen nur ungern ihr Verhalten der Vorschrift Christi anpaßten, paßten sie umgekehrt seine Lehre, als wäre sie biegsam wie ein Richtmaß aus Blei, den herrschenden Sitten an, damit beides einigermaßen wenigstens in Übereinstimmung miteinander gebracht würde. Ich kann aber nicht einsehen, welchen Nutzen sie damit gestiftet haben, außer daß die Bosheit größere Sicherheit genießt, und ich selbst würde in der Tat in dem Rate eines Fürsten ebensowenig Nutzen stiften. Entweder nämlich würde ich eine abweichende Meinung äußern – das wäre dann genau so, als wenn ich gar nichts sagte –, oder eine zustimmende, und damit würde ich zum Helfershelfer ihres Wahnsinns, wie Micio bei Terenz sagt. Denn was jenen von dir erwähnten Umweg anlangt, so kann ich nicht einsehen, was für eine Bewandtnis es damit haben soll. Du meinst, man müsse auf ihm zu erreichen suchen, daß die Verhältnisse, wenn man sie nun einmal nicht gründlich bessern kann, wenigstens geschickt behandelt werden und sich, soweit das geht, möglichst wenig schlecht gestalten. Denn von Vertuschen kann hier keine Rede sein, und die Augen darf man nicht zudrücken. Die schlechtesten Ratschläge sollen offen gebilligt und die verderblichsten Verfügungen unterschrieben werden. Ein Schurke, ja fast ein Hochverräter würde sein, wer unheilvolle Beschlüsse in arglistiger Weise doch guthieße.
Ferner bietet sich einem gar keine Gelegenheit, sich irgendwie nützlich zu machen, wenn man unter solche Amtsgenossen gerät, die auch den besten Mann verderben, anstatt sich selbst durch ihn bessern zu lassen. Der Umgang mit diesen verdorbenen Menschen wird dich entweder auch verderben, oder, wenn du auch selbst unbescholten und ohne Schuld bleibst, so wirst du doch fremder Bosheit und Torheit zum Deckmantel dienen. So viel fehlt also daran, daß du mit jenem deinen Umwege etwas zum Besseren wenden könntest.
Deshalb erklärt auch Plato mit einem wunderschönen Gleichnis, warum sich die Weisen mit Fug und Recht von politischer Betätigung fernhalten sollen. Sie sehen nämlich, wie das Volk auf die Straßen strömt und ununterbrochen von Regengüssen durchnäßt wird, können es aber nicht dazu bewegen, sich vor dem Regen in Sicherheit zu bringen und in die Häuser zu gehen. Weil sie aber wissen, daß sie, wenn sie auch auf die Straße gehen, nichts weiter erreichen, als daß sie selbst mit einregnen, so bleiben sie im Hause und sind damit zufrieden, wenigstens selber in Sicherheit zu sein, wenn sie schon fremder Torheit nicht steuern können.
Wenn ich freilich ganz offen meine Meinung kundgeben soll, mein lieber Morus, so muß ich sagen: ich bin in der Tat der Ansicht, überall, wo es noch Privateigentum gibt, wo alle an alles das Geld als Maßstab anlegen, wird kaum jemals eine gerechte und glückliche Politik möglich sein, es sei denn, man will dort von Gerechtigkeit sprechen, wo gerade das Beste immer den Schlechtesten zufällt, oder von Glück, wo alles unter ganz wenige verteilt wird und wo es auch diesen nicht in jeder Beziehung gut geht, der Rest aber ein elendes Dasein führt.
So erwäge ich denn oft die so klugen und ehrwürdigen Einrichtungen der Utopier, die so wenig Gesetze und trotzdem eine so ausgezeichnete Verfassung haben, daß das Verdienst belohnt wird und trotz gleichmäßiger Verteilung des Besitzes allen alles reichlich zur Verfügung steht. Und dann vergleiche ich im Gegensatz dazu mit ihren Gebräuchen die so vieler anderer Nationen, die nicht aufhören zu ordnen, von denen allen aber auch nicht eine jemals so richtig in Ordnung ist. Bei ihnen bezeichnet jeder, was er erwirbt, als sein Privateigentum; aber ihre so zahlreichen Gesetze, die sie tagtäglich erlassen, reichen nicht aus, jemandem den Erwerb dessen, was er sein Privateigentum nennt, oder seine Erhaltung oder seine Unterscheidung von fremdem Besitz zu sichern, was jene zahllosen Prozesse deutlich beweisen, die ebenso ununterbrochen entstehen, wie sie niemals aufhören. Wenn ich mir das so überlege, werde ich Plato doch besser gerecht und wundere mich weniger darüber, daß er es verschmäht hat, für jene Leute irgendwelche Gesetze zu erlassen, die eine auf Gesetzen beruhende gleichmäßige Verteilung aller Güter unter alle ablehnen. In seiner großen Klugheit erkannte er offensichtlich ohne weiteres, daß es nur einen einzigen Weg zum Wohle des Staates gibt: die Einführung der Gleichheit des Besitzes. Diese ist aber wohl niemals dort möglich, wo die einzelnen ihr Hab und Gut noch als Privateigentum besitzen. Denn, wo jeder auf Grund gewisser Rechtsansprüche an sich bringt, soviel er nur kann, teilen nur einige wenige die gesamte Menge der Güter unter sich, mag sie auch noch so groß sein, und lassen den anderen nur Mangel und Not übrig. Und in der Regel ist es so, daß die einen in höchstem Grade das Los der anderen verdienen; denn die Reichen sind habgierige, betrügerische und nichtsnutzige Menschen, die Armen dagegen bescheidene und schlichte Männer, die durch ihre tägliche Arbeit dem Gemeinwesen mehr als sich selbst nützen. Ich bin daher der festen Überzeugung, das einzige Mittel, auf irgendeine gleichmäßige und gerechte Weise den Besitz zu verteilen und die Sterblichen glücklich zu machen, ist die gänzliche Aufhebung des Privateigentums. Solange es das noch gibt, wird der weitaus größte und beste Teil der Menschheit die beängstigende und unvermeidliche Last der Armut und der Kümmernisse dauernd weiterzutragen haben. Sie kann wohl ein wenig erleichtert werden, das gebe ich zu; aber sie völlig zu beseitigen, das ist, so behaupte ich, unmöglich. Man könnte ja für den Besitz des einzelnen an Grund und Boden ein bestimmtes Höchstmaß festsetzen und ebenso eine bestimmte Grenze für das Barvermögen; man könnte auch durch Gesetze einer zu großen Macht des Fürsten und einer zu großen Anmaßung des Volkes vorbeugen. Ferner könnte man die Erlangung von Ämtern durch allerlei Schliche oder durch Bestechung und die Forderung von Aufwand während der Amtstätigkeit unterbinden. Andernfalls nämlich bietet sich Gelegenheit, sich das verausgabte Geld durch Betrug und Raub wieder zu verschaffen, und man sieht sich gezwungen, reichen Leuten die Ämter zu geben, die man lieber Fähigen hätte geben sollen. Durch solche Gesetze kann man die erwähnten Übelstände wohl mildern und abschwächen, ebenso wie man kranke Körper in hoffnungslosem Zustande durch unablässige warme Umschläge zu stärken pflegt. Aber auf eine vollständige Behebung der Übelstände und auf den Eintritt eines erfreulichen Zustandes darf man ganz und gar nicht hoffen, solange jeder noch Privateigentum besitzt. Ja, während man an der einen Stelle zu heilen sucht, verschlimmert man die Wunde an anderen Stellen. So entsteht abwechselnd aus der Heilung des einen die Krankheit des anderen; denn niemandem kann man etwas zulegen, was man einem anderen nicht erst weggenommen hat.«
»Aber ich bin gerade der entgegengesetzten Meinung«, erwiderte ich, »daß man sich nämlich niemals dort wohl fühlen kann, wo Gütergemeinschaft herrscht. Denn wie könnte die Menge der Güter ausreichen, wenn jeder sich um die Arbeit drückt, weil ihn ja keine Rücksicht auf Erwerb zur Arbeit anspornt und weil ihn die Möglichkeit, sich auf den Fleiß anderer zu verlassen, träge werden läßt? Aber wenn auch die Not die Menschen zur Arbeit anstacheln sollte, würde man da nicht dauernd durch Mord und Aufruhr in Gefahr schweben, falls niemand auf Grund irgendeines Gesetzes das, was er erwirbt, als sein Eigentum schützen könnte? Zumal wenn die Autorität der Behörden und die Achtung vor ihnen geschwunden ist, wie könnte dann für beides Platz sein bei Menschen, zwischen denen keinerlei Unterschied besteht? Das kann ich mir nicht einmal vorstellen.«
»Über diese deine Ansichten wundere ich mich gar nicht«, erwiderte Raphael; »denn von einem solchen Staate hast du entweder gar keine Anschauung oder nur eine falsche. Wärest du jedoch mit mir in Utopien gewesen und hättest du dort mit eigenen Augen die Sitten und Einrichtungen kennengelernt, wie ich es getan habe, der ich über fünf Jahre dort gelebt habe und gar nicht wieder hätte fortgehen mögen, außer um die Kenntnis von dieser neuen Welt zu verbreiten, so würdest du entschieden zugeben, du habest nirgends anderswo ein Volk mit einer guten Verfassung gesehen außer dort.«
»Und doch«, sagte Peter Ägid, »wirst du mich in der Tat nur schwer davon überzeugen können, daß es in jener neuen Welt ein Volk mit besserer Verfassung gibt als in dieser uns bekannten. Haben wir doch hier ebenso kluge Köpfe, und die Staatswesen sind, meine ich, älter als dort; auch verdanken unsere Kulturgüter ihre Entstehung zum größten Teile langer Erfahrung, wobei ich nicht unerwähnt lassen will, daß bei uns manches durch Zufall entdeckt worden ist, was zu erdenken kein Scharfsinn ausgereicht hätte.«
»Über das Alter der Staaten würdest du richtiger urteilen können«, erwiderte jener, »wenn du die Geschichtswerke über jene Welt genau gelesen hättest. Darf man ihnen glauben, so hat es dort früher Städte gegeben als bei uns Menschen. Alles aber, was bis heute der Scharfsinn erfunden oder der Zufall entdeckt hat, konnte hier wie dort vorhanden sein. Im übrigen ist es meine feste Überzeugung: Mögen wir jenen Leuten auch an Gaben des Geistes voraussein, an Eifer und Fleiß bleiben wir trotzdem weit hinter ihnen zurück. Wie nämlich aus ihren Chroniken hervorgeht, hatten sie vor unserer Landung dort niemals etwas von unserer Welt gehört – sie nennen uns Ultraäquinoktialen –, außer daß in alten Zeiten, vor nunmehr 1200 Jahren, in der Nähe der Insel Utopia ein vom Sturm dorthin verschlagenes Schiff durch Schiffbruch unterging. Dabei warfen die Wellen etliche Römer und Ägypter an den Strand, die dann nie wieder fortgingen.
Und nun sieh, wie die Utopier in ihrem Fleiße diese in ihrer Art einzige Gelegenheit ausnutzten! Es gab im ganzen römischen Reiche keine irgendwie nützliche Kunstfertigkeit, die sie nicht von den gestrandeten Fremdlingen erlernt oder die sie nicht, im Besitze der Keime ihrer Kenntnis, weiter ausgebildet hätten. Von solchem Vorteil war es für sie, daß auch nur ein einziges Mal ein paar Leute von hier dorthin verschlagen wurden. Sollte aber ein ähnlicher glücklicher Zufall früher einmal jemanden von dort hierher gebracht haben, so ist das heute ebenso gänzlich vergessen, wie sich vielleicht spätere Geschlechter auch meines Aufenthaltes dort nicht mehr erinnern werden. Und während sich die Utopier schon bei der ersten Berührung mit uns alle unsere nützlichen Erfindungen aneigneten, wird es dagegen lange dauern, bis wir irgendeine Einrichtung übernehmen, die bei ihnen besser ist als bei uns. Dies halte ich auch für den Hauptgrund dafür, daß trotz unserer geistigen und materiellen Überlegenheit ihr Staat dennoch klüger verwaltet wird und glücklicher aufblüht.«
»Also, mein lieber Raphael«, sagte ich, »so bitte ich dich dringend, gib uns eine Beschreibung der Insel und fasse dich nicht zu kurz, sondern erläutere uns der Reihe nach Landschaft, Flüsse, Städte, Menschen, Sitten, Einrichtungen, Gesetze, kurz alles, was wir, wie du meinst, gern kennenlernen wollen! Du kannst aber annehmen, daß wir alles wissen möchten, was wir bis jetzt nicht wissen.«
»Nichts werde ich lieber tun«, erwiderte er; »denn das habe ich noch frisch im Gedächtnis. Aber die Sache erfordert Zeit.«
»So wollen wir denn hineingehen«, sagte ich, »und frühstücken; dann nehmen wir uns Zeit, ganz wie es uns beliebt!«
»Einverstanden!« erwiderte er.
Und so gingen wir ins Haus und frühstückten. Danach kehrten wir an den alten Platz zurück und nahmen auf derselben Bank Platz. Den Dienern sagte ich, wir wollten von niemandem gestört werden. Dann erinnerten Peter Ägid und ich den Raphael an sein Versprechen. Als er uns nun in solcher Spannung und Erwartung sah, saß er erst eine Weile schweigend und nachdenklich da, dann begann er folgendermaßen.
(Ende des ersten Buches. Es folgt das zweite.)