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Unter Arizona versteht man das Gebiet, das zuletzt von Mexiko an die nordamerikanische Union abgetreten ist, und das nördlich von Mexiko zwischen Texas und Kalifornien liegt. Es grenzt nirgends an die See und ist ein von den hier sich senkenden Kordilleren durchzogenes Hochplateau, das noch vor kurzem eine Wüste war und auch jetzt sehr wenig Spuren von Ansiedlung zeigt. Hier gibt es keine Eisenbahnen und nur wenig Straßen; die Straßen sind nur mit Sumpfpfaden zu vergleichen. Es ist ein Gebirgsland, von fast unfruchtbaren Tälern unterbrochen, wüst, eintönig, selbst von den Indianern vernachlässigt, denn die Indianer lieben mehr die Ebene, die Prärie.
Aber in einem Tale beginnt bereits die Kultur; es ist das Tal von Aripa. Wenn man von einem 7000 Fuß hohen Gebirgszuge westlich niedersteigt in das allerdings immer noch hochliegende Tal, so gewahrt man mit Genugtuung vor sich eine Ortschaft, die an Ausdehnung einer Stadt gleicht, und die niemand hier vermutet, und die man vor zwanzig Jahren auch noch nicht gefunden hätte. Man sieht eine Menge Gebäude, größere und kleinere, Wohn-, Wirtschafts- und Arbeitshäuser; selbst die größten darunter zeichnen sich nicht durch Schönheit oder imponierende Größe aus. Sie sind sämtlich der Gegend angepaßt, die nicht frei von Erdbeben, Stürmen und Ueberschwemmungen ist. Ein großer Park umgibt den ganzen Ort, Gärten umschließen fast jedes einzelne Haus, und mag der Ankommende nun einer Nation angehören, der er wolle, er wird die Laute seines Vaterlandes hören. Denn hier sind Nord- und Südamerikaner, Mexikaner, Engländer, Franzosen, Deutsche, Spanier, Italiener und Schweizer. Selbst dunkle, krausköpfige Neger fehlen nicht; aber sie tragen den Kopf hoch und stolz, denn sie sind frei, keine Sklaven. Und für freundliche Aufnahme bürgt ihm jedes Haus, vor allem aber das Wohnhaus Don Lotarios. Denn hier ist jeder Fremde willkommen. Er kann bleiben, so lange er will, und ist er tüchtig, so bleibt er vielleicht für immer.
Ja, hierher, in diese von der zivilisierten nordamerikanischen Welt so weit entfernte Einsamkeit war Don Lotario gezogen, der Mann, dessen Reichtum erlaubt hätte, den glänzendsten Lord am Hofe von St. James, den reichsten Bankier auf dem Brodway in New York zu überstrahlen! Gehorsam dem Wunsche seines väterlichen Freundes Dantes hatte er zuerst die Besitzungen in Kalifornien, auf dem Berge der Wünsche, übernommen. Aber als die Goldentdeckungen in Kalifornien Tausende und Abertausende von Amerikanern und Europäern herbeilockten und es sich leicht erraten ließ, daß dieses Land nun bald durch sich selbst zivilisiert werden würde, erschien auch Dantes bei dem jungen, tätigen Don Lotario und bat ihn, weiter zu ziehen.
»Hier ist nichts Schwieriges mehr zu tun,« sagte er. »Das Land ist Unions-Land geworden, und die Amerikaner werden ihre Schuldigkeit tun. Diese Gegend ist für immer der Zivilisation gewonnen. Gehen Sie nach Nord-Mexiko. Das ist ein Land, das gute Bürger braucht, und in dem jeder Keim der Zivilisation ein Segen Gottes ist. Aus Gewinnsucht wird sich niemand dort niederlassen, das Land bietet keine Schätze. Soll es nicht ewig eine Wüste bleiben, so muß ein Mann, der nicht auf den Vorteil zu sehen braucht, dort mit förderndem Beispiel vorangehen. Sehen Sie zu, was dem Lande mit allem Aufwand von Kraft, Geld und Geduld abzugewinnen ist. Zwar dürfte das Land bald von der Union erworben werden, aber erst in fünfzig Jahren, frühestens, wird sich der Blick der Kolonisten dorthin richten. Dann haben Sie vorgearbeitet. Die Fremdlinge finden dann eine Stätte, eine Heimat. Die Aufgabe ist schwer, ruhmlos, eintönig. Deshalb gebe ich sie Ihnen! Sie werden dort mit Ihrer jungen Gattin, mit Ihren heranwachsenden Kindern glücklicher leben, als irgendein Fürst auf einem Thron.«
Und so geschah es, und so war es! Wolfram Büchting ging damals bereits mit dem Gedanken um, nach Virginien zu ziehen; Lotario unternahm also allein die Uebersiedlung nach dem jetzigen Arizona. Es war keine leichte Aufgabe, die ihm gestellt worden. Als er das Aripatal zuerst betrat und sein Zelt aufschlug – denn Häuser gab es dort nicht –, war es nicht viel mehr als eine Wüste, aus der jedoch schöne Baumgruppen, Zypressen, tausendjährige Eichen, Sykomoren und nach dem Gebirge zu turmhohe Fichten hervorragten. Seine junge Frau und seine drei Kinder blieben noch zwei Jahre lang auf dem Berge der Wünsche, während Lotario das Aripatal in einen Park umzuwandeln versuchte. Als Therese, seine Gattin, dann nach dem Tale übersiedelte, starb das älteste Töchterchen des glücklichen Paares unmittelbar nach der Ankunft im Tal. Doch trösteten die lachenden Augen eines zwar zarten, aber kräftigen Knaben und eines lieblichen Mädchens die tief trauernden Eltern.
Seitdem erwuchs Toledo – wie es allgemein genannt wurde – zu einer Musterkolonie. Geld wurde freilich nicht gespart; hin und wieder versetzte man im vollsten Sinne des Wortes Berge, um namentlich den Lauf des kleinen Flusses zu regeln, der das Tal durchfloß. Von nah und fern, aus Texas, Mexiko und Kalifornien kamen Kolonisten, denen ihr Lebensbedarf zugesichert wurde, und die außerdem große Strecken Land zum Geschenk erhielten, denn Don Lotarios Besitzung war ungefähr so groß, wie ein stattliches deutsches Fürstentum, und umfaßte einen bedeutenden Teil des ganzen Territoriums von Arizona. Um die Zeit, in der Don Lotario durch die Gefangennahme seiner Tochter erschreckt wurde, zählte Toledo ungefähr 150 kräftige Männer und gegen 400 Frauen und Kinder.
Wie Edmond Dantes es vorausgesehen hatte, war diese Welt, die sich Don Lotario geschaffen, dem tätigen Manne so lieb geworden, daß er sie selten mehr verließ. Er sorgte jetzt nur noch dafür, daß seine beiden Kinder in Europa die Ausbildung erhielten, die ihnen notwendig war, wenn sie der Eltern würdig sein sollten. Er selbst und seine Gattin – beide standen noch im kräftigsten Lebensalter – weilten am liebsten in Arizona, in der friedlichen Kolonie, die sie geschaffen hatten.
Die breiten, hellen und hohen einstöckigen Wohngebäude schlossen eine Welt von Kunst, Wissenschaft, Bequemlichkeit und Vergnügen in sich ein. Da waren neben den zum Wohnen bestimmten Räumen große Hallen für gemeinsame Festlichkeiten, Musiksäle, ein Theater, eine große Bibliothek mit den lehrreichsten, unterhaltendsten und prächtigsten Werken aller Nationen. Der Deutsche fand sicherlich dort seinen Kaulbach und Ludwig Richter, der Franzose seinen Doré und Tony Johannot. Der Museumssaal enthielt eine Menge trefflicher Bilder von lebenden Künstlern und guter Kopien der großen Meister der Vergangenheit. Da waren Billards, Kegelbahnen, Schießstände, Bäder verschiedener Art.
Die Deutschen waren neben den Amerikanern und Mexikanern am stärksten hier vertreten. Man zählte ihrer gegen dreißig. Sie bewohnten eine eigene kleine Kolonie auf der Nordseite von Toledo, denn Don Lotario liebte es, seine Kolonisten sich ganz so einrichten zu lassen, wie sie es wünschten und wie sie es in der Heimat gewöhnt waren.
Es war Don Lotarios Absicht, daß Alfonso nicht in Toledo bleiben, sondern später eine ähnliche Kolonie mehr südlich in dem von der Natur so reich gesegneten und von den Menschen vernachlässigten Mexiko selbst gründen sollte, damit die Wünsche des Missionars, ihre Reichtümer dazu anzuwenden, um dort Kultur zu verbreiten, wo Vorteil und Gewinn keine Anziehungskraft auf arme Menschen übten, in Erfüllung gingen. Deshalb hatte sich auch Alfonso bei Herrn Ratorius auf Mirador aufgehalten und Studien über mexikanische Verhältnisse gemacht. Aber es war Alfonso ganz überlassen, den Ort zu wählen. Wohl hätte der Vater gewünscht, daß sein Sohn bald eine Gattin fände, die ihm in seiner künftig zu erwählenden Einsamkeit die ganze fehlende Welt ersetze. Aber Alfonso war ja noch sehr jung, und von einer Trennung wurde jetzt noch nicht gesprochen.
Es war an einem heißen, aber schönen Vormittag, als Don Lotario mit seinen Begleitern die ersten Häuser von Toledo erreichte. Ein Bote hatte sowohl Lotarios Gattin wie die zurückgebliebenen Bewohner von dem Geschehenen unterrichtet. War es auch erfreulich, daß Inez gerettet und damit der Zweck der Expedition erreicht worden war, so hatte man doch immer den Verlust einiger wackerer Männer zu beklagen, und Don Lotarios Bote war deshalb mit dem bestimmten Auftrage versehen gewesen, jede frohe Feier zu verhindern.
Als der Zug auf dem Markte angelangt war, einem sehr großen freien Platz inmitten der Kolonie, der rings von prächtigen alten Bäumen umgeben war, hielt Don Lotario eine kurze, ernste Ansprache, in der er den Männern für die Dienste, die sie ihm geleistet hatten, seinen Dank aussprach. Dann entließ er sie, bat die seinigen, sich nach der Hacienda Mayor – wie das Herrenhaus gewöhnlich genannt wurde – zu begeben, stieg von seinem Pferde und ging zu Fuß zu der Witwe eines der Männer, die getötet worden. Der Trost der Witwe sollte seine erste Handlung nach der Rückkehr sein. Von den anderen Gefallenen war glücklicherweise keiner verheiratet, nur einer – ein noch junger Mann – hatte einen jüngeren Bruder in Toledo. Diesem galt Don Lotarios zweiter Besuch. Dann erst begab auch er sich nach der Hacienda Mayor.
Hier herrschte ebenfalls ein ernster Ton, wie ihn die Ereignisse rechtfertigten. Donna Theresa hatte ihre Tochter und ihren Sohn an der Tür ihres Wohnzimmers empfangen, hatte dem Kapitän und Mr. Conningham freundlich die Hand gereicht und sich dann sogleich mit ihren beiden Kindern zurückgezogen. Edmond Dantes war nicht mit dem großen Zuge nach Toledo zurückgekehrt; er wollte eine kurze Wanderung am oberen Rio Grande machen und erst nach einigen Tagen in Toledo eintreffen.
So machte denn der an und für sich so freundliche Ort, dessen Anblick Edmonds Auge ungemein erquickt hatte, an diesem ersten Tage doch einen sehr ernsten Eindruck auf den jungen Kapitän. Man hatte ihn in ein Nebenhaus geführt, das Alfonso zur Wohnung diente. Dort war genug Raum vorhanden, so daß drei Zimmer neben denen Alfonsos eingerichtet waren. Mr. Conningham hatte ihm schon vorher gesagt, der gewöhnliche Versammlungsort sei die große Veranda des Hauptgebäudes; sie sei gewissermaßen der Salon, in dem sich jeder einfinde, den nicht Beschäftigung in seinem Zimmer oder anderswo zurückhalte.
Edmond hatte vor allem das Bedürfnis, sich in kühlem Wasser zu strecken. Das Flußbad war zu weit entfernt, aber das Badezimmer, das sich in jedem Hause befand, bot ihm alles, was er wünschte, und nach ungefähr einer Stunde erschien der stattliche junge Mann in aller Frische und Beweglichkeit vor der Tür seiner Wohnung und schritt der Hacienda Mayor zu, von der ihn nur ein hundert Fuß breiter Garten trennte.
Er liebte Inez und wurde von ihr geliebt – daran zweifelte er nicht. Aber genügte das, die Einwilligung der Eltern zu erhalten und sie also vor aller Welt seine Braut nennen zu dürfen? Obwohl Edmond de Tréport das Kind einer reichen Soldatenfamilie war, war er dennoch kein eingefleischter Soldat. Nun war die Familie Toledo, wie er genugsam durch Alfonso und jetzt auch durch Don Lotario erfahren hatte, eine Familie von Kolonisten im größten und bedeutendsten Sinne des Wortes. Würde man ihm, dem französischen Soldaten, freudig die Tochter geben? Daran, daß Inez Toledo viel reicher sei als er, wollte er gar nicht denken, denn darauf legten die Eltern seiner Geliebten keinen Wert – das wußte er. Aber was war er sonst? Der Sohn seines Vaters, Kapitän, mit der Zeit Oberst, vielleicht nach zwanzig Jahren General. Genügte das Inez' Eltern? Und würden sie sich gern durch das Meer von ihrer Tochter trennen wollen? Ja, wenn die Eroberung von Mexiko gelang, wenn französische Militärbezirke eingerichtet wurden und Edmond vielleicht an die Spitze eines solchen Bezirkes trat, dann hätte Inez dauernd in der Nähe ihrer Eltern bleiben können! Aber Don Lotario war dem französischen Regiment nicht günstig, das hatte Edmond längst herausgefühlt. Der junge Kapitän sagte sich, daß hier Hindernisse vorhanden seien, die freilich keine unüberwindlichen Schwierigkeiten boten, die aber trotzdem zur Vorsicht mahnten.
Und noch eines beschäftigte den jungen Offizier. Wer war dieser Mr. Conningham, dem Don Lotario eine so herzliche Teilnahme bewies? Zu welchem Zwecke hielt sich Mr. Conningham in Toledo auf? War er für Inez bestimmt und sie für ihn? Oder neigte wenigstens der Wunsch der Eltern nach dieser Seite hin?
Alfonso hatte Mr. Conningham früher nicht gekannt, war nur durch die Briefe seines Vaters auf dessen Anwesenheit in Toledo vorbereitet worden. Jedenfalls lag etwas Geheimnisvolles über dem Aufenthalt dieses jungen Mannes, den Edmond von Herzen achtete.
Unter diesen Verhältnissen beschloß Edmond, seine Liebe nicht eher zu verraten, als bis Inez ihm die Erlaubnis dazu gab. Mit Alfonso hatte er sein Wort mehr über diese Liebe gesprochen, seit ihm die Nachricht von dem Schicksal der Geliebten damals in Orizaba plötzlich sein Geheimnis entrissen hatte. Er wollte sich in jeder Beziehung und auch Inez gegenüber nur als der gastfrei aufgenommene Sohn einer befreundeten Familie zeigen.
Mit diesem Gedanken trat er in die Veranda, die in der Tat einen köstlichen Aufenthalt bot. Breit und luftig, vollkommen gegen die Sonne geschützt, gewährte sie einen herrlichen Blick über einen Teil des Fleckens, über freundliche Wälder und Baumgruppen bis zu den westlichen, nördlichen und östlichen Gebirgen. Ohne gerade prachtvoll ausgestattet zu sein, bot sie dennoch an Bequemlichkeit alles, was man sich wünschen kann. Auf verschiedenen Tischen lagen Zeitungen und Bücher, standen Zigarren, die unvermeidlichen Begleiter aller Mittel- und Südamerikaner. Ein silbernes Becken an der einen Wand enthielt Trinkwasser, das sich durch einen geschickten und einfachen Mechanismus von Zeit zu Zeit erneute. Daneben standen verschieden geformte Gläser und einige Karaffen mit Wein, Fleur d'Orange und Likören zum Mischen – denn in den heißen Gegenden wird Wasser selten unvermischt getrunken. Einige sehr schöne Bilder an den Wänden, einige seltene Blumen und Vögel vollendeten die Ausstattung dieser Veranda, die doch nur ein Vorbau war und also auf den Reichtum und Geschmack des Innern schließen ließ.
Kaum war Edmond unter die Veranda getreten und hatte den Blick über die schöne Landschaft und die nähere Umgebung der Hacienda schweifen lassen, da erschien Alfonso.
»Verzeihe nur, daß wir Dich allein lassen!« rief er und schüttelte Edmond herzlich die Hand. »Du kannst Dir vorstellen, wieviel die Mutter mit Inez zu sprechen hat, und überdies setzten wir voraus, daß jeder das Bedürfnis haben würde, die Strapazen der Reise und der Prärie ein wenig abzuspülen. Du bist als echter Soldat natürlich am schnellsten von allen fertig. Willst Du frühstücken? Du brauchst nur die Klingel zu ziehen und alles, was das Haus hat, steht Dir zu Diensten. Willst Du rauchen, Dir einen Sorbet, einen römischen Punsch mischen? Alles steht dort bereit und harrt auf Dich! Ich will nur selbst erst ein Bad nehmen und dabei meine etwas vernachlässigte Wunde untersuchen lassen. Wir essen hier um zwölf und um sechs. Vergiß nicht, daß Du hier zu Hause bist, und mach' mir die Meinen nicht abtrünnig durch Deine Liebenswürdigkeit. Auf Wiedersehen, mein Junge!«
Edmond sah ihm freundlich nach. An diesem braven Burschen hatte er einen Freund in aller Not!
Er mischte sich dann ein angenehmes Getränk aus Sherry, etwas Zucker, Rum und Wasser, brannte eine der Zigarren an, wie sie nur der reiche Amerikaner kennt, deren starker, aromatischer Tabak fast wie ein Nahrungsmittel wirkt, setzte sich auf einen der geflochtenen Sessel und blickte hinaus auf den Garten, in dem zwei weiße Mädchen und ein Neger beschäftigt waren.
»Hätte ich mir jemals träumen lassen,« dachte er, »daß ich Arizona sehen und es unter diesen Verhältnissen sehen würde? Für meine jungen Jahre bin ich leidlich herumgewürfelt worden. Ich kenne viel von Frankreich, einen Teil Deutschlands, die Schweiz, die Gebirge des Atlas und die Pyrenäen. Italien bis nach Neapel hin, ein gut Stück Orient und die Krim, Havana, Mexiko, die Prärien, und jetzt diese Gegenden – wahrlich, ein gut Stück Welt, und wenn es sein müßte, so könnte ich schon ohne Bedauern an einem freundlichen Ort und am Herzen eines geliebten Weibes ausruhen. Die Mutter, so lieb sie mich hat, würde doch Haydee und Eduard in ihrer Mitte behalten und sich an ihnen zu erfreuen wissen. Es liegt ein ungemeiner Reiz in dem Gedanken, auf einer solchen Kolonie zu wohnen, wie Adam und Eva einst im Paradiese. Und nun gar zu denken, daß eine Schar reizender Kinder ...«
Seine Miene mußte wohl ganz besonders freundlich erhellt sein, denn der Neger, der bisher im Garten gearbeitet hatte und jetzt an der Veranda vorüberkam, lächelte, während er grüßte.
»Wo sind Sie geboren?« fragte ihn Edmond, der eine Art Bedürfnis hatte, mit irgendjemand zu sprechen.
Er hatte die Frage, ohne daran zu denken, daß er wahrscheinlich nicht verstanden werden würde, in französischer Sprache gestellt. Dennoch antwortete der Neger sogleich:
» En afrique Monsieur.«
»Ah, Sie sprechen Französisch?« rief Edmond, sich jetzt erst erinnernd. »Wo haben Sie das gelernt?«
»In New Orleans, mein Herr, wo ich eine Zeit lang der Sklave eines französischen Herrn war.«
»Also Sie waren Sklave?« fragte Edmond verwundert, denn der Schwarze machte ihm durchaus nicht diesen Eindruck. Es war ein Mann ungefähr in den Fünfzigern, noch kräftig, schlank und regelmäßig gebaut, allerdings mit krausem Haar und vollen Lippen, aber er hatte durchaus angenehme Züge.
»Ja, in der Havana und in Texas, bis ich einen Agenten des Don Lotario kennen lernte, der mir die Summe vorschoß, die mir zu meinem Loskauf fehlte, und mich hierher sandte,« antwortete der Neger in ganz geläufigem Französisch. »Sie werden mir wohl glauben, wenn ich sage, daß ich glücklich bin.«
»O ja, das glaube ich!« antwortete Edmond. »Stehen Sie in Don Lotarios Diensten?«
»Wie man es nehmen will. Ich habe ein Häuschen und mein eigenes Feld. Da aber Don Lotario findet, daß ich mich zum Gärtner eigne, so habe ich die Aufsicht über den Park und erhalte dafür einen Lohn, der weit über meine Bedürfnisse hinausgeht. Ich habe die Absicht, meine Schwester, die sich in Alabama befindet, freizukaufen. Aber Don Lotario sagt, es werde kaum mehr nötig sein, die Sklaverei werde bald ein Ende nehmen. Auch befindet sich meine Schwester in guten Verhältnissen; sie ist Dienerin bei einer alten Dame.«
»Also man glaubt an die Befreiung sämtlicher Sklaven in den Vereinigten Staaten?« sagte Edmond.
»Wir hoffen es, und Don Lotario sagt, er sei überzeugt davon,« antwortete der Neger. »Doch Verzeihung, mein Herr! Ich muß zum Essen.«
Der Neger verbeugte sich artig und Edmond blickte ihm nach. Dieser Neger mochte freilich eine Ausnahme sein; aber bewies nicht die Ausnahme, daß alle Neger auf einen Zustand gleicher Kultur gebracht werden könnten, wenn man daran arbeite – und namentlich dann, wenn sie in Freiheit geboren und erzogen würden?
Mr. Conningham erschien jetzt und setzte sich neben Edmund unter die Veranda. Der Offizier erzählte ihm sein Gespräch mit dem Neger. Conningham lächelte.
»O, ich kenne ihn,« sagte er. »Master Augustus ist ein sehr gebildeter Mann. Wir haben freilich nicht allzu viel seinesgleichen, aber doch auch manche, die ihm nicht allzu sehr nachstehen. Er spricht Englisch und Französisch, liest, schreibt, rechnet – er ist ein Mensch gerade wie wir. – Wie gefällt Ihnen dieses neue Toledo, die Stammburg des zukünftigen, hoffentlich weit verbreiteten Geschlechts Toledo?«
»Wahrlich nicht schlecht,« antwortete Edmond. »Wir sehen hier freilich keine Türme, Zinnen, Zugbrücken, Erker, Söller und Burgverließe, aber darum gefällt mir gerade diese freundliche und luftige Veranda desto besser. Sollte auch einst kein Sprößling der Toledos mehr hier wohnen, so wird doch der Name schon an den Gründer der Kolonie erinnern.«
»Und das ist der beste Adel!« sagte Mr. Conningham. »Doch, verzeihen Sie – Sie sind selbst adelig –«
»Ja, ganz neuer französischer Adel!« antwortete Edmond. »Wir verdanken ihn unserem allgemeinen Wohltäter Dantes. Denn ohne die Reichtümer, die er meinem Vater abgetreten hat, und ohne unser Schloß in Tréport würde man schwerlich den einfachen Maximilian Morel zum Baron de Tréport gemacht haben. Nun, wir haben unserem Namen wenigstens in der Armee und auf den Schlachtfeldern Ehre gemacht, was man nicht von allen Adeligen sagen kann! Sie sind schon längere Zeit hier, Mr. Conningham?«
»Fast ein Jahr,« antwortete der junge Mann. »Freilich habe ich das erste halbe Jahr wenig von diesem reizenden Aufenthalt genossen, denn ich war sehr schwer – krank.« – Es schien, als habe er ein anderes Wort sagen wollen, sich dann aber schnell besonnen. – »Seit ich jedoch gesund geworden, habe ich nicht eine einzige Stunde Langeweile empfunden. Sie glauben nicht, welche herrliche Familie dies ist!«
»O, ich glaube es schon!« sagte Edmond treuherzig. »Schade nur, daß Donna Inez viel von ihrem heiteren Charakter verloren hat. Sie scheint das Unglück, an dem sie doch in der Tat nicht schuldig ist, noch immer nicht verwinden zu können. Jeder andere würde den Weg eingeschlagen haben, den sie genommen hat; die einzige Schuld tragen doch die Indianer, und vor allem schuldig war Wilhamenu, der seine gerechte Strafe erhalten hat.«
»Gewiß, gewiß!« rief Mr. Conningham. »Donna Inez wird das auch bald einsehen, wenn sie erst wieder im Schoße ihrer Familie lebt. Doch erzählen Sie mir von Ihrem Kampfe mit Wilhamenu!«
Edmond sah keinen Grund, weshalb er dem Wunsche des freundlichen jungen Mannes nicht willfahren solle.
»Ich bin noch nie in einem Gefecht gewesen, jenes mit den Indianern ausgenommen,« sagte der Amerikaner dann. »War es ein ernstes Gefecht, ja? Sie haben darüber das beste Urteil.«
»Wohl war es ein hitziger Kampf,« antwortete Edmond. »Doch verlor er für den Neuling, wie Sie es also waren, einen Teil des Schrecklichen, weil Sie sich plötzlich unmittelbar im Gefecht und im Handgemenge befanden. Bei größeren Kämpfen und Schlachten ist der Zeitraum vor dem Angriff viel länger und viel unangenehmer. Man hört oft den Donner der Kanonen ringsum, sieht ganze Bataillone im Handgemenge und ist doch zur Untätigkeit verdammt. Das regt die Nerven am meisten auf. Indessen legt sich auch das mit der Zeit. Wenn man seit seinem fünfzehnten Jahre Soldat ist, wie ich, das heißt, gekämpft hat – denn in der Krim war ich nicht viel älter – so achtet man gar nicht mehr auf die eigene Gefahr. Ich denke nur an meine Leute. Es gibt fast in jeder menschlichen Natur neben dem Triebe der Selbsterhaltung auch einen Dämon der Vernichtung, der uns namentlich dann zu beherrschen beginnt, wenn wir unsere Kameraden fallen und die Erde sich mit Blut röten sehen. Hat uns dieser Dämon ergriffen, so hört jeder Gedanke an das eigene Selbst, an die Erhaltung des eigenen Lebens auf.«
»Aber wie würde dieser Trieb bei Zerstörung und Vernichtung Befriedigung erhalten können, wenn es einst keinen Krieg mehr gäbe, wenn ein ewiger Frieden herrschte?« fragte Mr. Conningham.
»Glauben Sie, daß diese Zeit einst kommen wird?« erwiderte Edmond. »Ich möchte fast daran zweifeln. So lange der Mensch konstruiert ist, wie jetzt, so lange er mit denselben Leidenschaften und Begierden geboren wird, dürfte auch das letzte Mittel der Leidenschaft, die Gewalt oder der Krieg, nicht auszurotten sein.«
Hier unterbrach das Erscheinen der Donna Theresa das Gespräch. Sie reichte den beiden jungen Männern die Hand, die beide ehrerbietig küßten. Dann richtete sie eine Reihe von Fragen an Edmond, die aber sämtlich nur seine Familie und die frühere Vergangenheit betrafen, die letzten Ereignisse wurden gar nicht von ihr erwähnt. Sie sprach offen ihre Freude darüber aus, daß die beiden Familien durch Edmonds Zusammentreffen mit Inez und durch die Begegnung der beiden jungen Männer in Mexiko einander wieder genähert worden seien. Inez, sagte sie, wisse die Güte der Familie Morel gegen sie gar nicht genug zu rühmen; sie hoffe nun aber, daß auch Edmond sich hier bei ihnen wohlfühlen und so lange bleiben werde, als es ihm irgend möglich sei. Inez, fügte sie hinzu, werde heute wohl nicht sichtbar sein. Sie fühle sich infolge der Anstrengungen der letzten Wochen aufs Aeußerste erschöpft; die Abspannung folge, wie immer in solchen Fällen, der Aufregung, und sie werde sich glücklich schätzen, wenn nicht irgendeine Krankheit den traurigen Beschluß dieses unglücklichen Abenteuers bilde.
Donna Theresa war noch immer eine anziehende Frau mit klaren, sprechenden, ausdrucksvollen Augen. Es lag eine Anmut in ihrer Erscheinung, die etwas Bezauberndes hatte und ihr jedes Herz gewann. Ihre Manieren waren von vollendeter Feinheit und von edelster Natürlichkeit. Wer hätte denken können, daß diese Frau, die überall bewundert worden wäre, das Kind einfacher Eltern in Berlin sei! Welche Schicksale, welche Vergangenheit hatten dazu gehört, um diesen Edelstein von allen seinen Schlacken zu befreien und ihm den Glanz zu verleihen, in dem er jetzt strahlte!
Mit dieser Frau, die ebenso angenehm zuzuhören, als zu sprechen verstand, verplauderte sich leicht eine halbe Stunde. Mr. Conningham, den sie um Entschuldigung bat, war ein stummer Zuhörer ihrer Unterredung mit Edmond, bis Don Lotario kam und nun die Unterhaltung allgemeiner wurde. Bald stellte sich auch Alfonso ein, und mit ihm die Nachricht, daß das Frühstück serviert sei. So ging man zu Tisch.
Die Stunden unmittelbar nach dieser ersten Hauptmahlzeit waren auf der Hacienda Mayor, wie in allen tropischen Gegenden, der Ruhe gewidmet. Es wäre auch Torheit gewesen, der im Zenit stehenden Sonne trotzen zu wollen, wenn es nicht die Notwendigkeit gebot. So gingen denn Edmond und Alfonso nach ihrer Wohnung, Mr. Conningham schloß sich ihnen an, und die drei Männer faßten den Entschluß, diese Siestazeit stets zusammen zu verbringen. Denn gewöhnlich schläft man nicht, sondern ruht nur und träumt, oder plaudert auch dabei.
Ein Zimmer, das nach Norden lag, war in Alfonsos Wohnung zum Siesta-Zimmer eingerichtet. Hier hingen die bekannten Hamaks oder Hängematten an der Decke, in denen man sich schaukelt, an den Wänden standen geflochtene Fauteuils. Alles lud hier zur kühlen Ruhe ein, und bald lagen denn auch die drei jungen Männer, jeder nach seinem Behagen, ausgestreckt, träumten schweigend vor sich hin und rauchten dabei ihre Zigaretten oder Zigarren, deren Rauch durch eine an der Decke angebrachte treffliche Ventilation sofort verschwand.
Wenn man indessen eine viertel oder halbe Stunde so vor sich hin geträumt und dem ersten Bedürfnisse der Natur nach Schweigen und Ruhe nachgegeben hat, so stellt sich bald das Bedürfnis nach einigen Worten ein.
Die Unterhaltung konnte unter drei Männern, wie Edmond, Alfonso und Conningham, die, jeder in seiner Weise, viel gedacht und erlebt hatten, nicht stocken. Nur hatte das Geheimnis, das über Conninghams Person schwebte, etwas Peinliches für Alfonso und Edmond. Conningham merkte das auch und er sagte deshalb:
»Meine Herren, es ist mir im höchsten Grade peinlich, daß weder Don Lotario, noch Herr Edmond Dantes mir bis jetzt erlaubt haben, mich ganz offen zu Ihnen auszusprechen und die Scheidewand des Geheimnisses niederzureißen, die uns, so dünn sie sein mag, doch immer trennt. Denken Sie deshalb nichts Böses von mir. Ich würde wohl nicht hier in Toledo sein, wenn ich aus eigener Schuld meine Heimat fliehen müßte. So viel kann ich Ihnen nur sagen, daß ich aus New York gebürtig bin und daß ich mit Leib und Seele zur Partei der Unionisten gehöre, denen ich mich auch in nicht allzu langer Frist anzuschließen hoffe. Auch das will ich noch hinzufügen, daß ich ein guter Freund Mr. Büchtings und seiner Familie bin, halb und halb also auch schon mit der Familie Toledo bekannt war, ehe ich hierher kam. Don Lotario hatte mich auch bereits in New York vor Jahren gesehen. Ich will damit nur andeuten, meine Herren, daß ich dem Hause, in dem ich durch einen wunderbaren Zufall eine so herzliche Gastfreundschaft gefunden habe, von ganzer Seele ergeben bin, und keinen anderen Wunsch kenne, als diese Ergebenheit in jeder Weise zu bezeigen.«
» Caramba!« rief Alfonso lustig. »Sie haben an unserer Seite gekämpft wie ein Löwe. Wir sind Waffenbrüder! Glauben Sie nicht, daß wir etwa Ihnen gegenüber vorsichtig sind. Wir fürchten nur, zuweilen etwas zu sagen, was Sie aus uns freilich unbekannten Gründen verletzen könnte!«
»Ich bin überzeugt, daß dies nie der Fall sein kann!« rief Mr. Conningham. »Sie beide werden nie etwas sagen, was einen Dritten beleidigen könnte, wenn er Ihnen auch ganz fremd wäre. Ich hoffe, unmittelbar nach der Rückkehr des Herrn Dantes von meinem Schweigen entbunden zu werden.«
Die drei jungen Männer verabredeten nun für den Nachmittag einen gemeinsamen Ritt um die ganze Kolonie. Denn Alfonso war begierig, die Veränderungen kennen zu lernen, die sein Vater vorgenommen hatte, und Edmond mußte natürlich ebenfalls wünschen, sich in einer Oertlichkeit heimisch zu machen, in der er einige Monate zu verleben gedachte. Die Siesta wurde deshalb abgekürzt. Ein Diener erhielt den Auftrag, die Pferde zu satteln, die jungen Männer versahen sich mit Waffen, Zigarren und Ferngläsern; dann bestiegen sie die ihnen vorgeführten Pferde und sprengten an der Hacienda Mayor vorüber. Don Lotario und Donna Theresa, die sie an einem Fenster sahen, grüßten herzlich. Zwei Diener folgten ihnen – wenn man die Männer, die die verschiedenen Funktionen bei Don Lotario und seinen Gästen versahen, Diener nennen kann. Denn sie bewohnten ein eigenes Haus, trugen sich, wie alle anderen Bewohner von Toledo, ganz nach ihrem Gefallen, ohne Livrée, besahen ihren Acker, hatten ihren eigenen Hausstand und wurden angeredet und behandelt wie jeder andere Kolonist, mit Master, Sennor, Monsieur, je nachdem sie englisch-amerikanischen oder spanischen oder französischen Herkommens waren.
Als sie durch die Kolonie ritten, grüßten sie jeden, den sie sahen, und jeder kam herbeigeeilt, um den Gruß zu erwidern und womöglich einige Worte hinzuzufügen. Alfonso sprach mit allen, die er noch nicht gesehen hatte, weil sie sich nicht an dem Zuge beteiligt hatten. Er reichte jedem freundschaftlich die Hand, den Männern, den Frauen, den jungen Burschen und Mädchen, selbst die Kinder nahm er vor sich auf den Sattel und tändelte mit ihnen. Man sah ihm die Lust an, in der Heimat zu sein, wo jedes Herz ihm entgegenschlug.
»Nun will ich Sie aber noch an der Kolonie vorüberführen, die Sie nicht kennen,« sagte Conningham.
»Und welche wäre das?« fragte Alfonso zweifelnd.
»Die der Deutschen, mit denen ich gekommen bin,« antwortete Conningham. »Zwei von den Männern befanden sich mit auf dem Zuge, – die beiden Ersten auf dem Dach der Indianerhütte.«
»Ach freilich, mein Vater hat mir ja von diesen braven Leuten geschrieben!« sagte Alfonso. »Aber ich fürchte, mit meinem Deutsch wird es hapern; ich sprach es als Kind, da es ja die Sprache meiner Mutter ist, ganz leidlich, und in Berlin machte man mir manches Kompliment darüber. Aber in Paris und in Mexiko verlernt sich eine so selten gebrauchte Sprache bald. Doch – ich wußte mich ja mit Herrn Ratorius noch leidlich deutsch zu unterhalten.«
»Da scheinen sie schon zu sein!« rief Alfonso, auf die neuen Häuser deutend, die sich rechts von ihnen zwischen Bäumen und Gesträuch erhoben. »Ja, ja, das sind die Häuschen, wie man sie in Mitteldeutschland und in Baden und Württemberg sieht. Wer ist der stattliche alte Mann, der uns entgegenkommt?«
»Das ist der Führer der deutschen Kolonisten, ein Herr Wetzel, ein braver Mann durch und durch!«
Alfonso ritt sogleich auf das Haus zu, das durch ein neues, hübsch geschnitztes Gitter vom Wege getrennt war, sprang vom Pferde und ging auf den alten, sehr kräftigen Mann zu, dessen Arbeitsanzug deutschen Schnitt zeigte.
»Ich bin der Sohn Don Lotarios!« sagte Alfonso und reichte ihm die Hand. Er hatte ihn in deutscher Sprache angeredet. »Ich komme, Sie zu begrüßen und auch den beiden Landsleuten, die so wacker an unserer Seite gekämpft, zu danken.«
»Herzlich willkommen, junger Herr!« sagte Wetzel. »Man sieht Ihnen an, daß Sie der Sohn Ihres Vaters sind. Die beiden Männer, die auf dem Zuge waren und die – das hoffe ich – ihre Schuldigkeit getan haben, sind bereits auf ihr Feld draußen gegangen. Dort werden Sie sie finden, wenn Sie vorüberreiten.«
Er reichte auch Edmond die Hand und schüttelte dann die Rechte, die ihm Conningham reichte. In sein Haus einzutreten, lehnte Alfonso für heute ab. Aber er versprach seinen Besuch morgen zu wiederholen, und die drei Männer setzten nun ihren Weg fort.
Bald hatten sie, zwischen hohen Maisfeldern, eine Anhöhe erreicht, die ihnen gestattete, einen Blick über die ganze Kolonie zu werfen, die jetzt unter ihnen lag. Der Anblick war äußerst freundlich. Da die Nationen sich gruppenweise angebaut hatten, so wehte auf dem Haupthause jeder Nation die Flagge des betreffenden Landes; über jeder einzelnen Fahne aber wehte das nordamerikanische Sternenbanner, das auch von der Hacienda Mayor stolz in die Luft flatterte.
»In der Tat, das Herz geht einem auf, und man kann stolz sein auf sein Vaterland, wenn man solche Kolonien aus dem Sand und Gestein hervorwachsen sieht!« rief Mr. Conningham mit leuchtenden Augen. »Und diese herrliche, mächtige Union sollte durch die Sklavenhalter zertrümmert werden? Nimmermehr! Das kann der Wille der Vorsehung nicht sein!«
»Wenn ich diese friedliche Kolonie betrachte,« sagte Edmond de Tréport, »so kann ich mir kaum vorstellen, daß es in Nordamerika Krieg gibt. Seid Ihr denn hier so ganz sicher, Alfonso?«
»Durchaus nicht!« antwortete an seiner Stelle Mr. Conningham. »Allerdings liegt Toledo so hart am Rande von zwei sehr öden und unfruchtbaren Landstrichen – ich meine die Prärien und Wüsten nach Texas und Kalifornien zu –, daß ein Trupp Soldaten, der nicht den bestimmten Befehl hat, bis hierher vorzudringen, sich wahrscheinlich aus Furcht, zu verhungern, nimmermehr hierher wagen würde. Und doch haben zu Anfang dieses Jahres nicht unbedeutende Kämpfe am oberen Lauf des Rio-Grande stattgefunden. Oberst Canby von den Unionisten hat sich scharf mit den texanischen Konföderierten unter Oberst Sipley herumgeschlagen, und als sich die versprengten Texaner nach El Paso del Norte zurückzogen – dem nächsten Flecken von uns, aber doch immer noch hundert Meilen entfernt – waren wir auf einen Besuch texanischer Marodeurs gefaßt und sandten unsere Rekognoszierungskorps nach allen Seiten aus. Dann kam freilich plötzlich die Nachricht von der Gefangennahme Donna Inez', und wir kümmerten uns nicht weiter um die Texaner, die sich auch nicht blicken ließen. Die Entscheidung liegt im Osten, zwischen Washington und Richmond, und hoffentlich bereitet sie sich bald vor. Ich kann mir nicht denken, daß sie anders, als zugunsten der Union ausfallen könnte.«
Edmond schwieg, denn er war im französischen Heere an andere Ansichten gewöhnt worden. In den Gesprächen hatte Alfonso allerdings stets für die Union und Mexiko Partei genommen und Edmonds Ansichten vielfach erschüttert. Aber der französische Offizier, dessen Familie mit dem Kaiserreich eng verbunden war, hielt es doch für seine Pflicht, bei seinen früheren Ansichten zu beharren, oder wenigstens zu schweigen. Er erkannte an, daß der Krieg in Mexiko ohne genaue Kenntnis der Zustände des Landes begonnen war. Aber die Offiziere der regulären Armeen sind in allen monarchischen Ländern durch ihren Eid gebunden. Sie haben entweder zu gehorchen oder ihren Abschied zu nehmen. Und da Edmond bis jetzt noch ein viel zu guter und eifriger Soldat war, um an den Abschied zu denken, so hielt er es auch für seine Pflicht, die Ansichten seines Kriegsherrn zu vertreten, oder wenigstens zu schweigen.
Sie ritten nun weiter. Alfonso unterhielt sich mit den beiden Kolonisten, die ihn und seine Freunde begleiteten, vielfach über die Veränderungen und Verbesserungen, die in den beiden Jahren seiner Abwesenheit vorgenommen worden.
Plötzlich unterbrach ein Ruf ihre Unterhaltung. Einer der Kolonisten deutete mit der Hand auf einen nahen Hügel, auf dem mehrere Reiter sichtbar waren, und sprengte dann sogleich mit dem Rufe: »Zu Hilfe!« nach jener Richtung.
Die anderen folgten ihm sämtlich. Sie hatten zwar bei der beträchtlichen Entfernung nicht genau zu erkennen vermocht, was auf jenem Hügel vorgehe. Aber sie folgten instinktiv dem Kolonisten, dessen scharfes Auge irgendeine Gefahr entdeckt haben mußte. Zwischen ihnen und dem Hügel befand sich eine Taleinsenkung. Während sie die im schnellsten Galopp durchritten, konnten sie nicht sehen, was auf jenem Hügel vorging. Aber sie hörten einen Schuß. Als sie oben auf dem Rücken des Hügels anlangten, sahen sie drei Reiter in einem Fichtengehölz verschwinden. Ein vierter befand sich mitten auf dem Wege, und sie erkannten ihn sofort: es war der Greis, Edmond Dantes.
Er empfing sie mit einem sanften Lächeln, aber seine Haltung – er war etwas vornüber gebeugt und stützte sich auf den Hals seines Pferdes – ließ erkennen, daß ihm etwas zugestoßen sei. Alfonso, Edmond und Mr. Conningham waren im Nu bei ihm.
»Was ist geschehen? Sie sind verwundet? Wer waren die Reiter?« riefen sie wirr durcheinander.
»Ich habe einen Schuß erhalten, und ich weiß auch, von wem,« antwortete der Greis. »Die Wunde« – er deutete mit der rechten Hand auf die linke Brust – »scheint mir nicht gefährlich. Wäret Ihr nicht dazu gekommen, meine braven Jungen, so hätten mich die Schurken wahrscheinlich doch noch früher unter die Erde gebracht, als es mir gerade jetzt lieb gewesen wäre. Wir können nicht allzuweit von Toledo sein, wenn wir einen Richtweg einschlagen. Also vorwärts!«
»Aber auf jeden Fall müssen wir zuerst nach Ihrer Wunde sehen, sie verbinden!« rief Edmond.
»Nun, immerhin!« antwortete der Greis. »Die Hitze gebietet einige Vorsicht.«
Und er hielt den rechten Arm hin, damit ihm sein Ueberrock – er trug trotz der Wärme stets einen schwarzen Anzug aus Tuch – ausgezogen werde. Ohne zu zucken, ließ er sich des Ueberrocks und der Weste entkleiden. Nun zeigte sich auf dem Hemd ein großer Blutfleck. Edmond zerschnitt das Hemd, er sah einen Teil des Oberarmes und der Brust; sie schienen nur aus Muskeln und Knochen zu bestehen, und die Muskeln waren, trotz des hohen Alters des Mannes, fast so fest, wie die Knochen. Die Kugel war zwischen dem Arm und den obersten Rippen in das Fleisch gedrungen, und Edmond, in solchen Dingen erfahren, fühlte durch einen sanften Druck bald heraus, daß sie nicht sehr tief sitze. Dantes zuckte nicht, obgleich der Schmerz, den ihm die Untersuchung machte, nicht unbedeutend sein konnte.
»Könnten Sie die Kugel nicht herausdrücken?« fragte er ruhig.
»Ohne Zange? – aber das werden Sie kaum ertragen!« rief der junge Offizier.
»Nun, versuchen Sie es!« sagte der Greis. »Sollte es zu schmerzhaft werden, so werde ich es sagen!«
Edmond fühlte geschickt nach der Kugel und drückte sie mit den beiden Zeigefingern nach vorwärts. Dantes hatte seine starken weißen Brauen etwas über die Augen niedergezogen, als ob er seine Willenskraft sammele; sonst aber zuckte er nicht. Die kleine Pistolenkugel sprang heraus und rollte auf die Erde.
»Vortrefflich! Kein Wundarzt hätte es besser gemacht!« rief Dantes, ihm freundlich zunickend. »Nun legen Sie mir ein Tuch um, damit das Blut nicht durch die Kleider dringt, und dann vorwärts. Ein Bad und ein Stück Heftpflaster werden die Sache wieder gutmachen!«
Edmond half dem Greise, Dantes ließ den linken Arm, um ihn zu schonen, auf dem Rücken des Pferdes ruhen. Dann ermunterte er die jungen Männer und die Kolonisten zur Eile. Einer der Kolonisten, der des Weges kundig war, ritt querfeldein voran. Die anderen folgten bald langsamer, bald schneller, je nachdem das Erdreich es erlaubte.
»Aber wer in aller Welt kann diesen Angriff auf Sie gemacht haben?« rief Alfonso. »Wir haben doch keine Banditen in der Nähe! Es schienen Weiße zu sein –«
»Das waren es auch, Texaner vermutlich!« antwortete Dantes. »Ich hielt die Gegend für sicherer, als sie ist, und vermute fast, daß eine größere Abteilung texanischer Marodeurs sich in der Nähe befindet. Doch sind wir nun gewarnt und können unsere Maßregeln danach treffen.«
Ob er nicht mehr wußte, oder nicht mehr sagen wollte, ließ sich aus seinen Antworten und seinen Mienen nicht erkennen. Sie richteten alle ihre Aufmerksamkeit auf den Weg und erreichten nach einer Stunde, zwischen vier und fünf Uhr nachmittags, Toledo.
Dantes, der sich um seine Wunde gar nicht mehr zu kümmern schien, ging sogleich in die Hacienda Mayor zu Don Lotario, und eine Viertelstunde später sah man die drei Indianer, die auf der Hacienda wohnten, den Ort nach Norden, Osten und Südosten verlassen. Diese Indianer waren die letzten Ueberreste des kleinen Stammes, der im Aripatal gewohnt hatte, als sich Don Lotario hier ansiedelte. Sie waren ihrem neuen Herrn, oder Freunde, treu ergeben, weil er sie in ihren Hütten wohnen und tun ließ, was sie wollten. Auf dem Zuge gegen Wilhamenu hatten sie ihn nicht begleiten können, da sie gerade zu dieser Zeit abwesend waren, um einen ihnen befreundeten Stamm der Colorado-Indianer im Westen zu besuchen.
Da der Greis lange bei Don Lotario blieb und es herkömmlich war, daß niemand die beiden in ihren Unterhaltungen störte, so begaben sich die jungen Männer nach der Schießhalle, die jedoch nur zum Pistolenschießen diente; der Büchsenstand lag außerhalb der Kolonie. Hier in dem Pistolenstand befanden sich alle möglichen Arten von Pistolen, Terzerolen, Revolvern, sowie viele Zielpunkte, Scheiben und bewegliche Gegenstände, Tiere, Vögel, menschliche Figuren, die durch einen Mechanismus in Bewegung gesetzt werden konnten. Die Halle war geräumig, mit Glas gedeckt und diente zugleich zum Fechtsaal wie zur Turnhalle. Bald entstand hier ein eifriger Wettstreit, wer dem anderen überlegen sei. Alfonso war ein ebenso guter Schütze, wie Edmond. Auch Mr. Conningham traf die vorüberfliegende künstliche Schwalbe mehrmals. Im Fechten freilich war der junge Chasseur-Kapitän seinen beiden Freunden unbedingt überlegen. Er besaß mehr körperliche Kraft als Alfonso und mehr Geschicklichkeit als Mr. Conningham. Der junge Nordamerikaner zeigte eine Kraft des Armes, eine Ruhe und Sicherheit, die Edmond oft zu lebhaften Aeußerungen des Beifalls veranlaßten.
Ueberhaupt hatte Mr. Conningham sich bereits die aufrichtige Freundschaft Alfonsos und Edmonds erworben. Eine frischere, reinere, ursprünglichere Natur ließ sich kaum denken. Obgleich einzelne Anzeichen verrieten, daß er im Reichtum, jedenfalls in angenehmer Behaglichkeit gelebt habe, waren seine Bedürfnisse doch sehr einfach, und seine Bildung verriet, daß er selbst in dem lärmenden und vergnügungssüchtigen New York sich die genügende Muße zum Studium zu verschaffen gewußt habe.
Als es sechs Uhr vom Turm der Kirche schlug – denn auch eine Kirche befand sich in dem Orte, und zwar unmittelbar hinter den Gehöften der Hacienda Mayor – beeilten sich die jungen Leute Toilette zu machen, und begaben sich dann nach dem Hauptgebäude. Dort kam ihnen Don Lotario entgegen und bat sie, in sein Privatzimmer zu treten. Es ließ sich nicht verkennen, daß er ernster sei, als gewöhnlich.
»Meine lieben Freunde,« sagte er, »Sie ahnen nicht, zu welchem Danke ich Ihnen verpflichtet bin, daß Sie meinen Freund und Vater Dantes aus den Händen der Mörder befreiten. Es war auf seinen Tod abgesehen, und ich irre kaum, wenn ich annehme, daß die Mörder meinem väterlichen Freunde, den sie erkannt haben müssen, gefolgt sind, und daß sie wahrscheinlich auch uns hier in Toledo einen Besuch abgestattet hätten, wenn ihnen jener Mord gelungen wäre. So viel steht fest, daß unser Asyl nicht mehr so sicher sein dürfte, als es bisher gewesen ist. Um den Absichten unserer Feinde entgegenwirken zu können, ist mein Freund Dantes auf einen Gedanken gekommen. Er hält es nämlich für möglich, daß der Angriff nur ihm allein gegolten habe und daß die Rachsucht der Mörder mit seinem Tode befriedigt gewesen sein würde. Teils, um also jene Elenden von uns abzulenken, teils, um auch andere Zwecke zu erreichen und sich den Gefahren zu entziehen, die ihn hier und anderswo bedrohen würden, hat er den Entschluß gefaßt, für tot gelten zu wollen. Die ganze Welt soll glauben, daß er an der Wunde, die er heut erhalten hat, gestorben sei; daß wir, die wir hier versammelt sind, sowie meine Frau und Tochter das Geheimnis bewahren werden, darauf rechnet er sicher. Morgen werde ich den Kolonisten mitteilen, daß Edmond Dantes an seiner Wunde gestorben ist, und daß wir auf seinen Wunsch seine Leiche nach seiner früheren Besitzung, nach dem Berge der Wünsche gesendet haben. Die wenigsten Kolonisten kennen ihn genauer; man wird die Nachricht also glauben und keine weiteren Nachforschungen über die Wahrheit anstellen, die auch vermutlich ohne Erfolg bleiben würden. Was uns anbetrifft, so werden wir ihn, wo und in welcher Gestalt wir ihm auch begegnen sollten, an den Worten: »Toledo Heil!« erkennen. Sobald wir dieses Wort hören, können wir sicher sein, Dantes selbst oder einen seiner vertrautesten Freunde vor uns zu sehen. Im übrigen, Mr. Conningham, ist es nicht unmöglich, daß der Besuch jener drei Männer, die unseren Freund Dantes angriffen, auch Ihnen gegolten hat. Denn einer von den drei Mördern ist bekannt mit einem Manne, den ich Ihnen nicht zu nennen brauche. Ich rate Ihnen zur größten Vorsicht, und bitte Sie, jedes Alleinsein mit irgendeinem Unbekannten zu vermeiden und sich nicht über die Grenzen der Kolonie hinauszuwagen. Außerdem bin ich mit Dantes übereingekommen, Sie Ihres Versprechens zu entbinden und Ihnen zu gestatten, meinem jungen Freunde Edmond de Tréport und meinem Sohne so viel von Ihrer Vergangenheit mitzuteilen, als es Ihnen beliebt. Hoffentlich werden wir bald in den Stand gesetzt sein, ganz offen auftreten zu können. Bis dies der Fall ist, werden auch Edmond und mein Sohn Ihre Mitteilungen als ein sehr strenges Geheimnis bewahren. Und nun lassen Sie uns heiter zu Tische gehen. Mein Freund und Vater Dantes ist gerettet – Gott wird auch über Ihnen und über uns allen wachen!«
Es war nicht leicht, diesen Rat zu befolgen. Mr. Conningham war sichtlich überrascht und betroffen von dem, was ihm Don Lotario gesagt, und auch Alfonso und Edmond hatten reichen Stoff zum Nachdenken erhalten. Das Gespräch bei Tische blieb also ernst und kam immer wieder auf den Angriff zurück. Don Lotario sagte, daß er die drei Indianer nach verschiedenen Richtungen ausgesandt habe, um die ganze Gegend zu durchforschen. Auch werde keine andere Vorsichtsmaßregel versäumt werden. Ein Fremder, der aus Texas gekommen und dem man nicht unbedingt trauen dürfe, sollte genau überwacht werden. Er hatte angegeben, nach Kalifornien wandern zu wollen, schien es aber jetzt vorzuziehen, in Toledo zu bleiben und sich den Kolonisten anzuschließen. Das hatten freilich viele getan, aber unter den jetzigen Verhältnissen mußte man mißtrauischer sein. Ein geheimer einzelner Feind innerhalb der Kolonie konnte mehr Unheil anrichten, als ein ganzes Hundert von Feinden, die von außen kamen. Der Name dieses Mannes war Antonio Yerrez. Er wohnte für jetzt bei dem ältesten der spanischen Kolonisten, und Alfonso wurde von seinem Vater beauftragt, seine Freunde zu diesem ältesten zu führen und ihnen bei der Gelegenheit den Fremden zu zeigen, der manche widersprechende Angaben gemacht und eine etwas zudringliche und auffällige Neugierde verraten hatte.
Inez hatte sich heute noch nicht bei Tisch gezeigt, und Donna Theresa verließ deshalb unmittelbar nach beendigter Mahlzeit die Tafel, um zu ihrer Tochter zu gehen. Die vier Männer blieben noch eine Zeitlang zusammen und rauchten auf der Veranda ihre Zigarre. Dann, da es im Plane des Hausherrn lag, die Täuschung möglichst vollkommen zu machen, verließen die drei jungen Männer die Veranda und begaben sich still nach ihren Zimmern.
Alfonso und Edmond befanden sich noch nicht lange in ihren Zimmern, als Mr. Connigham zu ihnen kam.
»Ich mag heute nicht allein sein,« sagte er; »Don Lotarios Mitteilungen und Warnungen haben mich so lebhaft daran erinnert, daß auch dieses friedliche Tal von Aripa für mich keine Stätte des Friedens sein soll, sie haben die Erinnerungen der Vergangenheit so lebhaft in mir heraufbeschworen, daß es mir am liebsten sein würde, wenn ich schon heute von Don Lotarios Erlaubnis Gebrauch machen und Ihnen mein Herz ausschütten könnte. Wollen Sie mich anhören?«
»Gewiß!« riefen Alfonso und Edmond wie aus einem Munde. »Damit wird die letzte Schranke zwischen uns fallen!«
»Da ich nun kein Geheimnis mehr vor Ihnen zu bergen brauche,« begann er, »so will ich Ihnen sogleich meinen wahren Namen nennen, der Ihnen, Don Alfonso, gewiß bekannt sein wird. Er ist Richard Everett!«
»Ach!« rief Alfonso, er sprang auf und schüttelte ihm noch einmal die Hand. »Wie sehr freute ich mich darauf, Sie kennen zu lernen! Wir erhielten keinen Brief vom Onkel, von der Tante und von Eliza, in dem Sie nicht erwähnt wurden. Ich wollte bei der Rückkehr nach Amerika über New York kommen, nur um Sie kennen zu lernen. Aber der Vater schrieb mir, daß der Krieg ausgebrochen sei und daß ich zuerst nach Mexiko gehen solle. Er erwartete damals ebenfalls noch eine schnelle Beilegung des Kampfes und meinte, ich solle diesen Sommer nach New York reisen. Aber wie in aller Zeit – –? Doch, das sollen wir ja eben hören!«
Mr. Conningham schien sichtlich erfreut durch Alfonsos warme Worte.
»Mr. Everett hatte mich schon früh als Pflegekind in sein Haus aufgenommen,« fuhr er dann fort, »und später adoptierte er mich sogar. Nie in meinem Leben habe ich daran gedacht, daß dieses unerwartete und große Glück, das mir zuteil geworden, mir Feinde machen könne. In Mr. Everetts Kontor befanden sich allerdings einige Verwandte. Aber erstens hätte er diese nicht adoptieren können, da ihre Eltern lebten, zweitens sorgte er für sie nicht weniger großmütig als für mich, und es war eine ausgemachte Sache, daß sie im Testament wohl kaum geringer bedacht sein würden, als ich, und drittens, hätte auch Mr. Everett mich nicht adoptiert, so würde gerade jenen, falls er ohne Testament gestorben, nichts anheim gefallen sein, da andere nähere Verwandte Mr. Everetts leben, und zwar in Verhältnissen, die kaum weniger glänzend sind, als die meines Pflegevaters. Der liebste von allen diesen Verwandten meines Adoptivvaters war mir Ralph Pettow.
Mr. Everett schien meine Vorliebe nicht zu teilen; auch ich erfuhr zuweilen, daß Ralph dem tollen Leben der jungen New Yorker Stutzer nicht fremd bleibe. Aber ich war nicht geneigt, deshalb einen Stein auf ihn zu werfen, weil er vom Lebensgenuß andere Ansichten hatte, als ich. Er war für mich ein offener, liebenswürdiger, ritterlicher Mensch, der jedenfalls das Leben besser kannte und es leichter nahm, als ich.
Nun sage ich Ihnen, Don Alfonso, nichts Neues, wenn ich Ihnen erzähle, daß Mr. Everett mit Mr. Büchting, als dieser sich im östlichen Amerika ansiedelte, eng befreundet wurde. Für Monsieur de Tréport muß ich aber hinzufügen, daß diese Freundschaft meines Pflegevaters, den ich so hoch verehrte, mit Mr. Büchting, einem Manne, der würdig neben seinem Schwager Don Lotario steht, für mich eine Quelle des größten Genusses wurde, denn sie eröffnete mir das, was mir bis dahin gefehlt hatte, ein Familienleben und den Umgang mit zwei Frauen, denen ich nur Ihre Mutter und Ihre Schwester zur Seite stellen kann – mit Mistreß Büchting nämlich und mit ihrer Tochter Miß Eliza. Ich glaube nicht zu weit zu gehen, wenn ich versichere, daß ich mich der Freundschaft der beiden Damen erfreute –«
»Auch der Freundschaft Miß Elizas, die ein Engel an Schönheit geworden sein soll?« fragte Alfonso lächelnd.
Es entging weder Alfonso, noch Edmond, daß bei dieser, mit der herzlichsten Gutmütigkeit gesprochenen Frage ein Rot auf Richards Wangen stieg, und auch Edmonds Wangen röteten sich wie im Wiederschein, denn er ahnte nun, daß von dieser Seite her keine Wolke sein Liebesglück verdunkeln werde.
»Ja, ich glaube!« antwortete Richard Everett mit einiger Verlegenheit, da er wohl das Schelmische in Alfonsos Frage erriet. »Denn welcher junge Mann dürfte sich auf Miß Eliza anderen Hoffnungen hingeben, so lange er nicht das Jawort aus ihrem Munde erhalten hätte? Vielleicht hoffte ich, vielleicht täuschte ich mich auch nicht – doch nein –«
»Verzeihen Sie mir!« rief Alfonso herzlich. »Ich hätte nicht davon sprechen sollen. Aber in unserer Familie galt es als ein öffentliches Geheimnis, daß Miß Eliza und Mr. Richard Everett ein Paar werden würden.«
»Wollte Gott, daß dieser höchste und einzige Wunsch meines Herzens in Erfüllung ginge, und daß mich die, die ich so hoch verehre und so wahrhaft liebe, einer Zuneigung würdigte, die ich allerdings in den letzten Monaten mit unaussprechlichem Glück zu ahnen begann!« rief Richard, und die beiden Freunde blickten mit inniger Teilnahme in seine leuchtenden Augen. »Nun, Mr. Büchting verlebte gewöhnlich einige Wintermonate in New York, und im Sommer wußte ich stets einen Abstecher nach Liberty-Plantation zu machen. Oft begleitete mich Ralph, doch nur in der ersten Zeit. Zuletzt sagte er öfters: »Ich passe nicht recht zu den Büchtings; sie sind mir zu ernst. Auch im Februar vorigen Jahres benutzte ich die Gelegenheit, um von Bingstown einen Abstecher nach Liberty-Plantation zu machen.«
Und nun erzählte er, wie ihm auf der einsamen Prärie Ralph begegnet und was er mit ihm gesprochen hatte. Als er berichtete, wie er plötzlich den Schuß gehört und mit dem Gefühle, daß ihm der Kopf zerschmettert sei, zu Boden gestürzt, sprangen Alfonso und Edmond mit einem Ruf des Schreckens auf, denn an eine solche Wendung hatte keiner von ihnen gedacht. Richard aber war sehr ernst und traurig geworden.
»Leider ist es Wahrheit, was ich erzähle,« sagte er. »Selbst heute noch quäle ich mich vergebens, einen Grund zu finden, der meinen Freund zu meinem Mörder machen konnte. Um des Geldes, um der Erbschaft willen, kann es doch unmöglich gewesen sein –«
»Vielleicht war das nur ein Nebengrund,« unterbrach ihn Edmond. »Nennen Sie mir noch einmal genau die Worte, die er zuletzt zu Ihnen sprach.«
Richard gab sie so genau als möglich an.
»Es war Eifersucht!« rief Edmond. »Dieser Schurke trachtet nach Miß Elizas Hand!«
»Das ist auch meine Ueberzeugung!« rief Alfonso. »Er haßte Sie, als er begriff, daß Mr. Everett Sie ihm vorgezogen hatte. Aber, um des Himmels Willen, wie ist es möglich, daß Sie noch leben?«
»Ja, das frage ich auch,« erwiderte Richard mit einem trüben Lächeln. »Hier – er legte den Finger in der Nähe des linken Ohres an eine Stelle des Kopfes –, »hier ging die Kugel hinein. Wie ich später erfahren habe, hat die Kugel an dem Hinterhauptbein, das bei mir ungewöhnlich stark sein muß, entschiedenen Widerstand gefunden und ist entweder gar nicht, oder nicht tief ins Gehirn gedrungen. Vielleicht war auch der Revolver oder das Pistol zu schwach geladen – genug, ich lebe!
Als ich zum ersten Male schwach wieder mein Dasein fühlte, sah ich ein ganz fremdes, aber gutmütiges Gesicht über mir, das des alten Deutschen, den wir heut begrüßt haben. Ein voller Monat war seit dem Tage vergangen, an dem mich der Schuß getroffen hat, und wieder noch vierzehn Tage vergingen, ehe ich meine Gedanken sammeln und wieder wie ein vernünftiger Mensch denken und meine Gedanken ausdrücken lernte. Und da hörte ich denn, daß ich viele hundert Meilen von der Stätte entfernt sei, auf der man mich gefunden, und daß die Gebirge, die ich in weiter Ferne vor mir sah, die Felsengebirge, die Rocky-Mountains, seien. Mit meiner Rettung aber hatte es folgende Bewandtnis:
Genau eine Stunde, nachdem ich durch die Kugel meines besten Freundes hinterrücks getroffen worden – gerade wie die Union durch den feigen, längst vorbereiteten und tückischen Verrat der Südstaaten – waren zwei Wagen mit deutschen Einwanderern über die Prärie gekommen. Man hatte mich liegen sehen und mich für das Opfer eines Raubanfalls gehalten. Denn es fehlte mir meine Börse und mein Taschentuch. Möglich, daß Ralph mich beraubt hat, um den Verdacht auf Gesindel zu lenken, das damals in Virginien herumzog; möglich auch, daß irgendein anderer des Weges gekommen und mich geplündert hat. Die braven Deutschen glaubten zu entdecken, daß noch Leben in mir sei und luden mich auf einen ihrer Wagen. Da man mir mein Taschenbuch genommen, in dem sich meine Briefe und andere Gegenstände befanden, aus denen man meine Persönlichkeit ermitteln konnte, so fehlte ihnen jeder Anhalt, wer und woher ich sei, und nirgendwo wollte man mich aufnehmen, so daß die Deutschen, nach einigen vergeblichen Versuchen, sich kurz und gut entschlossen, mich mit sich zu nehmen, bis ich entweder gestorben oder wieder bei Vernunft sei. Erst einige Tage nach dem Mordanfall fanden sie einen Arzt, der mir die Kugel aus der Wunde zog, aber versicherte, daß ich ein toter Mann sei. Nun genug, ich war es nicht. Aber ein schwerer Druck auf das Gehirn mußte doch stattgefunden haben, weil ich erst nach sechs Wochen wieder denken konnte und urteilsfähig wurde. Eine Zeit lang glaubte ich, meine geistigen Fähigkeiten nie wieder ganz erlangen zu können, aber, wie mir scheint, bin ich jetzt, wenn freilich auch nicht klüger, so doch auch nicht alberner, als vorher. Und nun hörte ich auch, daß die Deutschen auf dem Wege zu Don Lotario de Toledo seien; das war meine erste große Freude. Seltsam war es, daß ich nicht stehen konnte. Ich mußte stets liegen oder sitzen. Beim Stehen fühlte ich Schwindel und konnte mich nicht halten.
Es ging nun weiter, Arizona und Toledo zu, das ich aus Mr. Büchtings Beschreibungen bereits so gut kannte. Die Deutschen, denen ihr Vaterland dadurch verleidet worden, daß ein neuer Gutsherr über sie gebot, waren von einem Freunde Don Lotarios, dem Professor Wedell, darauf aufmerksam gemacht worden, daß ihrer in Amerika eine neue Heimat harre, wie sie sie nirgends schöner finden könnten. Sie hatten, um nicht in New Orleans zu landen, wo das gelbe Fieber ihnen gefährlich werden konnte, auf den Rat des Professors den Landweg gewählt, um sich allmählich an unser Klima zu gewöhnen. In Richmond waren sie länger, als sie beabsichtigt, durch die Weigerung eines jungen Mädchens, sie weiter begleiten zu wollen, aufgehalten worden – der alte Meyer Wetzel sprach sehr geheimnisvoll von diesem jungen Mädchen und bedauert noch heute, daß sie nicht mit ihm hierher gezogen, möchte auch immer noch versuchen, ihren jetzigen Aufenthalt zu entdecken und sie hierher einzuladen. – Genug, die Leute hatten Eile gehabt, zur bestimmten Zeit Arizona zu erreichen, und aus diesem Grunde hatten sie nur wenige und kurze Versuche gemacht, meine Persönlichkeit feststellen zu lassen, oder ein passendes Unterkommen für mich zu finden. Darin liegt auch der Grund, daß mein Pflegevater, der alles aufgeboten hatte, um mein Verbleiben ausfindig zu machen, nichts von mir erfuhr. Wir erreichten endlich Toledo, im April vergangenen Jahres, und Don Lotarios Erstaunen können Sie sich vorstellen, als ich ihm sagte, wie und wodurch ich hierher gekommen.
Nun aber werden Sie fragen, weshalb ich noch hier bin? Ich hätte sogleich zurückkehren und den Verbrecher der Gerechtigkeit überliefern sollen. Das wollte ich auch. Aber nachdem ich mehr als einmal reiflich mit Don Lotario gesprochen, erschien mir die Angelegenheit in einem anderen Lichte. Abgesehen davon, daß Ralph, nachdem er einmal so weit gegangen, nicht davor zurückschrecken konnte, einen zweiten Mordversuch auf mich zu machen, mußte uns daran gelegen sein, zu erfahren, in welcher Absicht Ralph die Tat ausgeführt, und das geschah am besten dadurch, daß wir ihn eine Zeit lang wähnen ließen, ich sei in der Tat ein Opfer jenes hinterlistigen Anfalls geworden. Außerdem aber bietet eine Reise nach New York jetzt die allergrößten Schwierigkeiten. Selbst Briefe an meinen Pflegevater zu schreiben, schien uns bedenklich. Denn so wie ich die Verhältnisse kenne, wird jeder scheinbar geschäftliche Brief von Ralph eröffnet; jeder Privatbrief aber dürfte jetzt ebenfalls von ihm überwacht werden. Denn die Möglichkeit, daß ich lebe, muß ihn argwöhnisch machen; meine Leiche ist nicht gefunden worden, und damit fehlt ihm die Gewißheit meines Todes. Don Lotario bat mich nur, ruhig noch in Toledo zu bleiben, da dies für mich und alle anderen das Beste sei. Man müsse Ralph beobachten, müsse ihn in einer Schlinge fangen, oder ich müsse plötzlich vor ihm erscheinen, so daß er sich selbst verrate. Es nütze mir gar nichts, wenn ich ihn jetzt ohne Beweise anklage; wohl aber werde Ralph ein Mittel finden, mich, sobald ich wieder in New York erschienen sei, auf andere Weise zu beseitigen. Dantes werde, wenn ihm das gut scheine, gewiß eine Gelegenheit benutzen, meinen Pflegevater und die Familie Büchting davon zu unterrichten, daß ich noch lebe. So steht die Angelegenheit jetzt, meine Herren! Ich weiß nun weiter nichts, als was mir Don Lotario heut gesagt. Ich soll mich hüten, denn es scheint mir abermals Gefahr zu drohen. Aber ich ergebe mich in mein Schicksal, da ich weiß, daß meine Sache in Don Lotarios Händen und seines greisen Freundes gut aufgehoben ist.«
Als Richard Everett schwieg, trat zuerst eine lange Pause ein, denn die beiden Freunde waren von dem, was sie gehört, vollständig überrascht und ergriffen. Dann ergingen sie sich in den heftigsten Aeußerungen gegen Ralph, den jeder von ihnen gern gezüchtigt hätte. Endlich aber kehrten sie zu der neuen Gefahr zurück, die Richard zu drohen schien, und die jedenfalls nicht ohne Grund von Don Lotario und Dantes gefürchtet wurde, da Dantes bereits selbst das Opfer eines Angriffes geworden war. Hatte Ralph wirklich erfahren, daß Richard lebe und wo er lebe, so war es nicht zu verwundern, daß er einen Meuchelmörder absandte, um das mißlungene Bubenstück nun zu Ende zu bringen. Aber weshalb ward dann ein Angriff auf Dantes gemacht? Konnte Ralph erfahren haben, daß der Greis um das Verbrechen wisse?
Herzlich verabschiedete sich Richard von den beiden Freunden, die ihm um vieles näher gerückt waren, und jeder suchte die Ruhe in seinem Schlafzimmer.
Am folgenden Morgen war es allgemein in der ganzen Kolonie verbreitet, daß der Greis an den Folgen der erhaltenen Verwundung gestorben sei. Don Lotario ließ zugleich das Gerücht aussprengen, daß der Greis jede Feierlichkeit zu seinem Gedächtnis untersagt habe und daß die Leiche seinem Wunsche zufolge, in aller Stille gelegentlich nach dem Berge der Wünsche übergeführt und dort beigesetzt werden sollte. Inzwischen galt ein Zinksarg, der in einem der Felsengewölbe unter der Hacienda Mayor aufgestellt war, als das Behältnis der Leiche.
Mehrere Tage vergingen in der größten Ruhe. Die Spazierritte in der Umgebung hatten die drei Freunde allerdings stillschweigend aufgegeben. Aber dafür fanden sie Unterhaltung genug im Schießen, Fechten und Turnen. Auch bot ein sehr gut eingerichtetes Flußbad, mitten in einem dichten Gehölz, eine sehr angenehme Zerstreuung. Ja, Edmond wünschte manches Mal, seine Freunde möchten ihn zurücklassen und auf eigene Hand ihrem Zeitvertreib nachgehen, denn Inez war ja inzwischen wieder sichtbar geworden, und welch größeren Genuß konnte es für Edmond geben, als an ihrer Seite zu sitzen, ihrer Stimme lauschen und in ihre Augen zu blicken! Es war ihm, als läge sein unruhiges Kriegerhandwerk weit hinter ihm und als könne er nie mehr mit ganzer Seele, wie früher, Soldat sein. Er sagte sich auch, daß so ein privilegierter Menschentöter kaum hineinpassen werde in diesen Kreis, in welchem allerdings, wie er aus Erfahrung wußte, Mut und Tapferkeit ebenfalls heimisch waren. Er begann zu überlegen, daß solch ein Kolonistenleben, aus welchem die reiche Saat der Zukunft aufsprossen sollte, auch seine sehr ernsten Seiten habe und den Mut eines ganzen Mannes erfordere. Sollte er um Inez' Hand werben und eine Stunde darauf sagen: »Nun muß ich zurück nach Mexiko und Du, mein geliebtes Leben, bleibst hier zurück in Todesängsten, während ich für die Ehre und den Ruhm Frankreichs, und um diese verblendeten und eigensinnigen Mexikaner zu züchtigen, mich in die tausend Gefahren des Kampfes stürze!« Es schien ihm, als läge darin etwas Unmenschliches, Grausames.
Edmond hatte also reichlich zu denken, und Alfonso und Richard fanden mit Recht, daß er viel ernster geworden sei. Ueberhaupt herrschte in der Hacienda Mayor und in der ganzen Kolonie ein ernster Ton, wie er, nach den Versicherungen der Bewohner, nicht immer hier gewaltet. Man schrieb Don Lotarios Ernst und den seiner Angehörigen auf den Tod des greisen Missionars. Die Eingeweihten aber – und dazu gehörten auch die älteren Kolonisten – wußten, daß es sich um andere Dinge handle. Ganz im Stillen wurden Munitionsvorräte verteilt und in jeder Nacht strichen einige erfahrene Männer um die Kolonie herum. Gesprochen wurde darüber nicht; ein großer Teil der Kolonisten wußte gar nichts davon.
Es war vier Tage nach dem Verschwinden des Greises – der in der Tat trotz seiner Wunde noch in der Nacht, die der Verwundung folgte, die Hacienda verlassen hatte – als ungefähr um Mitternacht eine dunkle Gestalt sich leise der Hacienda Mayor näherte. Gerade als sie die Treppe der Veranda erreicht hatte, richtete sich eine andere dunkle Gestalt, welche auf der untersten Stufe der Treppe saß, schnell auf.
»Wer da?« rief die tiefe und gedämpfte Stimme des Wächters. »Sprich oder ich schieße!«
Der vorgestreckte Lauf einer Büchse ließ keinen Zweifel, daß der Drohung die Tat folgen werde.
»Ah, Master Augustus, Ihr seid es!« antwortete der andere. »Also gut Freund! Ich habe Don Lotario etwas zu melden, und ich muß ihn wecken. Im übrigen ist die Gegend sicher, und Ihr könnt ruhig sein.«
»Wenn Ihr es seid, Sennor, so mögt Ihr ruhig passieren,« sagte der Gärtner. »Aber darf man nicht wissen, was geschehen ist? – nur der Kenntnis und der Vorsicht wegen.«
»Nein, ich muß erst mit Don Lotario darüber sprechen,« antwortete Sennor Quirona, der älteste der spanischen oder richtiger mexikanischen Kolonisten. »Es betrifft einen infamen Verräter. Doch ein andermal mehr!«
»Wenn es hier einen Verräter gibt, so kann es nur Antonio Yerrez sein!« sagte Mr. Augustus halblaut.
»Ei, und wie kommt Ihr gerade auf den?« fragte der alte Spanier verwundert.
»Weil ich ihn erst heut erkannt habe,« antwortete der Neger. »Ich habe in ihm einen Kerl entdeckt, der in New Orleans im Zuchthause gesessen und der, als er herauskam, sogleich wieder eine Gemeinheit beging, so daß er geteert und gefiedert und halbtot geschlagen wurde. Ich hatte ihn nicht erkannt, denn er hat sich gut verstellt. Aber heut gegen Abend kam er mir plötzlich bei der Kirche entgegen. Da erkannte ich ihn. Wie er damals geheißen haben mag, weiß ich nicht. Aber ein Schuft ist er jedenfalls.«
»Das hättet Ihr Don Lotario oder mir sogleich mitteilen sollen,« sagte Quirona.
»Ich wollt' es auch, ich wollte zu Euch kommen, da erhielt ich den Befehl, hier heut Nacht zu wachen und ich dachte, morgen in aller Frühe sei auch noch Zeit dazu.«
»Wollen's hoffen!« sagte der alte Spanier ernst. »Doch nun muß ich zu Don Lotario!«
Er ging weiter und trat unter ein Fenster in Don Lotarios Schlafzimmer. Eine Minute später öffnete sich das Fenster, Don Lotario sah heraus und Quirona nannte seinen Namen, denn ein Erkennen war in der dunklen Nacht nicht möglich.
»Ah, Ihr seid es, alter Freund!« sagte Don Lotario. »Kommt auf die Veranda. Ich bin im Augenblick bei Euch. War Augustus gut auf seinem Posten?«
»Alles in Ordnung, Don Lotario! Er ist ein treuer Bursche!«
Damit ging er nach der Veranda hinauf, wo ihn der Herr der Hacienda, der nur einen Mantel übergenommen hatte, nach einer Minute traf.
»Nun, also? Habt Ihr etwas entdeckt?« fragte der Don. »Und betrifft es nicht den Yerrez?«
»Es betrifft ihn!« antwortete der Spanier. »Ich hatte ihn natürlich nicht aus dem Auge gelassen, aber er tat nichts, was mir hätte auffallen können. Heut abend aber merkte ich ihm eine gewisse Unruhe an. Er nötigte mich, mit ihm zu trinken und es schien mir, als wolle er mich schläfrig machen. Ich tat ihm auch den Gefallen und ging auf seine Idee ein, wußte es aber so einzurichten, daß er mehr trank als ich. Dann sagte ich, daß ich müde sei und schlafen müsse. Er ging in sein Nebenhäuschen. Natürlich verließ ich keinen Blick von dem Häuschen. Ungefähr um zehn Uhr sah ich ihn herauskommen; er trat auf mein Fenster zu und fragte zuerst leise, dann lauter, ob ich schlafe. Ich antwortete ihm nicht. Nun ging er um das Haus herum und ich folgte ihm, nachdem ich Messer und Revolver genommen hatte. Ich hatte mir vorher Filzsohlen unter die Schuhe gebunden. Da hätte er feine Ohren haben müssen, mich zu hören. Er ging hier nicht weit an dem Park vorbei, nach den französischen Häusern zu, durch sie hindurch und in das Wäldchen am Springbrunnen. Als ich so am Rande des Wäldchens angelangt war, hörte ich schon da drinnen flüstern. Aber es war ein verteufelter texanischer Dialekt, den sie sprachen, halb Spanisch, halb Englisch, ich verstand zuerst nicht viel davon. Endlich aber faßte ich den Zusammenhang, und es ist so, wie wir gedacht haben, der Kerl ist ein Verräter. Es wäre am besten, wir jagten ihm eine Kugel durch den Kopf oder hingen ihn an den ersten besten Baum.«
»Nun, was war's, was habt Ihr erlauscht, mein alter Freund?« fragte Don Lotario.
»Er erzählte von dem alten Herrn, von dem Missionar, wie wir ihn nennen, und daß er an der Wunde gestorben sei. Der andere, dessen Stimme etwas rauh klang und der Branntwein getrunken zu haben schien, denn der Geruch kam bis zu mir, schien das nicht glauben zu wollen und fragte, ob er den Toten gesehen. Yerrez aber schwur hoch und teuer, es sei so, und die Leiche sei in der Nacht nach dem Westen abgeführt worden. Dann fragte der andere nach Mr. Conningham, und ob er mit dem Missionar gesprochen, und was Yerrez überhaupt über den Don erfahren habe. Da schwatzte nun der Verräter allerlei durcheinander, was er hier und da aufgeschnappt und ausspioniert, und es war ungefähr das Richtige. Der andere schien namentlich genau wissen zu wollen, wann und mit wem Mr. Conningham gekommen sei. Auch das gab der Schuft ziemlich genau an. Er muß sich mit den Deutschen ein wenig zu verständigen gewußt haben; die sind zu gutmütig und vertrauensvoll und haben ihm wahrscheinlich schon in den ersten Tagen, ehe wir gewarnt worden, mancherlei erzählt. Dann ging es an ein Berechnen, wie viel Männer wir wären, wie wir lebten, ob wir Wachen ausstellten, ob viel Geld in der Hacienda sei, wo Mr. Conningham wohne und schlafe. Genug, Don Lotario, der Schuft will den Fremden die Hand bieten, und die Fremden wollen uns alle überfallen, und auf Mr. Conningham ist es vor allen Dingen abgesehen.«
»Haben Sie einen Tag oder einen bestimmten Zeitraum angesetzt?« fragte Don Lotario. »War überhaupt die Rede davon, wer uns eigentlich überfallen wolle?«
»Nein, davon hörte ich nichts, Sennor! Beim Auseinandergehen sagten sie, sie wollten sich am nächsten Montag wieder auf derselben Stelle treffen; Yerrez sollte sich aber für alle Fälle bereit halten. Sie, die Fremden, hätten noch nicht Leute genug für einen Ueberfall und vielleicht gehe es auch ohne einen offenen Angriff ab. Dann trennten sie sich. Ich ließ Yerrez ruhig nach Hause zurückkehren und kam zu Ihnen.«
»Brav, mein alter Freund!« sagte Don Lotario, im Dunkel nach seiner Hand suchend und sie dann drückend. »Aber was machen wir nun mit diesem Yerrez? Versichern wir uns seiner sofort oder warten wir bis nächsten Montag, wo Ihr nochmals eine Zusammenkunft zwischen den beiden belauschen könntet?«
»Ja, das ist schwer zu sagen, Caballero!« antwortete Quirona. »Ich wäre der Meinung, wir faßten ihn bald und suchten von ihm zu erfahren, worum es sich handelt. Ich will ihm schon, wenn Ihr mir freie Hand laßt, die Würmer aus der Nase ziehen. Es ist immer gefährlich, daß die Fremden schon morgen oder übermorgen kommen könnten und gutes Blut vergossen werden müßte!«
»Das will reiflich überlegt sein!« sagte Don Lotario. »Morgen wollen wir uns entschließen, ob wir Yerrez sogleich unschädlich machen, oder ob wir bis Montag warten. Nun, bis morgen ist jedenfalls nichts verloren.«
»Sicherlich nicht! Also gute Nacht, Don Lotario!«
»Gute Nacht, mein alter Freund! Herzlichen Dank!«
Der Hausherr ging ins Innere der Hazienda und Quirona kehrte zu Mr. Augustus zurück, der sich soeben mit einem Schluck Wein stärkte. Er sprach mit dem Neger über jenen Antonio Yerrez, ohne jedoch etwas Bestimmtes mitzuteilen, denn die Mexikaner sind vorsichtig und mißtrauisch, wie ihre Väter, die Spanier.
Am folgenden Morgen ging Don Lotario durch die Kolonie, sprach bald mit diesem, bald mit jenem, auch mit Quirona, dem er ein Zeichen gab, das der Spanier sogleich verstand. Denn nachdem Don Lotario in die Hazienda Mayor zurückgekehrt war, fand sich auch der alte Quirona dort ein.
»Hört, alter Freund,« sagte Lotario, »ich habe einen anderen Plan. Wir bemächtigen uns des Antonio Yerrez, aber in aller Stille. Wir setzen ihn irgendwo fest und lassen ihn gut bewachen. Will er uns Mitteilungen über die Pläne unserer Gegner machen, nun, so soll er dafür Geld empfangen, und wir lassen ihn später, wenn die Gefahr vorüber ist, laufen. Doch wir können ja in der Beziehung später tun und lassen, was wir wollen. Die Hauptsache ist, daß wir jenen anderen fangen, der möglicherweise nicht nur der Vermittler und Zwischenhändler, sondern der Führer der fremden Hallunken ist. Er wird natürlich am Montag abend in dem Wäldchen erscheinen, und dann nehmen wir ihn fest.«
»Das ist aber eine gute Idee,« rief Quirona. »Daran hätte ich sogleich denken sollen.«
»Also schickt mir in einer Stunde den Yerrez!« fuhr Don Lotario fort. »Ihr werdet ihm sagen, es handle sich um seine Niederlassung hier. Ich werde ihn dann mit Augustus und anderen Kolonisten empfangen und das weitere wird sich finden.«
Der alte Quirona ging. Don Lotario teilte den jungen Männern, die gewöhnlich in der Morgenstunde kamen, um ihn zu begrüßen und zu hören, ob er für den Tag etwas Besonderes angeordnet habe, den Vorfall der Nacht mit.
»Was man gegen uns beabsichtigt, ist mir ein Rätsel,« sagte er. »Auf Mr. Conningham allein ist es gewiß nicht abgesehen. Vielleicht will man überhaupt den Angriff auf Mr. Conningham unter der Maske eines räuberischen Ueberfalles verstecken. Fällt dann Mr. Conningham im Gefecht, durch eine feindliche oder verräterische Kugel, nun, so ist es ein Zufall gewesen. Ich hätte deshalb große Lust, Sie zu bitten, Mr. Conningham, uns auf so lange zu verlassen, als wir den Angriff zu erwarten haben.«
»Ich Sie verlassen, während Sie mit den Menschen kämpfen, die mir möglicherweise nach dem Leben trachten? Nein, das können Sie nicht im Ernst von mir verlangen, Don Lotario!« rief Conningham. »Das spräche gegen alle Gesetze der Gastfreundschaft. Ich müßte ein Feigling sein, wenn ich diesen Vorschlag, so gütig er gemeint ist, annähme!«
»O, nicht so ungestüm!« sagte Don Lotario lächelnd. »Die Sache liegt auch noch anders. Ich weiß noch nicht, ob ich nicht meine Frau und Inez nach einem sehr versteckt liegenden Orte in der Nähe sende, wo sie vor jeder Entdeckung durch die Fremden sicher sind. Dort müßte meine Familie doch einen Beschützer, einen ritterlichen Paladin haben, der sich ihrer annähme, und zu diesem hatte ich Sie ausersehen!«
»In jedem anderen Falle würde mich eine solche Ehre glücklich machen!« sagte Richard erregt. »Aber für dieses Mal muß ich sie ablehnen. Lieber will ich überhaupt fortgehen von hier, denn ich sehe ein, daß meine Gegenwart Ihnen und Ihrer Familie gefährlich wird.«
»Halt, halt!« rief Don Lotario. »Mit Ihnen ist nicht zu sprechen! Nun, so bleiben Sie! Von einem Verlassen der Kolonie kann nicht die Rede sein. Das hieße, Sie Ihren Feinden entgegentreiben. Also erwarten wir in Gemeinschaft, was kommen wird! Jetzt, meine jungen Freunde, treten Sie in das Nebenzimmer. Ich habe eine Unterredung mit einem gewissen Yerrez. Lassen Sie die Tür ein wenig offen und kommen Sie herein, sobald es Ihnen rätlich oder notwendig erscheint. Guten Tag, Sir!«
Der letztere Gruß galt einem eintretenden Kolonisten, den Don Lotario zu sich bestellt und über die Person des Antonio Yerrez aufgeklärt hatte. Der Kolonist war eine Art Clerk oder Gerichtsschreiber in Toledo. Außer ihm nahm noch der Gärtner, Mr. Augustus, in dem Zimmer Platz. Der letztere hatte dem Hausherrn schon am frühen Morgen mitgeteilt, welche Entdeckung er in bezug auf Antonio Yerrez gemacht.
Bald darauf erschien der Texaner selbst. Er war ganz unbefangen, denn er hatte keine Ahnung, daß man ihm mißtraue. Daß Kolonisten zu Don Lotario berufen wurden, oder daß der letztere zu den ersteren ging, geschah alle Tage. Auch erwartete Yerrez einen Bescheid über die Bedingungen, unter denen er in der Kolonie bleiben könne. Er grüßte also Don Lotario respektvoll, nickte dem Clerk zu, den er persönlich kannte, und beachtete Master Augustus gar nicht.
Don Lotario fragte ihn, ob es ihm in Toledo gefalle. Der Texaner schwoll jetzt über vom Lob der Kolonie und lobte auch ihren Begründer überschwänglich.
»Dennoch ist es die Frage, ob es Ihnen hier auf die Dauer gefallen wird,« sagte Don Lotario. »Wir führen hier ein sehr regelmäßiges, ruhiges, stilles Leben, und an ein solches scheinen Sie nicht immer gewöhnt gewesen zu sein. Wenigstens gibt einer unserer achtungswertesten Mitbürger, Mr. Augustus, an, daß Sie in New York im Zuchthause gesessen hätten und überdies von der Volksjustiz in New Orleans scharf mitgenommen worden seien!«
Antonio Yerrez schien aus den Wolken zu fallen. Das hatte er nicht erwartet. Mit weit offenen Augen starrte er auf Don Lotario, dann wandte er sich zu dem Neger, sah ihn giftig an, spie nach ihm hin und rief:
»Wie, auf das Wort eines solchen Niggers geben Sie etwas?«
»Schon diese Aeußerung würde genügen, Sie unbrauchbar für unsere Kolonie zu machen,« sagte Don Lotario ruhig. »Denn sie ist auf die Anerkennung aller Menschen gegründet, die Hautfarbe macht hier keinen Unterschied, und ein braver Neger steht mir tausendmal höher, als ein weißer Müßiggänger oder gar ein Schurke. Also wie verhält es sich mit jener Zuchthausstrafe in New Orleans?«
»Die reine Lüge!« rief Yerrez. »Was geht Sie überhaupt meine Vergangenheit an?«
»Nun, ziemlich viel, da Sie in Gemeinschaft mit uns leben wollten, und da in den meisten Fällen die Vergangenheit eines Menschen der beste Prüfstein für seine Zukunft ist. Welche Gründe hatten Sie außerdem dazu, gestern abend nach zehn Uhr in dem Wäldchen am Springbrunnen eine geheime Unterredung mit einem Fremden zu halten? Sind Sie etwa als Spion hierher gekommen? Dann sei Ihnen Gott gnädig!«
Don Lotario, der bisher so ruhig gewesen, hatte die letzten Sätze mit einer Schärfe und Kraft gesprochen, deren man den sonst so freundlichen und ruhigen Menschen kaum für fähig hielt.
»Ich? Gestern abend mit einem Fremden?« stammelte er. »Wer sagt das?«
»Nun, es sagt mir ein sehr braver Mann!« rief Don Lotario. »Werfen Sie die Maske ab, Herr! Aufrichtigkeit ist das einzige, was Ihnen Verzeihung verschaffen kann. Denken Sie, daß wir in jetzigen Zeiten Scherz mit Verrätern treiben? Wir knüpfen Sie an den ersten besten Baum. Vor wenigen Tagen erst ist, wie Sie recht gut wissen, ein Angriff auf den Mann gemacht worden, den ich von allen am höchsten liebe und verehre, und er ist seiner Wunde erlegen. Was ist das für Gesindel, das sich hier herumtreibt? Welche Zwecke, welche Pläne verfolgt es? Sagen Sie die Wahrheit oder Sie sterben, wie ein räudiger Hund!«
»Ich wüßte nicht, Sennor, wer Ihnen ein Recht geben könnte, in dieser Weise mit mir zu sprechen!« sagte Yerrez, der sich jetzt gesammelt hatte, tückisch und lauernd. »Ich bin nicht Ihr Sklave und habe es nie werden wollen – ich bin Ihnen also dankbar, daß Sie mir beizeiten Ihren wahren Charakter zeigen. Ja, ich habe eine Unterredung gehabt. Ich hätte nicht nötig, es Ihnen zu sagen, aber ich tue es, weil ich mich rein weiß. Es ist ein armer Schlucker, der mich auf meiner Wanderung nach Kalifornien begleiten wollte. Er scheint allerdings drüben am Missisippi etwas getan zu haben, was ihn wünschen läßt, keine Bekanntschaft mit Squires und Richtern und Clerks zu machen. Er bat mich also, vorauszugehen und mich hier zu erkundigen, ob man einen Mann brauchen könne, der sich ernstlich bessern wolle, oder richtiger, ob man hier jemand aufnehme, der sich gut betrage, ohne sich um seine Vergangenheit zu kümmern.«
»So? Und gehört der reuige Sünder etwa zu denen, welche den Angriff auf meinen Freund Dantes gemacht?« rief Don Lotario mit dröhnender Stimme. »Welche Gründe hat denn dieser bußfertige Sünder, sich so genau nach Mr. Dantes und nach Mr. Conningham zu erkundigen, sowie nach der Zahl unserer waffenfähigen Männer und nach anderen mit seiner Besserung im engsten Zusammenhang stehenden Kleinigkeiten?«
»Ich sehe, daß man Sie getäuscht hat!« sagte Antonio Yerrez und erhob sich mit verächtlichem Blicke von seinem Sitze. »Nur ein Narr hat Ihnen derartiges melden können. Ich empfehle mich Ihnen zu Gnaden und küsse Eurer gestrengen Herrlichkeit die Hand!«
Damit wollte er nach der Tür gehen. Aber diese hatte ihm Augustus bereits vertreten und jetzt kamen auch die drei jungen Männer aus dem Nebenzimmer.
»Ah – und ich bin ohne Waffen gekommen, ich Narr!« knirschte Antonio Yerrez. »Platz da, schwarzer Hallunke!«
Aber der Neger stieß ihn zurück.
»Macht keinen Lärm, Mann!« sagte Don Lotario ruhig. »Unsere eigene Sicherheit gebietet uns, Euch so lange in Gewahrsam zu halten, bis wir wissen, woran wir mit jenem Freunde und seinen mutmaßlichen Begleitern sind. Wollt Ihr das Unrecht, das Ihr an uns begangen, als Ihr Euch unter der Maske eines Kolonisten eingeschlichen, wieder gut machen, das heißt, wollt Ihr aufrichtig bereuen und uns mitteilen, zu welchem schuftigen Plan Ihr die Hand geboten habt, nun, so habt Ihr nur Eure Wärter zu benachrichtigen, und ich bin bereit, Euch anzuhören. Denn alsdann würde ich Euch freilassen und Euch mit Geld für die Reise versorgen.«
Antonio schien sich zu besinnen. Dann lachte er kurz vor sich hin, wie jemand, der seiner Sache sicher ist und rief:
»Vorwärts! Ins Gefängnis der freien Kolonie Toledo! Aber Ihr werdet es bitterlich bereuen!«
Yerrez wurde abgeführt und, da es in Toledo kein eigentliches Gefängnis gab, in einem Raume untergebracht, dessen Fenster von außen vergittert waren. Drei Wächter wurden damit beauftragt, Fenster und Türen des Gebäudes stets im Auge zu behalten. Dann ließ Don Lotario ungefähr zwanzig Kolonisten zu sich rufen, teilte ihnen im Vertrauen mit, daß die Kolonie durch texanische Marodeurs bedroht sei und ließ sie einen beständigen Wachtdienst organisieren, jedoch unter dem Schein, als arbeiteten sie des Tages auf den Feldern und gingen des Nachts auf die Jagd nach Hirschen, die sich in den letzten Wochen im Tannenrevier gezeigt hatten. Don Lotario wollte ungern das ganze Dorf in Unruhe stürzen, da er noch gar nicht wußte, wie stark die Bande sei, zu der Yerrez gehörte.
Im übrigen gingen die friedlichen Arbeiten und die Waffenübungen in Toledo ihren Gang. Edmond hatte nun die Mehrzahl der Kolonisten kennen gelernt und plauderte namentlich gern mit den Franzosen, weil diese aufs Höchste erfreut waren, jemand zu sprechen, der erst im vergangenen Herbst Frankreich verlassen hatte. Unter dem Vorwande, die besten Schützen kennen zu lernen, wurde eine Schießübung organisiert, am Abend verbunden mit Tanz und Musik. Es zeigte sich hierbei, daß fast sämtliche Kolonisten, selbst die Deutschen nicht ausgenommen, das Schwarze inmitten der 350 Schritt entfernten Scheibe trafen. Die besten Schüsse aber taten Don Lotario und Conningham mit der Büchse. Bei dieser Festlichkeit zeigte sich Inez zum ersten Male öffentlich in der Kolonie und wurde mit Jubelruf bewillkommnet. Sie leitete die kleinen Lustbarkeiten der Frauen und jungen Mädchen, zeigte aber im ganzen noch immer ein sehr ernstes Gesicht.
Dieses Fest wurde am Sonntag gefeiert. Am nächsten Montag hatte die zwischen Yerrez und dem Fremden verabredete Zusammenkunft stattfinden sollen. Alle Vorbereitungen, den Menschen zu fangen, waren getroffen. Im übrigen hatten die Wachen keinen einzigen Fremden bemerkt; die drei ausgeschickten Indianer waren noch nicht zurück. Don Lotario konnte eine gewisse Unruhe nicht verbergen. Das Zögern der unbekannten Feinde schien anzudeuten, daß sie Verstärkungen an sich ziehen wollten.
So kam der Montag Abend heran. Antonio Yerrez hatte sich in seiner Gefangenschaft verhältnismäßig ruhig benommen. Den Wunsch, Don Lotario zu sprechen, hatte er nicht geäußert.
Schon seit früher Nachmittagsstunde hielten sich vier Kolonisten in dem Gehölz verborgen. Andere waren ausgestellt, um auf verschiedenen Seiten die Zugänge zum Gehölz im Auge zu behalten. Gegen zehn Uhr abends begab sich der stärkste Mann der Kolonie, gut bewaffnet, auf demselben Wege, den Antonio Yerrez an jenem Abende eingeschlagen, in das Gehölz und wartete auf derselben Stelle, an welcher Quirona damals den Texaner mit dem Fremden hatte sprechen sehen. Es wurde elf, zwölf Uhr – keine fremde Person ließ sich blicken. Nun wurde das Gehölz umstellt, man zündete Fackeln an und durchsuchte das Wäldchen. Keine Spur von irgendeinem Fremden. Wachen blieben bis zum Morgen. Aber auch dann fanden sie nichts. Das Rendezvous war aus irgendeinem Grunde unterblieben.
Die Aufklärung folgte am anderen Morgen in aller Frühe. Einer der Kolonisten, die die Umgegend zu durchstreifen hatten, meldete bei seiner Rückkehr, er habe am vergangenen Nachmittag, punkt halb sechs Uhr, auf dem Wege von Osten her vier Reiter bemerkt. Diese hätten in einem Gebüsch Halt gemacht und einer der Reiter sei auf einen Felsenvorsprung geklettert, von dem aus man die ganze Kolonie Toledo überblicken könne. Dort habe er ein Fernrohr hervorgezogen und nach Toledo geblickt. Eine Viertelstunde sei er in dieser Stellung geblieben, dann habe die kleine Truppe den Rückweg nach Osten eingeschlagen.
Es unterlag also kaum einem Zweifel, daß Antonio Yerrez mit dem Fremden verabredet hatte, an dem Tage, an dem eine Unterredung stattfinden sollte, irgendwo unbemerkt ein Zeichen anzubringen, das sie davon unterrichtete, daß »Alles in Ordnung« sei, und daß er sicher nahen könne. Der Fremde hatte dieses Zeichen vermißt und war zurückgekehrt.
Nun schien guter Rat teuer. Der Kolonist sagte aus, daß die fremden Reiter im allgemeinen texanischen Guerilla ähnlich gesehen hätten – kleine, flinke Pferde, breite Strohhüte, helle Anzüge, Flinten über der Schulter und Pistolen im Gürtel. Aber woher kamen sie und wohin kehrten sie zurück? Waren es ihrer nur vier, so hatte man nicht viel zu fürchten. Es wurde beschlossen jenen Ort am nächsten Tage zu überwachen, denn es ließ sich annehmen, daß die Reiter wiederkehren würden, um nach dem Zeichen zu spähen. Die ganze östliche Seite sollte bis auf die Entfernung von vier englischen Meilen besetzt und beobachtet werden.
Alfonso machte nun auch den Vorschlag, Antonio Yerrez durch List und Bestechung zum Reden zu bringen. Das beste Mittel, sich gegen die bösen Absichten der Unbekannten zu schützen, lag jedenfalls darin, ihre Pläne im voraus zu kennen. Don Lotario ließ also den Texaner unter Bedeckung zu sich führen und hatte eine Unterredung mit ihm, welcher die drei jungen Männer beiwohnten.
Don Lotario suchte dem Texaner begreiflich zu machen, daß er auf keine Weise besser für seinen Vorteil sorgen könne, als wenn er der Wahrheit gemäß angebe, zu welchem Zwecke er sich in Toledo aufhalte, wer die Fremden seien, mit denen er geheim unterhandle, und welche Absichten sie hegten. Don Lotario bot dem Manne zehntausend Dollars und vollständiges Verzeihen und Vergessen. Antonio Yerrez hörte ruhig zu, nur zuweilen spielte um seinen Mund ein spöttisches Lächeln. Er könne nichts angeben, sagte er dann, denn er wisse von nichts. Mit dem Manne, den er an jenem Abend gesehen habe, verhalte es sich so, wie er früher angegeben. Was es mit den Reitern für eine Bewandtnis habe, wisse er nicht; ein Signal habe er nie aufgesteckt. Genug, er blieb vollkommen fest, spielte den Gekränkten, mit Unrecht Beleidigten. Don Lotario ließ ihn in das Gefängnis zurückführen.
»Das ist eine böse Geschichte!« sagte Don Lotario. »Wüßte der Mann wirklich nichts, so hätte er der Verlockung des Geldes nicht widerstanden und uns ein Märchen aufgebunden, nur um das Geld zu erhalten. Jetzt muß er sich Hoffnung machen, durch sein Schweigen mehr zu verdienen, als ihm sein Sprechen einbringen könnte. Ich glaube am Ende, wir haben es nur mit einer Bande von Räubern zu tun, die uns einen Ueberfall zugedacht hat. Der Mann, den Dantes erkannt hat, kann zufällig in dieser Gegend sein. Vielleicht gelingt es uns morgen, einige der Marodeurs zu fangen. Ist das unmöglich, so müssen wir einen ausgedehnten Wachtdienst organisieren und stündlich auf der Hut sein.«
Das war gewiß keine angenehme Aussicht. Kaum zurückgekehrt von einem blutigen Kampfe und der friedlichen Ruhe wiedergegeben, sah man einem neuen, vielleicht weniger gefährlichen Kampfe entgegen.
»Scherzen werden wir nicht, wenn wir mit den Schuften zusammenkommen!« rief Don Lotario bitter. »Die texanischen Marodeurs sind gräuliches Gesindel, Abschaum aller Nationen, und der Mann, den Dantes gesehen – ein früherer Freund oder Bekannter Ralph Pettows – hat den Tod zehnfach verdient. Ich werde noch für heute nacht die geeigneten Vorkehrungen zum Schutze der Kolonie treffen.«
Erregt trennten sich die Männer, um sich später wieder zum Diner zusammenzufinden, wo jeder das Seinige tat, unbefangen und sorglos zu erscheinen, damit die Damen, die ohnehin schon sehr aufmerksam geworden waren, nicht noch mehr beunruhigt würden.
Inez gegenüber hatte Edmond ganz das Verfahren innegehalten, das er sich vorgezeichnet. An ihm lag es, die rechte Zeit abzuwarten, um sich offen zu den Eltern auszusprechen. Und diese Zeit war noch nicht gekommen, das fühlte Edmond. Abgesehen von der Unsicherheit der Gegenwart, mußte er sich auch über seine Zukunft klar sein, ehe er von diesen so außergewöhnlichen Eltern das herrliche Kind erbitten durfte.
Nicht absichtslos ging deshalb Edmond, wenn alle traulich beieinander saßen, auf die Kolonisierungs-Ideen Don Lotarios ein und fragte ihn, wo Aehnliches unternommen und wie es am besten begonnen werden müsse. Don Lotario antwortete ihm dann mit vieler Herzlichkeit und ließ durchblicken, daß ein Mann von Edmonds Tatkraft und Energie wohl geeignet sei, der Kultur in einem barbarischen Lande den Weg zu bahnen, wenn er sich nur außerdem die nötige Geduld und Seelenruhe zu erwerben wisse. Edmond fühlte, wie bei diesen Gesprächen Inez' Augen leuchtend auf ihm ruhten. Sie verstand ihn also und billigte seinen Plan. Edmond erklärte denn auch, daß er nicht abgeneigt sei, den Militärdienst zu verlassen.
»Mein Vater wird mir allerdings Schwierigkeiten machen,« sagte er. »Denn er ist Soldat vom Scheitel bis zur Zehe. Eduard ist ja auch Soldat, und ein Sohn in der Familie genügt hoffentlich für unseren militärischen Ehrgeiz.«
Don Lotario war natürlich ein zu besonnener Mann, um Edmond zu einer Handlung zu ermuntern, die ihn auch nur möglicherweise in Widerspruch mit seinem Vater verwickeln konnte; aber es ließ sich aus der freundlichen und angenehmen Art, mit der er derartige Erklärungen anhörte, leicht erraten, daß sie ihm Vergnügen machten.
Sonderbarerweise brachte auch der nächste Tag keine Entscheidung. Die Ueberwachung der ganzen östlichen Seite der Kolonie, bis nach Norden hinauf und nach Süden hinab, war in einer Weise bewerkstelligt worden, die es unmöglich erscheinen ließ, daß irgendeine Persönlichkeit sich unbemerkt nähern könne. Aber auch nicht ein einziges unbekanntes Wesen wurde bemerkt, und am Abend kehrten die Kolonisten mit derselben Unruhe zurück, mit der sie am Morgen ausgezogen waren. Don Lotario blieb nichts weiter übrig, als seinen Plan, einen regelmäßigen Wachtdienst zu organisieren, auszuführen und das weitere mit Fassung zu erwarten.
»Ich habe noch eine Idee,« sagte er am Tage darauf zu seinen jungen Freunden. »Ich möchte den Antonio Perrez freigeben. Er wird natürlich die Kolonie verlassen, und wenn man ihn genau beobachtete, so könnte man auf diese Weise vielleicht erfahren, wo sich seine Genossen befinden – denn ohne Zweifel wird er sich, wenn auch auf einem Umwege, um uns zu täuschen, zu ihnen begeben. Wären nur meine Indianer hier, die ihm unsichtbar folgen könnten.«
Es lag etwas Richtiges in diesem Gedanken; aber man mußte auch zugeben, daß die Zahl der Gegner durch Perrez vermehrt werden wurde, wenn man ihn frei ließe. An der Rachsucht des Texaners konnte niemand zweifeln. Vielleicht kehrten die Indianer in kürzester Frist zurück. Bis dahin wollte man Perrez noch festhalten.
Auch der folgende Tag verstrich ohne irgendein Resultat. Die Hitze war fast unerträglich geworden. Sie gestattete nur des Morgens und Abends eine lebhaftere Bewegung im Freien. Ein wahres Glück, daß durch die früheren Vorkehrungen Don Lotarios das Bett des kleinen Flusses, der die Kolonie durchströmte, verengert und vertieft worden war, so daß er seinen Wassergehalt fast vollständig behielt. Die prächtig inmitten eines schattigen Wäldchens gelegene Badestätte war jetzt der gewöhnliche Vergnügungsaufenthalt der Männer. Das Frauenbad lag an einer anderen Stelle, an einem Bache, welcher unterhalb des Männerbades in den Fluß mündete und stets sehr reich an Wasser war.
Gewöhnlich badeten die drei Freunde zusammen und ergötzten sich dabei in allerlei Künsten und Spielen, wie geübte Schwimmer sie lieben. Jetzt aber waren sie oft getrennt, denn natürlich beteiligten sich Alfonso und Edmond bei dem Wachtdienste, den Don Lotario organisiert hatte, ebenso wie alle anderen Kolonisten, und einer von ihnen befand sich bei Tag oder Nacht auf irgendeinem Beobachtungsposten. Richard durfte sich diesem Dienst nicht unterziehen; Don Lotario hatte ein für allemal erklärt, er dulde das nicht, denn er sei überzeugt, daß man es vorzugsweise auf Richard abgesehen habe, und dieser dürfe sich deshalb nicht von der Kolonie entfernen.
Es war fünf Uhr, also eine Stunde vor dem Diner. Zufällig waren Alfonso und Edmond von der Hazienda Mayor abwesend, Alfonso war mit einem Trupp Kolonisten abgezogen, um Edmond von der Wache abzulösen und sie bis Mitternacht zu übernehmen. Richard befand sich also allein und begab sich, wie er dies gewöhnlich um diese Zeit tat, nach der Badestätte, um sich eine Viertelstunde im Wasser zu tummeln und dann erfrischt und gestärkt bei dem Diner zu erscheinen.
Inzwischen kehrte auch Edmond zurück, etwas ermattet von dem Ritte in der glühenden Sonne. Es blieb ihm keine Zeit mehr, nach dem Männerbade zu gehen; er begnügte sich mit der Dusche, die ihm in seiner Wohnung zu Gebote stand, kleidete sich um und ging zuerst, wie er dies oft tat, nach Richards Wohnung, die sich ebenfalls in einem Seitengebäude der Hacienda Mayor befand, um Richard abzuholen, erfuhr jedoch, daß dieser noch nicht zurück sei, und begab sich nun unmittelbar nach der Hacienda Mayor.
Unter der Veranda traf er Don Lotario, Donna Theresa und Inez. Man begrüßte sich herzlich. Aber seit die geheimen Feinde die Kolonie umschwebten, seit der Boden gleichsam unterminiert war, hatte sich doch ein gewisser Ernst sämtlicher Bewohner bemächtigt. Edmond las in Don Lotarios fragendem Blick, schüttelte den Kopf und sagte: »Nichts Neues! Nichts Ungewöhnliches!« Dann überflog er die Zeitungen, die wöchentlich durch einen Boten aus dem nächsten, allerdings noch ziemlich weit entfernten Fort abgeholt wurden.
Die Uhr im Speisesaal ließ mit ihrem silbernen Klange die sechste Stunde ertönen. Richard war noch nicht da. Jedermann schien im Stillen verwundert, daß der sonst so pünktliche junge Mann fehle. Aber niemand sprach es aus, da man ihm auch nicht den leisesten Vorwurf machen wollte. Der bei Tisch aufwartende Diener erschien mit der Meldung, daß die Suppe serviert sei.
»Warten wir noch ein wenig,« sagte Donna Theresa. »Mr. Conningham ist noch nicht da.«
Abermals vergingen fünf Minuten, noch fünf Minuten. Don Lotario richtete einen eigentümlichen Blick auf Edmond.
»Mr. Richard ist wie gewöhnlich nach dem Bade gegangen,« sagte dieser. »Ich werde mich erkundigen, ob er noch nicht zurück ist. Er hat vielleicht irgendjemand unterwegs getroffen.«
Er eilte nach Richards Wohnung. Dort war der junge Mann noch nicht. Edmond ging also selbst dem Bade zu, das ungefähr eine Viertelstunde entfernt war. Er kannte den Weg genau, den sie ja oft genug zusammen gegangen. Unterwegs aber sah er nur einige Kinder, denn es war jetzt die allgemeine Essensstunde und die Mehrzahl der Kolonisten befand sich in ihren Häusern. So gelangte er bis an das Bad. Ungefähr zwanzig Zellen befanden sich auf der einen Seite des kleinen Sees, den man hier ausgegraben hatte. Ein Wärter war nicht dort – wozu wäre er auch nötig gewesen in einer Kolonie, die gleichsam nur eine Familie bildete! Niemand badete jetzt. Nur eine Zelle stand halb offen. Edmond ging auf sie zu und fragte laut:
»Richard, sind Sie hier?«
Da keine Antwort erfolgte, so öffnete er die Tür und sah nun, daß Richards ganzer Anzug sich in der Zelle befand. Dort hingen Rock und Hut, auf einer Bank lagen andere Teile des Anzuges, auf dem Boden standen die Schuhe.
Edmond fühlte sein Herz stärker klopfen. Dann aber blickte er ruhig über das Wasser. Der See, rings von Bäumen umgeben, lag kühl und schattig vor ihm, nichts zeigte sich auf dem glatten Spiegel. Der Fluß bildete auf dieser Seite, nach Westen zu, die Grenze der Kolonie. Jenseits des Flusses setzte sich der Wald noch eine Strecke weit fort; dann folgten Aecker und hinter ihnen erhob sich das Terrain zu beträchtlichen Felsen. Edmond rief nach Richard. Keine Antwort. Indessen war auch dieses nicht weiter bedenklich. Da keine Wohnungen längs des Flusses lagen und niemand sich dem Flusse zu nähern pflegte, so waren die jungen Männer schon öfters eine Strecke weit den Fluß hinabgeschwommen, den die Zweige der Eichen und Sykomoren fast berührten. Möglich, daß Richard dies ebenfalls getan. Bei der starken Strömung war es nicht leicht, den Fluß wieder hinaufzuschwimmen, er konnte sich dabei verspätet haben. Edmond warf einen Blick nach dem kleinen Kahn, der sich sonst immer, für alle Fälle, neben den Zellen befand. Er sah ihn nicht.
Was war denn hier vorgefallen? Hatte sich irgend ein Unglück ereignet und Mr. Richard in der Eile und unangekleidet den Kahn benutzt, um irgend jemand zu Hilfe zu kommen? Nein – sämtliche Zellen waren leer. Es konnte also keinem anderen Badenden etwas zugestoßen sein. Jetzt fühlte sich Edmond von plötzlicher Unruhe ergriffen. Er riß schnell ein Blatt aus seinem Notizbuch und schrieb darauf die Worte: »Kommen Sie nach dem Bade! Ich kann Richard nicht finden, aber seine Kleider sind hier!« – rannte nach dem nächsten Hause und bat einen Burschen, den Zettel zu Don Lotario zu tragen, und rief nun in allen Hütten nach Hilfe. Ein halb Dutzend Männer war sogleich um ihn herum, und sobald sie hörten, daß Mr. Richard, der vor länger als einer Stunde an ihren Häusern vorübergegangen, noch nicht zurück sei, eilten sie alle nach dem Fluß.
Noch hatte Edmond die geheime Hoffnung, daß Richard den Fluß hinabgeschwommen, und daß es ihm nicht möglich gewesen sei, wieder zurückzuschwimmen. Vielleicht hatte er sogar den Kahn mit sich genommen. Aber als er unterhalb des Sees an den Fluß kam, sah er noch etwas weiter unterhalb den Kahn am anderen Ufer. Er rief nach Richard. Wieder keine Antwort. Edmond eilte den Fluß hinab, bis zum freien Felde, wohin sich Richard aus Schicklichkeitsgefühl nie gewagt haben würde. Nichts war von ihm zu sehen.
Als er langsam den Fluß aufwärts zurückkehrte und an der Badestätte anlangte, fand er Don Lotario dort bereits vor. Edmond berichtete mit stockenden Worten, daß Richard nicht abwärts geschwommen sein könne, denn er habe ihn dort nicht gefunden. Er deutete an, daß der Kahn sich am jenseitigen Ufer befinde. Hatte ihn irgendjemand benutzt, um über den Fluß zu gelangen? Kaum glaublich, denn an allen bequemen Punkten befanden sich Brücken. Was hatte es also mit dem Kahn für Bewandtnis? Als man ihn durchsuchte, fand man, daß er im Innern sehr naß sei. Hatte Richard ihn bestiegen, um sich den Fluß hinaufzurudern? Die Ruder lagen im Kahn. War er bei dieser Gelegenheit ausgeglitten und wieder in den Fluß gestürzt? Aber dann wäre der Kahn den Fluß hinabgeschwommen. Doch nein – er lag an einer Biegung des Flusses und konnte dort angetrieben sein. Fragen, Vermutungen, Befürchtungen drängten sich. Boten durcheilten die ganze Kolonie, um zu erfahren, ob irgendjemand etwas von Mr. Conningham und dem Kahne wisse. Der See wurde durchsucht, auch der Fluß. Zwei Reiter sprengten nach einer Stelle, eine Meile abwärts, wo eine Art Wehr im Flusse angebracht war. Dort mußte ein Leichnam antreiben. Auch hier fand sich nichts. Die Untersuchung wurde fortgesetzt, die ganze Nacht hindurch.
Aber als Don Lotetrio, Edmond und der später hinzugekommene Alfonso endlich nach Hause zurückkehrten, mußten sie sich gestehen, daß keine Hoffnung mehr sei, und daß die Ansicht der Mehrzahl der Kolonisten sich als richtig erweisen würde. Nach dieser Ansicht hatte Richard, wie er öfter getan, den Kahn losgemacht, war neben ihm den Fluß hinabgeschwommen und in ihm sitzend zurückgekehrt. Dabei hatte ihn irgendein Unglück, ein Schlaganfall vielleicht, getroffen, und seine Leiche, die durch eine Baumwurzel festgehalten werden konnte, würde wohl nach einiger Zeit an die Oberfläche kommen.
Die ganze Kolonie betrauerte den freundlichen jungen Mann als einen Toten, und vor allem der Meyer Wetzel, der, wie er tief betrübt sagte, den braven Herrn nun gerettet habe, damit er hier elend ums Leben komme.
Schon am folgenden Tage jedoch sollte der tiefe, wort- und tränenlose Schmerz, dem sich Don Lotario und die beiden jungen Männer hingaben, und der sie ganz stumpf machte gegen die Gefahren, von denen sie bedroht waren, eine neue Richtung erhalten.
Gegen mittag nämlich kam ein Kolonist zu Don Lotario und überbrachte ihm ein Stück Papier, das wie ein Brief zusammengefaltet war und einige mit Bleistift geschriebene Zeilen enthielt. Der Kolonist hatte es auf einem Stein gefunden, beschwert mit einem anderen Stein. Der Inhalt des Briefes, der keine Aufschrift trug, lautete:
»Du hast ja so lange kein Lebenszeichen gegeben, alter Bursche! Was bedeutet das? Wir verlassen die Gegend. Der blonde Junge soll ja ertrunken sein, und damit ist unser Zweck vereitelt oder auch erfüllt. Zu einem anderen Besuch sind wir zu schwach. Leb' wohl, ich kann nichts für Dich tun. Bleib' in dem Nest, Du kannst uns später einmal den Weg weisen. Die anderen grüßen Dich.
S.«
Es unterlag keinem Zweifel, daß der Brief an Antonio Yerrez gerichtet sei, und in gewissem Sinne war nun auch der Schleier, der über den Absichten der Fremden gelegen, gehoben. Sie hatten es also in der Tat auf den unglücklichen Richard abgesehen gehabt! Aber war dieser Brief nicht etwa eine Finte? War er nicht vielleicht in der Absicht auf den Stein gelegt, um von den Kolonisten gefunden zu werden und sie in Sicherheit zu wiegen?
Don Lotario ließ Alfonso und Edmond, sowie den alten Quirona und einige andere Kolonisten zu sich rufen, teilte ihnen den Vorfall mit und gab dann den Auftrag, Antonio Yerrez herbeizurufen. Der Texaner schien bereits etwas mürber geworden zu sein, die Einsamkeit der langen Haft hatte seine Stirn gefurcht und seine Wangen gebleicht. Aber sein Trotz erlaubte ihm noch nicht, diese Entmutigung zu zeigen, und er benahm sich höhnisch und frech, wie früher. Don Lotario gab ihm ruhig den Brief.
Antonio las ihn langsam, und es ließ sich deutlich bemerken, daß er sich verfärbte.
»Es ist die Handschrift!« sagte er dann, Don Lotario starr in die Augen blickend. »Und was hat es mit Mr. Conningham gegeben? Ist der wirklich ertrunken, wie es hier in dem Briefe steht?«
»Wir müssen es leider annehmen, da wir keinen anderen Grund für sein Verschwinden haben,« antwortete Don Lotario.
Antonio Yerrez murmelte einen Fluch zwischen den Zähnen, legte dann die Hände auf den Rücken und ging in dem geräumigen Zimmer auf und ab. Er war offenbar die Beute einer großen Erregung.
»Caracho!« rief er dann. »Die Sache ist echt; der Hund läßt mich im Stich! Das werde ich ihm gedenken! Und Sie glauben, Mr. Connigham – oder wie er sonst heißt! – sei wirklich ertrunken? Geraubt, entführt, gestohlen oder vielleicht gar getötet ist er. Denn der Mann, von dem dieser Brief geschrieben ist, trachtet ihm nach dem Leben.«
Eine tiefe Bewegung ging durch die Zuhörer. Es war eine neue Möglichkeit über Richards Verschwinden aufgetaucht, freilich keine tröstlichere.
»Was Ihr behauptet, kann gar leicht der Fall sein,« sagte Don Lotario traurig. »Ihr müßt es ja am besten wissen. Also Ihr seid jetzt bereit, uns Aufschlüsse über Euch und Eure Genossen zu geben, vielleicht auch uns zu unterstützen, Mr. Conninghams Aufenthalt zu erfahren, falls er noch am Leben sein sollte?«
»Ich will mich rächen, weiter nichts!« rief Yerrez wütend. »Mich hier im Stich zu lassen, sich nicht weiter um mich zu kümmern! Ach, Freund Staunton – komm mir nur zwischen die Finger!«
Die Männer blickten sich an; jeder wußte, daß er den Namen behalten würde.
»Wie, wo, wann ist er ertrunken, soll er ertrunken sein?« rief Yerrez. »Zeigt mir den Ort! Erzählt mir alles. Ich fliehe nicht – ich hätte gar keine Veranlassung dazu – was habe ich denn getan? Der Mensch ist nur schuldig für die Tat, nicht für die Absicht.«
Die ganze Versammlung begab sich nach der Badestätte. Es war erklärlich, daß man Yerrez genau im Auge behielt, aber das schien gar nicht nötig; er benahm sich wie früher, als ob gar nichts vorgefallen und gar kein Grund zur Flucht für ihn vorhanden sei. Sehr aufmerksam untersuchte er das jenseitige Ufer, dort, wo Edmond den Kahn zuerst gesehen hatte.
»Ihr habt den ganzen Boden hier zertreten!« rief er ärgerlich. »Freilich, Ihr habt nicht daran denken können, daß man jemand hier fortholen könnte. Daß Leute hier gewesen sind, sehe ich ganz deutlich. Es ist nur die Frage, ob sie den Yankee, als er hier schwamm, mit dem Ruder im Wasser totgeschlagen, oder ob sie ihn etwa mit sich genommen haben.«
Ein Schauder überrieselte die Anwesenden, als der Texaner dies überlegend und gleichgültig sprach.
»Wenn die Leiche nicht bis morgen oben auf dem Wasser ist, so seid sicher, sie haben ihn mit sich fortgeschleppt,« sagte er dann kurz.
»Aber wohin?« rief Don Lotario. »Und zu welchem Zwecke? Wollt Ihr uns nicht helfen, eine Gewalttat zu verhindern, falls es noch möglich ist? Wollt Ihr Euch nicht rächen?«
»Nun, darüber sprechen wir noch!« sagte der Texaner. »Bis morgen haben wir Zeit. Entdecken wir dann die Leiche nicht – nun, so wollen wir überlegen, was zu tun ist, und ob ich Euch helfen kann.«
Damit schwieg er für jetzt. Er verlangte selbst, als man Bedenken aussprach, ob es auch ruhig in der Kolonie bleiben werde, wieder ins Gefängnis geführt zu werden. Nur bat er sich Wein oder Whisky, sowie die Erlaubnis aus, mit den Wächtern sprechen zu dürfen.
Beides wurde ihm gewährt.