Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebentes Kapitel.
Dürre

Die erste im Dorf Mayavati, die sich vom Schlaf erhob, war immer meine Tante. Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr bezeichnete der dumpfe Aufschlag ihrer nackten Füße auf der Dorfstraße für alle Dorfeinwohner den Anbruch des Morgens. Am Schall ihres langsamen Schrittes erkannten sie, daß sie es war, die zum Baden an den Fluß ging. Sie kehrte genau in dem Augenblick zurück, da die Sonne über einem Gipfel des Himalayagebirges hervorsprang. Selbst wenn der Himmel von Wolken verschleiert war, nahm unser Dorf an, daß die Sonne aufgegangen sei, weil Kuri von ihren Waschungen zurückgekehrt war. In Indien haben alle Tagesstunden ihre feierlichen Gebräuche, vor allem der Tagesanbruch. In Mayavati sind die Sommertage nicht so lang wie im Tal, das kommt daher, daß die hohen Gipfel des Himalayagebirges von Norden und Westen ihre Schatten über uns werfen. Im Winter hingegen, wenn die Sonne nach Süden geht, sind die Tage länger.

Ob Winter oder Sommer, die Tagesbräuche änderten sich selten. Die meisten Dorfbewohner standen in der letzten Nachtstunde auf, vollzogen ihre Waschungen und beteten und meditierten dann zum wenigsten eine halbe Stunde, bevor sich die Sonne über die diamantenen Gipfel der Himalayaberge schwang. Die Gebete, die sie sprachen, waren zahlreich, aber alle durchzog der ewige Rhythmus des gleichen Gedankens:

»O Kraft der Ruhe in meinem Herzen,
O barmherziges Schweigen,
Führe mich aus dem Nichtsein ins Sein,
Aus der Finsternis zum Licht,
Aus dem Tode in die Unvergänglichkeit
Mache mich so ruhevoll, daß ich stiller werde als die Berge
Und auch schneller als der schnellste Flug des menschlichen Geistes

Anejadeko manasajabiya!
Kamasya yatrapta Kamastatra
mam amritam Krisi

Wo die Begierden gestillt sind, dort lasse mich wohnen.«

Wenn die Meditation vorüber war, gingen die Knaben meines Alters in das Haus des Pulwan Lathiwal, unseres Lehrers im Ringen und Fechten. (Pulwan bedeutet Ringer und Lathiwal Fechter.) Er war ein glattrasierter Athlet von ungefähr dreißig Jahren, dessen Amt es war, die Jünglinge des Dorfes Ringen und Fechten zu lehren. Er unterrichtete alle Kasten, zu jeder Zeit und in jederlei Zusammensetzung. Unter dem strohgedeckten, von Pfeilern getragenen Dach lag der Schlamm aus dem Fluß Avati, der getrocknet und zerstampft worden war, bis er so weich wurde wie Baumwolle. Auf dieser Erd-Matratze, angetan mit Jangiyo oder eng anliegenden kurzen Beinkleidern, rangen wir miteinander oder mit Pulwan Lathiwal. So haben in Indien junge Burschen seit unvordenklichen Zeiten gerungen, und für gewöhnlich wird das Kusthi genannt.

Wenn wir von den Kusthi-Übungen kamen und zum Fluß gingen, um darin Staub und Schmutz abzuspülen, hatte der Tag meistens schon ernstlich begonnen. Die Hirten brachten ihr Vieh aufs Feld; der Bauer schnalzte mit der Zunge und trieb seine Ochsen an, den Pflug zu ziehen. Krähen, Milane und Falken flogen hoch oben durch den Himmel, während die Menschen sich, jeder zu seinem Geschäft, an die Arbeit begaben. Der Weber kränkte sich über das Zerreißen des Fadens, mit dem er wob, der Töpfer murrte über den trockenen Ton unter seiner Hand, und der Schmied wunderte sich, weshalb es so mühselig war, in der Schmiede zu arbeiten. Unterdessen brüllten die Kühe eine nicht mißzuverstehende Prophezeiung, und die Pferde wieherten ihre Abneigung gegen die Arbeit hervor. Purohit, der ein Vorgefühl hatte von dem, was im Anzug war, sagte, als er mir meinen Unterricht gab: »Die trockene Jahreszeit hat angefangen, vielleicht bekommen wir dieses Jahr eine schreckliche Dürre. Möge Gott den Blitzstrahl des Unheils von diesem Land abwenden!«

Aber ohne Zweifel war das Unglück über uns. In dem Maß, wie die Sonne höher am Himmel emporstieg, wurde die Hitze von Tag zu Tag unerträglicher. Dennoch ging die Arbeit weiter. Die Kuhhirten bliesen ihre Flöten, als wären sie Götter, die in einem Hain spielten. Der Mann hinter dem Pflug sang:

»Wie kann ich daheim bleiben und das Feuer hüten,
Wenn ich das Flötenspiel meiner Liebsten höre?«

Der Weber, der an einem safrangelben Brautschleier wirkte, glättete seine Faden mit dem Lied:

»O mein Freund, ich konnte ihn nicht deutlich sehen! Durch den Schleier blickte ich meinen Geliebten an, ich konnte ihn nicht deutlich sehen. Im Busen der Wolke leuchtet der Blitz auf und entschwindet. Wie kann ich euch von ihm erzählen, da ich geblendet bin vom Anblick seines Gesichtes.«

Was den Schmied anlangt, so sang auch er, ungeachtet des Klirrens von Stahl auf Stahl, während er das harte Eisen zu fließenden Formen voller Schönheit umschuf:

»Hammer und Amboß,
Singt, Brüder, singt!
Zähmet die Zunge rotglühenden Eisens,
Seine Augen aus Scharlach,
Seinen Leib – wie Feuerstein.
Zähmet, zähmet, zähmet.
Singet und formt,
Hammer und Amboß,
Dies rotglühende Eisen.«

Der Töpfer beugt sich über eine große Scheibe von mindestens zwei Fuß Durchmesser, die mit ihrem Mittelpunkt auf einer etwa drei Zoll hohen Achse ruht. Wir sehen nur seinen ockergelben Turban, seinen mit einem weißen Rock bekleideten Rumpf und seine Beine, die in weißen Payjama – ein Hinduwort, das »paya« oder Beine »jama« bedeckend heißt –, kurzen Hosen, stecken. Seine langen feinfühligen Finger liegen auf dem Ton, der aus dem Flußbett ausgegraben wird, wenn das Wasser sehr niedrig steht. Er häuft den Ton etwa einen Fuß hoch in der Mitte der Scheibe auf. Nachdem das geschehen ist, treibt er die Scheibe an. Erst dreht sie sich langsam, dann kreist sie mit zunehmender Kraft schneller und schneller. Nun drückt er sie mit flüchtigen Berührungen hier und dort nieder, bis das Ganze sich ohne Schwanken im Gleichgewicht dreht. Wenn er sich überzeugt hat, daß alles gut vorbereitet ist, legt er seine beiden Daumen auf den Ton in der Mitte und drückt darauf. Wie durch ein Wunder erblüht der Ton zu einer Schale. Rasch nimmt er jetzt einen nassen Faden, der in einem auf der Erde stehenden Gefäß mit Wasser liegt, und zieht ihn unter der neugeschaffenen Schale durch. Sie fährt fort sich zu drehen, als sei sie nicht von dem übrigen Ton abgetrennt worden. Mit seinen Zeigefingern berührt der Töpfer die Scheibe und verlangsamt ein wenig ihren Gang. Dann hebt er geschickt mit der Hand die flügge Schale in die Höhe, wie ein Züchter eine zahme Taube vom Nest hebt. Er stellt sie in die Sonne und wirbelt dann nochmals seine Scheibe herum, aber anstatt ein zweites Gefäß sanft unter seinen Daumen erblühen zu lassen, singt er seine Tonmasse an:

»Lilien auf dem Wasser,
Sterne am Firmament,
Schwung einer Vogelschwinge,
Anmut einer Braut,
Kommet alle, kommt –
Und gehet ein in die Gefäße, die ich schaffe!«

Im Tempel fuhr der Priester fort, mir Addition, Subtraktion und alle die übrigen Zahlengeheimnisse zu erklären. Was er mir von ihnen erzählte, werdet ihr wissen. Zum Beispiel sagte er, daß die ganzen sogenannten arabischen Zahlen, deren sich alle Welt bedient, überhaupt nicht arabisch sind; sie wurden von den alten Hindus erfunden. Im siebenten Jahrhundert vor Christi lernten sie die Araber, als sie nach Indien kamen, von den Hindus und nahmen das Dezimalsystem mit nach Europa und brachten es den christlichen Völkern. Ohne diese zwiefache Schöpfung des Hindugeistes würde die Wissenschaft der Mathematik nicht so rasche Fortschritte gemacht haben.

Mich aber interessierte am meisten die Geschichte, die der Priester vom Ursprung des Dezimalsystems erzählte. Purohit sagte: »Hast du bemerkt, wie natürlich es ist, bis zehn zu zählen und dann innezuhalten? Diese Zehnereinteilung hat der Mensch nicht dem Himmel abgeguckt. Er hat sie sich selbst abgeguckt.«

»Was wollt Ihr damit sagen, Herr?« fragte ich verwirrt.

Purohit antwortete: »Zähle deine Finger. Wieviele sind es?«

»Zehn, Herr.«

»Wie viele Zehen hast du?« fragte er weiter.

Ich antwortete: »Zehn, Herr.«

»Nun also,« fuhr der Priester fort, »es ist die Wiederkehr von zehn, was die alten Hindus in höchstes Staunen versetzte. Du weißt, mein Sohn, die Menschen haben damals geradeso an den Fingern abgezählt, wie sie es heute tun, und so oft sie das taten, zählten sie bis zehn oder bis zu einem Bruchteil davon. In der dunkeln Vorzeit gab es einen Mann, der aufzeichnete, was er zählte. Er machte mit einem Stock Zeichen auf den Boden, und jede Aufzählung, die nicht bis zehn ging, vermerkte er als einen Bruch oder Teil von zehn: ein Dezimalzeichen davor. So entstand in Indien zugleich mit den Zahlen das Dezimalsystem. Das einzige, wofür wir den alten Hindus Dank schulden, ist, daß sie von ihren Fingern Gebrauch zu machen wußten.«

Die Geschichte meiner Erziehung durch Purohit würde einen ganzen Band füllen. Aber das Beispiel mit den Zahlen zeigt, wie er die Wissenschaft darbot, ob es nun die Wissenschaft der Mathematik oder irgendein anderer Studienzweig sein mochte. Meine Schulung bestand aus einer Mischung von Meditation, Wissenschaft, heiligen Schriften und Literatur.

 

Gegen elf Uhr stellten die Handwerker und Arbeiter ihre Arbeit ein. Die zunehmende Aprilhitze trieb Schulknaben und Arbeitsmann zum Baden in den Fluß. Aber kein Hindu geht geradeswegs ins Wasser; denn das wäre eine Gotteslästerung. Wir pflegten uns an den Rand des Wassers zu setzen und so zu beten:

»Wie auch deine Farbe und Beschaffenheit sein mag, ich bete darum, daß du so heilig und segenbeladen seiest wie die sieben heiligen Ströme. O Mutter, gewähre mir, in dir zu baden.«

Nach diesem Gebet sprang ich ins Wasser. Ach, es fühlte sich so erquickend kühl an! Der Fluß war sehr seicht und die Strömung nicht stark, deshalb ging ich, bloß zum Vergnügen, quer hindurch. Aber auf der anderen Seite sah ich etwas, das mich stillstehen und nachdenken ließ. Den Fluß entlang zogen sich Tigerspuren, nicht eine, sondern viele, vor ihnen hatte die Fährte des Elefanten den Boden gezeichnet, und auch von anderen Tieren waren Fußabdrücke da. Bei ihrem Anblick fühlte ich mich so erregt wie ein Arzt, der ein Heilmittel gegen eine neue Krankheit findet. Statt irgend jemand irgend etwas zu erzählen, ging ich durch den Fluß zurück, vollzog meine Waschungen und ging nach Hause. Ich beabsichtigte, meine Entdeckung für mich zu behalten, bis ich am nächsten Nachmittag Purohit träfe.

Als ich zu Hause angekommen war, wechselte ich die Kleider, dann ging ich in unsere Familienkapelle und meditierte eine Viertelstunde, indem ich der Mittagsstille lauschte. Gibt es etwas, das größere heilige Scheu einflößt als die Hitze eines tropischen Mittags, die wie ein quälender Harfenton zittert?

Unser Mittagsmahl fing mit einer Linsensuppe an. Darauf aßen Kuri und ich in Wasser gekochten und mit Butter angemachten Reis und dazu Curry-Kartoffeln und in Ghi (zerlassener Butter) geröstete Eierfrüchte. Zum Nachtisch gab es Dickmilch mit Zucker. Für den Hindu ist Essen so etwas wie ein Sakrament. In Gasthäusern speisen wir für uns auf unsern Zimmern; zu Hause essen wir allein oder zu zweit und sprechen dabei sehr wenig.

Heute jedoch mußte ich sprechen, ich mußte meiner Tante alles erzählen, was ich gesehen hatte. Schweigend hörte sie während der Mahlzeit meine Aussagen zwischen den einzelnen Gerichten an. Als das Mittagessen vorbei war und ich mich in meinem Zimmer zum Ausruhen hingelegt hatte, kam sie herüber, um ihre Ansicht zu äußern, indem sie sagte:

»Ganz früh heute morgen, als ich zum Baden ging, sah ich die Tiere am Flußufer entlang wandern …«

»Nein!« rief ich verblüfft.

»Ja. Jetzt, wo du ihre Fußspuren gesehen hast, wollen wir heute nacht zuschauen, wie sie vorbeiziehen.«

»Ist das dein Ernst, Kuri?«

»Ja, mein Kind«, beruhigte sie mich. »Ich verspreche dir, dich mitzunehmen.«

»Aber woher weißt du, daß sie wiederkommen werden?« fragte ich, voll Angst, die Tiere könnten nicht wiederkommen, und der bloße Gedanke erfüllte mich mit Enttäuschung.

»Es werden andere kommen. Die zahlreichen Spuren, die du gesehen hast, zeigen an, daß die Tiere stromabwärts gehen, weil die Dürre die Quellen auf den Bergen ausgetrocknet hat. In der letzten Nacht zog nur die Vorhut an unserem Dorf vorüber. Noch viele Herden werden folgen. Keine Sorge, wir werden sie heute nacht alle sehen. Jetzt schlafe, o Liebling des Glücks!«

Aber ich konnte nicht schlafen. Die an unserem Dorf vorüberziehenden Tiere erwiesen sich als zuviel für meine Phantasie, ihr langer Zug schritt durch mein Gehirn, und dennoch mußte ich bis zum Einbruch der Nacht warten, um Zeuge ihrer Auswanderung meerwärts zu sein.

Das Leben in unserem Dorf ging an jenem Nachmittag weiter, als läge nichts Unheimliches in der Luft, und ich, der wußte, was unser wartete, ging meiner Beschäftigung nach, als sei nichts geschehen oder auf dem Wege zu geschehen. Gegen drei Uhr nachmittags ließ die Hitze nach, und ich ging aus, um mit den Knaben unseres Dorfes zu spielen. Obgleich ich mit ihnen allen gut Freund war, hielt ich mich doch von ihnen fern und erzählte ihnen sehr selten von meinen Erlebnissen. Selbst heute noch, obwohl viele Leute mich gern mögen und ich die meisten von ihnen liebhabe, kann ich doch meine Seele und meinen Sinn nicht erleichtern, indem ich sie zu meinen Hörern mache. Immer gibt es irgend etwas, das ich ganz für mich behalte, und daher kommt es, daß die Menschen mich von Zeit zu Zeit mißverstehen.

An jenem besonderen Nachmittag spielten wir Kit Kit, Gooli Danda und Lathi. Kit Kit ist ein einfaches Spiel, im wesentlichen ist es eine primitive Form des Fußballspiels ohne Ball. Es wird auf einem freien Feld von der Größe und Art eines Tennisplatzes gespielt, auf dem die Stelle des Netzes von einer weißen, über den Rasen gezogenen Linie eingenommen wird. Nach der Aufteilung des Feldes in zwei Hälften war das nächste, was wir taten, daß wir uns selbst in zwei Mannschaften teilten, die Roten und die Blauen. Die Spielregel ist nun die, daß ein Roter, wenn er über die Trennungslinie auf die andere Seite gelangt und die Blauen ihn zum Gefangenen machen, als tot gezählt wird. Stellt euch vor, was für eine Ringerei ein einzelnes Individuum mit einer ganzen Schar Jungens vollführen muß, um sich zu befreien und lebendig zu seiner eigenen Partei zurückzugelangen.

Nachdem wir uns nun in Rote und Blaue geteilt und, wie es das Los entschied, jeder unser Feld eingenommen hatten, mußte einer von uns – ich gehörte zu den Roten – hinüberlaufen und dabei »Kit Kit« rufen, was bedeutet: Fangt mich, wenn ihr könnt, und haltet mich fest, bis ich mich geschlagen gebe. Ich muß gestehen, daß mein Schreien und Prahlen nicht lange durch Ringen unterstützt werden konnte. Die neun Blauen fielen über mich her wie eine Menschenlawine und saßen mir auf Kopf, Nacken und Hals, bis ich mich besiegt gab. Nun, da ich für tot zählte, saß ich am Rande des Spielplatzes und feuerte unsere Mannschaft an. Ein Blauer kam auf unsere Hälfte des Feldes herüber und schrie »Kit Kit«. Unsere Leute taten ihr Bestes, ihn unterzukriegen. Ach, er riß sich los und kehrte als Sieger zu seiner Partei zurück. Für diese Heldentat des Blauen wurde ein zweiter Roter als tot gezählt. Der Verlust von zwei Mitgliedern wirkte ohne Zweifel schädigend auf die Widerstandskraft unserer Partei. In weiteren fünfzehn Minuten waren alle Roten tot, und die Blauen jauchzten und triumphierten.

Nach diesem Spiel fingen wir mit Gooli Danda an. Es besteht darin, daß man ein etwa drei Zoll langes Stück Holz mit einem ungefähr einen Fuß langen Stock wegschlägt. Kit Kit ist eine Art Rugby und Gooli Danda eine einfache Form von Baseball oder Kricket. Das Gooli – kleines Holzstück – ist in der Mitte dick und hat zwei spitz zulaufende Enden. Es wird an einem bestimmten Tor auf den Boden gelegt, und dann nimmt ein Junge den Danda (Schlagholz), den einen Fuß langen Stock, zur Hand und zielt nach dem Gooli. Unser Schläger traf es an einem Ende, und ballgleich stieg es im Fluge in die Luft, wobei es sich wie ein Kreisel drehte. Gelang es einem nicht, das Gooli zu treffen, solange es auf der Erde lag, so verlor man seine Chance und wurde ein »Pfuscher«, wenn aber keiner es verfehlte, so wurde derjenige ein »Pfuscher«, dessen Schlag es die kürzeste Strecke vom Tor weg trieb.

An eben diesem Nachmittag wurde zufälligerweise ich der »Pfuscher«. Jeder der neunzehn Knaben stand am Tor und schlug das Gooli in die Luft, und ich mußte es auffangen, bevor es wieder den Boden berührte. Das ist die Strafe für einen »Pfuscher«. Wenn mir das mißlang, so bestand meine nächste Chance, den Schaden wieder auszugleichen, darin, daß ich das Gooli von der Stelle, wo es niederfiel, zum Tor zurückwarf und mit ihm den Danda traf, der auf der Erde lag. Mißglückte mir auch dies, so mußte derselbe Junge, der zuletzt das Gooli geschlagen hatte, es aufheben und es wieder mit einem Schlag des Danda im Fluge durch die Luft senden. Nun gut, eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang fing ich das Gooli auf, als es zum neunzehnten Mal aus der Luft herabkam. Ich war nahezu erschöpft!

Von den Spielplätzen eilten wir zum Hause Pulwan Lathiwals. Dort teilten sich zwanzig Knaben in zehn Paare und fochten zuerst zwanzig Minuten lang mit dünnen, etwa zweieinhalb Fuß langen Stäben, Tschota Lathi genannt. Bevor die Briten Herrscher über Indien wurden, wurde das Tschota Lathi von maskierten Männern mit Schwertern geübt, aber seit damals ist das Land waffenlos gemacht und wir fechten mit Stöcken. In der Kunst des Stoßens und Parierens war ich geradezu ein Meister. Unser Lehrer, Pulwan Lathiwal, beobachtete aufmerksam jedes Paar, und wenn jemand einen Fehler machte, verbesserte er ihn sofort. Nachdem das Tschota vorüber war, griffen wir zu den eigentlichen Lathis, sechs Fuß langen, mit Messingzwingen versehenen Stäben. Der Tschota konnte mit einer Hand geführt werden, aber den Bara oder großen Lathi konnte man nur mit zweien aufheben. Nun begann der Hauptkampf. Zehn Knaben, die mächtigen Stangen schwingend, griffen zehn andere, ebenso bewaffnete an. Es erinnerte mich an einen Aufruhr, aber mit ein paar blauen Flecken auf den Schultern und einigen Beulen auf den Händen machten wir für diesen Tag mit Lathi Schluß. Die Regeln dieses Spieles sind zu verwickelt, um sie alle hier im einzelnen vorzutragen.

 

Jetzt kam die Stunde des Gebets. Nachdem wir uns Hände, Gesicht und Füße gewaschen hatten, gingen wir zum nahen Tempel und dann in die äußere Kapelle, um über unendliche Gelassenheit zu meditieren. Das ist etwas, was in Indien alle Knaben und Mädchen tun müssen.

Purohit, unser Priester, saß uns allen gegenüber und besang in Sanskrit das Schweigen:

»Yasyantam nabidu sura suragana
Devaya tasmai namo

O du unermeßliches Licht, das selbst Götter nicht
zu schildern vermögen, wir grüßen Dich!«

Jeder von uns versuchte, sich auf diese Weise eine Vorstellung vom Leben zu machen. Ich sprach zu mir: »Alles ist ruhig. Tiere, Menschen, Vögel – alle sind ruhig. Auch ich bin ruhig. Möge meine Ruhe so groß werden, daß alles, was ich berühre, beruhigt wird. Was ich fühle, ist gelassen gefühlt. Was ich denke, ist gelassen gedacht. Was ich tue, soll mit Gelassenheit erfüllt sein.

Ruhe Ruhe Ruhe
Friede Friede Friede
Friede sei mit allem!«

Dann fing ich an, auf die Stille zu lauschen. Obgleich das schwierig ist, muß man es versuchen. Laßt mich euch die Kunst, die Stille zu hören, veranschaulichen. Stellt euch vor, ihr wäret auf dem Lande und horchtet auf alle Geräusche. Wenn ihr aufmerksam seid, werdet ihr jedes Geräusch in verschiedenen Tönen hören. Der Wind zum Beispiel macht nicht dasselbe Geräusch, wenn er einen Fichtenbaum schüttelt, wie wenn er durch das Laub einer Pappel zittert, und wenn er im Ried seufzt, berührt er unser Ohr anders, als wenn er auf das Wasser haucht. Aber wenn ihr meint, ihr hättet gehört, daß der letzte Hauch des Windes in der Ferne still geworden sei, dann irrt ihr euch. Er mag fast unhörbar sein, wenn er über die ruhige Fläche des Sees hinzittert, dennoch ist er zu vernehmen. Man muß sich tiefer versenken, bis man ihn wie eine Libelle bei ihrem Abendflug dahinschweben hören kann. Manchmal habe ich den Wind in großer Entfernung gehört wie das Zittern eines Stückes Gaze; wenn ich mich dann tiefer versenkte, hörte das plötzlich auf und wie ein Springquell stieg Schweigen aus dem leeren Raum auf.

Habt ihr je das Schweigen gehört? Es ist nicht die Stille, die die Abwesenheit des Geräusches ist. Das Schweigen ist nicht leer, es ist voller Inhalt. Es ist wie der Himmel – ungreifbar und dennoch die Sterne, die Sonne, den Mond und alles Sein enthaltend. So ist das Schweigen, und es ist voller Stimmen.

Als unsere Meditation vorüber war, segnete der Priester uns und wir gingen jeder in sein Heim. Nach dem Abendbrot, bestehend aus mit Butter getränktem Tschapati (etwas ganz Ähnliches wie Tortilla, mexikanisches Brot), zu dem wir mit Currypulver gewürzte Bohnen aßen, und Mangopflaumen als Nachtisch, gingen Kuri und ich in den Tempel, um Purohit aus dem Epos Mahabharata vorlesen und es erklären zu hören. Menschen und Götter kämpfen in jenem Epos miteinander. An diesem Abend wählte der Priester die Geschichte von der Schlacht der Titanen und der Götter, insbesondere den Abschnitt, der bekannt ist als Garnda, Der Garnda der Hindus entspricht dem Prometheus. der Sturmvogel, der das Geheimnis der Unsterblichkeit vom Himmel stiehlt. Es war eine sehr aufregende Geschichte. Ich merkte nicht, wie die Zeit verstrich.

Der größte Teil der Hindus geht noch immer abends in den Tempel, um die Epen zu hören, fast genau so, wie ihr ins Kino geht. Obgleich ich den Kopf voll hatte mit den Tieren, die an unserem Dorf vorüberzogen, nahm die Erzählung aus dem Epos doch meine Aufmerksamkeit ganz gefangen und ließ mich für den Augenblick alles übrige vergessen; mit solcher Kunst wurde sie von dem Priester vorgetragen. Die Geschichte, wie den Göttern das Geheimnis der Unsterblichkeit gestohlen wird, ist nicht nur dramatisch, sie ist auch allgemeingültig und kommt, wie man mir gesagt hat, in den Epen der anderen Völker ebenso vor wie in den unseren.

Endlich war die Vorlesung zu Ende, und nachdem der Priester die Versammelten gesegnet hatte, schlüpften Kuri und ich in die trockene, windige Nacht hinaus. In Indien weht der Wind von Ende Februar ab von Süden und bis über den August hinaus nur selten aus einer anderen Richtung. Diese besondere Nacht bildete keine Ausnahme, was für uns sehr günstig war; denn da Kuri am nördlichen Flußufer zu bleiben beabsichtigte, konnten die Tiere, die voraussichtlich vorüber kamen, keinen Wind von uns bekommen. Wenn irgend jemand den Geruch auffing, so mußten wir das sein. Nachdem wir das allzu vertraute diesseitige Ufer abgesucht hatten, fanden wir schließlich eine Wand von Bäumen und unter ihnen Lärchen, die einen vollkommenen Schutzwall für uns bildeten. Dort ließen wir uns behaglich nieder und horchten auf Geräusche vom jenseitigen Ufer, dessen verschwommenen Umriß wir vor uns wahrnahmen.

Plötzlich hörten wir irgend etwas hinter uns belfern. Fast wäre ich in den Fluß gesprungen, aber Kuri, die große Geistesgegenwart besaß, packte meine Hand und hielt mich zurück. Sie sagte: »Das ist ein Mann, der hustet – möglicherweise der Priester, zum gleichen Zweck unterwegs wie wir.«

»Ja«, sprach eine Stimme neben uns. »Auch ich möchte die Tiere sehen.« Jetzt war es unverkennbar des Priesters Stimme.

»Kommt und setzet Euch zu uns«, sagte meine Tante. »Aber lauft nicht hier herum und hustet und erschreckt Menschen und Tiere.«

»Ich sah sie in der vorigen Nacht vorüberziehen, deshalb dachte ich –« begann Purohit, indem er sich neben mich setzte. Wie ihr wißt, sind die Tiere in der freien Natur nicht dumm genug, so pünktlich aufzutreten wie ihre gezähmten Brüder im Zirkus. Wir – der Priester, neben ihm ich und dann meine alte Tante – saßen in einer Reihe und warteten auf den Beginn des Schauspiels. Nichts geschah. Selbst der Wind wurde des Wartens müde und schlief fast ein, und ich, unfähig dem Schlummer zu wehren, legte meinen Kopf in Kuris Schoß und sank in Schlaf. Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen hatte, als ich sanft gerüttelt wurde. Es bedurfte keiner Wiederholung, im Nu war ich ganz Aufmerksamkeit. Während ich die Augen öffnete, setzte ich mich auf, aber was ich erblickte, war enttäuschend: nichts als einen leeren Landstrich, eingefaßt von Bäumen, die wie eine Wand aus steifem Papier im Schein des inzwischen aufgegangenen Halbmondes standen. Außer seinem Licht war auf der Bühne vor uns nichts Neues erschienen. Ich machte eine unmutige Bewegung und schickte mich an, mich wieder hinzulegen.

Aber der Priester flüsterte: »Horch, weit weg in der Stille regt sich etwas.«

Ich lauschte aufmerksam, empfing aber keinerlei Eindruck.

Meine Tante bemerkte sehr leise: »Elefanten – sie gehen so geräuschlos.«

Ich, der ich meine Ohren spitzte, so gut ich konnte, vernahm nichts als das Zittern des verebbenden Windes auf dem Wasser und das leiseste Beben der Nadelbüschel an der Lärche. Nichts, nichts sonst.

Daran aber, daß in dem dunkeln Wald im Westen etwas vor sich ging, war nicht zu zweifeln. In der Luft lag eine Spannung, die sich ostwärts bewegte. Wie unmerklich sich teilende Vorhänge teilte sich die Dunkelheit zu unserer Rechten, und dann stand wie bei einem Auftritt auf der Bühne ein riesiger Elefant vor uns. Wie regungslos er dastand – als wäre er aus schwarzem Marmor ausgehauen. Das Mondlicht blitzte auf seinem Rüssel auf wie eine Säule klaren Wassers, und seine Stoßzähne, die sehr lang sein mußten, sahen so hell aus wie der Mond selber. Die steinstille Gestalt setzte sich langsam in Bewegung. Habt ihr jemals einen gewaltigen Banyanbaum in der Morgendämmerung Farbe annehmen sehen? Dann könnt ihr euch ein Bild davon machen, wie die Bewegung jene kolossale Reglosigkeit verwandelte und belebte. Er hob seinen Rüssel gegen den Mond, dessen Licht ihn umrann, wie die Wurzeln eines Baumes einen Granitblock umfassen. Streifen von Mondlicht glitten seine Vorderbeine hinab. Die ganze Masse vor uns wurde jetzt mit Kraft geladen. Er schwang seinen Rüssel weit nach vorn, um die Luft einzuziehen, dann nach rechts und links. »Nein,« schien er zu sich zu sprechen, »es riecht aus keiner Richtung nach Gefahr, – lieber weitergehen!«

Das Geschöpf, massig wie ein Tempel, bewegte sich eilig und verschwand. Und genau da, wo es vor wenigen Augenblicken vor unseren Augen aufgetaucht war, stand ein großer weiblicher Elefant. Von einem jungen Elefantenmännchen gefolgt, schritt er vorüber. So zogen sie vorbei, einer nach dem andern, eine ganze Herde. Kaum waren sie gegangen, als ein sehr starker männlicher Elefant von außergewöhnlicher Höhe erschien. Obgleich er ein Nachzügler zu sein schien, bestand doch kein Zweifel darüber, daß er der zweite Anführer der Herde war, und daß es die Aufgabe des ersten war, zu führen, die Pflicht des zweiten aber darin bestand, die Herde vor jedem Angriff von hinten zu schützen. Man konnte das an der eigentümlichen Bewegung erkennen, mit der er seinen Rüssel nach rechts und links rückwärts schwang, ein Zeichen dafür, daß er die Luft hinter sich einsog, um sich zu vergewissern, daß keine Gefahr den Fußspuren der Herde folgte. Wie ein ausgeträumter Traum entschwand auch er.

Aber ihr Durchzug hatte das Flußufer verwandelt, als hätte der Heiligste der Heiligen den Raum vor uns durchschritten und ihn mit Erhabenheit und Wunder erfüllt zurückgelassen. Es war ein Gefühl von Spannung in der Luft. Stunden schienen vergangen zu sein, als ein ungeheurer Sambar (ein Hirsch so groß wie ein Stier) stolz schreitend von Westen kam und plötzlich vor uns stand. Als gingen sie auf einem Strich, der schnurgerade unter ihren Füßen gezogen wäre, so folgten ihm Hirsch auf Hirsch still und ruhig und alle ohne jegliche Angst ostwärts. Das einzige, woran man merkte, daß sie sich bewegten, war das Aufglänzen des Mondscheins, der auf ihre Mäuler fiel, wie sie einer nach dem anderen aus dem Waldesschatten im Westen hervortraten.

Es verging eine völlig ereignislose halbe Stunde, und dann kam ein rasches tapp, tapp, tapp von Westen her, und siehe, ein Tiger und eine Tigerin zogen ihren Schlängelpfad am Ufer entlang! Ein Schauer von Schrecken und Lust packte uns. Ich legte eine Hand in die Kuris und die andere in die Purohits und preßte sie heftig. Trotz des beruhigenden Druckes von ihnen beiden war ich außerstande, meine Angst und Freude zu beherrschen, denn es war das erste Mal, daß ich wilde Tiger sah. Noch lange nachdem sie gegangen, waren meine Augen wie hypnotisiert auf das andere Flußufer geheftet. Mir schien, es sei gar keine Zeit verstrichen, als schon ein zweites Katzenpaar gekommen war und mit blitzartiger Schnelle von Westen nach Osten verschwand. Ob es Leoparden oder Tiger waren, ließ sich schwer erkennen.

Jetzt fand die packendste Szene der Nacht statt. Der Mond war schon bis zu seinem höchsten Punkt gestiegen, als ein halbes Dutzend Wildschweine und nach ihnen Büffel vorüberzogen. Hinter diesen kam eine kleine Herde Elefanten. Aber sie waren sehr geräuschvoll. Das Knacken von Zweigen und Knistern von trockenen Blattern zerriß die Luft mit knallenden Sprenglauten, als sie vom Ufer des Flusses zu dem spärlichen Rinnsal in seiner Mitte herabstiegen, um einen Trunk zu tun. Sie stöhnten und schimpften über den Schlick, in dem ihre Füße einsanken. Nachdem sie sich sattgetrunken hatten, beruhigten sie sich, und langsam stiegen sie der Reihe nach wieder das Ufer hinan. Die Art, in der sie ihre Vorderfüße aufstellten und ihre schweren Hinterbeine nachzogen, war ein Versuch in Hebelmechanik, so fehlerlos funktionierend wie eine tadellos gebaute Maschine.

Doch als habe die Gegenwart eines erhabenen Wesens ihren tierischen Sinnen Ehrfurcht eingeflößt und sie beschwichtigt, unterließen sie es, die Geräusche zu wiederholen, die sie bis dahin vollführt hatten. Auch wir empfanden eine ehrfurchtsvolle Scheu vor etwas sich Nahendem. Eine bebende Stille ergriff Besitz von Tieren, Bäumen und Menschen. Langsam und unentrinnbar senkte sich ein ungreifbares und doch diamanthartes Gewicht aus der Luft herab.

Zwei Sterne gingen unter, einer nach dem andern, gleich ausgelöschten Kerzen.

Die Elefanten erhoben ihre Rüssel wie zum Gruß. Gerade da gab eine Doel (indische Nachtigall) einen durchdringenden Freudenschrei von sich, der wie ein Zickzackblitz durch ein granitenes Schweigen lief. Wie Zaubergeräte in der Tasche des Zauberers verschwinden, entwich die Elefantenherde unserem Blick in das Unterholz zur Linken.

Und als ein goldener Springquell brach im Osten der Tag an.


 << zurück weiter >>