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Die Szene stellt Thomas' Studierzimmer dar. Die Wände vom seltsamen Muster der Buchrücken bedeckt. Im Hintergrund schräg ein großes geöffnetes Fenster. Park. Sich vertiefendes Dunkel. Anfangs brennt nur eine kleine Lampe.
Von der Darstellung dieser Szene gilt das gleiche wie im ersten Akt. Nur sind die Möbel spärlich und wuchtend; seelisch übergewichtig. Über und an manchen Stellen sogar zwischen den Büchern Sternennacht.
Anselm kommt vom offenen Fenster: Wie die Bäume rauschen. Man weiß nicht, ist es das Meer?
Maria: Wir warten vergeblich, Thomas muß aufgehalten worden sein.
Anselm: Weshalb in Wahrheit ist er in die Stadt gefahren?
Maria: Er hat es nicht gesagt. Kurz nach dem Gespräch mit Josef ist er weggefahren.
Anselm: Der Empfang war kläglich, das Fest! Josef hätte vom Eingang des Parks bis zu seinem Zimmer durch eine Allee der Desillusionierung wandern sollen! Allee des vergleichenden Jahrhunderts! Warum hat Thomas dann nicht Grammophone aufgestellt, die aus den Büschen Liebesschwüre in ausgestorbenen Sprachen hauchten?! Attrappen schöner Frauen, die zu Knochenstaub zerfallen, sobald man sie ansieht?! Seine Frösche und Mäuse ausgelassen?! Ins Beratungszimmer ein Röntgenbild der schönen Regine gehängt?! Gedärme um die Äste gerankt!!
Maria: Abscheulich! Sie wühlen immer wieder in solchen Vorstellungen!
Anselm: Weil ich voll Zorn bin! Wenn ich so denken wollte wie Thomas, nicht an den unsterblichen Teil glauben: ich könnte es viel besser. Ich könnte endlos Schmutz ausbrechen! Er geht wieder zum Fenster.
Maria: Es sah auch so unsinnig genug aus. Und war doch nichts, das fühlte er selbst; er war nicht bei der Sache. Sie sind schuld, Anselm! Sie hatten versprochen, vorher zu ihm zu gehen.
Anselm kehrt unterwegs um: Und Josef hat überhaupt nicht davon Kenntnis genommen, hat es gar nicht bemerkt, sagen Sie?
Maria: Er sagte sofort: Ich habe dir Mitteilungen zu machen, die deine Haltung ändern werden. Man hatte den Eindruck, er sah und hörte nichts zuvor.
Anselm: «Wichtige» Mitteilungen, sagte er?
Maria: Nun ja, wahrscheinlich doch?
Anselm: Er hätte ja auch gesagt haben können: schreckliche. Oder: abscheuliche ...?
Maria: Quälen Sie doch nicht wieder! Was soll es heißen, daß Sie selbst mir einreden, in dieser Mappe stehn unwürdige Dinge. Ich habe fast das Gefühl – Sie wollen mich vorbereiten.
Anselm: Und dann schaltete Sie Thomas aus? Das hätten Sie nicht zulassen dürfen!
Maria: Hetzen Sie nicht; Josef wollte mit ihm sprechen.
Anselm: Von einem Detektiv stammt die Mappe? Thomas hätte Ihnen den Inhalt mitteilen müssen, bevor er in die Stadt fuhr, um Stichproben auf die Richtigkeit zu machen!
Maria: Aber wer sagt, daß er das tut?! Ich finde diese Voraussetzung unvernünftig und unwürdig!
Anselm geringschätzig: Er ist eifersüchtig!
Maria: Er fürchtet mehr als Grund ist.
Anselm: Er ist auf meine Ideen eifersüchtig. Und möchte mich von der Moral her vernichten wie ein Spießbürger!
Maria: Bloß weil Sie heimlich tun.
Anselm: Geben Sie mir die Mappe!
Maria: Ich habe doch kein Recht dazu.
Anselm: Ist sie hier im Schreibtisch?
Maria: Ja. Aber den Schlüssel der Lade hat Thomas.
Anselm: Öffnen Sie die Lade!
Maria: Unaufrichtig, ohne mit ihm gesprochen zu haben, tue ich nichts. Sie steht unwillig auf und geht zum offenen Fenster.
Anselm beim Schreibtisch: Tue ich nichts, tue ich nichts! Wir sind im Dunkel, in einer namenlosen Katastrophe: Folgen Sie mir!
Maria: Ich will nicht mitschuldig werden!
Anselm: Man muß den Mut zu Abkürzungen haben. Gerade so werden Sie sich schuldig machen.
Maria: Das wäre Diebstahl!
Anselm: Sie glauben, es müsse immer alles, was man tut, aussprechbar und benennbar sein; das ist das Verhängnis Thomas'! Aber man muß so handeln, daß man es nicht sagen, nicht denken, nicht einmal begreifen kann, sondern nur tun! Kein Mensch versteht ja heute zu handeln.
Maria wendet sich ab, dann rasch wieder zurück: Wo ist Regine?
Anselm verstockt: Ich weiß nicht ... Nein, ich weiß: Sie hat sich in ihrem Zimmer eingeschlossen.
Maria: Noch immer? Weint und schreit? Läßt niemand ein?
Anselm: Vermutlich.
Maria: Horchen Sie! ...? Ich glaube, ich habe schon vorhin schreien gehört. Verstört vom Fenster fort. Ich halte das nicht aus; noch immer rauschen die Bäume so sinnlos.
Anselm: Wie Wasser!
Maria: Nein, der Wind läuft durch die Bäume; wie mit Füßen; läuft, läuft. Es ist so sinnlos.
Anselm: Und geschieht? So viele Dinge in der Welt geschehen. Als ob lauter Uhren im Raum hingen und gingen und jede andere Zeit zeigte.
Maria: Läuft, läuft ohne Atem zu holen, hören Sie! Es ist zum Fürchten.
Anselm: Es ist auch zum Fürchten! Warum fiel dieses Blatt jetzt am Fenster vorbei? Bilden Sie sich nicht ein, daß irgend jemand es weiß. Überall zwei, drei Schritte weit Antwort, dann Nebel. In jeder Sekunde gleiten Forderungen an Sie heran, Tatsachen mit roten, grünen, gelben Augen und Nebelhornrufen. Drohen Entscheidungen und entgleiten im Nebel. Er hat seinen Kopf mit beiden Händen gefaßt. Mein Leben, Gott, wenn ich über mein Leben nachdenken wollte, es ist voll solcher Lichter!
Maria: Was für ein Anfall ist das bei Regine?
Anselm: Kleinmut. Nerven ... Wilde Ohnmacht!
Maria: Aber das wäre doch geradezu Hysterie!
Anselm: Oder Zügellosigkeit. Ich mag nicht daran denken!
Maria: Und Sie wissen bestimmt: Nur diese Aufzeichnungen sind schuld daran?
Anselm: Sie müssen ihr entwendet worden sein; sie stellen sie bloß.
Maria: Und was steht darin?
Anselm: Ich habe sie ja nicht gelesen.
Maria: Und über Sie? Über Sie – steht gar nichts darin?
Anselm: Nur Belangloses könnte. Oder Lügen, die ich nicht kenne.
Maria: Und in dieser Lade sollen sie sein?
Anselm: Ich habe Ihnen ja schon alles gesagt.
Maria versucht mit einem Schlüsselbund die Lade zu öffnen. Es ist dunkel geworden und Anselm dreht, damit sie sieht, die volle Zimmerbeleuchtung auf.
Maria hält ein: Lassen Sie mich mit ihm sprechen.
Anselm heftig: Nein! ... Sie müssen etwas Heimliches tun. Fortkommen. Einen Entschluß müssen Sie fassen. Das ist kein Gedanke, Maria. Fassen: wie wenn Sie im wesenlosesten Dunkel Ihre herrliche Hand schließen würden und plötzlich darin etwas eines unerwarteten, wundervollen Körpers fühlten!
Maria: Das ist alles so unnatürlich. Sie unterbricht sich wieder. Selbst wenn Sie sagen würden, wir werden zusammenleben wie Mann und Frau: ich könnte mit Thomas sprechen. Aber so ist es nichts und doch etwas Fürchterliches ... Können wir denn nicht bloß Freunde sein?
Anselm: Ich will ja nichts für mich! Als Knabe, verstehen Sie, als ahnungsloses Kind, empfing ich, sobald ich Sie sah, ein überall im ganzen Körper ausgebreitetes Glücksempfinden, vor dem ich mich durch nichts zu retten wußte. Um wieviel stärker ist das als bei einem Mann, wo es sich wie ein Abszeß lokalisiert und aufbricht!
Maria bewegt: Ich werde die Ahnung nicht los: all das soll bloß geschehn, weil Sie für irgend etwas Rache an ihm nehmen wollen ...!
Anselm: Glauben Sie mir: ich bin nicht deshalb in sein Haus gekommen. Wenn jemals mich ein Mensch, noch so weit draußen, wie ein Leuchtfeuer Heimat träumen ließ, war er es. Wenn jemals ein Menschenantlitz aller Menschenantlitze Kraft in sich schloß ... Aber Haß? Ja; vielleicht trotzdem Haß! Vielleicht deshalb Haß? Ich glaube manchmal, man darf Böses nur einem antun, den man liebt; sonst ist das Böse so schmutzig wie die Liebe, die ein Mann ins Bordell trägt!
Maria: Sie sollten nicht Liebe sagen, solange Sie Zorn, Schmutz und Böses mitfühlen müssen!
Anselm verzweifelt: Aber wie denn?? Wie soll ich es nennen?! Menschen brauchen! Wer ein Mensch ist, kann doch nicht nur so in seinem eignen Gedankennetz hängen wie Thomas! Muß gewinnen, geliebt werden, ermuntert! Aufschwingen gemeinsam! Das ist doch quälendes Bedürfnis?! Nicht allein sein, Maria!! Allein sein heißt: nicht wissen, wohin. In dem unerträglichen Wirrsal von Wahrheiten, Wünschen, Gefühlen! Haben Sie Mitleid mit jeder Täuschung, Bösem, Lüge, die dazu gedient haben, eine unbeschreibliche Angst zu beschwichtigen, die Sie nicht kennen.
Maria: Still! Oh, horchen Sie lieber; hat sie nicht wieder geschrien?
Anselm: Sie schreit ohne Unterlaß, aber man hört es bloß manchmal.
Maria: Aber man muß ihr helfen; warum helfen Sie ihr nicht?!
Anselm: Warum helfen Sie nicht? ...
Maria: Wozu verleiten Sie mich? Sie sind ganz verändert! Sie ziehen mich auch schon hinein; ich habe ihm gesagt, daß Sie sein Freund sind.
Anselm: Ich erscheine mir manchmal wie ein Entsprungener, ohne Halt abwärts Gehetzter. Aber bedenken Sie nur, wieviel Leid es in jedem Augenblick in der Welt gibt; welchen Ozean von Leid und Ungewißheit, in dem wir alle mit dem Ertrinken kämpfen: sollte es darauf ankommen, ob man diese eine Sache roh oder sanft beendet? Es kommt nur darauf an, wie man sie ins Ganze stellt.
Maria: Und Sie meinen, daß Reginens Zustand nicht schlechter wird, wenn wir zu dritt reisen?
Anselm: Nein; die Mappe muß aus der Welt geschafft werden. Dann werden diese Übertriebenheiten einschlafen. Die Loslösung wird sich allmählich vollziehen; wie eine Aufrichtung, ich verspreche es Ihnen!
Maria: Horchen Sie! Schon wieder!
Anselm faßt wild ihre Hand: Sie fühlen ja auch, wie sie leidet! Wie sie sich festklammert; wie eine kleine Katze, die ertränkt werden soll! Sie gehen gemeinsam zum Fenster.
Maria: Regine wird sich noch etwas antun.
Anselm preßt ihre Hand: Glauben Sie?! Ah, ich verlasse sie! Und fühle ihr eingebildetes Recht auf mich, als flatterte ihr Herz nach einem Ausweg suchend in meinem. Sie horchen.
Maria: Was schreit sie?
Anselm: Johannes.
Maria: Diese Wahnidee.
Anselm: Es ist keine Wahnidee. Sie ruft mich. Alle rief sie Johannes. Es war ihre Ausrede. Oh, ihre von der Wahrheit gehetzte Aus-Flucht! Man scheint jetzt nichts mehr zu hören. Maria hat sich losgemacht und ist wieder zum Schreibtisch zurück gegangen. Sie hat ihn zum Selbstmord getrieben, das wissen Sie ja; weil er an sich verzweifelte: sie wollte ihn nur wie eine Schwester gern haben.
Maria wieder das Schloß versuchend: Regine wie eine Schwester lieben?! Glauben Sie das wirklich?
Anselm: Ja; damals war sie so. Und er war überaus empfindlich, er war viel zarter als Regine.
Maria: Ich denke, Regine war überhaupt nie zart; wie hätte sie sonst dieses Leben ertragen können, von dem Sie mir erzählt haben. Unwillig. Es paßt kein Schlüssel.
Anselm: Versuchen Sie diesen. Er reicht ihr einen von sich.
Maria: Nein, nein. Ich will nicht mehr.
Anselm nachdem er den Schlüssel vergeblich selbst angesetzt hat: Ich werde es mit dem Messer versuchen. Er öffnet sein Taschenmesser.
Maria: Lassen wir es lieber.
Anselm sie zur Seite schiebend: Nein; ich will! Er versucht das Schloß aufzusprengen.
Maria sucht ihn zu hindern: Lassen Sie es, ich will nicht mehr! Sie zuckt wie vor einem wilden Schrei zusammen. Schon wieder! ... Sie horchen ... Nein, das war eine Tür. Thomas? Schrecklich. Gehn Sie! Hören Sie: Schritte.
Anselm steckt rasch das Messer ein.
Fräulein Mertens stürzt ins Zimmer: Gott! Ich komme von Frau Regine; sie läßt mich nicht ein! Horchen Sie doch!
Maria: Ach, bin ich erschrocken ...! Ja, wir haben es ja auch gehört, aber was soll man tun? Den Arzt holen?
Fräulein Mertens: Nein, sie will keinen Arzt.
Anselm: Natürlich nicht; das muß man auslaufen lassen.
Fräulein Mertens ist zum Fenster gegangen: Wirklich, man hört es. Sie wendet sich scharf zu Anselm. Doktor Anselm? Ich frage Sie: hören nur Sie nicht, wie Regine weint?
Anselm aufgerissen von Schmerz und Selbstironie, völlig ohne Fassung: Sie singt ja. Es war nicht Lüge, Schmutz singt sie! Nicht Erniedrigung vor Schweinen, Mannstollheit. Nicht Schwäche, gekünstelte Ausrede, Aberglaube; Kranksein, Schlechtsein. Das kann man nur singen. In gewöhnlicher Sprache ist es das gewesen!
Fräulein Mertens vor Empörung und Überraschung fast wortlos: Doktor Anselm ...???
Anselm: Die Männer haben ihr nie auch nur das geringste bedeutet, oh, gewiß, ich weiß! Sie hat Johannes sterben lassen, sie hat Josef geheiratet, wie man einen Verwalter anstellt. Aber irgendwann begann sie zu glauben, daß sie an Johannes etwas gutmachen müsse, indem sie andren Männern hinwerfe, was sie ihm verweigert hat. Nach dem Tod ist ja schon mancher heilig gesprochen worden, und der Wunsch soll nicht selten der Vater eines Gedankens sein.
Maria: Aber schweigen Sie doch!
Fräulein Mertens: Sie mißbrauchen die Einbildungen eines überzarten Frauengewissens!
Anselm: Sie lieben sie doch? Also werden Sie wohl das verstehn: Schon als Kind verkroch sie sich im Garten, während wir andren sprachen, unter irgendeinen Busch und nahm Erde in den Mund oder Steinchen, nahm Würmer in den Mund, bohrte in der Nase, kostete die Ausscheidungen ihrer Augen und Ohren. Und dachte: Einmal wird plötzlich etwas ganz Wunderbares daraus entstehn! Was haben Sie? Ist Ihnen übel? Sie lieben doch Ihre Heilige. Ihre Sankt Potiphar?! Männer, das ist ja nichts andres, das ist doch auch nur – das Geheimnis, das man in den Leib nimmt.
Fräulein Mertens: Sie verleumden!
Anselm in nervöser Verzweiflung: Aber quälen Sie mich nicht! Glauben Sie denn, ich möchte ihr nicht helfen?! Wenn ich nur selbst wüßte – wie zu helfen ist!
Fräulein Mertens: Ich werde mich vor ihre Türe legen, wenn sie mich nicht einläßt! – Und ich konnte glauben, nie ein so zartes Bild erotischer Delikatesse gesehen zu haben! Ab.
Maria: Wie konnten Sie mit solcher Roheit sprechen!
Anselm geht erregt hin und her: Die hat genug. Die kommt nicht noch einmal mit; sollte sie noch so Regine geliebt haben. Gibt es etwas Unappetitlicheres als die Tugend?!
Maria: Aber niemals durften Sie Regine so preisgeben!
Anselm: Warum macht sie solches Aufsehn! Mit der ganzen Reise hierher!
Maria: Ist des denn besser, wenn man etwas heimlich tut?!
Anselm: Ja! Zum hundertsten Male: Ja! Ich werde immer vorziehn, im geheimen Unrecht zu tun, statt ein ungewöhnliches Recht öffentlich zu vertreten; es ist würdiger. Thomas tut alles öffentlich. Verstandesmenschen sind immer offen. Aber ich vermag zu lügen nur aus dem einen Grund, weil mir vor der Befriedigung eines fremden Menschen graut, der mich aufmerksam zu verstehen glaubt. Das klebt ärger als eine brünstige Frau; das ist, als wäre man versehentlich in so ein Gehirn hineingetreten!
Maria schaudernd vor der Erinnerung: Es ist das Widerlichste auf der Welt, ein Weib, das sich so vergißt.
Anselm umschlagend: Oh, nicht so einfach; so einfach ist es ja auch nicht. Als Johannes tot war, aß Regine wochenlang fast nichts; ein paar Keks täglich war alles. Sie magerte ab, sie wollte eine überirdische Gemeinsamkeit mit ihm erzwingen. Das war sehr schön, sehr stark. Glühender Zustand der Güte. Sie liebte gar nicht ihn, sondern sie liebte. Leuchtete! Aber dann kam die Wirklichkeit, die – Thomas triumphiert ja darüber! – immer recht behält; alle die tausend Stunden, die irgendwie zugebracht werden müssen und werden. Und jede hinterläßt nur eine ganz kleine Blatternspur von: siehst du, es ist gegangen. Und mit einemmal hat das ganze Gesicht davon den zwinkernden Ausdruck fertiger Mensch. Sie ahnen nicht, wie viele Menschen daran zugrunde gehn, daß sie es fertig bringen zu leben! Aber wir verlieren Zeit, Sie wollten doch die Lade zu öffnen versuchen.
Maria: Sprechen Sie zu Ende, ich will Ihnen dann antworten.
Anselm sieht sie einen Augenblick lang mißtrauisch prüfend an: Ja! Ich kann es verstehn! ... Ich wußte, daß Sie darauf warten. Ich kann verstehn, daß ihr dann jede Untreue, die sie in diesem Leben beging, wie eine Treue gegen das andre erschienen ist. Jede äußere Erniedrigung wie eine innere Erhöhung. Sie schmückte sich mit Schmutz wie eine andre mit Farben. Ist das nicht auch schön?
Maria: Nein!! Sie starrt ihn ungläubig prüfend an und wirft dann ihren Schlüsselbund weit fort. Ich tue es nicht mehr!
Anselm entschlossen: Ja, dann lassen Sie es mich tun. Er öffnet wieder sein Messer.
Maria: Nein, ich dulde es nicht! Es ist etwas Geheimes in Ihnen, das Sie mir nicht gestehn wollen; das Sie mit Regine verbindet! Sie verbirgt sich im Stuhl am Schreibtisch.
Anselm geht vor ihr auf und ab und bleibt zeitweilig erregt stehn: Was glauben Sie, soll es sein? Haben Sie es denn gehört, sie hat wieder begonnen? ... Ganz allein im Sternenmeer, im Sternengebirge sitzt sie und kann nicht sprechen. Sie kann nur häßliche Gesichter schneiden, kleine böse Regine ... Auch eine Fratze ist von innen eine Welt, ohne Nachbarschaft mit ihrer Sphärenmusik allein in die Unendlichkeit gebreitet ... Sie konnte mit dem Käfer nicht sprechen und steckte ihn in den Mund; sie vermochte mit sich selbst nicht zu sprechen und aß sich. Sie konnte auch mit den Menschen nie sprechen und fühlte doch – dieses entsetzliche Verlangen, sich mit ihnen allen zu vereinen!
Maria: Nein, nein, nein, nein!! Das ist die Lüge!
Anselm: Aber Lügen sind zwischen fremden Gesetzen verfliegendes Heimatsgefühl von traumhaft nahen Ländern, verstehen Sie das nicht?! Sind seelennäher. Vielleicht ehrlicher. Lügen sind nicht wahr, aber sonst sind sie alles!
Maria: Aber sie ist ja so widerlich verlogen, diese Ausrede mit Johannes!
Anselm: Sie glaubt ja auch nicht daran. Nein, Maria, sie glaubt nicht daran. Sie glaubt auch nicht, daß es einen Sinn hat, zu schrein. Sie tut es bloß. Und fühlt dabei, daß sie Geheimnis ist, das sich nicht verständlich machen kann. Es ist der letzte, zufällige, falsche Ausdruck dafür, der ihr geblieben ist. Eine ungeheure menschliche Not liegt darin; vielleicht unser aller Not!
Maria springt auf: Ich kann es nicht mehr anhören! Es bleibt ungewiß, ob Anselms Reden oder die Schreie Reginens, die man wieder zu hören scheint. Entsetzlich diese Sinnlichkeit! Sie wollte zum Fenster, aber Anselm steht ihr im Weg, und sie hält sich mit beiden Händen an ihm fest. Gehn Sie doch mit ihr fort!!
Anselm: Nein. Ich kann nicht. Mitkommen, eine Weile noch, dürfte sie. Geben Sie mir jetzt die Schlüssel.
Maria: Ich habe Sie jetzt zum erstenmal berührt und soll mit Ihnen fliehn; es ist ja zu lächerlich!
Anselm: Vertraun Sie mir die Schlüssel an.
Maria: Nein ... Ich kann Ihnen nicht vertraun!
Er will die Schlüssel aufheben, Maria verwehrt es und nimmt sie selbst; sie stehn einen Augenblick lang kämpfend aneinandergepreßt.
Anselm faßt ihre Hand und setzt sich die Nägel an Hals, Lippen und Augen: Berühren Sie mich! Tun Sie mir weh! Hier! Hier! Nehmen Sie ein Messer, schneiden Sie Zeichen in mich wie in einen Baum! Wenn Sie mir nicht glauben! Quälen Sie mich, bis ich bewußtlos werde und Sie mit mir beginnen können, was Sie wollen.
Maria reißt sich los: Sie sind wie ein böser kleiner Junge und ich soll Sie verführen, das verlangen Sie.
Anselm wirft sich in ihren Stuhl: Ich verlange nichts für mich ... Als die Erlaubnis, Ihre Schuhe vor die Türe tragen zu dürfen. Ihre Röcke auszubürsten. Die Luft zu atmen, die in Ihrer Brust war. Das Bett zu sein, das Ihren Abdruck bewahren darf. Mich für Sie hingeben zu dürfen! Alle andre Wirklichkeit wird davor ungewiß.
Maria abwehrend und begütigend: Solange wir uns kennen, haben wir voneinander nicht mehr gesehn als Gesicht und Hände.
Anselm: Aber als ich mich an Sie lehnte, war mir, als ob mein Leben fern von allem, was geschieht, ohne Arme, ohne Hände, das Ihre halten und berühren könnte. Er greift wieder nach ihrer Hand.
Maria unsicher: Wir sind ja keine jungen Menschen mehr.
Anselm: Das heißt nur: Thomas hat Sie mutlos gemacht. Man hält es schon für unnatürlich, wenn der Weg der menschlichen Annäherung einmal nicht durch etwas führen soll, das von der Art wie Essen und Verdauen ist. Ich will Ihr Leben besitzen. Der Gnade Ihres Seins teilhaftig werden!
Maria: Aber warum müßte es dann eine Frau sein?!
Anselm: Weil Sie eine Frau sind. Weil es unsagbar verwirrend ist, daß Sie zu allem auch noch eine Frau sind. Daß Ihre Röcke eine Glocke von Unsichtbarem über den Fußboden wandern lassen!!
Er vergräbt den Kopf in den Armen.
Maria: Nein, nein, das sind Ausreden, Anselm ...
Anselm: Mehr weiß ich nicht zu sagen, liefern Sie mich Thomas aus!
Maria berührt seine Hand, damit er aufsieht. Er tut es nicht. Sie setzt sich auf die Lehne: Anselm, es ist alles so beängstigend unnatürlich, was Sie sagen. Abgetane Kindereien. Vergrabene.
Anselm den Kopf halb hebend: Aber so ungeheuer gleichgültig ist Ihnen ja doch alles »Wertvolle«, »Wichtige«, was Sie jetzt tun.
Maria: Nein, nein! ... Ja. – Aber ich will nicht!!
Anselm richtet sich auf: Es ist etwas in Ihnen, dem das gar nichts gibt, und Sie haben nicht den Mut gehabt, dafür zu leben! Ein Leben, wie Sie es jetzt führen, hätten Sie früher verachtet.
Maria: Damals waren einem zwei Stunden, zuviel geschlafen, als etwas erschienen, das man nie wieder einholen kann, das noch nach Tagen plötzlich schmerzend als Verlust zu Bewußtsein kommt; darin haben Sie recht. Wir fühlten, wir sind. Wir aßen wenig, gönnten dem Körper nicht zuviel Raum. Manchmal hielt ich den Atem zurück, solang ich konnte. Aber in Wirklichkeit war das doch ganz resultatlos. Sie hat es mit Kritzeleien auf einem Blatt Papier begleitet.
Anselm: Ist das resultatlos? Fünf Minuten vor dreiviertel neun Uhr des Morgens pflegten Sie in den Park zu kommen. Ich sehe diese Zeigerstellung in meinem Zimmer noch vor mir. Ich nahm eins meiner Bücher, in das Sie Ihren schönen Namen geschrieben hatten, und zog ihn nach: Aus der Hand durch den Raum genau den Weg gehend, den Ihre Hand gegangen sein mußte. Dann lief ich Ihnen nach.
Maria steht abstreifend auf: Das sind Kindereien, das hat mit uns doch nichts mehr zu tun.
Anselm aufspringend: Das waren Taten! Unausdrückbare Formen der Freundschaft. Handlungen sind ja das Freieste, was es gibt. Das einzige, mit dem man machen kann, was man will, wie mit Puppen. Wunschwelt, unbegreiflich räumlich gewordene! Wieder wie von Erinnerungen erschreckt. Es ist ja alles, was mit uns geschieht, nicht zu verstehn, und nur wenn wir selbst etwas tun, sind wir geborgen, mitten drin im Unbegreiflichen selbst.
Maria: Erkennen Sie das noch? Sie zeigt ihm ihre Zeichnung.
Anselm unterbrochen, fast ärgerlich: Ein Zuckerhut? Ein Engel?
Maria: Schließen Sie das Fenster. Ich habe immerzu das Gefühl, es kommt jemand durchs Fenster herein.
Anselm einen Vorteil witternd: Sagen Sie mir zuvor, was das ist.
Maria: Das war auch damals. Ich hatte Ihr Gesicht aus dem Gedächtnis gezeichnet, es sah nicht schöner aus als das, und wollte Ihnen zum Trost etwas Liebes tun und zeichnete mich im Nachthemd dazu.
Anselm schlägt rasch das Fenster zu, um die Situation auszubeuten. In dem Augenblick, wo das Fenster geschlossen ist, hört man aber ganz nah eine Tür.
Maria wie ertappt: Das ist Thomas! Gehen Sie! Sie löscht sinnlos das Licht aus. Gehn Sie fort, ich ertrage das nicht! Nein, bleiben Sie, drehn Sie das Licht auf, ich habe es schon zerrissen. Er kennt diese Zeichnung, ich habe es ihm einmal erzählt. So drehn Sie doch das Licht auf!!
Anselm verwirrt: Ich finde das Licht nicht ...
Thomas tritt in das dunkle Zimmer. Nur in der Nähe des Fensters ist noch etwas Helligkeit. Dort bewegt er sich hin und her. In der dunkelsten Zimmerecke vermutet er Anselm und Maria.
Thomas: Ist jemand hier?
Anselm: Ich, Thomas; guten Abend.
Thomas: Bist du allein da?
Anselm: Nein, wir haben auf dich gewartet, Maria ist hier. Gezwungen leicht. Wir haben uns verplaudert und können jetzt das Licht nicht finden. Er tastet an der Wand.
Thomas: Wozu auch; es ist ja ganz schön im Dunkel.
Pause.
Thomas: Aber warum unterhaltet ihr euch nicht weiter? Störe ich wieder? ... Aber unterhaltet euch doch um Himmels willen weiter; wovon habt ihr gesprochen? Darf ich es nicht wissen?
Maria: Es war nicht so schön; Regine ist nicht wohl.
Thomas: Und Anselm hat hier auf mich gewartet, um damit zu erklären, warum er nicht zu mir gekommen ist.
Maria: Ich werde Licht machen.
Thomas: Ich bitte dich, laß es dunkel. Das ist ja wahrhaftig eine merkwürdigere Sache, als du glaubst, zwei Männer im Dunkel. Kann uns dein Auge unterscheiden: nein. Du hörst bloß noch nicht: einer sagt auch genau das gleiche wie der andre. Ich versichere dir aber: so ist es. Denkt das gleiche. Fühlt das gleiche. Will das gleiche. Der eine früher, der andre später, der eine denkt es, der andre tut es, der eine wird gestreift, der andre ergriffen. Aber ob man der Detektiv ist oder der Verfolgte, der Brennende oder der Löschende, wahr oder lügt: Wenn man überhaupt einer ist, ist es immer das gleiche Spiel Karten, nur anders gemischt und ausgespielt.
Maria als wollte sie entsetzt fragen: du bist betrunken?: Thomas, du ...?
Thomas: Was, Thomas du! Man hat Freunde, damit man nicht eitel wird. Laß dich nicht täuschen. Es ist nur ein Irrtum, daß man sich wegen der Verschiedenheiten totschlägt. Die Ähnlichkeit ist das Furchtbare! Der Neid, weil man sich unterscheiden will, trotzdem man an einem Block festklebt. Gesteh das zu, Anselm!
Schweigen.
Oh, nur Dunkelheit und Schweigen. Er wartet.
Aber da in der Lade liegt meine Pistole. Seit wir Knaben waren, wolltest du immer stärker sein als ich. Wenn ich nun schießen würde? Auf das etwas dunklere Schwarz dort kann ich ganz gut zielen ... Er wartet. Schweigen.
Natürlich, du hältst gut aus. Du beißt die Zähne zusammen. Du läßt nicht locker. Maria soll glauben, du hast Gefühle, die den Tod selbst überdauern ... Aber hast du jetzt gehört? Ich habe den Schlüssel gedreht ... Jetzt habe ich die Lade auf ... Noch zwei Minuten und ich bin dich los, ich kann dein Gehirn an die Wand schmieren! Er wartet.
Wenn du nicht geantwortet hast, bis ich hundert zähle, hat es dich nie gegeben. Eins ... Zwei ... Du warst nur eine Einbildung, oh, ich wäre so glücklich. Drei ... Er hat ja kein Werk, er hat nichts geleistet! Er kriecht herum und reibt sich an Menschen. Verstehst du, Maria, er hat keine Bestätigung, er muß geliebt werden wie ein Schauspieler. Aber er kann doch geliebt werden? Nicht? Er kann doch?!
Maria: Du träumst, Thomas ...?
Thomas: Ah, ihr traut mir nicht zu, es zu tun. Aber er hat mich um meine Stellung im Leben gebracht –
Maria: Du hast es selbst wollen!
Thomas: Du hast recht, du hast recht; – man sieht ihn aufstehn und sich dem Platz nähern, wo er Anselm vermutet – ich habe das wollen! Denn nun ist es wie in der Welt der Hunde. Der Geruch in deiner Nase entscheidet. Ein Seelengeruch! Da steht das Tier Thomas, dort lauert das Tier Anselm. Nichts unterscheidet sie vor sich selbst, als ein papierdünnes Gefühl von geschlossenem Leib und das Hämmern des Bluts dahinter. Habt ihr kein Herz, das zu begreifen?! Jagt es uns nicht in den Tod oder – einander in die Arme?!
Maria ist geängstigt aufgesprungen und vertritt ihm den Weg: Thomas, du hast getrunken!?
Thomas ein Zündholz anreibend: Sieh mich doch an! Er sucht mit der kleinen Flamme nach Anselm, Maria dreht rasch das Licht auf. Die Lade ist offen, aber Thomas steht ohne Waffe da.
Thomas mit den Blicken noch immer Anselm vermissend: Sieh mich nur an ...
Anselm ist weg.
Thomas: Fort? Lautlos verschwunden? ... Lautlos gekommen! Was ist zwischen euch gewesen?
Maria heftig: Es ist nichts gewesen!
Thomas: Nichts? Das ist eben alles! Ich weiß, daß du mir nie ein unwahres Wort sagen würdest. Nichts hat sich gerührt; aber die ganze Erde, mit allem, was darauf ist, bewegt sich.
Maria fest: Ist es wahr, daß du in die Stadt gefahren bist, um dich von diesem – Bericht zu überzeugen?
Thomas: Josef hat mich einfahren gehört, wir müssen kurz machen. Anselm ist nicht gekommen. Ich hatte mir die Brust aufgebrochen vor ihm, und er hat es nicht der Mühe wert gefunden, zu kommen!
Maria: Also ist es wahr ... Entschlossen. Gib mir den Bericht; ich will ihn verbrennen!
Thomas sieht sie in anfangs wortloser Aufregung an: Das ist ein großmütiger Einfall! Wahrhaftig, der hat Anselms Schwung! Ich gebe dir die Beweise natürlich nicht.
Maria: Du gehst geheime Abmachungen gegen Anselm ein. Du duldest, daß Josef im Haus bleibt, eine ganz unmögliche Situation. Fährst in die Stadt, während er das Haus bewacht. Alles ohne mich zu fragen. Anselm ist mein Freund so gut wie deiner: ich willige nicht ein, daß er bei uns so behandelt wird!
Thomas: Gut, ich gebe dir die Mappe. Aber du mußt mich ohne Vorurteil anhören. Wenn du sie dann noch willst ...: gebe ich sie dir. Warum ist er nicht zu mir gekommen? Weil er etwas zu verbergen hat: Er ist ein Schwindler!
Maria: Aber das sagst du immer. Und dann sagst du wieder, er ist der Mit-Nichtmensch!
Thomas: Trotzdem spielt er dir eine Komödie vor. Warum? Warum hat sich Johannes getötet?
Maria: Aber das weiß doch keiner von uns.
Thomas: Oh? ... Weil er Anselm sein Vertrauen geschenkt hat.
Maria: Doch viel eher, weil ihn Regine gequält hat. Weiter!
Thomas: Es könnten ja dort in der Lade Beweise sein. Nicht sie sind es, sage ich. Aber hör' mich doch an! Ich will ja, daß du es endlich aus dir selbst heraus erkennst! Johannes fehlte – wie uns allen – jener dumme Tropfen Gläubigkeit, ohne den man nicht leben kann, keinen Freund bewundert und keinen findet, jener helle Tropfen Dummheit, ohne den man kein gescheiter Mensch wird und nichts leistet. Jeder Mensch, jedes Werk, jedes Leben hat an einer Stelle eine Fuge, die nur zugeklebt ist! Zugeschwindelt ist!
Maria: Halt! Ohne einen Tropfen Dummheit kann man also nicht lieben?! Alles hat einen Riß, wenn man klug ist und nicht glaubt? Weiter.
Thomas: Nein, nicht so weiter! Manchmal glaube ich, daß wir deshalb neue Menschen sein könnten; manchmal glaube ich zusammenzubrechen! Ich klage mich ja an, Maria! Alles, was ich getan habe, war rohe Kraft! Wegrasen über solche Stellen. Aber glaub doch nicht, daß Anselm besser ist! Johannes war vielleicht besser. Was du wenigstens so nennst. Er war schwach. Zart. Er glaubte, daß irgend ein andrer Mensch ihm darüber weghelfen müsse. Und Regine war wenig geeignet; zu neugierig noch und unabgelebt; eine Türe, die sich nicht schließen läßt. So kam er an Anselm. Der ging scheinbar auf ihn ein. Vertiefte aber die Mutlosigkeit noch mehr in ihm und bestärkte Regine gleichzeitig in ihrer Ungeduld dagegen. Anselm gewann beide – für sich! Bis Johannes es nicht mehr ertrug!
Maria: Aber warum sollte er denn das alles getan haben?!
Thomas: Warum? Weil er leidet wie Johannes selbst! Weil er Bestätigung braucht und Menschen! Wenn man nichts leistet, so muß man geliebt werden, um bestätigt zu sein. Er stiehlt Liebe, er bricht ein, er raubt sie, wenn es sein muß! Aber –: wenn er sie hat, weiß er nichts damit anzufangen. Schon an der Universität –
Maria: Oh, das war anders.
Thomas: Ja, er hat dich bereits gut bearbeitet. Aber merkst du nicht, daß er sich – wie alle Menschen, die immer jemand lieben – nur für sich interessiert? Daß es ihn zu jedem neuen Menschen hinreißt; wie eine Krankheit; er muß ihm schmeicheln und sich ihm einreden.
Maria: Er mag Unüberlegtheiten machen. Aber Anteil nimmt er. Und das kommt von innen wie eine Quelle.
Thomas: Sitz' ihm doch nicht auf. Das kommt wie die Praktiken und Schwindeleien von Medien, die längst außer Trance sind. Er liebt nicht, er haßt jeden Menschen wie der Angeklagte den Richter, dem er vorlügen muß!
Maria: Aber wovon sprichst du jetzt schon? Fühlst du nicht, daß das Konstruktionen sind?
Thomas: Fühlst du nicht, daß jeder Einwand von dir mir eine Qual ist?! Er lockt unter betrügerischen Versprechungen Menschen an, weil er mitten in der Unendlichkeit allein auf seiner eigenen Planke treiben muß! ... Du verstehst mich nicht. Aber merkst du nicht, daß du und ich, wie du mich da anstarrst wie einen Irren, der elende Beweis dafür sind?!
Maria: Aber steht etwas von dem, was du bisher behauptet hast, bewiesen darin?
Thomas: Es steht ... – er zögert und überwindet sich – nicht darin ... Nein ... Ich sagte ja, glaube ich, nur: nimm an. Im Ton eines, der seine Sache verloren sieht. Das läßt sich nicht beweisen; das muß man glauben.
Maria: Aber das ist doch lächerlich; Thomas; armer Thomas.
Thomas: Lächerlich, von mir gesagt; und von ihm getan, wäre es eine Quelle.
Maria: Du selbst hast mir alle Tage von ihm erzählt, als er noch nicht da war und kommen sollte. Er hat das, hast du gesagt, was dir fehlt. Dieses einfache durch Interesse mit allen Menschen verbunden sein, ohne Kampf und Werk. Aber jetzt hast du dich aufhetzen lassen; nein, du selbst bist es, der Josef aufhetzt! Und Anselm dazu. Als müßtest du ihn wieder schlecht machen. Eigensinnig mit deiner größeren Kraft. Gib mir die Mappe, ich will sie – für dich selbst! – verbrennen.
Thomas zurückweichend: Nein, noch nicht, nein! Jetzt haben wir nicht mehr Zeit, ich höre schon Josef. Geh, geh zu ihm! Ich bitte dich, geh noch einmal zu ihm! Er drängt sie zur Tür.
Maria: Ich will nicht zu ihm gehn! Ich will mit dir sprechen!
Thomas: Ich kann dich nicht reden hören! Geh zu ihm! Vielleicht – sieh ihn an und denk' an das, was ich sagte.
Maria: Nein –
Aber da Josef eintritt – bei der andren Türe –, kann sie nicht weitersprechen. Ab.
Josef dunkel gekleidet, Gesichtsausdruck wie bei einem Begräbnis: Du verzögerst die Entscheidung zu lange; ich bin hier in einer unhaltbaren Situation. Regine vorenthält sich meinem Zuspruch, so wie sie meine Briefe nicht beantwortet hat. Sie mißbrauchte meine Langmut offenbar noch nicht genug!
Thomas: Fahr' zurück, laß Zeit zu entwirren!
Josef: Hast du dich von der Richtigkeit meiner Darstellung überzeugt?
Thomas: Ja. Er entnimmt dem Schreibtisch die Mappe Staders und legt sie vor sich.
Josef: Regine weiß kaum, was es heißt, einen Mann mitten in seiner Existenz zu treffen. Aber dieser krankhafte Lügner, dieser Hochstapler muß unschädlich gemacht werden! ... Ich dachte ja anfangs: eine Erholungsreise, eine nervöse Laune, dieses plötzliche Fortgehn ohne ein Wort zu sagen. Ich war schon bereit, auch diese Ungebührlichkeit hinzunehmen. Regine war ja gewöhnlich unfreundlich, eine Heilige sozusagen. Du verstehst mich, das hat ja auch seine guten Seiten: nie vermochte sie Erwärmung für Männliches zu zeigen. Aber da – ich suchte nach einem Wort der Aufklärung, der Güte, anstatt dieser knappen Mitteilung, daß sie zu ihrer Schwester gereist sei –, da fand ich dieses Büchlein, voll der abscheulichsten schriftlichen Ergüsse, denen ich kaum zu folgen vermochte ...!
Thomas: Sie haben geschrieben, daß sie hierher reisen, weil Johannes hier mit ihnen gelebt hat?
Josef: Regine schrieb es, aber ich bin überzeugt: unter seinem Diktat. Wie dumm sonst, mir Waffen zu liefern: sie will mich doch auch immer betrogen haben! Um Johannes nah zu bleiben! Kannst du das verstehn?!
Thomas: Ja.
Josef: Das kannst du verstehn?! Nun ja, so seid ihr alle: eine Idee braucht nur übertrieben zu sein, gleich habt ihr dafür eine Schwäche!
Thomas: Ich kann etwas dabei denken. So wie Heimweh.
Josef: Ah, »gedacht« wird sie sich wohl auch etwas dabei haben: denn es ist ganz bestimmt nicht wahr! Die kalte, keusche Regine: Da liegt das Verbrechen, das Unverständliche beginnt da. Einem Toten durch Jahre ein lebhaftes Andenken bewahren, trotz ... – nun wir waren eben glücklich verheiratet! Aber mit dem könnte man sich schließlich abfinden, wenn es auch übertrieben ist; es ist sogar edel; aber natürlich doch schon sehr übertrieben. Nun denke jedoch: Treue? Das ist abnormal! Das ist auch schon eine Lüge! Und gar, sozusagen als Totenopfer, Laszivitäten? Eine förmlich pausenlose jahrelange Kette von Ehebrüchen?! Ganz abgesehn vom Tierischen, bloß der Schmutz der Heimlichkeiten und Lügen: Kannst du dir das bei einem so scheuen, anspruchsvollen und – ich kann ja zu dir wie zu ihrem Bruder sprechen – unsinnlichen Menschen wie Regine auch nur vorstellen?
Thomas: Sie dürfte wohl zu stolz dazu sein.
Josef: Und wie stolz sie war! Es ist manchmal geradezu peinlich, wie hochfahrend sie über fremde Menschen urteilt. Aber da setzte eben die Arbeit dieses Burschen ein. Ich bin überzeugt, er wollte sich damit eine Art Rückversicherung für allerhand Möglichkeiten schaffen.
Thomas wie jemand, dem es trotz langer Mühe nicht klar wurde: Aber warum soll er ihr das eingeredet haben?
Josef: Um mich zu treffen!
Thomas: Waren denn diese Notizen an dich gerichtet?
Josef: Nein. Regine ist ja so entsetzlich unpraktisch, sie hatte einfach alle Papiere in den Laden liegengelassen ... Aber sie konnten eben gar nicht anders als an mich gerichtet sein. Wahrscheinlich hat er es mit irgendeiner Absicht so veranstaltet, der Halunke! Denn die Ergebnisse meines Detektivs – weißt du, der Kerl ist ja nicht wenig übertrieben, seine wissenschaftliche Methode ist natürlich Unsinn, aber geschickt ist er – und alle seine Ergebnisse bestätigen es doch: Anselm schmeichelt sich an Menschen heran. Ich, zum Beispiel, mochte ihn von früher her gar nicht leiden, aber er packt dich ganz sanft und demütig bei deinen Schwächen, schmeichelt dir deine Gedanken heraus, du glaubst, noch nie von einem andren so verstanden worden zu sein. Um: wenn er dich hat, dir eine sorgfältig ausspionierte, berechnet grausame Verletzung zuzufügen. Wiederholt hat er sich doch sogar falscher Namen und Dokumente dazu bedient! Hat sich als adelig ausgegeben, als reich oder arm, gelehrt oder einfältig, Naturheilapostel oder Morphinist, je nachdem er es brauchte, um eine ahnungslose, aber doch noch irgendwie gewarnte Seele zu betören. Wie du weißt, gibt es darunter auch Geschichten, die ihm den Kragen kosten werden.
Thomas steht auf: Aber wie erklärst du dir das?
Josef: Krank. Er ist ein gefährlicher Kranker. Aber das schließt seine Verantwortlichkeit keineswegs aus.
Thomas: Ich denke fortwährend darüber nach; aber es ist zu wenig und zuviel.
Josef: Ich sage dir: ein gemeingefährlicher Kranker. Er hat das Ganze Regine künstlich eingeredet. Er haßte mich von früher, ich weiß nicht weshalb, ich habe euch allen gewiß nur Gutes getan; schon diese Gehässigkeit ist krankhaft! Und mit welchem Raffinement eines Abnormalen ist der Gedanke ausgebaut; man muß ihn sich nur – mit Mühe! – in eine logische Ordnung gebracht haben. Da heißt es: Solange sie an Johannes glaube, dürfe sie tun, was sie will. Denn er sei nichts als ihr eigenes Schicksal; der Frühverstorbene, weißt du. Nicht eine Erinnerung, nicht ein Traum, was man alles zur Not verstehen könnte, sondern: – er nimmt diese Worte förmlich in die Hand wie einen unverständlichen Mechanismus – Das, was sie werden wollte, ihr Glaube an sich, ihre von Wirklichkeit befreite Illusion von sich! Sie – selbst – als – gut! Nun müßte daraus wenigstens folgen, daß sie Gutes tun wolle. Aber gefehlt. Je schlechter sie werde, desto näher komme sie Johannes! Denn man sei desto mehr bei sich, je mehr man sich verliere! Und Demütigungen zu erleiden sei das Schicksal des Geistes in der Welt! Demütigungen, das – verstehst du – bin dann schon ich; warum nicht ebensogut Geist wie Anselm, der doch nichts geleistet hat, weiß ich nicht. Ich sage dir: solche Aphorismen hätte Regine aus eigenem nie in ihrem Leben gemacht. Aber einmal so weit gebracht, muß sie sich natürlich aller möglichen Schändlichkeit bezichtigen! Er wollte sich damit den Rückzug sichern. Aber so dumm bin ich nicht. Wenn er sie schreiben hieß, sie habe ihn begehrt und verführen, er aber nur ihre Seele leiten wollen, er habe eher sich geschlagen und mit Selbstmord gedroht als das zuzulassen, »worauf ich und andre den größten Wert legen«: so hatte ich gleich den Verdacht und er hat sich verdichtet: – vertraulich – Darin spiegelt sich nur seine eigne abnorme Verfassung.
Thomas: Aber ich bitte dich, im Grunde ist Anselm gar nicht anders als wir; das sind nur Akzentverschiebungen.
Josef: Ich würde dich bedauern. Er scheint doch in der Tat Angst vor ... nun davor ... vor einem Zuweitgehen zu haben. Man kann sich das nicht recht vorstellen. Um so weniger, als er eine Frau hat. Aber meistens scheint er wirklich eine ganz ungewöhnliche Erschütterung dabei zu erleiden. Statt einer Frau ist ihm plötzlich ein Mensch zu nahe gekommen! Eine überspannte Krisis bricht in ihm aus; das sind dann diese krankhaft gehässigen Handlungen. Lieber hält er sie ja an, »sich meinen Ansprüchen auszusetzen«, wenn er auch »Martern« leidet!
Thomas: Du hältst es also für sicher, daß sich eigentlich alles bei ihm nur um Freundschaft dreht. Natürlich kann es dann wider seinen Willen über diese Grenze hinaustreiben.
Josef: Stader – der Detektiv, weißt du – hat die einleuchtende Theorie aufgestellt: Wäre es weiter gegangen, dann wären sie im Haus geblieben. Denn dann scheut man das Aufsehn ... Und ich sage dir: Wenn er wenigstens ein Mann wäre, so wüßte ich, was ich zu tun habe! Aber er ist ein Abwegiger, ein Narr, eine weibische Memme! Er sucht sich durch heftiges HinundHergehen zu beruhigen. Und gutgläubig, Thomas, gutgläubig liebst du eine Frau und sie liefert, angesteckt von solcher Narrheit, deine Ehre ihrem Mitnarren aus ...!
Thomas: Ich habe dich in meinem Brief auf schwer bestimmbare Menschen vorbereitet.
Josef: Und hast mich als den Rückständigen hingestellt, in deiner sehr unnötigen Moraltheorie, was gar nicht dein Fach ist; nun siehst du wohl die Praxis. Aber ich glaube, du schämst dich deines Irrtums; die Tatsachen haben mir mehr Genugtuung gegeben, als du könntest. Du hast dich doch seit unsrer ersten Unterredung überzeugt, daß die Angaben stimmen?
Thomas: Ja. Was ich nachprüfen konnte, hat gestimmt.
Josef: Und für diesen Fall hast du dich verpflichtet, ihn aus dem Haus zu weisen.
Thomas: Ja. Ich habe mich verpflichtet. Nach kurzem Kampf. Aber ich kann nicht. Er darf gerade jetzt nicht fortgehn. Er muß noch bleiben. Dring nicht in mich. Er legt die Mappe in den Schreibtisch zurück.
Josef sieht ihn staunend an, geht wieder hin und her: Du verstehst mich nicht falsch? Ich verzichte durchaus nicht auf die Autorität, welche mir das Gesetz leiht. Ich zögerte nur aus Rücksicht für dich; und aus Abneigung gegen den Familienskandal ... Ich verlange, daß du dich vor den Frauen von ihm lossagst und ihm dein Haus verschließt.
Thomas: Ich anerkenne deine Güte, ... aber das kann ich nicht.
Josef: Gut ... Das enthebt mich nicht meiner Pflicht, Ordnung zu machen. Gib mir die Dokumente zurück.
Thomas endlich ganz entschlossen, zieht den Schlüssel der Lade ab: Nein. Entschuldige. Ich kann nicht.
Josef erschüttert: Hast du also wirklich Neigung zu ihm ...! So fängt es immer an. Nach Überwindung. Er ist hier, um dich und Maria ebenso zu betrügen, wie er es mir und Regine getan hat!
Thomas: ... Ich weiß es. Aber ... meinst du es – so ganz einfach? So ganz ebenso?
Josef: Du kennst nicht alles.
Thomas: Aber es ist nicht wahr! Er kann nicht gekommen sein, um mir Übles zu tun!
Josef: Aber du Narr! Du eingebildeter Narr! Du meinst, die einfache Wahrheit sei für dich nicht gut genug; das Einmaleins der Tatsachen, für dich gilt es nur, wenn es zugleich eine »höhere Wahrheit« ist!
Thomas: Eben das wollte ich vielleicht sagen. Wenn du mir beweisen würdest, Anselm will mich betrügen, und wenn du mir beweisen würdest, – Maria will es: Das kann nicht wahr sein! Und das kann nicht falsch sein! Das kann nur etwas bedeuten, das damit gar nicht gesagt ist.
Josef: Also auch du bist berückt und verzaubert. Gut. Also bleibe ich hier.
Thomas: Wie meinst du das?
Josef: Ich bleibe hier in deinem Haus. Du wirst mir nicht die Türe weisen, während du sie jenem Schurken offenhältst.
Thomas verwirrt: Natürlich nicht, nein ... aber das läßt sich nicht machen.
Josef: Und ich sage dir, daß ich nicht von hier fortgehe, bevor ich diesen »Kopfjäger« – ja siehst du, das ist der richtige Ausdruck, den habe ich für ihn gefunden – hier vor euch allen genötigt habe, mir die Schuhe zu lecken! Du wirst sehn, er tut es, er ist klüger als ihr! Er hält nicht stand, sobald er merkt, worum es sich handelt!
Thomas bitter und mit wachsender Ergriffenheit: Du würdest es bereuen. Wenn auch nichts vorgefallen ist, so ist doch ... eine Abwendung nicht fortzuleugnen. Du würdest mit Regine sprechen wollen, sie würde dir ausweichen. Du würdest ihr etwas beweisen und sie würde es einfach nicht hören. Verstehst du: eine Taubheit der Seele. Du würdest ihr mit dem Finger zeigen, er ist ein Schurke, und sie würde es nicht sehen. Du würdest den Verstand verlieren, wahrhaftig du würdest nicht mehr wissen, redest du sinnlos oder fliegen deine Wort fort?!
Josef: Ich werde mir Gehör zu verschaffen wissen. Ich will mir nicht vorwerfen müssen, daß ich durch Unentschlossenheit mich mitschuldig gemacht habe. Ab.
Thomas durchmißt in höchster Qual einigemal das Zimmer: Du würdest denken, solch jahrelanges Beisammensein sei etwas Geistiges. Dann kommt einer, nichts hat sich geändert, aber alles, was du tust, ist ohne Bedeutung und alles, was er tut, bedeutet etwas. Deine Worte, die vordem tief eindrangen, fallen dir unbeachtet vom Munde. Wo ist Seele, Ordnung, geistiges Gesetz? Zusammengehören, Begriffenwerden, Ergreifen? Wahrheit, wirkliches Gefühl? Der Abgrund des stummen Alleinseins schluckt sie wieder ein!
Maria tritt vorsichtig ein: Ich wußte nicht recht, bist du schon wieder allein? Ich habe gewartet.
Thomas: Und ... hast gehört?
Maria: Ich habe nicht gehorcht. Ich will nicht wissen, was ihr gesprochen habt. Gib mir die Mappe.
Thomas weicht wie vor einer unentrinnbaren Gefahr zurück: Also ...? Also wirklich?
Maria: Ich habe darüber noch einmal mit ihm gesprochen. Er beginnt sich mir anzuvertraun. Laß ihn mein Freund sein. Gerade wenn er schlecht ist.
Thomas: Also wirklich ... Und was ich dir gesagt habe?
Maria: Wenn du es selbst glaubtest, würdest du es anders anpacken als nur so von innen heraus. Schmerzlich. Warum hast du dich in das eingelassen? Weil du glaubst, daß er mich beeinflußt. Ja, er tut es; darf er denn nicht?
Thomas: Er darf? Kann! Kann es, Maria! Sieh mich doch an, was hat sich verändert? Du verlierst dein Stopfholz, dieses liebe runde Ding, über das du manchmal die Strümpfe spannst; dann findest du es nach Tagen auf der Straße wieder: du erkennst es kaum: was du daran war, ist verwest; es ist nur ein lächerliches kleines Holzskelett. So kehrst du wieder. Seines Geistes Kind: Fetzen der Widerwärtigkeit dieses fremden Mutterschoßes hängen an dir!
Maria: Du bist ein harter, gewaltsamer Mensch.
Thomas: Sag neidig. Sag voll Haß. Dieses fremde Wesen möchte ich mit den wildesten Säuren wegätzen, das mit mir ringt, ohne daß wir uns fassen können! In deinen Gedanken finde ich ihn, das ist hilfloser verlassen sein, als ob ich ihn in deinem Bett fände.
Maria: Du bist ein harter, eifersüchtiger Mensch; du forderst, ohne selbst etwas geben zu wollen. Darf ich nur auf dich hören? Mußt in jeder Frage du recht haben?
Thomas: So wenig, daß ich manchmal nicht mehr verstehe, warum bist du immer bei mir gewesen und nicht bei ihm? Es ist etwas in mir, etwas störrisch Unbelehrbares, das wacht über dich wie eine Mutter über die Freude ihres Kinds. Das fühlt, dummglücklich im Schmerz, wenn du von ihm kommst, etwas Erfrischtes, Neues.
Maria: Siehst du, daß du eigentlich alles gar nicht meinethalben machst, Aufregungen und Gefahr für unsre Existenz. Sondern nur weil du zu fühlen glaubst, daß er mich – nicht begehrt! sondern höher schätzt als du!
Thomas: Seit es anfing, sagst du mir, es sei nicht Liebe, sondern ein geistiges Erlebnis –
Maria: Das ist es auch nur.
Thomas gequält: Fast ebensolang zeige ich dir schon, er ist im inneren Erlebnis ein Fälscher. Aber du glaubst nicht an mich, sondern an ihn. Das klingt so einfach und ist – das Grauen.
Maria: Ich glaube noch an dich! Aber was hast du daraus gemacht?! Etwas nie Fertiges. Etwas, das nie klar wird. Von jedem neuen Einfall bedroht. Als Ersatz dafür ein unbestimmtes Zusammengehören, wie Reisende in einem Abteil. Ohne Zwang und Leidenschaft! Ich will nicht denken! Man kann auch anders etwas sein! Thomas, was dich gepackt hält und zerrt und schüttelt, bist du selbst! Die Scham über die Stunden, wo du nicht denkst; wo du zu mir kommst, weil du nicht denken willst, entblößter als nackt in diesen schändlich »schwachen« Stunden, wo die Eingeweide heraustreten. Was hast du aus uns gemacht! »Du du« und »da da«, »Mausi und Katz«, »kitzi kitzi, kleiner Mann und Mädi«!
Thomas: Still! Still! Es ist grauenvoll! Ich kann es nicht anhören! ... Spürst du nicht das ungeheuer hilflose Vertrauen darin? Alles, was dir ein Mensch geben kann, liegt in dem Bewußtsein, daß du seine Neigung nicht verdienst. Daß er dich gut findet, für den in alle Ewigkeit kein Grund zu finden ist, der ihn als gut beweist. Daß er dich, der sich nicht sprechen, nicht denken, nicht beweisen kann, nimmt als Ganzes. Daß er da ist; hergeweht; zur Wärme, zur Aufrichtung für dich! Hast du es nicht so empfunden?! Warst du immer anders?
Maria: Daß du noch stolz darauf bist! Du hast mich den Mut zu mir selbst verlieren lassen!
Thomas: Und Anselm gibt dir einen gefälschten!! Du wirst eine ungeheure Enttäuschung erleben!
Maria: Vielleicht fälscht er. Aber ich habe ein Recht darauf, daß man mir vorredet: so ist es! Daß – und wenn es nur eine Täuschung wäre! – etwas stärker als ich aufwächst. Daß man mir Worte sagt, die nur wahr sind, weil ich sie höre. Daß mich Musik führt, nicht daß man mir sagt: vergiß nicht, hier wird ein Stück getrockneten Darms gekratzt! Nicht, weil ich dumm bin, Thomas, sondern weil ich ein Mensch bin! So wie ich ein Recht darauf habe, daß Wasser rinnt und Steine hart sind und Schweres in meinen Rocksaum genäht, damit er nicht schlottert!
Thomas: Wir reden aneinander vorbei. Wir sagen das gleiche, aber bei mir heißt es Thomas und bei dir Anselm.
Maria: Ist das alles, was du antwortest? Nie, nie, nie steht etwas da, groß, aufregend, notwendig, nach der Hand greifend! Du nimmst mich nicht einmal fort von ihm.
Thomas: Man kann niemand fortnehmen von dort, wo er steht. Du wirst aber – er sucht Worte und findet kein besseres – eine unsagbare Enttäuschung erleben.
Maria: Sag es mir, wenn du etwas wirklich weißt! Laß mich doch nicht so allein!
Thomas: Beweisen läßt es sich nicht.
Maria trotzig gemacht: Ich meine, der einzige Beweis für und gegen einen Menschen ist, ob man in seiner Nähe steigt oder sinkt.
Anselm stürzt aufs äußerste erregt herein, jede Rücksicht ungeduldig preisgebend: Ich muß Maria noch einmal sprechen. Ich muß rasch Maria noch sprechen.
Thomas: Ich werde euch allein lassen.
Maria: Thomas, nicht so! Es ist so gleichgültig für das Entscheidende, daß er ein Mann ist.
Thomas: Und wenn das seine Spezialität wäre? Anselm, hast du gehört?! Hast du verstanden, daß Josef im Haus wartet?! Da Anselm ihm nicht antwortet, überwältigt ihn Wut, er packt die Kissen des Diwans und schleudert sie auf den Fußboden. Legt euch doch auf die Erde ... da! ... da! ... Tut es ab, bevor wir weiterreden! Blut durchqualmt euch den Kopf! Das noch nicht vereinigte Mark steht in der Tiefsee der Körper wie Korallenwald! Vorstellungen rinnen hindurch wie die wandernden Wiesen blumenhäutiger Fischscharen! Du und Ich pressen sich geheimnisvoll vergrößert ans Kugelglas der Augen! Und das Herz rauscht dazu!
Maria beginnt in sich hineinzuweinen: Schämst du dich nicht?
Thomas: Und Josef wartet dazu!! – In dieser Lage hat Scham keinen Sinn mehr. Zu Anselm. Sag nur ein aufrichtiges Wort; ein Wort, das unschuldig wie ein kleines Tier in dir herumschlüpft. Damit ich weiß, Maria wird es streicheln können, Maria wird nicht frieren vor Enttäuschung! Ein Wort, damit ich glauben kann: Demütigungen waren es nur, weil sie zu erleiden unser Schicksal ist, das Vorrecht des Geistes zwischen den Pächtern der Welt! Und ich will alles tragen! Will Josef abwehren statt ihn zu holen, und Maria trösten in ihrer Angst und in ihrer Verachtung für mich und ihr sagen, man ist nie so sehr bei sich, als wenn man sich verliert.
Maria: Mir sagst du, glaub ihm nicht; ihm bietest du mich völlig an: du hast keine Würde mehr!
Thomas in höchstem Entsetzen, schüttelt den reglosen Anselm am Ärmel: Es ist widerlich, wie du vor mir stehst. Widerlich, wie wir alle dastehn. So außerordentlich körperlich. So außerordentlich körperlich zwischen uns allen ist es, wie du Maria geistig beherrschst. Etwas widerlich Geschlechtliches von Mensch zu Mensch ist zwischen uns! Was scherst du mich! Was will Maria von mir! Fleischtürme steht ihr da! Ab, um Josef zu holen.
Anselm einer wahnsinnigen Erregung endlich freien Lauf lassend: Weinen Sie nicht!! Ich habe mich nicht rühren können vor ihm! Damit er nichts errät! Aber ich töte mich eher, als daß ich Sie weinen lasse!!
Maria: Anselm! Bei allen Heiligen! Werden Sie mich nie anlügen?! Ich würde zugrundegehn, wenn Sie lügen ...!
Anselm mißtrauisch erkaltend: Hat man Ihnen etwas gesagt?
Maria: Wie soll ich Vertrauen haben ...?
Anselm: Wir dürfen keine Minute mehr verlieren. Kann ich Ihren Glauben durch ein Opfer wiedergewinnen? Ihren Glauben an sich! Drohend. Ich tue alles, ohne zu zögern!
Maria: Aber ich werde die Ahnung nicht los: Sie wollen mich bloß verleiten, anders zu sein, als ich bin. Ich fühle das. Gewiß müssen Sie immer ähnlich gewesen sein.
Anselm: Ja. Ich habe immer Menschen verleitet, besser zu sein, als sie sind. Aber ich habe Qualen gelitten.
Maria: Auch gegen Regine ähnlich.
Anselm: Ja. Aber ich hasse sie deshalb!
Maria: Sie werden auch mich hassen! Ihr Leben war immer voll von Freunden und Geliebten.
Anselm: Hat man Ihnen so etwas gesagt? Dann wissen Sie: aus Ungeduld. Aus Schwäche, die nicht länger warten will. Aber die Enttäuschung schon in sich trägt. Den Haß schon in sich trägt; der nur aus Angst versucht, Liebe zu werden! Schon als Kind, als kleinen Jungen haben sie mich alle geküßt, diese Mütter, Kindsfrauen, Mägde, Schwestern, Freundinnen. Die Dickhäuter, in deren Haut der Pfeil der Sehnsucht nach dem Menschen steckenbleibt und zu einer gutmütigen Verdauungsfreude einheilt! Ich kann nicht ohne Menschen sein! Und das bekommt man dafür! Sie wissen es ja selbst.
Maria: Thomas sagt, Sie wollen geliebt werden; nur weil Sie nichts leisten. Oh, er ist fürchterlich, man traut sich selbst nicht mehr.
Anselm: Und Sie werden mich doch verstehn: Mein ganzes Leben ist dadurch zerstört worden. Wie oft hat mich schon Hoffnungslosigkeit angerührt. Der Wille wider mich. Gehetzten, Verrückten, mittendrin Ausgeschlossenen. Ich habe vielleicht manches getan. Aber wenn auch Sie mich enttäuschen, der einzige große Mensch, den ich gefunden habe, gibt es nur noch ein Mittel: eine Leine; eine sanfte, weiche Leine. Und eine seidenglatte, grüne Seife; mit der reibe ich sie ein. Das doch noch einmal tun zu können, ist die letzte große Beruhigung für mich. Die Verwesung ist nicht feindlich; sie ist mild und weich; Allmutter, still und farbig und ungeheuer; blaue und gelbe Streifen werden meinen Leib überziehn –
Maria: Wie soll ich Vertrauen haben, wenn Sie wieder in solchen kranken Ekelbildern schwelgen!
Anselm unterbrochen, sieht sie bös an: Selbst wenn ich Sie ansehe, zittre ich ja zuweilen. Ich fürchte mich, weil Sie nur eine Frau sind.
Maria: Bleiben Sie mein Freund.
Anselm höhnisch: Ihre Seele hält zu mir, Ihre Liebe zu Thomas? Leidenschaftlich. Das ist die verderbte Trennung! – Verstehen Sie mich, ich spreche ganz wunschlos: Sie glauben noch immer, es geht um das, was man so Besitz nennt. Aber dann hätte ich Thomas schon vergiftet. Sie glauben, weil Sie schön sind? Ja, – mit einem leisen Unterton von Bosheit – weil Sie schön sind! Aber es gibt Kinder, die auf den Spielplätzen gemieden werden, weil sie so gut sind; so eins waren Sie. Irgendeine Abschreckung ging von Ihrer gegen das Böse hilflosen Güte aus; das haben Sie insgeheim behalten. Sie sind wunderschön und mit einer rührenden Sanftmut Ihrer Stattlichkeit preisgegeben. Ja, Sie sind – göttlich schön! Und ich verstehe schon, Sie dürfen nicht böse sein, Sie müssen gut gegen Thomas sein wollen. Aber – Ihre Schönheit hat schon eine unmerkliche Anrüchigkeit, Ihre milde Nachgiebigkeit ist etwas, wofür Sie sich ganz im geheimen schämen. Sie sind wunderbar, aber – auch allein. Das kann Thomas nie erraten. Ich ahne Sie vielleicht nur wie etwas mir Verwandtes. Aber ich fühle Sie wie einen ungeheuren Trost. Wie einen Engel mit einem Bocksfuß. In meine Zerrissenheit stiegen Sie nieder wie ein Engel; aber ein Engel, der unter dem Kleid ein wenig zu mir gehört ... Maria schweigt. Anselm, um einen Ton boshafter, aber dabei echt ergriffen. Ihr schreckliche Frauenhaftigkeit lindert etwas, das sonst zu demütigend für mich wäre ... Schweigen Sie doch nicht! Sie haben Rücksichten auf ihn zu nehmen? Ich auch! Sie wissen nicht, ob Sie ihn nicht lieben? Ich auch nicht!! Das darf kein Hindernis sein! Es geht durch alles in der Welt ein einheitlicher Taumel, ich fühle ihn verwirrt noch in Ihrem Widerstand, während ich Sie schweigen höre. Schenken Sie sich ihm! Heben Sie sich los! Ihre Seele hat Sie geholt, die Ewigkeit!
Sie werden unterbrochen. Man hat während der letzten Worte wie eine Untermalung Lärm sich stürmisch nähernder Menschen und aufgeregten Gesprächs gehört. Jetzt fliegt die Tür auf. Fräulein Mertens stürzt besinnungslos herein, hinter ihr verstört Regine. Fast zugleich mit ihr Thomas. Dann Josef, zornig, verlegen; er schließt vorsichtig und genau die Türe, da ihm der Auftritt unendlich peinlich ist.
Fräulein Mertens zu Maria: Um Gottes Willen, stehn Sie ihr bei; sie weiß nicht mehr, was sie sagt.
Josef von der Tür her zu Regine: Aber ich bitte dich, du übertreibst wieder; ein Sanatorium ist doch keine Irrenanstalt.
Regine: Auch Anselm will er dahin bringen, wenn er nicht abreist! Oder ins Gefängnis!
Josef noch bei der Türe: Ich hatte mich mit Regine aussprechen wollen. Sie war ja von allen verlassen in ihrem Zimmer und weinte, daß es nicht zu ertragen war. Ich sagte ihr, das beste in unser aller Interesse wäre ein Aufenthalt in einem Sanatorium. Ein kurzer nur. Das ist ja doch eine Krankheit! Er wendet sich ihr zu und bemerkt dabei Anselm. Er tritt in der üblichen Weise einige Schritte steif vor und dann einen zurück; seine Brust hebt und weitet sich, sein Kinn richtet sich auf, seine Lippen suchen nach Worten. Anselm steht schlank und unschuldig vor ihm.
Fräulein Mertens währenddessen flüsternd zu Regine: Man hat Sie mißbraucht; Doktor Anselm ist eine kleine Seele wie alle Männer! Oder – jetzt müßte er es zeigen!
Thomas erklärend, scheinbar mit ruhigem Vergnügen: Josef fordert, daß du binnen vierundzwanzig Stunden unser Haus verläßt. Er hat natürlich kein Recht, über mein Haus zu verfügen, und ich stelle es ganz dir anheim, ob du ihm parieren willst oder nicht.
Josef zu Maria, verlegen über ihre Anwesenheit: Du verzeihst; ich wollte natürlich nicht so ..., nicht in deiner Gegenwart, aber Regine war nicht zu halten. Ich wollte bloß mit ihr und – diesem sprechen.
Maria überrascht, mit beginnender Empörung: Aber was heißt alles das? Warum soll Anselm abreisen?
Thomas: Es ist seine Sache, dir das zu erklären; ich glaube nur: ... Du wirst sehn, daß er abreist.
Josef: Es ist peinlich, Maria; wie gesagt, ich wollte nicht vor dir ... Aber Thomas wußte es doch!
Maria entschlossen: Ich bleibe ... Ich finde es nötig, wenn ein Detektiv, ein bezahlter Angeber, in meinem Hause schaltet, wenigstens dabei zu sein!
Josef: Hat denn Thomas nicht für notwendig befunden, dich vorzubereiten?
Maria: Aber worauf denn?!
Thomas: Ich habe ja Maria alles gesagt. Nur daß es durch einen Detektiv bewiesen wird, habe ich ihr nicht gesagt. Und sie hat es nicht geglaubt!! Er öffnet den Schreibtisch, Josef mit einer gleichzeitig abbittenden und resignierenden Gebärde dahin einladend.
Regine zu Anselm: Komm fort! Sieh nicht hin, geh aus der Tür! Sie haben dir eine Falle gestellt! Ich habe dich verraten, ich hätte es verhindern können! Laß dich nicht mit ihrer Vernunft ein!
Maria: Aber Anselm, sagen Sie ihnen doch, daß alles das nicht wahr sein kann!
Thomas: Sag uns, daß es nicht wahr sein kann! Sag es uns!! Aber sieh dir zuvor das an. Er weist ihn auf die Mappe Staders, die er dem Schreibtisch entnommen hat.
Regine: Sieh nicht hin, das ist die Mappe des Manns! Geh! Noch kannst du es. Küsse ihnen demütig die Hand und geh; kriech aus der Tür auf die Straße. Laß sie im Wagen über dich fahren. Laß dir Hund sagen! Sei es! Aber laß dich mit ihrer Vernunft nicht ein! Sie wollen das unsichtbare Geschöpf in dir fangen! Anselm, von der unentrinnbaren Lage angezogen und Regine verleugnend, kommt wie auf einem schmalen Weg, mit eingezogenem, ganz einwärts konzentriertem Gesicht zu Thomas. Der reicht ihm das Blatt aus der Mappe, Anselm sieht hinein, dann noch ein, zwei Blätter.
Thomas: Das gehört Josef ...
Regine: Ich wollte noch einmal sehn, ob du Mut hast. Oh, wenn ich Mut hätte – ich fürchte so das Totsein.
Josef: Du Unglückselige, das ist die Arbeit dieses Menschen, der unheilvolle Geist, den er dir einimpfte!
Anselm reicht die Blätter wieder Thomas zurück und wendet sich zu Maria: Ich kannte es schon. Er geht in der gleichen Weise, wie er gekommen ist, wieder auf seinen Platz zurück. Ich lasse Thomas die Freude. Ich habe nur einen Beweis zu erbringen: daß ich Ihnen nie eine Unwahrheit gesagt habe! Kann ich Sie allein sprechen?
Maria tonlos: Vor allen müssen Sie sprechen, vor allen ...
Pause. Anselm – verlegen oder überlegen lächelnd, jedenfalls in erzwungener Haltung – steht inmitten da.
Maria entsetzt: Aber wie? Haben Sie denn wirklich –??
Anselm: Sie haben ja alles gewußt.
Maria: Ich??! Sie haben gesagt, daß diese Aufzeichnungen nur Harmloses enthalten. Daß man sie bloß Reginens wegen aus der Welt schaffen sollte!
Anselm: Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß ich ein schlechter Mensch bin?
Maria: Sie haben mit solchen Gedanken gespielt. Gespielt und geglitzert haben Sie mit Lüge und Schlechtigkeit!
Anselm: Was soll ich Ihnen noch sagen?
Maria: Ob es wirklich ist?!!
Anselm zuckt lächelnd die Achseln und schickt sich zu gehen an. Josef vertritt ihm schon von fern den Weg; Thomas, der auch dazu ansetzte, unterläßt es daher. Anselm steht sofort von seinem Vorsatz ab, Josef geht zur Türe, sperrt sie ab und übergibt den Schlüssel Maria.
Josef: Nimm, bitte, den Schlüssel. Er geht nicht aus dem Zimmer, bevor du ihn nicht entläßt! Zu Anselm. Sie werden Ihre Schliche einbekennen und öffentlich vor Regine versprechen, sich ihr nie wieder zu nähern, oder ich lasse Sie hier im Hause verhaften!
Anselm wendet sich mit dem Blick fragend an Thomas als den Hausherrn, der aber nur mit einer ironischen Gebärde gegen Josef antwortet. Anselm setzt sich und sieht ruhig vor sich hin. Kurze Pause.
Maria zu Thomas: Aber warum hast du mir das nicht früher gesagt?
Thomas antwortet nicht. Kurze Pause.
Anselm sieht Fräulein Mertens an, die in der entferntesten Ecke sitzt, die Hände vors Gesicht geschlagen, dann die übrigen: Wir sind ja beinahe unter und wie in den schönsten Tagen der Kindheit; nur fürchte ich, daß wir Fräulein Mertens verletzen könnten.
Fräulein Mertens: Oh, ich gehe; es ist die quälendste Enttäuschung meines Lebens. Sie steht unschlüssig auf, da aber niemand Miene macht, ihr zu öffnen, bleibt sie unschlüssig stehen.
Regine die nicht weit von ihr saß, geht hin und drückt sie sanft auf den Sitz nieder: Bleiben Sie bei mir; Sie müssen noch vieles hören.
Kurze Pause.
Maria: Dann haben Sie ja auch nur deshalb mit den Aufzeichnungen und mit – sie verrät das Wort «Regine», aber spricht es nicht aus – haben Sie fortwollen, weil Sie fürchten mußten ...? Oh Gott, wie kann man so lügen?!
Regine lacht.
Maria irritiert: Sie soll nicht lachen! Es ist entsetzlich, wie sie lacht!
Regine: Ich lache ja nicht. Als Kind glaubte ich fest, eines Tags werde ich eine wundervolle Stimme haben. Gebt acht. Seid still. Hört ihr sie? Lacht. Ich höre sie ja auch nicht. Mit der Stimme singt Anselm. Aber man kann doch innen schön singen und außen stumm!
Josef: Das ist der unheilvolle, der herostratische Einfluß dieses Menschen!
Regine: – Mit der war Johannes richtig gesungen! Es war einfach das Gefühl: etwas kommt noch, das der Mühe des Lebens wert ist. Bitter zu Anselm. Und dann kommt der Tag, wo man eingesteht: es geschieht nichts mehr.
Josef: Sie ist einem Menschenfänger zum Opfer gefallen; Regine, wenn du dich besinnen willst, wenn es mich auch Überwindung kostet: Ich bot dir noch einmal meinen Schutz an! Weißt du denn, wie sehr er dich betrogen hat? Sein Leben war eine Kette von Betrug und Schmutz –
Regine: Das weiß ich.
Josef: In der du nur ein Glied bist. Eine Frau hat er verheimlicht zu Hause sitzen: das hat er dir wohl nie gesagt!
Maria schreit halblaut auf.
Regine: Das weiß ich.
Josef in plötzlich herabsinkender Erkenntnis: Aber dann –? Aber dann –? Dann ist ...!? Nein, muß nicht ... Aber dann ist vielleicht alles gar nicht so ... alles so unglaubwürdig Aussehende ... Verbrecherische ... nur seine Erfindung, was er dich schreiben hieß?
Regine: Was geht dich Anselm an?! Mit mir ist er fertig; er will Maria!
Josef schreit verzweifelt: Aber wahr ist es!! Ich kann ihm gar nichts mehr tun ... Er soll gehn oder ich bringe ihn um! ... Gib ihm den Schlüssel, Maria, schnell! Er soll aus dem Zimmer! Er vergräbt sich in einen Stuhl.
Maria will Anselm den Schlüssel reichen, der nimmt ihn nicht.
Regine: Er kann sich ja scheiden lassen. Aber was wißt ihr, wie eine Liebesgeschichte bei Anselm aussieht! Er braucht diesen Strick, der ihn hält; so wie er wollte, daß ich mit ihm und Maria gehe, damit er sich nicht in ihr verirrt. Sie begleitet das mit einer spöttischen Gebärde über Marias Majestät.
Josef vernichtet: Dann kann ich ihm gar nichts tun. Dann hat er meine Schande ja nur aufgedeckt.
Regine: Er kann ja keinen Menschen sehn, ohne so sein zu wollen wie er! Er hält es ja nicht aus, ohne daß man ihm sagt: Du bist gut! Sie alle sind ihm entsetzlich! Aber er ist eitel und schwach! Zu Maria. Weiß du, wie er wirklich über dich denkt?
Josef trotz seiner Verstörtheit: Aber bitte! Man darf sie nicht ausreden lassen!
Regine: Du bist unerträglich natürlich. Du würdest dich vortrefflich eignen, Kinder trocken zu legen. Mit einem Küchengriff, wie man einen Karpfen um die Schuppen faßt, packst du einen Mann. Dich die große Arie singen zu hören, müßte man sich schon etwas kosten lassen. Auf Trab bringen. Dynamit hinten –
Josef immer noch sich verantwortlich fühlend, ist aufgesprungen und versucht ihr den Mund zu schließen: Aber das ist ja –
Regine: Einen tüchtigen –
Josef: Widerlich, so ein Frauenzimmer!
Regine hat sich losgerissen: Dir müßte man einen tüchtigen Stoß vor den Bauch geben! Du stellst ihm nach, hat er gesagt!
Maria: Ich – stelle Ihnen nach?
Thomas sich niederhaltend: Hast du das wirklich gesagt ...?!
Regine: Erst gestern hat er es gesagt. Sie wendet sich um Bestätigung an Fräulein Mertens; die zuckt kalt verletzt die Schulter.
Thomas: Aber schweig du, du Teufel!
Josef automatisch, als wäre er noch verpflichtet, Regine zu beschützen: Er hat es gesagt! ... Nun ist es schon besser, man sagt alles: ... Ich glaubte, einige Blätter herausnehmen zu müssen, bevor ich dir die Mappe gab. Ich habe dir ja angedeutet, mit welchen Absichten er in dein Haus gekommen ist.
Thomas stöhnt lachend auf. Zu Maria: Dein Gefühl und Denken kann in seinem nicht den Schwindler entdecken, welch beschämend grobe Methode: zu zeigen, der äußere Mensch ist es! Aber ein Detektiv ist so wunderbar: Was dir als Schwermut erscheint, erklärt er kurzerhand für Obstipation und – er kuriert es! Wem wirst du jetzt glauben? Ich weiß es nicht. Beiden. Das ist das ewige Geheimnis!
Anselm zu Maria: Warum sind Sie nicht fort ...! Es wäre zu alldem nicht gekommen. Ich wäre ein guter Mensch gewesen.
Maria weicht zurück. Regine wirft sich Anselm zu Füßen, der sich ihr entzieht.
Regine: Ich bleibe solange vor dir auf der Erde, wie du aufrecht dastehst. Hast du nichts mehr in dir, dem es gleichgültig ist, ob du recht oder unrecht behältst? Sie schreiben dir vor, was du tun sollst, wie du fühlen sollst, was du denken sollst; keiner sagt dir, wie du sein sollst. Du bist ungeleitet und unbehütet ein dunkles Unberührtes in dir. Was willst du denn noch? Aus ist es! Ich liege auf der Erde und räche mich und triumphiere! Weil du nicht mehr das Vertrauen in dir hast ... Und ich auch nicht ...
Maria: So steh doch auf, Regine, schämst du dich nicht? Sie stößt sie leise und angewidert mit der Fußspitze.
Regine: Stoß mich nur! Unter deinem Kleid kommt etwas hervor, das mich stößt.
Josef angewidert: Ich kann da nicht zusehn, ich gehe.
Maria: Ich gehe mit dir.
Josef: Solchen Kranken gegenüber müßte man einen Bund der gesunden Menschen schließen.
Thomas: Eher, eher müßte man einen Bund aller ausgeschlossenen Menschen schließen, damit sie nicht so unterliegen. Sprich, Anselm! Finde ein ehrliches Wort!
Anselm zu Maria: Ich bin bis zuletzt im Haus geblieben, weil ich an Sie geglaubt habe; ich töte mich, wenn Sie das Zimmer verlassen.
Josef zu Thomas: Ich werde mein Haus reinhalten; tu in deinem, was du willst; meine Pflicht habe ich erfüllt. Er und Maria schicken sich zu gehen an.
Anselm weist auf das Messer, das seit den Versuchen, die Lade zu sprengen, geöffnet am Schreibtisch liegt: Maria, kennen Sie dieses Messer? Ich nehme es, wenn Sie nicht mehr glauben können!
Maria in der Türe: Ich glaube Ihnen nie mehr etwas; das Vertrauen ist verloren, Anselm. Sie wendet sich ah und folgt Josef ohne zurückzusehn.
Anselm ruft ohnmächtig hinter ihr drein: Maria? ... Maria!
Dann greift er nach dem Messer und – man weiß nicht, was geschehen ist, so schnell spielt sich der Vorgang ab – stürzt zusammen. Thomas, der ihn schon während der ganzen Zeit scharf beobachtet hat, sieht ihn starr erstaunt an. Macht einige Schritte auf ihn zu und betrachtet ihn mit dem gleichen Staunen. Steht vor ihm scharf und gespannt, Regine ist auf der Erde hingerutscht, hat Anselms Arm gefaßt und die Hand mit ganzer Kraft gepreßt; erst nur mit den Händen, dann die Nägel einsetzend.
Regine: Er kann sich so fest etwas einreden, daß er sich martern dafür läßt.
Thomas: Ich sehe kein Blut; ich wette, er lügt jetzt noch.
Regine: Er nimmt sich etwas vor und führt es durch, wenn er auch gar nicht mehr mag, bloß weil er nicht aus weiß.
Sie hat fest und lang in Anselms Hand gebissen, der unwillkürlich sich ein Zeichen des Schmerzes entreißen läßt. Thomas stößt förmlich auf ihn nieder, kniet neben ihn, schüttelt ihn, preßt ihm schmerzhaft die Arme zusammen, reißt ihn an den Haaren.
Thomas: Simulant! Schwindler! Unter der Haut bist du schöner als jeder, was?! Wenn du die Augen nicht aufmachst, zerstampfe ich dich! Ich reiße dir das Gesicht herunter!
Regine: Tu ihm nichts! Er ist wehrlos!
Thomas: Er verstellt sich ja nur.
Regine: Laß ihn! Er ist gut –: hinter sich! Sie drängt Thomas weg und beißt wieder in Anselms Hand.
Thomas drängt sich wieder hin: Bloß recht behalten möchte er noch. Du Beschädigter! Schäbiger mit dem Defekt! Der Gesundheit simulieren möchte!
Anselm hat unter den Mißhandlungen die Augen aufgeschlagen.
Thomas triumphierend: Hast du einmal die Wahrheit zugeben müssen!! Im nächsten Augenblick steht er aber, angewidert von sich selbst, auf. Qualm! Ist die Lampe zu hoch aufgeschraubt? Die Petroleumlampe, dachte ich, kann explodieren. Ah ... – lacht – ich weiß, wir haben schon Elektrizität ... einen Augenblick lang war mir, als lebte Mama noch und wir wären klein ...
Regine: Was wütest du gegen ihn! Er haßt dich nicht mehr als er jeden hassen muß, aber er liebt dich viel mehr.
Thomas: Mich liebt er?! Hergekommen, um Maria zu entwenden!
Regine: Dich liebt er wie einen Bruder, der stärker ist als er.
Anselm hat sich mühsam aufgerichtet: Ich hasse dich. Wohin ich gehen wollte, immer warst du zuvor.
Thomas den Satz ihm hinwerfend: Dir glaubt kein Mensch ... Aber was habt ihr aus uns gemacht! Alle verachten euch, verfolgen euch, schließen euch aus!
Regine: Über mich sind sie weggekrochen. Ich opferte mich, ließ mich beherrschen, spürte, wie ich allmählich wirklich so wurde, wie ich ihnen erschien, und – fühlte mich desto höher schweben; mit noch unsichtbaren Teilen, die auf Gefährten warteten. Sie steht auf. Nun stehe ich in Klarheit und alles ist erloschen. Ich bin heute ein vernünftiger Mensch geworden.
Anselm zu Thomas: Du hast mich verfolgt, ob du da warst oder nicht. Wenn ein Mensch einen andren verleitet, ihm Böses zu tun, ist er schuld.
Thomas: Das ist zwar natürlich wieder nur so gesagt, aber –
Maria tritt ein, er bricht ab.
Maria die bemerkt, daß etwas vorgefallen ist: Was ist? ... Was war?
Thomas: Er hat einen falschen Selbstmord versucht. Aber wahres Gefühl und falsches sind wohl am Ende beinahe das gleiche.
Regine: Es gibt Menschen, die wahr sind hinter Lügen und unaufrichtig vor der Wahrheit.
Thomas: Man findet einen Gefährten und es ist ein Betrüger! Man entlarvt einen Betrüger und es ist ein Gefährte!
Maria: Ich verstehe kein Wort.
Fräulein Mertens die man bisher nicht bemerkt hat: Ich bitte gehen zu dürfen. Ich vermag nicht mehr zu folgen. Ich vermag offenbar nicht, solche «vulkanische Menschen», in denen «ein Rest von der Schöpfung her» noch nicht fest geworden ist, zu verstehn.
Thomas: Sind auch Schwindel in dieser Zeit. Sie duldet nur kurze Gefühle, lange Nachdenklichkeiten.
Maria: Ich verstehe kein Wort. Ihr habt euch versöhnt? Ich verzeihe es ihm nicht!
Anselm: Ich habe schlecht von Ihnen gesprochen, um mein Gefühl vor fremder Berührung zu schützen!
Thomas: Schweig, Anselm, du mußt zu Bett. Du mußt schlafen. Du mußt morgen früh fort. Ich möchte beinahe an deiner Statt dahingehen, eingewiegt von Planlosigkeit. Ihr habt ja recht. Man ist nie so sehr bei sich, als wenn man sich verliert.