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Es war im Monat Januar, ein wunderschöner Wintertag, die Sonne ging rosig unter, rosig glänzten die leicht beschneiten Bäume, und rosig die Dächer des weiten Berlins. Der Geheimerath Kühneman mit Frau und Kindern hatte einen prächtigen winterlichen Spaziergang gemacht. Sie gingen jetzt alle, Große und Kleine, nach einer von den Straßen vor dem Potsdamer Thore, wo der Onkel General von Reifenhagen wohnte. Dieser Shakspeare-Abend jeden Dienstag war, wie Mariechen versicherte, ein schöner Abend, weil die Kinder da mit in Gesellschaft gehen durften. Die gute Tante wußte wohl, daß es armen Kindern sehr einsam um das Herz ist, wenn die Eltern in Gesellschaft sind und sie mit den Dienstboten bleiben müssen, und darum, meinte sie, müsse das nicht zu oft vorkommen. Wenn auch an diesem Abende mehrere Stunden vorgelesen wurde, was die Kinder nichts anging, so fanden sie doch im Nebenzimmer während dessen einen Haufen Haselnüsse und das Post- und Reisespiel, und die großen Leute waren so gütig, vor und nach dem Lesen und in den Pausen mit ihnen zu scherzen, zu spielen und fröhlich zu sein.
Feste Gäste dieses Leseabends waren außer den beiden Familien noch der junge Pastor Schlösser, der Lieutenant von Reifenhagen, Vetter des Generals, und Frau von Warmholz mit ihrer Tochter Klärchen. Sie alle waren einig im Glauben an einen Herrn, außerdem aber waren sie sehr verschieden. Es ist eine große Beschränktheit der Weltleute, daß sie wohl meinen, gläubige Menschen wären gerade einer wie der andere, ernsthaft, feierlich und langweilig. Daß es hier ebenso lustige wie ernsthafte, komische und kluge, einseitige, beschränkte und geistvolle giebt, möchten sie nicht glauben.
Während die übrigen Gäste noch erwartet wurden, waren Elise und die Tante Generalin allein im Wohnzimmer, Emilie und Elisabeth tummelten sich mit den Kindern im Nebenzimmer.
Du glaubst nicht, liebe Tante, wie sehr wir uns immer auf diesen Abend freuen, sagte Elise, indem sie sich behaglich in die Sofaecke lehnte; mir ist es besonders lieb, ich weiß die Kinder versorgt und amüsirt, die großen und die kleinen, das habe ich früher nie gehabt, und es erinnert mich so sehr an unser Leben im elterlichen Hause.
Ja, entgegnete die Tante freundlich, es klingt zwar etwas seltsam, aber ich verlange, die Eltern müssen sich mit ihrem Umgange nach den Kindern richten: wenn die Kinder klein sind, müssen die Eltern auch Kinder sein und Leute einladen, die das verstehen.
Läßt sich das in einem Stadtleben durchführen? fragte Elise zaghaft.
Ausnahmen werden gestattet, lächelte die Tante, aber Du wirst es erfahren, wie herrlich sich alles gestaltet, wenn nur erst das Princip in einem Hause aufgestellt ist, daß den Kindern die meiste Liebe, die meiste Zeit und die meiste Rücksicht gehören müsse. Diese Zeit, für die Kinder verwendet, ist ein Kapital was die besten Zinsen trägt.
Du siehst ja, wie ich mich bestrebe, das recht zu finden, sagte Elise lächelnd, – und liebe Tante, fügte sie hinzu, ich glaube, ich habe in den letzten Monaten etwas gelernt, ich bin weit fröhlicher und frischer mit den Kindern.
Du warest ja gut angelernt von Deiner Mutter, entgegnete die Tante.
Ich gestehe auch, fuhr Elise fort, daß ich mich eigentlich an Elisabeth versündigt habe, ich habe sie allein gehen lassen, habe nicht recht für ihr Vergnügen gesorgt. Meine Entschuldigung ist zwar, daß ich so viel mit den kleinen Kindern zu thun hatte und unsere Verhältnisse mir nicht erlaubten viel Hilfe zu nehmen, und außerdem die mancherlei Geselligkeit, die durch die nöthigen Vorbereitungen so viel Zeit und Gedanken in Anspruch nimmt.
Elisabeth ist so lieblich und frisch zugleich, sagte die Tante.
Sie ist aber noch so unsicher und wechselnd! entgegnete Elise seufzend. In der Adventszeit hat sie so eifrig mit Fritz Kirchengeschichte studiert, hat gesungen und beim Arbeiten Lieder gelernt, und außerdem mit den Kindern so viel gespielt. Nach Weihnachten war sie ganz anders, sie seufzte, es sei doch oft langweilig in der Welt, sie ließ nicht nach, sie mußte mit den Tanten nach den Conzerten, und neulich, als meines Mannes Schwester aus Königsberg hier war, war es durchaus nicht zu vermeiden, sie ist mit meinem Mann und den Schwägerinnen im Theater gewesen.
Das habe ich gehört, sagte die Tante ruhig; Du siehst, daß Du für Elisabeths Unterhaltung sorgen mußt, wenn sie es nicht selbst thun soll.
Ich habe in dieser Zeit viel mit meinem Mann überlegt, nahm Elise nachdenklich das Wort, ob wirklich Conzerte und Theater besuchen sich nicht mit unserer Lebensrichtung verträgt. Mein Mann ist in allen solchen Sachen so ruhig, kann sie leicht entbehren, und räth mir, wenn es mich beunruhigt, sie zu lassen. Für ein Unrecht hält er es indessen nicht; wenn ich es aber nicht für ein Unrecht halte, weiß ich nicht, warum ich alle diese Dinge nicht als Bildungsmittel benutzen kann.
Wenn mich jemand fragt, begann die Tante, würde ich antworten: Gehe so lange hin, als du es nicht lassen kannst. – Elise sah sie fragend an. – Die Tante fuhr fort: So ist es mit all den einzelnen Fragen über Dinge, die an und für sich nicht Sünde sind, die den Christen beunruhigen, oft bei dem besten Willen beunruhigen, weil er nicht weiß, was er thun soll, und auch von Freunden verschieden berathen wird. Da ist meine Antwort eben: thue es, so lange du es nicht lassen kannst. Mit der Antwort will ich nicht die Gewissen beschweren, ich möchte nur die Sehnsucht von den Dingen dieser Welt ab nach oben hinziehen. Dann möchte ich noch hinzufügen: Eines schickt sich nicht für alle. Wem der Herr viel vertraut hat, der sollte ganz besonders vorsichtig sein. Ich möchte aber damit nicht sagen: Bezeuget der Welt, daß ihr fromme Leute seid, indem ihr weder Bälle, noch weltliche Conzerte, noch Theater besucht; das wollen wir durch ganz andere Dinge bezeugen. Wir sollen gottselig vor dem Herrn leben, wir sollen streben mit einem neuen Herzen in einem neuen Leben zu wandeln, dann werden alle diese einzelnen Fragen sich lösen, wie die herbstlichen abgelebten Blätter den jungen Frühlingstrieben weichen müssen. Zu beurtheilen und zu richten, wie weit in einem Herzen das neue Leben durchgedrungen, und wie weit ältere Lebensgewohnheiten diesem neuen Leben hinderlich oder unschädlich sind, wage ich nicht. Die Verhältnisse, in denen die Menschen leben, sind so verschieden, ebenso die Gefahren und die Versuchungen, ich möchte nur für mich und für alle, denen mein Einfluß etwas sein kann, wachen und beten, daß ein neues junges Leben frisch und freudig der Sonne entgegen sprießt, und daß es alles hinwegdrängt, was seinem Hinanstreben hinderlich ist.
Ich für mich frage gar nichts danach, entgegnete Elise, ebenso wenig als mein Mann; wie ist es aber mit den Kindern, wenn sie nun einmal in einer großen Stadt leben? Können sie nicht von Kunst und Musik Nutzen haben, und dürfen wir sie, wenn sie sich danach sehnen, mit Gewalt zurückhalten?
Kunst und Poesie sind mir als Bildungsmittel für meine Kinder sehr willkommen, entgegnete die Tante, was ihnen aber im Theater und in den gewöhnlichen Conzerten Schädliches dazu gereicht wird, hebt allen Nutzen, den sie von Kunst und Poesie haben können, wieder auf, Ueberlege Dir einmal, ob die Berliner jungen Mädchen, die häufig Theater und Conzerte besuchen, für ihren inneren Menschen davon Vortheil haben. Ich behaupte: Schaden, und ich kann nur allen Eltern, die in einer Stadt wohnen, rathen, die Töchter so ländlich als möglich zu erziehen, denn eine gründliche ländliche Erziehung ist jeder städtischen vorzuziehen. Liebe Elise, Du hast es selbst erfahren, als Du nach Berlin kamest, fügte die Tante lächelnd hinzu: Deine schönen Volkslieder, Deine Sonaten von Beethoven, die Du mit dem Cantor so wohl eingeübt hattest, und die Du eben darum so gut vortragen konntest, weil Deine Bildung und Deine Gefühle einfach und nicht veroberflächlicht waren, wurden förmlich bewundert. Ueber Shakspeare, Schiller und Göthe und viele ihrer Genossen konntest Du reden und hattest entschiedene Urtheile darüber. Du hattest sie aber kennen gelernt im traulichen Kreise, wo Du Dein ganzes Gemüth ungestört darauf richten konntest. Denke dagegen ein Berliner Mädchen im Theater, – welche zerstreuenden Gedanken bei ihr während des Kunstgenusses nebenherlaufen.
Man würde Dir da entgegnen, sagte Elise, daß ein Stück auf der Bühne mit all den Mitteln, die der Bühne zu Gebote stehen, weit mehr Eindruck macht, als wenn man es nur liest.
Das bestreite ich, fiel die Tante eifrig ein, eine jugendliche frische Phantasie bedarf dieser Hilfsmittel nicht, und ich bleibe dabei, daß eine Theater- und Conzertbildung mehr veroberflächlicht als Nutzen bringt. Ich habe in meiner Jugend beides besucht; im Theater wurden sehr selten Stücke gegeben, die zu meiner Bildung hätten dienen können, und in den verschiedenen Logen- und Harmonie-Conzerten, und welchen Namen sie auch hatten, habe ich mich, und ich darf behaupten ziemlich alle Anwesenden, die mit mir nicht kunstverständig waren, bei dem musikalischen Theil, besonders bei den Simfonien und ernsteren Stücken sehr gelangweilt, leichtere Melodien und Gesang ließen wir noch passiren; aber der gesellige Theil des Conzertes war doch die Hauptsache.
Du hast in allem Recht, sagte Elise, wie sollte ich zu Elisabeths Bildung Theater und Conzerte nöthig finden? – so thöricht bin ich wirklich nicht. Aber was soll ich thun, wenn sie danach verlangt, soll ich sie mit Gewalt zurückhalten?
Die Tante schwieg nachdenklich – nach einer Pause begann sie: Mit Gewalt zurückhalten? Nein. Ich meine aber mit des Herrn Hilfe kann es vermieden werden. Ich wiederhole: den Kindern muß es im elterlichen Hause wohl sein von klein an, man kann gar nicht fröhlich genug mit ihnen sein. Man muß ihnen behilflich sein zu allerhand Spaß und Zeitvertreib, wie die verschiedenen Eigenthümlichkeiten der Kinder es verlangen und es ihrem Alter angemessen ist. Dadurch entsteht kein weltliches Leben und Treiben im Hause, sondern ein kindliches und jugendliches Leben. Wird das aus einem Hause, wo Kinder sind, verbannt, so werden sie sich, sind sie von Natur fröhlich, außer dem Hause und den Eltern verborgen Nahrung suchen, oder sie werden, wenn sie ernsthaft sind und sich den Eltern fügen müssen, in der Blüthe verkümmern, frühreif und unnatürlich werden. Kinder, die so nach Herzenslust im väterlichen Hause aufwachsen, können gar kein lebhaftes Verlangen haben nach Dingen, die sich mit ihrem heimathlichen Boden, mit der ihnen eigenen Lebenslust nicht vertragen. Es können Zeiten und Verhältnisse für die Kinder eintreten (wenn sie nicht eintreten, ist es desto besser), wo sie wünschen solche Dinge kennen zu lernen. Sie mögen es thun, sie mögen die Welt beurtheilen und würdigen lernen, sie mögen sich durchkämpfen durch die verschiedenen Lebensperioden, aber nur um fester und selbständiger auf dem Grunde zu stehen, auf dem ihr Jugendleben und ihre Erziehung gegründet ist. Wir haben unsere erwachsenen Kinder, weil die Veranlassung dazu nahe lag, selbst in das Theater geführt, sie haben es angesehen, haben sich amüsirt, haben sich geärgert, nach ihren verschiedenen Eigenthümlichkeiten. Weil dies Vergnügen aber weiter nicht in unserer Hausordnung zu finden war, haben sie auch nicht weiter danach verlangt. So laß Dich auch nie durch einzelne Fälle beunruhigen, lebe Dich in das Reich Gottes, dessen König unser Herr und Heiland ist, und zu dem er uns fortwährend so dringend einladet, immer mehr mit Liebe und Treue hinein, steige mit Deinen Gebeten immer mehr und immer höher hinauf: je mehr Du Dich dahinein lebst, wo Du ewig wünschtest zu sein, je mehr siehst Du die Welt, und was sie Dir Sündliches zu bieten hat, im rechten Lichte, und Du siehst dann wieder, was Du nicht lassen kannst, Du sagst Dich ganz und gar los von der Welt und lebst nur für Deinen Herrn.
Frau von Warmholz und Klärchen kamen jetzt, und mit ihnen traten Emilie, Elisabeth und Fritz in das Zimmer. Zugleich von der anderen Seite erschienen der General und der Geheimerath.
Lieber Onkel, begann Elisabeth schmeichelnd zum General, bestimme doch als Hausherr, daß heut Romeo und Julie anfangen wird!
Mein Kind, ich habe hier gar nichts zu bestimmen, lachte der Onkel, ich bin nur ein geduldeter Gast, der das Recht hat sich fortzustehlen, wenn es ihm zu gelehrt wird. Hier ist Emilie, glaube ich, Hausherr.
Ach, Emilie liest den Romeo nicht, sagte Elisabeth ärgerlich.
Du hast ihn ja in vergangener Woche erst gesehen! entgegnete Emilie.
Darum eben, ich möchte ihn gern noch einmal hören, bat Elisabeth.
Er gehört nicht zu meinen Lieblingen, war Emiliens Antwort.
O doch, schön ist er! versicherte Frau von Warmholz. Ihre blauen Augen schauten dabei sehr strahlend um sich und die vielen hellbraunen Ringellocken bewegten sich lebhaft.
Der Anfang scheint mir zu unnatürlich, entgegnete Emilie.
Klärchen, eine kleine sehr starke Blondine, legte ihre runden weißen Hände vor sich auf den Tisch und sagte sehr bedächtig: Ja, die Liebesgeschichte geht mit unerhörter Schnelligkeit vor sich.
Ein allgemeines Gelächter war die Antwort. Klärchen war das schon gewohnt und fragte in ihrer gewohnten Ruhe: Habe ich vielleicht etwas Unrechtes gesagt?
Durchaus nicht! versicherten die andern, und ihre Mutter sagte: Aus Dir, mein Klärchen, wird nie eine Julia. Zu den anderen gewendet fügte sie hinzu: Shakspeare hat aber doch recht: jede tiefe wahre Neigung faßt mit wenigen Ausnahmen Wurzel beim ersten Sehen, nur daß wir Kinder des Nordens die Sache für uns behalten, sie erwägen und überlegen, wenn sie ein Italiener gleich ausspricht.
Wie kann ich aber jemanden vom Ansehen lieben? ich muß doch wissen, warum ich ihn liebe, warf Emilie etwas wegwerfend ein.
Pst! rief der Geheimerath, da bist Du auf einem Irrwege, man liebt nicht der guten Eigenschaften wegen, das ist etwas geheimnißvolles mit der Liebe, sie fragt nicht nach Wissen und nach Gründen.
Emilie schüttelte den Kopf.
Wir haben auch eigentlich nichts dabei zu risquiren, sagte Frau von Warmholz, unser Herz leitet uns oft sicherer als unser Wissen.
Richtig! fiel Klärchen ein, mein Herz würde sich doch nie in einen heftigen aufbrausenden und launigen Mann verlieben.
In einen, der an der Leber leidet, fiel der General scherzend ein.
Das wäre schrecklich! entgegnete Klärchen, obgleich so ein armer Mensch nicht schuld an seinen Launen ist.
Die Sache steht aber so, Klärchen, nahm ihre Mutter lebhaft das Wort, Dein Wissen und Dein Verstand würde sich vielleicht nie einen Mann wählen, der heftig und launig ist, und Dein Herz könnte sich doch darin verlieben, in der geheimnißvollen Ahnung, daß es Dir weit besser ist, einen lebhaften, als einen flegmatischen Mann zu haben. Ja wenn ich zuweilen lebhaft bin und Dich damit quäle, fügte sie scherzend hinzu, so bin ich es nur aus Pflichtgefühl, Dir zum Nutzen.
Erstens, Du liebe Mama, bist Du immer lebhaft, entgegnete Klärchen gutmüthig, und dann kannst Du es nicht anders sein, und ich füge mich ganz verständig, weil Du meine Mutter bist.
Und später könntest Du Dich fügen, weil es Dein Mann ist, warf die Mutter ein, und ihm zu Liebe würdest Du seine Fehler tragen.
Klärchen schüttelte den Kopf.
Ich könnte es auch gar nicht schlimm finden, sagte Elisabeth fröhlich, wenn man sich zuweilen zankt.
Und wieder versöhnt, fügte der General hinzu. – Elisabeth nickte.
Nein, nein, sagte Klärchen bedächtig, in der Fantasie mag das gehen, in der Wirklichkeit ist es aber sicher sehr ärgerlich, wenn so ein geliebter, liebenswürdiger Gegenstand ungezogen gegen uns ist.
Er wird sich doch aber auch ändern, entgegnete Elisabeth höchst verständig.
Das ist die allergrößte Mädchen-Thorheit, fiel ihr Emilie eifrig in die Rede, wenn sie glauben, daß ein Mann sich aus Liebe zu ihnen ändern würde.
Das glaube ich auch, sagte Klärchen einverstanden, und es ist weit rathsamer, ein Mädchen nimmt sich gleich vor, mit Liebe die Fehler zu tragen, sie geht da wenigstens sicherer, weil es mit der Besserung doch immer fraglich ist.
Jetzt schüttelte Elisabeth den Kopf.
Während Emiliens und Klärchens Worten war die Thür leise aufgegangen, und Pastor Schlösser und der Lieutenant von Reifenhagen waren eingetreten. Von einem Mann, der an der Leber leidet, ist die Rede? fragte Herr von Reifenhagen jetzt scherzend.
Aber nicht von Dir, lieber Theodor, fiel der General eben so ein.
Das sehe ich aber auch nicht ein, wandte sich der Vetter zu Emilien, warum ein Mann aus Liebe sich nicht bessern könnte. Was meinen Sie, lieber Schlösser?
Ich meine, nahm dieser ziemlich verlegen das Wort, es ist gerade der Zweck der Liebe eine gegenseitige Veredlung.
Der Vetter wollte weiter inquiriren, aber ein Blick der Tante veranlaßte ihn zum Schweigen. Es war ja allen bekannt, daß Schlössers und Emiliens Herzen sich gefunden hatten. Emilie hatte sicher herausgefühlt was ihr fehlte, ein Mann der über ihr stand, an dem sie nichts zu tadeln noch vorzuhalten hatte.
Die Generalin nahm jetzt schnell selbst das Wort: Ueber Liebe läßt sich eigentlich gar nicht debattiren, weil so viele Täuschungen des Herzens diesen Namen in Anspruch nehmen, sagte sie und erklärte dann den beiden nachgekommenen Herren ganz kurz, worum es sich gehandelt habe.
Da kann ich aus meiner Erfahrung hinzufügen, daß ich mich als tanzender junger Mann sehr oft verliebt habe, versicherte Herr von Reifenhagen; ich wußte nie warum, es wurde mir nur immer klar, wenn es aufhörte.
In dem ganz veräußerlichten und oberflächlichen Weltleben kann von einer tiefen und wahrhaftigen Liebe selten die Rede sein, entgegnete Elise.
Ja, fiel die Tante freundlich ein, und der liebe Gott ist denn oft ein recht barmherziger Hüter seiner leichtsinnigen Kinder.
Das ist nicht ohne Anspielung, sagte der General, wir haben uns auch auf einem Balle kennen lernen und haben uns gleich verliebt.
Und es soll damit der Jugend kein Vorbild gegeben sein, fügte die Generalin lächelnd hinzu, es nimmt nicht oft einen so guten Ausgang. Ich war es nicht werth, wie der Herr mich so treulich geführt hat, und es war nicht mein Verdienst, daß ich einen so braven Mann bekam; die meisten meiner Bekannten, die nicht leichtsinniger waren als ich, sind sehr unglücklich geworden und ganz in der Welt untergegangen.
Wir beide könnten aber Emiliens Behauptung am besten widerlegen, sagte der General. Ich habe mich doch wohl aus Liebe zu meiner Frau geändert; freilich ich merkte bald, daß ich eine so –
Die Generalin küßte dem alten Eheherrn die Hand und legte ihm zugleich den Finger auf den Mund.
Da sieht man doch, nahm er nach dieser Unterbrechung das Wort, daß ich unter dem Pantoffel stehe.
Emilie schlug vor mit dem Lesen zu beginnen, Schlösser und der Vetter griffen nach dem Hamlet. Sie mußten abwechselnd vorlesen, die Damen hatten vertragsmäßig die Erlaubniß, sich mit Handarbeiten zu beschäftigen, der General und der Geheimerath dagegen durften eine Cigarre rauchen.
Nachdem eine Abtheilung gelesen war, während darüber discutirt wurde, sagte Klärchen leise zu Elisabeth: Ich habe Dich wirklich bewundert, Du stickst und trennst, und stickst und trennst immer wieder auf. – Elisabeth ward sehr roth. – Hast Du Dich so sehr in Hamlet vertieft? flüsterte Klärchen weiter. – Elisabeth war zu wahrheitsliebend, sie schüttelte den Kopf, beinah hätte sie hinzugesetzt: Ich dachte nur an Romeo, – aber sie legte unwillkürlich den Finger an den Mund, welches Zeichen Klärchen auch gewissenhaft auf sich bezog und nichts weiter sagte.
Während der größeren Hälfte des Lesens hatte der General gefehlt. Als es vorüber, kam er mit einem Brief in der Hand herein. Ich habe hier einen Brief von Bruder Fritz, sagte er.
Vom Großpapa! rief Elisabeth lebhaft.
Elise und ihr Mann erkundigten sich nach dem Befinden der Lieben in Woltheim, und der General erzählte erst, daß Onkel Karl die Grippe hatte, dann nahm er den Brief selbst und las, weil allgemein danach verlangt wurde, daraus vor: – »Seitdem Bruder Karl wieder sein Zimmer verlassen kann, ist seine gute Laune auf dem Wege der Besserung. Gestern traf ich ihn bei Charlottchen, wo er sie über rationelle Landwirtschaft belehrte und versicherte; der einzige Grund, warum es mit unserem Gute nicht vorwärts wolle, sei der, weil er keine Brennerei habe anlegen dürfen. Sagen Sie lieber: wollen, theurer Herr von Budmar! fiel ihm Charlottchen in die Rede. Nun, ja, wollen, wiederholte Karl, ich sehe wohl ein, daß es Sünde ist. Warum wollen wir unser Gewissen mit einer Brennerei beschweren? fuhr Charlottchen fort; denken Sie, wenn einstens Hunderte von Trunkenbolden uns aus der Hölle herauf anklagen wollten. Sie haben ganz Recht Charlottchen, aber wissen Sie, daß es Menschen giebt, die darüber lachen können. – Ich glaube, daß wir dort oben einst ganz anders über die Bewirthschaftung eines Gutes denken werden als jetzt; fügte er nachdenklich hinzu. Gewiß, gewiß! versicherte Charlottchen. Würden unsere Kinder wohl glücklicher sein, wenn sie jedes ein paar tausend Thaler mehr hätten? fragte er weiter. Nein, versicherte Charlottchen, gerade weil wir hier nie viel nach Geld spekulirt haben, hat unser lieber Herr Gott die Kinder so gesegnet – es sind doch herrliche Kinder! und so viele liebe Enkel! Nun Charlottchen, ich habe auch meine Sorgen gehabt, keiner weiß das besser als Sie. Aber Sie müssen gestehen, daß des Herrn Segen ganz besonders auf Ihrem Wirthschaften ruhte, entgegnete Charlottchen wieder und fuhr dann fort in ihrer einfältigen Art ihn von seinen Wirthschaftssorgen, die das unveränderte Thema ihrer Unterhaltung sind, abzuziehen und ihm vorzustellen: wie wird es sein, wenn wir dort oben sind. Ihre schönen Mondschein- und Nachtigallen-Stimmungen, die ihn in der Jugend so angegriffen, sind ihm in einer etwas ernsteren und veredelten Form nicht mehr unangenehm. Ja Charlottchen ist ein Schatz, wenn auch sehr unscheinbar, sie wird einst in ihrer Demuth und Bescheidenheit an der Himmelspforte stehen bleiben, der Herr aber wird ihr einen besseren Platz anweisen.«
Der Brief schloß mit Berichten aus der Oberförsterei, mit Grüßen und Versicherungen, und die Zuhörer sprachen darauf in Ernst und Scherz über Onkel Karl und Charlottchen.
Weißt Du, Mama, begann Elisabeth plötzlich eifrig, ich müßte doch wohl hin und Onkel Karl auch unterhalten?
Die Mutter hatte nur ein Lächeln als Antwort darauf. Aber der Gedanke war nicht übel, jetzt gerade, wo die Versuchungen und Zerstreuungen des Winters erst recht beginnen sollten, war Elisabeth bei den Großeltern am besten aufgehoben. Wenn nur dieser Winter erst glücklich vorüber ist! dachte Elise, bis künftigen Winter wirst du einen ganz anderen Einfluß auf Elisabeth gewonnen haben!
Daß der Vorschlag von Elisabeth ausging, war unerwartet, nicht allein der Mutter, auch den anderen. Du Elisabeth im Winter bei den Großeltern? fragte Emilie. Du würdest es nicht lange aushalten.
Nicht aushalten? rief Elisabeth; wenn ich nur lange Urlaub bekomme.
Aber im Winter! gab Klärchen auch zu bedenken. Deine Großeltern und Onkel Karl und Charlottchen leben wie im Kloster.
Und doch vergnügt! fuhr Elisabeth fort. Dann habe ich die Oberförsterei, bei den vielen Kindern ist immer etwas los, und Tante Julchen und der Onkel sind zu vergnügt. Außerdem steht mir beim Großpapa das ganze Gut zu Gebote, mich zu amüsiren, und nicht wahr, Papa, das sind fünfhundert Morgen Land?
Wenigstens! sagte der Geheimerath.
Sie müssen aber bedenken, Fräulein Elisabeth, daß Sie kein Kind mehr sind, Sie sind confirmirt, warf Herr von Reifenhagen ein, Sie können mit dem alten Friedrich nicht mehr nach Holz fahren, noch mit Onkel Karl Korn aufmessen.
So wird sich etwas anderes finden, triumfierte Elisabeth, wenn die Eltern nur die Erlaubniß geben.
Die Eltern hatten nichts einzuwenden, und die Tante Generalin und der Onkel waren ordentlich erfreut über Elisabeths ländlichen Geschmack. Der Onkel selbst brachte sie auf allerhand vergnügliche Ideen; er schlug ihr vor, da sie mit dem alten Friedrich nicht mehr auf dem Ackerwagen fahren dürfte, so sollte sie mit ihm ausreiten; die alten dicken Schimmel müßten stattlich aussehen, und jedenfalls müßte in dem conservativen Hause das stahlgrüne Reitkleid von der Großmutter noch vorhanden sein.
Richtig, richtig! rief Elisabeth und klatschte in die Hände: Charlottchen packt jeden Monat April eine große Mottenkiste, ich habe ihr oft genug geholfen das Kienölpapier dazwischen legen, da habe ich das stahlgrüne Kleid gesehen, und habe auch einen leberfarbenen Frack mit Silbertressen gesehen, der stammt von Friedrich, in seiner Jugend ist er herausgewachsen, aber jetzt paßt er gewiß wieder.
Elise stimmte nun in dieses sehr lustige Thema ein, erzählte, wie das Jagdkleid und der Frack oft genug von ihr und den Geschwistern zu Verkleidungen benutzt, und nur auf des Vaters bestimmten Wunsch vor der gefährlichen, immer zum Zerschneiden bereiten Scheere der Mutter gerettet wurden. – Der Schluß der Unterhaltung war, daß Elise ihr Töchterlein selbst nach Woltheim bringen wolle, gleich am andern Morgen sollte ein Brief sie anmelden und die Schimmel nach der Eisenbahnstation bestellen.
Gegen Abend des anderen Tages traten Tante Wina und Paula mit ihrer Schwägerin in die Kinderstube. Hier ist der arme Sträfling, sagte Elise freundlich, fragt ihn selbst.
Du willst wirklich nach Woltheim? wandte sich Wina scharf an Elisabeth.
Und wie gern! sagte Elisabeth und umarmte dabei die Tanten in höchst stürmischer Weise.
An Dir ist Hopfen und Malz verloren! zürnte Wina.
Gestern erst habe ich der Schwester nach Königsberg geschrieben, wie sehr Dich der Romeo erfreut hat! fügte Paula hinzu.
Das hat er auch, sagte Elisabeth ziemlich erstaunt.
Jetzt will sie aber auf Großpapas Schimmeln spazieren reiten, erzählte Karl höchst wichtig.
Unsinn! rief Tante Wina heftig, ein vernünftiges und wohlerzogenes Mädchen wird daran nicht denken.
Ich will es aber wirklich, versicherte Elisabeth fröhlich.
Und Großpapa erlaubt das? fragte Wina spöttisch.
Ich hoffe sehr, entgegnete Elisabeth.
Aber welche Lebensgefahr für Dich! warnte Paula.
O nein, tröstete Karl, die alten Schimmel sind nicht gefährlich.
Ja, die alten Schimmel werden mit Elisabeths Wunsch auch nicht einverstanden sein, scherzte die Mutter.
Wie lange gedenkst Du fortzubleiben? fragte Wina.
Bis zur Fastenzeit geht meine Erlaubniß, entgegnete Elisabeth. – Wina verstand die Absicht: in der Fastenzeit hatte Elise von jeher (darin war sie ihren Eltern treu geblieben) jedes laute zerstreuende Vergnügen – und ganz mit des Mannes Einverständniß – aus der Hausordnung gestrichen.
Du bist ein wetterwendisch Ding, zürnte Wina immer noch, zuweilen schwärmst Du für das Stadt- und dann wieder für das Landleben.
Eigentlich schwärme ich für das Landleben, versicherte Elisabeth; Euch zu Liebe habe ich es nur für das Stadtleben versucht. Auch bin ich noch nicht ganz sicher darüber.
Uns zu Liebe könntest Du uns auch um Rath fragen bei solchen Reiseplänen! sagte Wina.
Ich wußte aber vorher, daß Ihr nicht damit einverstanden waret, entgegnete Elisabeth aufrichtig.
Die Mutter war aus dem Zimmer gegangen, und Wina, dadurch muthiger, sagte schnell: Weil wir nicht wünschen, daß Du verbauerst.
Elisabeth sah die Tante stolz an, sie hatte schon eine Antwort auf den Lippen, als die gutmüthige Paula sagte: Kinder, zankt Euch nur nicht zum Abschied! Du mußt bedenken, liebe Elisabeth, daß wir sehr traurig sind, wenn Du fort gehst.
Wenn ich wieder komme, werde ich Euch sehr oft besuchen, versicherte Elisabeth, von Paulas Worten völlig überzeugt und gerührt. Morgen Abend kann ich aber auch noch bei Euch sein, fügte sie hinzu, Tante Wina, da gebt Ihr mir eine Abschiedsfête!
Du bist ein Schelm! lächelte Wina, schon zur Versöhnung geneigt, und es bedurfte nur noch wenige von Elisabeths fröhlichen Scherzen, um die Tanten-Herzen in völlige Begeisterung zu versetzen.