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Neuer Caesar


Die Last

Der Präsident der Republik reitet aus. Der oberste Staatsbeamte reitet aus, demokratisch bescheiden, von ein oder zwei Zivilherren begleitet, den Gesetzen des Verkehrs sich einfügend, gar im Trubel der Weltstadt verschwindend, hin und wieder gegrüßt, zumeist übersehen: ist es so? O nein, es ist ganz anders, es ist Gottseidank nicht so, frohlockt die Stadt; weh uns, daß es nicht so ist, klagen die Zeitungen des Parlaments. Immer stehen Menschen vor dem Portal der Avenue de Marigny und warten. Das ist, keift die Presse, die Claque des gewissen Fialin, genannt Persigny, de Persigny, Vicomte de Persigny, Oberregisseur des Elysée-Theaters. Wir sind, denken die Wartenden, ein paar von den dreißig Millionen, die ihn lieben. Dann kommen Lanciers, dann kommt die berittene Leibgarde, dann kommt eine Wolke von Generälen, und in der Wolke reitet er, bewölkt von Ernst, von seinem gelben schläfrigen Ernst, den Zylinder tief und fest in der Stirn, dann kommen berittene Lakaien, blitzend in Gold und Grün, dann kommen Dragoner und dann wieder Lanciers. – Das ist, zetert die Presse, der Aufzug eines republikanischen Beamten, dieser cäsarische Prunk, von keinem König gewagt, ist das tägliche Gewand der Idee, die über sich, in den Himmel dieser Staatslästerjahre gerammt, die Dauerwolke des Staatsstreiches trägt wie eine infernalische Aureole – und der Eid streicht kaum noch als Schauer über seinen dürftigen Rücken. Da halten seine Ulanen und Dragoner die Lanzen gesenkt, als seien die Champs Elysées von Kosaken bevölkert, da treibt er seinen Pomp wie einen Keil in die Straßen, daß aller Verkehr stockt … – Aller Verkehr stockt, die auf der Marigny lassen ihn leben, nur ihn, nicht den Präsidenten, niemals die Republik, nur ihn, Napoleon, der Ruf ist viel schneller als die Lanciers und biegt schon, ihn zu empfangen, in die stockenden Champs Elysées, die voll von Wagen sind und winkenden Menschen.

Der Präsident der Republik reist kreuz und quer durch das Land. Zumeist eröffnet er Eisenbahnen. Es werden viele Eisenbahnen gebaut und Straßen und Brücken und Kanäle. Die Ernten sind in diesen Jahren gut, die Industrien arbeiten, die Börse ist fest, die Revolutionstrümmer sind verschwunden, sinnvolle Sozialreformen fallen der Wirtschaft nicht auf die Nerven, Arbeiterdarlehenskassen versuchen, ein kleines Glück zu verbreiten, eine sanfte und dennoch starke Ordnung herrscht: der Mann ist unser Glück; aber die Verfassung, haßvoll und streitbar gehütet vom Parlament und seiner mächtigen Presse, will ihn uns fortnehmen, genau am zweiten Maisonntag 1852, in drei Jahren, in zwei Jahren, in einem Jahr. Das ist der lange Schatten über unserer Liebe.

Der Präsident reist durch den Osten und durch den Westen, sammelt Ovationen, läßt sich von Bischöfen, Bürgermeistern und Generalräten feiern und von Frauen mit Blumen bewerfen, übersieht die schwächlichen Gegenkundgebungen, die hier und da, zumal im republikanischen Osten, versucht werden, oder bezwingt sie auf seine artige Art, und hält Reden. In der ersten Zeit liest er sie ab, dann spricht er frei, weil er die nötige Sicherheit und Uebung gewonnen hat. Er spricht sanft, langsam, eindringlich und sonderbar. Er sagt im ersten Jahr: ich will keinen Staatsstreich, ich tue meine Pflicht gemäß der beschworenen Verfassung. Er sagt im zweiten Jahr: ich will keinen Staatsstreich; doch wenn ihr eine Verfassungsrevision wünscht, so arbeitet dafür. Er sagt im dritten Jahr: ich will keinen Staatsstreich; doch wenn ihr mutig seid, bin ich es auch. Jede seiner Reden, ob eindeutig oder vieldeutig, ist Wasser auf die Haßmühle des Parlaments. Ihn kümmert es nicht, manchmal ist es, als beliebte er die Mühle anzutreiben, manchmal scheint es, als wollte er bremsen, manchmal opfert er einen Minister, schließlich das Ministerium Barrot; aber er ersetzte es nicht durch Männer, die dem Parlament genehm, sonder ihm zu Willen sind, und schließlich durch Kreaturen seiner immer härteren, doch niemals lauten Energie.

Der Präsident der Republik hält Paraden ab, immerzu. Er, der erste Bürger des Staates, verpflichtet, im schlichten Kleid des Bürgers zu repräsentieren, trägt dabei Generalsuniform. Alle Welt weiß, daß sich seine militärische Laufbahn als Thuner Artillerieschüler eröffnet und als schweizerischer Artilleriehauptmann honoris causa beschlossen hat. Wer hat ihn zum französischen General ernannt? Wer hat je gehört, daß sich ein republikanischer Präsident mit einer Wolke von Generälen und mit einem etatmäßigen Stab von Adjutanten und sogenannten Ordonnanzoffizieren umgibt? Und wer figuriert in der militärischen Suite des Präsidenten, wer bildet den berüchtigten Generalstab der Elysée-Kamarilla? Außer August Morny und, in gewissem Abstand, Alexander Walewski als nichtuniformierte Mitglieder der »Familie« findet man den General Vaudrey, Gouverneur des Louvre, den »Eskadronschef« Persigny, den Kapitän Laity, einen Ney, einen Baciocchi, einen Murat – man höre die Namen und man weiß Bescheid. Immerhin, der Präsident der Republik ist ein dankbarer Mann! – Der Präsident der Republik läßt das Parlament und die Presse fragen und höhnen und hält als General Paraden ab. Paraden, Paraden – und die Truppen brüllen dem neuen General Napoleon zu, gegen alle republikanische Sitte, auch gegen die gelegentlichen Tagesbefehle des Höchstkommandierenden Changarnier, die Vivats zu unterlassen. Das Parlament hat seinen Degen, den großen und echten General Changarnier, und der Degen sagt jedem, der es hören will, daß der kleine Präsident ein melancholischer Papagei sei, den er eines schönen Tages in den Käfig von Vincennes stecken werde. Der Papagei, wohl melancholisch, aber ganz ohne Lust zum sprechen, stürzt den Degen nicht, wie es die Kamarilla schon lange fordert – oh, er tut nicht immer das, was die Adjutantur will, er ist immer noch der sanfte Querkopf der Hortense –, sondern macht ihn zum Großoffizier der Ehrenlegion; aber viel später, als der Dauerkrieg zur Entscheidung drängt und er das Gefühl hat, daß das Parlament den Degen zücken will: da setzt er ihn ab, ganz plötzlich, über Nacht. Und was geschieht? Fährt der große General Kanonen auf, kartätscht er gegen das Elysée? Nichts geschieht, nur das Parlament schießt mit den rhetorischen Platzpatronen, wie gewohnt, der abgesetzte Degen wird fürderhin mitschießen, als schlichter Deputierter; denn er wurde ja im wahllosen Jahr 48 zusammen mit dem Bürger Louis Bonaparte in die Volksvertretung gewählt (und der Chor auf dem Grèveplatz hatte gepfiffen). Die Garnison ist eine Nacht lang umsonst alarmiert, das ist alles. Doch bis zu diesem Zeitpunkt hält der Präsident noch viele Paraden ab und er ladet die Regimenter ins Elysée, der Reihe nach, alle werden der Ehre teilhaftig, das Offizierskorps diniert im Schloß, die Unteroffiziere speisen im Garten – die Garde ißt und übergibt sich nicht, spottet die Presse – der Präsident besucht die Kasernen, es gibt Champagner für die Offiziere, Wein, gekochten Schinken und Zigarren für die Mannschaft. »General-Restaurateur,« spottet die Presse; aber sie weiß doch genau, um was es diesem demokratischen Präsidenten geht. Was braucht er mehr, wenn er das Volk und die Armee hat?

Was ist aus dem unbeholfenen und rührenden Novizen geworden? Ein neuer Cäsar, der seine Tyrannis mit Höflichkeit und Vieldeutigkeit vernebelt und alles tut, was er will, der ohne Aufhebens die Exekutive – und das ist er – von der Legislative löst und den Lärm den Brutussen und Catos des Parlaments überläßt. Sie lärmen, sie drohen, sie stimmen immer gegen ihn: er hält höflich und bescheiden den Kopf etwas seitlich, wie es seit einiger Zeit seine Gewohnheit ist, so als sei der Kopf zu schwer – ach, sein Kopf war schwer, und nur er wußte es, nicht die unbeschwerte Adjutantur – er bekommt nicht die Augen auf, raucht eine Zigarette nach der anderen und tut, was er will. Die französische Mutter-Republik schickt ein Hilfskorps der römischen Tochterrepublik. Die weltliche Macht des Papstes ist gebrochen, wie es sich gehört, der Papst ist nach Gaëta zu den Neapolitanern geflohen und ruft die katholischen Mächte auf. Die Mutter schickt der Tochter Soldaten, die die junge Einrichtung verteidigen und der österreichischen Intervention zuvorkommen sollen. Das ist der Sinn und die Verpflichtung der Weltbotschaft von 1848.

Wer ist der Papst? Pio Nono, Gottesmann von Spoleto, die Güte in den unvergeßlichen Augen.

Was tut der neue Cäsar? Er kommandiert seinen General nicht nach Rom, sondern gegen Rom, gegen das Rom der jakobinischen Triumvirn. Er nimmt die mütterliche Hilfswaffe in seine amtliche Hand, vernebelt sie mit seiner höflichen Dialektik, und als er sie wieder sehen läßt, ist es die Mordwaffe gegen die Tochter. – Das ist Betrug! Das ist Verfassungsbruch! Das ist Hochverrat! Der Präsident der französischen Republik ist kein päpstlicher Kondottiere! Herr Bonaparte stehe außerhalb des Gesetzes! Herr Bonaparte sei in den Anklagezustand versetzt! Herr Bonaparte in die Festung von Vincennes! – Louis zeigt die kalte Schulter, keiner wagt, sie zu berühren. Die paar Barrikaden im östlichen Stadtviertel, die paar Hochs auf die römische Republik zertritt der große Changarnier mit zwei Regimentern, damals noch Höchstkommandierender und froh über ein bißchen Feldherrlichkeit, ein kurzer Ausnahmezustand, Verhaftung von radikalen Führern und Zeitungsverbote zeigen wirksam die andere Seite der präsidentiellen Ordnungsliebe. Herr Louis Blanc in London erhält Zuzug und glaubt nicht einmal mehr an das gute Herz. Die Dinge in Rom gehen ihren zwangvollen Weg. Rom ist ein französischer Sieg. Rom ist Gloire. Meine Herren Abgeordneten, wer von euch klagt die Gloire an? –

Louis und Morny gingen langsam durch den Park. Louis' kleiner, schwarzer, seidiger Hund lief voraus und stand vor einer kleinen Mauerpforte, schweifwedelnd. Die Mauer war alt, das Türchen neu. – Die römische Affäre ist tollkühn, dachte Morny, er zeigt also manchmal noch mehr Mut als Klugheit. Warum wagt er dann nicht das Letzte? – Er sah den Bruder vorsichtig an, ja, vorsichtig; denn dieser merkwürdig empfindliche Mann zog sich manchmal schon vor einem Blick in seine Nebel zurück, in sein sumpfiges Schweigen, in dem alle Worte der Freunde, die aufmunternden und antreibenden, spurlos versanken. Dieser niemals debattierende Mensch forderte die Lust heraus, ihn zu lenken oder gar zu stoßen, und sein knochenloses Zurückweichen verlockte immer wieder zum Zupacken – und dann kamen ganz plötzlich und recht unheimlich die blanken Wellen der Klugheit und der Tatkraft aus dem Sumpf und schlugen über den überraschten Ratgebern zusammen. – Ich glaube, dachte Morny, ich kenne ihn ganz und gar nicht und unterliege immer wieder der Versuchung, mich überlegen zu fühlen, weil ich rücksichtsloser denke; ich glaube, ich behandele ihn ganz falsch, weil ich viel zu viel an unsere Verwandtschaft denke, die ihm offenbar ganz gleichgültig und keines Wortes wert ist, gleich als wüßte er sie nicht. –

Die Dämmerung, die an den alten Bäumen herunterkletterte und im Schatten der mächtigen Mauer sich schon mit der Nacht vermischte – so als ob das Dunkel aus dem Boden kroch –, zeichnete Louis' Gesicht so ungewiß, wie er es liebte und wie es Morny aus dem Grunde seiner Seele billigte. In der Dämmerung waren sich die Brüder am ähnlichsten. – Aber man muß doch sprechen, dachte Morny, man muß doch weiter kommen, man besteht doch nicht aus Ueberraschungen! – Er war einmal ein gewagter Kolonialoffizier gewesen, dann ein gewagter Weltmann und Spieler, dann ein gewagter Börsenspekulant und Zuckerindustrieller, als ihm das Geld als Wagnis immer mehr Freude machte – jetzt wagte er es mit dem Kaiserreich, aus Lust an der Spekulation, aus Machtbedürfnis, aus dem plötzlichen Zwang seiner Herkunft und auch aus Neigung für den seltsamen Bruder Cäsar. – Er ist der erste Mensch, der mich im Innern angeht, dachte er, vielleicht liebe ich ihn gar und bin deshalb so bis ins Blut ungeduldig … – Louis glaubte an den Stern, August Morny an das Wagnis: das war ihr Unterschied. – Es ist kein großer Unterschied, sagten sich beide, wenn sie darüber nachdachten.

»Man zerbricht sich den Kopf,« sprach Morny, »ich auch.«

Louis blieb sofort stehen, als dürfe das Gespräch nicht an die Mauerpforte herangetragen werden. Das seidige Hündchen kam zurück, lief wieder zur Tür, an der es seine Freude zu haben schien, und das schwarze Fähnchen seines Schweifes wedelte, kaum noch zu sehen, in geduldiger Mahnung.

»Ich komme zu keinem anderen Resultat wie die anderen,« sprach Morny. »Sie beabsichtigen mit Ihrer Sonderaktion dreierlei: Sie wollen die Armee noch mehr an sich fesseln, Sie wollen die Unterlegenheit der Legislative gegenüber der Exekutive dartun, indem Sie die Parlamentsbeschlüsse sabotieren, und schließlich wollen Sie den Klerus gewinnen.«

»Ungefähr,« meinte Louis träge, »nebenbei auch das.«

Nichts ärgerte den Bruder mehr als solche verwaschene Antwort; und da es Louis' Art war, so zu antworten, wurde Morny immer wieder verleitet, das Falsche zu tun: nämlich seinem Aerger und seiner Ungeduld die Zügel schießen zu lassen und in den Nebel zu galoppieren. »Mit Verlaub, lieber Prinz, ich begreife weder das Ungefähr noch das Nebenbei. Dieser Kraftaufwand fügt sich in keinen Nebensatz. Die Trinität der Nation, Volk, Heer und Geistlichkeit, die Sie haben wollen und vielleicht schon haben, sprengt jede Parenthese. Wenn Ihre beinahe grobianische Aktion sinnvoll und planvoll sein soll, müssen Sie konsequent bleiben.«

Das Hündchen verstärkte seine Mahnung durch ein eifriges Hin und Her zwischen der Mauerpforte und den unfolgsamen Sprechern. Louis folgte ihm mit den Augen. »Ich glaube, ich bin konsequent,« sagte er weich.

»Das genügt nicht mehr,« rief Morny heftig, »der Glaube hinkt ja schon den Ereignissen nach! Sie müssen die Konsequenz ziehen – sie ist überreif!«

»Welche Konsequenz?« fragte Louis mißmutig.

»Die letzte Konsequenz!«

Immer der Staatsstreich! Alle Wege und Umwege münden in den Staatsstreich! Louis haßte das Wort, der Bruder fühlte es, und deshalb umschrieb er es. – Ich verzichte auf die Umschreibung, dachte Louis gereizt, das ist eine sehr dünnhäutige Höflichkeit, die den Prügel nicht weicher macht. Der Prophet sollte ihm endlich begreiflich machen, daß ich kein Prügelknabe bin oder daß geprügelte Esel nur immer bockiger werden … Er lächelte dünn. »Lieber Morny, das zu Rom ist ja letzte Konsequenz.«

»Wieso?« fragte Morny.

»Es ist einzusehen nicht schwer,« meinte Louis, »Pio Nono mußte sich in einem Gepäckwagen verstecken, um aus dem roten Rom herauszukommen. Dieser wunderbare Mann, heilige Mann, Heilige Vater, muß sein Leben wie ein Stückgut aufgeben, um es zu retten. Anno Einunddreißig rettete er mir das Leben, sprach ein wenig von Dankbarkeit und ließ mich in einer Staatskutsche durch die österreichische Linie fahren. Das vergißt man nicht; aber der unwürdige Unterschied der Rettungswagen war nicht zu ahnen und nicht zu verhindern. So will ich ihm wenigstens eine Staatskutsche für die Rückkehr ins entfärbte Rom zur Verfügung stellen.«

Morny war betroffen. – Er ist zu weich, viel zu weich im Kern, dachte er, mit solchem Herzen wird er ewig um den heißen Brei des Staatsstreiches herumlaufen; aber er ist der allgemeinen Liebe seltsam wert … – Das seidige Hündchen stand an der Mauerpforte und winselte: seine Mahnmittel waren erschöpft. Louis ging gehorsam weiter.

»Um Gotteswillen,« sagte Morny, dicht hinter ihm, »die letzte Konsequenz darf nicht Dankbarkeit sein! Sie gehört nicht in die Politik!«

»Aber warum nicht, mein Lieber?« fragte Louis und zog den Schlüsselbund aus der Tasche, »warum nicht, wenn sie sich so trefflich in meine Politik einfügt wie meine römische Dankbarkeit? Glauben Sie denn, ich könnte sie mir im anderen Falle leisten?«

War er ehrlich oder wollte er das gute Herz nur rasch wieder vernebeln? Er schloß die Pforte auf. Das Hündchen bellte freudig.

»Dann wird Sie auch keine Undankbarkeit enttäuschen,« sagte Morny hastig.

»O doch!« versicherte Louis. »Enttäuschte Dankbarkeit ist wie enttäuschte Liebe. Aber jetzt wollen wir es genug sein lassen, bitte.«

Morny wußte, daß hinter der Pforte die Politik aufhörte. Die neue Pforte führte in den Garten des Hauses Rue du Cirque 14. Dort wohnte die Venus.

 

Die Montagabende im Elysée waren bemerkenswert, weil sie nicht nur von den Freunden, sondern auch von den Feinden des Präsidenten besucht wurden und weil sie den Anschein erweckten, als gäbe es nicht den schicksalhaften Gegensatz zwischen Louis und den Gesetzgebern. (Nur einer, ein Freund doch: Le Bas kam niemals, und Louis rief ihn niemals, so oft er auch an ihn dachte.) Hier war die neutrale Zone des Dauerkriegs, und der Präsident, ein liebenswürdiger, wenn auch schweigsamer Hausherr, ein angenehmer und niemals widersprechender Zuhörer der Politiker und ein großer Freund der vielen schönen Frauen, nützte sie auf verwirrende Weise aus. Er tat nichts, versprach nichts, zog nichts von seinen befehdeten amtlichen Eigenmächtigkeiten zurück und erreichte doch immer wieder so etwas wie den persönlichen Ausgleich des politischen Streites. Er war sehr freundlich zu den Feinden, ob es der große Dichter war, der es ihm mit einem gewissen Edelmut vergalt, oder der Kammerpräsident oder ein Parteiführer, der noch vor vier Stunden das Geschütz seiner Rede vom Palais Bourbon gegen das Elysée abgeschossen hatte, oder der herkulische Generalissimus Changarnier, der sich seit seinem Sieg über die roten Pariser Römlinge als pater patriae auftat, in zehn Schritten Entfernung bärenstimmig die bekannte Geschichte vom melancholischen Papagei und dem Käfig zum Besten gab und an sein schnelles Ende füglich nicht glaubte, oder einer der drei ausgebooteten und gemach auf das Oppositionsschiff übergestiegenen Mentoren: der große kleine Thiers, von dessen neuer Verbindung mit dem alten Louis Philipp die prinzliche Adjutantur, gleichzeitig auch politische Polizei, sehr gut unterrichtet war, der rhetorische Berryer, der seine uralte Hoffnung auf einen fünften König Heinrich wenigstens nicht leugnete, und der noble Molé, der noch nicht recht wußte, an was sich halten. Louis war selbst zu seinem unleidlichen Vetter Plonplon freundlich, einem überaus eifrigen und eifersüchtigen Republikaner, den er in Gedanken immer noch den Bengel nannte, nicht ohne Grund, und den er nicht aus Rücksicht auf die Cousine Mathilde, honneurmachende Frau des Hauses, hätte zu schonen brauchen; denn die Geschwister standen sich sehr schlecht, eben wegen der infamen Politik des Bengels, der doch auch Napoleon hieß. – Warum war Louis immer noch freundlich zu den Feinden, mitten im Krieg? »Können Sie es sich denken?« fragte wieder einmal Morny den Propheten. – »Ja und nein,« antwortete Persigny, faßte ihn vertraulich unter den Arm und zog ihn aus dem Gewimmel des säulengeschmückten Speisesaals, »ja und nein, nein und ja, das ist die Hausdevise. Außerdem warte ich schon seit zwanzig Minuten, daß Sie sich von der süßen Lady Douglas trennen.« Sie gingen in das Adjutantenzimmer, zwei gute Freunde, zwei wichtige Männer.

»Er hofft immer noch auf den Frieden,« sagte Morny, »er vertrödelt dadurch den Sieg.«

»Er hofft immer noch auf den Sieg mit legalen Mitteln,« entgegnete Persigny, »das heißt auf die freiwillige oder durch den Druck des Volkes erfolgende Verfassungsänderung. Vielleicht gelingt es ihm; denn ihm gelingt vieles, wenn auch nicht alles. Seine römische Volte zum Beispiel ist ihm nur zur Hälfte geglückt. Hier sind die letzten Depeschen – und was für welche. …«

Morny las sie und pfiff verächtlich. »Ich habe es mir gedacht, ich habe es ihm gesagt, ich habe ihn gewarnt – weiß er es schon?«

»Natürlich weiß er es schon, und würden Sie, liebster Graf, ihn so gut kennen wie ich, dann sähen Sie hinter seinem Lächeln die schwitzende Seele.«

»Ich kenne ihn nicht so gut,« gab Morny zu und blickte dem Propheten in das vielsagende Gesicht.

»Ich weiß vielleicht nicht viel,« meinte Persigny und lächelte etwas schief, »aber ich weiß, wie man ihn behandeln muß, ich weiß durch die Erfahrung langer Jahre, daß man alles um ihn herum treiben und stoßen darf, aber nicht ihn, und daß man sich so gräßlich irrt wie Herr Thiers, wenn man glaubt, man sei sein Führer und halte ihn am Zügel – man hält nur einen Nebelfetzen, aber nicht ihn, und hat ihn dann schon verloren – ja, und daß Sie, liebster Graf, viel vorsichtiger und leiser sein müßten, wenn Sie wirksam sein oder ihm nahe kommen wollen, und daß Sie ihn vor allem mit der furchtbaren Last, die er mit sich herum schleppt, ganz allein lassen müssen. Wissen Sie, liebster Morny, welche Last ich meine?«

»Den Eid,« antwortete Morny leise.

»Ja, den Eid,« bestätigte der Prophet, sehr ernst jetzt, »das ist kein Schauer auf seinem Rücken, wie die Verleumder schreien, das drückt ihn schwer, und die Last wird mit jedem Kriegsmonat schwerer, manchmal fürchte ich, sie wird ihn erdrücken, manchmal glaube ich, daß ihn nur die Niederlage retten kann und daß er sie sich herbeiwünscht – wer kennt sich ganz in ihm aus? Wir dürfen ihm dabei nicht helfen, Graf Morny, er nimmt es uns übel und kapituliert vielleicht vor sich selbst, aus Uebelkeit vor uns. Wir können ihm dabei auch nicht helfen. Den Eid kann ihm nur Gott abnehmen – und so wartet er auf Gottes Stimme, die bekanntlich auch des Volkes ist.«

Morny sah ihn lange an und sprach nichts. »Wollen Sie noch etwas wissen?« fragte ihn der Prophet.

»Ja,« sagte Morny leise.

»Ich hätte mich nicht unterstanden, Sie zu belehren, liebster Graf, ich habe es auf Befehl getan. Es scheint dem Präsidenten daran zu liegen, mit Ihnen zusammen zu bleiben.«

»Danke,« sagte Morny. Als sie das Zimmer verlassen wollten, kam Louis. Er sah rasch von einem zum andern und sagte zu Morny: »Ich suche Sie.« Persigny ging hinaus. Louis steckte eine neue Zigarette an der noch brennenden an. Er war Kettenraucher geworden. »Mein Pio Nono,« meinte er ruhig, »hat drei wütende Kardinäle nach Rom vorausgeschickt, und seine Heilige Inquisition verbrennt mit der Dankbarkeit auch die Staatsreform, deren Garant ich bin.«

»Ich weiß,« sagte Morny.

»Und der ganze französische Klerus betet jetzt für mich und die Verfassungsrevision. Es lebe die Undankbarkeit!« Louis zerbrach die neue Zigarette und ging im Zimmer auf und ab, den Kopf etwas schräg. Morny dachte an das Wort von der enttäuschten Liebe und daß sie ihn hart machen könnte, kein geringer Vorteil; aber er sagte nichts, er war sehr vorsichtig geworden.

General Vaudrey kam herein, federnd, knackend, die reichen Haare schlohweiß und über den Ohren zu kühner Locke aufgebürstet, den Gardebart in frischem Schwarz, die Brust wattiert, in wiedererstandener Glorie, Chefadjutant und Monument des Empire. »Hoheit verzeihen,« sagte er und seine Sporen schlugen silbern zusammen, »nur noch zwei Kleinigkeiten: das Audienzgesuch des Grafen Leon.«

»Abweisen,« sagte Louis.

»Zweitens,« sagte General Vaudrey, »das Audienzgesuch der Dame Eleonore Gordon.« Seine dienstliche Stimme wurde nicht lauter, nicht leiser, nicht interessierter: dreizehn Jahre sind eine lange Zeit, eine überwundene Zeit.

»Abweisen,« sagte Louis im hin und her Gehen. Die Sporen klingelten, Vaudrey ging. – Es lebe die Undankbarkeit, dachte Morny.

Louis blieb stehen und sagte: »Er hat Augen wie Franziskus.«

»Wer?« fragte Morny.

»Pius. Und er begann seine Regierung mit der großen Güte seines Wesens. Vielleicht reizt ihn nicht allein die Politik, vielleicht reizt ihn meine fragwürdige Person zur Undankbarkeit. Vielleicht weiß er, daß meine Dankbarkeit nichts wert ist – ein Wechsel auf die Innenpolitik, im Voraus diskontiert.«

– Wie es ihn angreift! staunte Morny und er wußte nicht, ob er ihm helfen durfte. »Sie gehen wohl zu weit, Hoheit,« sprach er behutsam; »denn schließlich: persönliche Güte und staatsmännische Härte fügen sich sehr wohl zusammen – Sie selber beweisen es ja jeden Tag …«

»Seit wann gehören Sie zu den Schmeichlern?« fuhr Louis ihn an. Morny hob die Schultern. Louis drehte eine frische Zigarette zwischen den Fingern, Morny reichte ihm Feuer. Louis sah ihm in die Augen. »Uebrigens,« sagte er, »Hortense besaß zugleich Güte und Härte.«

Er sagte nicht: meine Mutter. Morny war sehr verwirrt und senkte schweigend den Kopf; aber er fühlte eine große Liebe für den Bruder.

»Hortense,« sagte Louis, »war zugleich dankbar und undankbar.«

»Ich habe die Königin nicht gekannt,« sagte Morny leise.

Louis rauchte zwei hastige und tiefe Züge und warf die Zigarette in den Kamin. »Ich mache Sie ja mit ihr bekannt,« sprach er und versuchte zu lächeln. »Wenn ich halbwegs verzweifelt bin, frage ich sie immer, ob es weitergehen wird. Sie sagt immer ja. Sie glaubt an mich.«

»Ich auch,« sagte der Bruder und schluckte. Plötzlich umarmten sie sich.

 

Woge, Riff und Silbersonne

Die Cousine Mathilde neigte etwas zur Fülle; aber sie war noch recht hübsch, sie stand nach dem überwundenen Martyrium ihrer Ehe sehr sicher auf den eigenen Beinen und verband klug und heiter den eigenwilligen Anspruch auf Lebensfreude mit den großen gesellschaftlichen Pflichten, die ihr die merkwürdige Entwicklung der einst gehaßten Republik zugewiesen hatte. Der Magier hieß Louis, und es war sein persönlicher und politischer Zauber und die märchenhafte Wiederlegung seiner oft törichten und zuweilen erbarmungswürdigen Existenz, die die flüchtige Arenenberger Braut zur guten Kameradin gemacht hatte. Es war nicht die Aussicht, im Elysée als erste Dame des neuen Frankreichs die Frau des Hauses darzustellen oder den wichtigsten Salon von Paris aufzutun; denn Mathilde besäße den Charakter und die Mittel zur Opposition, behagte ihr nicht der Präsident der Republik. Aber der Vetter Louis gefiel ihr von dem Augenblick an, wo er, aus London kommend, die Monarchisten ihres Kreises von seinem schlichten Herzen überzeugte. Er gefiel ihr wieder; denn sie hatte ihn ja einmal als kleines Mädchen geliebt; aber sie ließ niemals merken, ob von dieser heißen Neigung noch etwas übrig geblieben war, und er drang niemals in sie, sich daran zu erinnern. Dieses Uneindringliche seiner Art gehörte zu seinem sanften und reizvollen Rätsel – und dazu kam, immer spannender im Laufe seiner Präsidentenjahre, das Rätsel seines sanften Cäsarentums, das zur Lösung trieb. Mathilde war ein ganzer Mensch, sie sagte entweder ja oder nein, sie hatte ja gesagt, und so nahm sie an seinem besonderen Schicksal teil. Sie besaß einen klaren Kopf und erkannte die Lage, sie erkannte die kaum glaubhafte, immer weniger erträgliche, immer gefährlichere Schiefheit und Falschheit der Lage: die Nation, die schon mit der Wahl des Kaisernamens die Republik verworfen hatte, will den Mann behalten und zum Kaiserreich kommen, sie will es mit jedem Jahr dringlicher, der Verfassungskrieg wird mit jedem Jahr sinnloser und die allgemeine Frage mit jedem Monat lauter: warum geschieht es noch nicht? Es genügte nicht mehr, daß die Männer der Kamarilla der Cousine Mathilde und jedem, der es hören wollte, versicherten: der Prinz bleibt, ob legal oder illegal. Das wußte die Kameradin; aber sie spürte den furchtbaren Druck der Nation, die nicht den Prinzen, sondern den Kaiser wollte, ob legal oder illegal. Sie hörte die tausend Theorien und Apologien der Freunde, die die Suprematie des Volkswillens und die Gehorsamspflicht des Volksgewählten feststellten. Nur Louis schwieg und handelte doch danach, Mathilde sah die unerbittliche und riesig wachsende Volkswelle der Illegitimität und das kleine, scharfe, kaum noch sichtbare, aber immer noch mörderische Riff des Staatsgrundgesetzes. Wo war Louis? Er wurde cäsarisch von der Welle getragen – aber der Präsident stak vor dem Riff, schrecklich eingeklemmt. Mathilde hatte gute Augen: sie sah durch sein Gewölk hindurch die große Not der Seele.

Sie war klug und heiter, sie war so klug, daß sie für ihn stets die Heiterkeit hißte und die ernste Erkenntnis versteckte. Louis sah sie gerne bei sich an seinen Montagen und noch lieber kam er zu ihren Dienstagabenden in das schöne Haus der Rue de Courcelles; denn dort war ihre Heiterkeit freier und größer als im Elysée, das mit der fortschreitenden und gefährlicher werdenden Zeit selbst sein Berufslächeln ausgelöscht hatte. Louis war allmählich ein finsterer Präsident geworden und lächelte nur noch bei der Cousine. Sie war so klug, daß sie sehr gut bemerkte, wie viel von seinem Lächeln und seiner befreiten Stimmung ihr galt und wieviel einem anderen Ziel seiner Augen und wohl auch seiner Sinne. Sie wußte, daß er sie nicht begehrte, – nun gut, es schien ihr nichts auszumachen; denn sie hatte das böse Leben mit ihren kleinen festen Händen schon zum guten und gewährenden umgekrempelt, noch ehe er auf der Bühne ihrer großen Welt aufgetreten war. Sie hatte als Freund des Herzens einen anerkannt schönen Mann, einen Antinous mit Bart und breiter Brust, einen echten Grafen und unechten Bildhauer, und sie hatte als Freund der Seele einen berühmten Maler. Sie war also ausgefüllt und konnte mit vertraulicher Nachsicht dafür sorgen, daß der Vetter Louis nicht allein um ihretwillen komme. Bleibt zwischen Herz und Seele eine kleine Lücke: gut, so gehöre sie ihm und so lasse man es geschehen, wenn er manchmal ein wenig ans Herz und manchmal ein wenig an die Seele rühre. Sie sorgte sich für ihn, weil sie wußte, daß er es schwer hatte und in großer Bedrängnis war, in der Bedrängnis des Schwurs und vielleicht auch noch in der Bedrängnis seines übermenschlichen Namens. (Denn war dieser neue Cäsar der geforderte Uebermensch und quälte ihn selber nicht auch diese Frage?) Sie gönnte ihm seine Blicke für schöne Frauen und für die schönste aller Frauen, die er bei ihr gefunden hatte und immer zu finden hoffte, wenn er zu ihr kam. Sie gönnte sie ihm mit einer ganz kleinen Tücke, die vielleicht ebenfalls zwischen Herz und Seele verborgen lag und sich gegen seine offizielle englische Maitresse richtete. Oder es war keine Tücke, sondern die beinahe mütterliche Regung, ihn vor Schaden zu bewahren. Sie konnte es sich gestatten, über diese Dinge mit ihm zu sprechen – es sprach sich viel leichter mit ihm über diese Dinge als über die ewige Wetterwolke des Staatsstreiches – und sie zeigte sich wohl unterrichtet; denn der Vicomte de Persigny war ein vertrauensseliger Vertrauter (und im übrigen für sie ein Barbar).

»Hören Sie, Louis, Sie lassen doch vor lauter Gutmütigkeit nicht zu, daß aus Ihrer englischen Puppe eine neue Josefine schlüpft?«

»Ich bin garnicht gutmütig,« versicherte Louis lächelnd, »meine Puppe darf ja nicht einmal ins Elysée.«

»Aber sie soll ihre Ambitionen haben.«

»Sie hat ihre Schmetterlings-Träume.«

»Sie soll auch eifersüchtig sein.«

»Sie ist manchmal belustigend und manchmal ärgerlich eifersüchtig.«

»Auch auf mich?« fragte Mathilde.

»Natürlich. Vor allem auf Sie.«

Mathilde lachte; sie schien sich zu freuen. Dann fragte sie: »Auch auf Eugenie?«

»Sie weiß noch nichts von Eugenie,« antwortete Louis und sah über ihre Schulter.

Mathilde wußte, wohin er sah. Sie sagte plötzlich: »Sie bekommen sie nicht, Louis, sie ist zu fromm, zu kalt und zu geizig mit sich.«

»Ich will sie ja nur ansehen,« sprach Louis.

 

Doktor Conneau fing an, dem Präsidenten der Republik ähnlich zu werden, wie übrigens auch Thelin, trotzdem der Arzt immer noch seinen Quäkerbart trug und der Diener bartlos war. Aber ihre Stirnen schienen nach dem Vorbild des Herrn kahl und hoch zu werden, ihre starken Nasen ähnelten der seinen von je, ihre Augen hatten von dem ewigen Nebel seiner Augen ihren Teil abbekommen, sie gingen und hielten sich wie er und ihre sanften Stimmen glichen der seinen vollkommen. Sie waren immer um ihn, sie lebten ihren stillen und treuen Teil an seinem Leben mit, Conneau war nicht nur Leibarzt, sondern auch so etwas wie Privatsekretär, Thelin war nicht nur Leibdiener, sondern auch kommandierender Hausmeister, beide gehörten ohne Aufhebens zur Präsidentschaft, beide lebten für ihn über ihre Pflicht hinaus, beide korrigierten ihn gelegentlich, jeder auf seine Art, Conneau das Innere, Thelin das Aeußere.

»Warum, Hoheit,« fragte der Doktor, »weigern Sie sich so beharrlich, die arme Frau Gordon zu sehen – allein aus Rücksicht auf Miss Howard?«

»Zu einem Teil,« antwortete Louis geduldig; denn er wußte, daß dieses Thema schon lange fällig war und daß Freund Conneau ihm alle Flecken von der Seele zu scheuern versuchte; »zum Teil um des lieben Friedens willen, zum anderen Teil aus Angst. Ich habe vor der Riesendame schon immer Angst gehabt. Es gibt eine Anhänglichkeit, die den besten Schwimmer in die Tiefe zieht, weil sie zu schwer ist. Und jetzt, Doktor, muß ich auf meine Schwimmkräfte äußerst bedacht sein.«

Conneau wußte, was er meinte. Die große Revisionswoge lief durch das Land. Wenn sie das Verfassungsriff zerbrach oder auch nur versenkte, war der Schwimmer gerettet. Der Arzt meinte: »Aber Sie können ja nicht wissen, Louis, warum die Gordon Sie so beharrlich zu sprechen wünscht.«

»Mein Gott, ich kann es mir denken. Sie wird als kompakte Volksstimme auftreten und mir die Kaiserkrone antragen. Kurz: ich habe vor ihrer zyklopischen Huldigung Angst, und da ich sie vermeiden kann, tue ich es und lasse mich sogar von Ihnen für einen Undankbaren halten, Conneau. Der Tadel, Lieber, wiegt in dieser verrückten Lage meines Lebens nun einmal leichter als das furchtbar schwere Lob.«

»Ich tadle Sie trotzdem nicht, Louis,« sagte Conneau weich.

»Außerdem ist ihre Zeit vorbei, ich meine nicht ihre Zeit als Frau – denn daran denke ich von je nur mit Schaudern –, sondern ihre Dienstzeit, grob gesagt. Die Zeit der Verschwörungen ist vorbei, sie hat nichts mehr zu tun und bekommt ihre Pension.«

»Mit der Pension sollte man treue Menschen nicht aus der Erinnerung kaufen,« bemerkte der Arzt.

»Sie denken jetzt an die andere leidvolle Dame,« lächelte Louis; »nun, für Fräulein Vergeot habe ich schon einen guten Mann, er sträubt sich nur noch ein bißchen gegen die beiden Jungen, die er mitübernehmen muß. – Und wäre Miss Gordon jünger und weniger einseitig und der gemeinsame Prophet nicht ein gar so großer und wichtiger Mann und über kurz oder lang Herzog …«

»Frau Gordon war bei mir,« unterbrach Conneau.

»Und?« fragte Louis.

»Sie fühlt die Verpflichtung, Sie Folgendes wissen zu lassen: Herr Young-Fitz-Roy ist seit Frühling 49 in Paris – hier ist seine augenblickliche Adresse – und steht nicht nur mit der Howard in Verbindung, von der er jedenfalls Geld erpreßt, sondern auch mit unserem üblen Comte Leon. – Ich halte diesen Dreibund für denkbar fatal, Hoheit, zumal in der explosiblen Revisionsspannung und der Haßorgie der Parlamentspresse, und ich schätze nach alledem Frau Gordon für noch dienstfähig.«

Louis war aufgestanden und ging im Zimmer auf und ab, den Kopf etwas schief. Der schöne Raum war auch das Arbeitszimmer des großen N gewesen, als er noch Erster Konsul der Republik war, mit den gleichen edlen Möbeln, in der gleichen Anordnung. Louis sagte: »Ich schätze nicht einmal Kriminalbeamte, ich sehe nur ihre Notwendigkeit ein. Aber Frauen als Detektive sind mir grauenhaft.«

Conneau hob die Schultern und legte den Zettel mit der Adresse auf den napoleonischen Schreibtisch.


An der neuen Mauerpforte, die vom Elysée in den Venusgarten führte, hörte die Politik auf; das wußten die Freunde des großen und des kleinen Hauses und auch die Göttin selber. Es war beinahe ein symbolisches Pförtchen, es schloß nicht nur die Politik ab, sondern auch den Staat, die Repräsentanz, den ganzen fragwürdigen und umstrittenen Würdenschatz – und nur der Herr des Elysée hatte den Schlüssel, nicht aber die Herrin der rue du Cirque. Das Symbol war für eine Göttin etwas kränkend, zumal für eine ehrgeizige, eifersüchtige und verdienstvolle Göttin. Lizzy Howard durfte von ihrer Equipage aus den Präsidenten der Republik in problematischer Generalsuniform Paraden abnehmen und nicht verfassungsmäßige Hochrufe in Empfang nehmen sehen; sie durfte im Opernhaus, diamantenübersät, von ihrer Loge aus in die Staatsloge hinübersehen, wenn der Präsident in Frack und Ordensband sich ein wenig vor dem feierlichen Parkett verneigte, das sich ihm zu Ehren von den Plätzen erhoben hatte; sie durfte den Präsidenten sogar hin und wieder auf einer seiner Propagandareisen begleiten – nein, nicht begleiten: sie durfte ihm folgen, in Deckung durch den Kavalier de Persigny, und wurde, wenn es einigermaßen ging, ins präsidentielle Nachtquartier eingeschmuggelt. Dies alles genügte ihr nicht, es genügte ihr auch nicht, daß jedermann von ihrem Favoritentum wußte. Sie durfte nicht ins Elysée, weder durch die kleine Tür noch durch das große Tor. Der müde und verfinsterte Mensch Louis kam zu ihr privat und wollte bei ihr seine Ruhe haben. Sie aber wollte diese Ruhe nicht, sie wollte nicht einmal mehr den Menschen Louis: sie wollte den Staatschef. Oh, sie wußte Bescheid, sie kannte die Richtung der großen Nationalwoge, sie war informiert und politisiert wie noch nie, sie war für die nahe Entscheidung auf ihre Art gerüstet. Es ist hart für eine Göttin, im olympischen Hinterhaus gehalten zu werden und ihren Zeus immer nur als Wolke oder als Schlafmütze zu sehen. Es ist hart für sie, gerüstet zu sein und keine Gelegenheit für den Kampf zu bekommen. Manchmal haßte sie den ruhesüchtigen Privatmann Louis, der seine cäsarischen Energien, Geheimnisse und Uniformen hartnäckig und hinterhältig hinter der elysäischen Falltür zurückließ. Sie hatte einen kühlen Körper, eine kühle Liebe und also auch einen kühlen Haß.

Louis saß in dem Sessel, in dem er immer saß, hielt sein Hündchen auf dem Schoß und rauchte eine Zigarette nach der anderen, gleich als ob ihm die Wolken der Augen nicht mehr genügten. Wenn er sprach, selten und müde, krochen die Rauchwölkchen um jedes seiner Worte. Was sagte er heute wie stets? – »Sei so gut, liebe Lizzy, singe ein bißchen.« Die Göttin setzte sich ans Klavier, immer noch mit dem süßen Lächeln; denn nur die Gedanken waren rebellisch. Sie klimperte mit den schönen unbegabten Fingern eine kindliche Begleitung – die langen, spitzen Fingernägel durften dabei nicht abbrechen, und man hörte doch ihren kleinen Zusammenprall mit dem Elfenbein der Tasten vor jedem Ton – und sie sang mit dünnem reinem Kinderstimmchen englische Kinderliedchen, immer die gleichen. Louis bettete den Kopf in den weichen Winkel zwischen Rückenlehne und Ohrenbacken des Sessels, schloß die Augen, fühlte die kleine Wärme des Hundekörperchens auf dem Schoß, spielte mit dem seidigen Gehänge der Hundeohren, öffnete ein wenig die Augen, um dem Rauch nachzublicken – der Rauch kreiste um ihn wie der einfältige Singsang der Göttin. Das Hündchen atmete wohlig und manchmal schnarchte es leise vor Glück. Neben dem Sessel, in handlicher Nähe, stand ein Tischchen mit einer großen Aschenschale und einer großen Silberschale voll Zigaretten. Er konnte, ohne das Hündchen zu stören oder ihm die streichelnde Linke zu entziehen, mit der Rechten den Rest der Zigarette wegwerfen und eine neue nehmen – ohne hinzusehen. Die Freunde hatten nichts weiter zu tun als auf diesen Augenblick zu warten: irgend eine Freundeshand reichte ihm Feuer. Er dankte mit einem Liderschlag. Das Leben war von vollkommener Trägheit. Er hörte nicht einmal dem Singsang zu, die Tönchen kamen zu ihm, unmerklich und ohne Anspruch. Ein einfältiger und glückseliger Friede umkreiste ihn. Es war wie die schwebende, wunderbar haltlose Minute vor dem Einschlafen. Es war der Ersatz dafür; denn Louis schlief sehr schlecht in dieser Zeit, zumeist durch die freudlose Gewalt von Drogen. Es war der Ersatz für den Frieden. Louis war ohne Frieden.

Die Göttin klappte das Instrument zu und sah sich rasch um. – Jetzt schläft er wirklich, dachte sie gehässig, er raucht im Schlafen. – Schade, dachte Louis, jetzt ist es wieder zu Ende, möglicherweise für immer – und dramatische Berufssängerinnen sind mir zuwider … Er dachte an Miss Gordon. »Reizend, liebe Lizzy, vielen Dank.« –

Die Freunde verabschiedeten sich um elf Uhr, zu der gebotenen Stunde. Meistens ging Louis mit ihnen, heute blieb er, wie angenagelt an seinem Großvaterstuhl.

»Du siehst müde aus,« sagte Miss Howard; denn sie hatte für heute genug von ihm.

»Ich bin nicht müde,« meinte er freundlich und unbeweglich.

Sie beschloß, ihn zu vertreiben; sie hatte ihre bewährten Methoden.

»Gar zärtliche Gedanken?« fragte sie mit hohem Stimmchen. Sie wußte, daß er solche Fragen nicht vertrug.

»Nein, liebe Lizzy,« antwortete er ruhig und träge.

»Begreiflich,« sagte sie spitz, und er mußte doch wissen, was jetzt kam; aber er saß friedlich, geduldig und wie taub hinter seiner Rauchwolke. »Begreiflich, wenn der Präsident, um sich von den Regierungsgeschäften zu erholen, nach Saint Cloud auf die Jagd geht.«

»Um mich zu erholen,« sagte Louis sanft, »komme ich zu dir, liebe Lizzy.«

»Um dich von der Kuhjagd zu erholen,« warf die Göttin ein, schon recht im Zorn.

»Warum Kuhjagd?« erkundigte sich Louis mit freundlicher Stimme.

Es gab nichts, was sie mehr reizte, als diese angenehme und unerschütterlich liebenswürdige Stimme. Warum stand er nicht endlich auf, sagte sein sanftes Gutenacht und irgend einen seiner spöttischen Zusätze und ging? Warum beschwor er mit seiner unausstehlichen Geduld ein unerfreuliches und außerdem gänzlich unnützes Gespräch?

»Warum?« bohrte sich Lizzy vorwärts, »weil die betreffende Dame sogar Bellevache heißt.«

»Ach, du meinst die kleine Marquise Belboeuf,« verbesserte Louis und lachte vergnügt.

»Aber sie ist eine belle vache!« rief sie und ihr glattes Gesicht glühte vor Empörung, »alles sind Kühe, diese Lady Douglas und deine Alice Ozy von der Oper und die Brohan und die Théric von der Comédie-Française und die von den Variétés, die es nicht unter zehntausend Francs machen soll, und auch deine berühmte Rachel, die noch dazu eine häßliche Kuh ist!«

»Wie ungerecht und falsch, liebe Lizzy,« bemerkte Louis und lächelte hinter dem Rauch, »Mademoiselle Rachel zum Beispiel studiert mit mir bekanntlich die Rolle des Cäsar. Das hättest du einmal sogar im ›Journal pour rire‹ als vorzügliche Karikatur sehen können.«

Die Göttin wurde kühn, er war heute von einem sträflichen Gleichmut, von einer kränkenden Unverfrorenheit, er ging nicht, er schien Gefallen an der bösen Unterhaltung zu finden. Gut, sie wagte sich sehr weit vor, sie blickte unschuldig und fragte: »Und wann sitzt endlich die Rolle, Loulou, wann kommt endlich der Staats...«

Sie vollendete nicht das gefährliche Wort. Louis hatte den Rauch fortgeblasen, sein Gesicht war frei, sein Blick war sonderbar aufmerksam, nicht so sehr drohend wie lauernd. Er schwieg. Sie lächelte verlegen und spürte ein wenig Angst. Sie sah, daß er nicht mehr rauchte, ging zum Tischchen, steckte ihm eine Zigarette in den Mund und gab ihm sogar Feuer. Oh, es bedeutete nicht, daß er wieder gut sein möge, es war nur Taktik. Sie suchte nach einem Rückzug, der ihm weh tat. Sie war gehässig geworden.

Sie kniete leicht auf der Armlehne seines Sessels und beugte sich zu ihm. »Und deine letzte Liebe?« fragte sie süß und sah auf sein dünngewordenes Haar. Er hob nicht den Kopf, sie sah nur das Ende seiner langen, knochigen, etwas schiefen Nase. Auch das Hündchen auf seinem Schoß hob nicht den Kopf unter seiner streichelnden Hand, es wedelte nur ein wenig mit dem Schweif, es freute sich doch über ihre Nähe.

»Wer soll das sein?« fragte er ganz ruhig zurück.

»Die schottische Spanierin oder die spanische Schottin, die Freundin der lieben Mathilde, die Rothaarige, die du mit den Blicken frißt.«

– Das weiß sie auch schon, dachte Louis, sie wird eigentlich lästig, eine lästige Fliege, kein Schmetterling. Es ist ganz gut, daß mir die Gordon die Fliegenklappe geschenkt hat. Ich bekomme immer einen Berechtigungsschein für meine Undankbarkeiten. – Er sagte nach der Stille: »Eugenie von Teba ist übrigens nicht rothaarig im landläufigen Sinne. Sie hat das tiefe Gold, das seltene Altgold der Kastanie.«

»Aber sonst,« sagte die Göttin mit ganz enger Stimme, »von der Kastanie abgesehen, im landläufigen Sinne eine belle vache …«

»Die Gräfin von Teba,« unterbrach Louis sanft und bestimmt, »ist die schönste Frau, die meine Augen jemals gesehen haben.«

Das sagt man nicht zur Venus. Sie rührte sich nicht, sie war versteinert vor Wut, sie starrte auf den Kopf mit dem lichten Scheitel, und der Kopf duckte sich nicht, trotz des Hasses und der Wut, ja der Mordlust, die sie auf ihn hinunterwarf. »Jetzt hast du wohl deine Kaiserin,« flüsterte sie erstickt.

»Sie wäre eine schöne Kaiserin,« gab er zu, »doch daran dachte ich noch nicht.«

»Und sie wird ins Elysée geladen …«

»Das ist kein besonderer Vorzug.«

»Aber ich, ich darf nicht …«

»Nein,« schnitt ihr Louis das Wort ab.

Es war zu viel. Jetzt schrie sie; doch ihr Kinderstimmchen konnte nicht schreien, es war mehr ein hohes Jammern. »Bin ich denn eine so viel schlechtere Hure als deine wohlgeborenen Huren?«

Das Hündchen, an zornige Stimmen nicht gewöhnt, sprang erschrocken von seinem Schoß, mit zurückgelegten Ohren und eingekniffenem Schwanz, und verkroch sich. Louis beachtete seine Flucht nicht und schlug die Beine übereinander.

»Ganz gewiß nicht,« sagte er, »und es erniedrigt dich, daß du so etwas aussprichst.«

»Was erniedrigt mich?« schrie sie. »Daß du mich versteckst und verleugnest, das erniedrigt mich nicht? Und daß ich dir mein Vermögen geopfert habe, das erniedrigt dich nicht?«

Er hob den Kopf zu ihr auf. »O doch,« sagte er, »o doch, liebe Lizzy. Aber wir werden quitt werden. Deshalb bin ich heute hier.«

Deshalb ist er heute hier? Was will er denn tun? Sie kannte ihn nicht, sie hatte ihn niemals kennen gelernt, in fünf langen Jahren nicht. Sie hatte Angst. »Das ist nicht so einfach,« keuchte sie und wollte doch vor allem sich beruhigen, »mit mir geht es nicht so einfach – ich lasse mich nicht auspressen und wegwerfen …«

»Du übertreibst wohl, liebe Lizzy,« meinte er freundlich und hatte doch böse Augen, »ich glaube nicht, daß ich dich ausgepreßt habe, und es fiele mir schwer, dich wegzuwerfen …«

»Sehr schwer!« schrie sie; »denn ich habe dich in der Hand – merke dir das für den äußersten Fall!«

»Der äußerste Fall ist schon da,« sagte er; »aber du hast nicht mich in der Hand, sondern ein paar häßliche Mittelchen. Und ich werde dir die Mittelchen aus der Hand nehmen und aus dem Kopf die große Illusion. Deshalb bin ich heute hier.«

»Deshalb bist du heute hier!« lachte sie und die Angst setzte ihr doch heftig zu. – Ihm weh tun! Ihm schnell noch weh tun; denn man weiß ja nicht, was kommt! Ihm schnell noch mit der nächsten, besten und fühlbarsten Bosheit in die Nebelkrähenaugen stechen! – »Dann findet also heute nacht auf keinen Fall dein Staatsstreich statt …«

»Nicht der große,« sagte Louis, »nur ein kleiner.«

»Ich bin neugierig,« sagte sie trotzig und hatte doch Lust zu weinen. Sie war ja keine Kämpferin, ach, sie hatte sich viel zu weit vorgewagt, eigentlich ohne Anlaß, ohne Sinn und Verstand. Louis rauchte nicht. Ach warum rauchte er nicht? Sie hätte ihm gerne eine Zigarette in den Mund gesteckt, nicht aus Liebe, sondern aus Angst, aber sie wagte es nicht. Er hatte die Augenlider fest geschlossen. Wenn er doch einschliefe!

»Wie hoch, liebe Lizzy,« fragte er sanft wie immer, »wie hoch schätzst du denn meine Gesamtverschuldung an dich?«

Warum begann er wieder damit? Es war vorhin doch nur in der Wut gesagt, es lag ihr doch nichts am Geld! »Wir wollen nicht mehr davon sprechen, Louis,« bat sie.

»Deshalb bin ich heute hier,« sagte er wieder, und sein träger Kehrreim brachte sie zur Raserei.

»Du kannst es mir ja doch nicht zurückzahlen!« schrie sie. »Deine Geldknappheit ist ja kein Staatsgeheimnis! Du bettelst ja alle paar Monate das Parlament um Erhöhung der Bezüge an und bekommst sie nicht …«

»Heute kann ich es nicht,« sagte Louis geduldig, »heute ist der 25. März. Aber heute in zwei Jahren, also am 25. März 1853, werde ich an dich eine Million Francs auszahlen lassen. Meine Schuld an dich beträgt nach meiner Schätzung kaum mehr als die Hälfte. Du wirst also ein gutes Geschäft gemacht haben.«

Miss Howard rührte sich nicht. Sie wußte nicht, ob es gut oder schlimm stand, ob es eine Bindung oder eine Lösung war. Aber war es nicht, wie es auch sei, der Strich durch die große Rechnung, durch die große Hoffnung? War sie jetzt noch wichtig und mächtig?

»Ich habe dir das Schriftstück mitgebracht,« sagte Louis und zog aus dem Rock die Brieftasche aus rotem Saffianleder mit dem gekrönten N aus Gold, ein Geschenk von ihr. Er entnahm der Tasche ein länglich gefaltetes Papier und reichte es nicht der Frau, um sie der Pein der Annahme oder der Ablehnung zu entheben, sondern legte es neben sich auf den Rauchtisch. – Und jetzt? fragte sie sich und die Gedanken flatterten hilflos im Käfig ihres Köpfchens. – Vielleicht geht er, vielleicht geht er! betete sie im stillen. Er blieb sitzen, träge und furchtbar, und hielt in der Hand immer noch die aufgeschlagene Brieftasche. Sie machte die großen kindlichen Augen, auf gut Glück, und wußte, daß die Tränen bereit waren, in jedem gewünschten Augenblick zu erscheinen. Mehr wußte sie nicht. Ach, sie hatte genug und ahnte doch, daß es noch nicht zu Ende war, sie wollte kapitulieren, bedingungslos, und flüsterte süß und weich: »Loulou …«

Er hörte es nicht. Er sah auf die offene Brieftasche. Dort lag noch ein kleiner Zettel. Endlich sagte er: »Boulevard Malesherbes 16, nicht weit von hier.« Er kannte jetzt sein Paris. Sie begriff es nicht gleich. Er hielt ihr den Zettel hin. »Die Adresse von Mr. Young-Fitz-Roy, nicht wahr?«

»Ja,« flüsterte sie mit weiten Augen, gänzlich überrascht, mit keinem anderen Ausweg als der Wahrheit.

»Warum hast du mir nicht gesagt, liebe Lizzy, daß der Mann in Paris ist?«

»Warum …« flüsterte sie und ließ ein paar Tränen in die Augen, »er ist doch schon zwei Jahre hier …« Das war keine Entschuldigung, sie fühlte es.

»Er erpreßt Geld von dir?« fragte Louis.

»Nein, nein, er erpreßt nicht, ich gebe ihm freiwillig, er hat doch nichts mehr, man hat ihm doch in London den Spielsaal geschlossen und alles genommen, wegen einer Anzeige …«

»Der Mann wird morgen Abend verhaftet,« unterbrach Louis, »und übermorgen ausgewiesen. Er wird nicht heute festgenommen, damit du Zeit hast, ihm meinen Schuldschein abzukaufen und vielleicht noch andere Papiere, die du nicht gerne in den Händen der Polizei sehen möchtest. – Oder hast du schon den Schuldschein?«

»Nein,« flüsterte sie, »er hat ihn noch …«

»Den Mann zu warnen,« sprach Louis, »hat keinen Zweck, weil er schon heute unter Polizeiaufsicht steht.« Er stand auf, er stand endlich auf und nahm ihre Hand. »Morgen abend um acht Uhr kommt Doktor Conneau zu dir, nicht ich, Lizzy, und du zeigst ihm den Schuldschein. Wenn er ihn gesehen und es mir gemeldet hat, komme ich und alles ist wieder gut und du singst mir Liedchen vor. Wenn er ihn nicht sieht, siehst du mich nicht mehr, Lizzy; denn dann wirst du übermorgen ebenfalls ausgewiesen – und bei alledem wäre ich sehr traurig, Kindchen.«

Sie war ganz weiß und klammerte sich an ihn fest. »Nein, nein, nein!« rief sie, »es wird alles wieder gut …«

Louis streichelte sie und sagte weich: »Aber ohne die große Illusion, nicht wahr, Kindchen, und ohne den Blick auf die vielen Josefinen, die hier herumhängen – und später einmal, wenn du es willst, liebe Lizzy, verschaffe ich dir einen guten Mann.« –

Er rief sein seidiges Hündchen und ging. Venus saß in seinem bösen Sessel und weinte noch ein kleines Stündchen. Dann nahm sie die zukünftige Million vom Rauchtisch und verwahrte sie im Geheimfach ihres Sekretärs. Dann legte sie sich zu Bett. Das Bett war eine genaue Kopie des Malmaison-Bettes der Kaiserin Josefine, mit einer Art Krone über dem Betthimmel, und hatte viel Geld gekostet.

 

Der große Wunschstrom, von den Dämmen der staatlichen Ordnung gehalten, daß er nicht überfließe und anarchisch das Land überschwemme, war in die Revisionsmühlen gelenkt worden. Die Adjutantur und ihre Organisationen, Klubs, Dezembergesellschaften, Militärvereinigungen und Zeitungen arbeiteten still und sicher. Persigny war ein leiser Meister geworden, er hatte schon Schwereres vollbracht, er hatte schon Bewegungen aus dem Nichts geschaffen, er konnte jetzt aus dem Vollen schöpfen, aus dem Unermeßlichen. Alle Mühlen klapperten. Der Staatsapparat stand zur Verfügung, die Kirche lieh ihren Beistand. Ueberall lagen die Einzeichnungslisten aus, in allen Stadthäusern, Gemeindehäusern, Pfarrhäusern, Fabriken und Werkstätten. Jede Parlamentssitzung begann mit dem Aufmarsch der Abgeordneten, die die Revisionsgesuche ihrer Wahlkreise dem Präsidialbüro übergaben. Und Louis trieb durch das Land, der sichtbarste Mann, nicht mehr ein fremdes: das bekannteste Gesicht, angesehen und anerkannt, so wie es war, großnasig, kleinäugig, gelb und bärtig, und die Männer fingen an, seinen Bart zu tragen. Sein Gesicht vor den losen und bewegten Fronten der Bürger, Bauern und Arbeiter, immer wieder vor den starren Reihen der Regimenter stand gesichert und unverletzlich, und zu den alten Rufen des Namens, der nur ihm gehörte und nicht mehr der Legende, gesellte sich der neue und wunderbare Beiname des Volksgeliebten: der »Désiré,« der »Ersehnte.«

Wenn alles gelang und die Magie seines Lebens aus seinem scheuen und ungehörigen Gesicht das begehrte Antlitz der Zeit machte, aus seiner sanften schweren Sprache den Spruch der Zeit, aus seinem dunklen Abenteuer der Geduld die helle Erfüllung der Zeit: warum sollte er dann nicht hoffen, daß die fügsame und gesetzlich eingefangene Volksbewegung das Ziel erreichte: die legitime Aenderung der Verfassung? Er hatte schon darauf gehofft, als er den Eid schwur, er hatte seine Volkstümlichkeit nicht überschätzt, er hatte nur die Widerstandskraft und die Kriegslust der Gesetzhüter unterschätzt. Er glaubte an das Gelingen der Volksrevision, wie er früher an das Gelingen der Etappenpläne seines Lebens geglaubt hatte: mit dem heimlichen Reservat der Skepsis. Aber er ließ nicht den kleinen Unglauben sehen, sondern nur den großen Glauben und seine öffentliche Bemühung. Die Freunde durften nur unter sich von dem Mißlingen sprechen, von dem nicht unwahrscheinlichen Mißlingen; denn kann selbst der Wille des Volkes – eines befangenen, berauschten, bezauberten Volkes doch – vom Block des feindseligen, um sein Leben kämpfenden und äußerst mißtrauischen Parlamentes die notwendige Zweidrittelmehrheit abspalten? Wenn es nicht gelang: was dann?

Er wäre lieber der Rentner als der Held der Volkstümlichkeit, dachte Morny. – Wenn er sich nur nicht im Rubikon ertränkt, mein neuer Cäsar! ängstigte sich der Prophet, ein Freund der klassischen und dennoch dunklen Gleichnisse.

Er und die Freunde taten, als glaubten sie an die gesetzliche Beugung ihrer Zeitgeschichte. Alle verschonten ihn mit dem Zweifel, er selber schonte sich. Es herrschte Windstille. Venus hatte wie ein Hündchen den Schuldschein rapportiert und ihn dann zu der zukünftigen Million ins Geheimschränkchen getan; sie war eine bescheidene Nymphe geworden, süß und blond am Rand der Ereignisse. Herr Young-Fitz-Roy war ausgewiesen und vergessen. Die gleichzeitige Haussuchung bei dem Grafen Leon hatte leider kein belastendes Material zu Tage gefördert und war mit tausend Francs wieder gut gemacht worden; er war ja kein Präsidentenmörder, er hatte in London ja nur den Kaiser bedroht: und Louis dachte in dieser langen Zeit seiner steten Sichtbarkeit merkwürdigerweise niemals an ein Attentat. Graf Leon schrieb keine Bittbriefe mehr – Briefe um Geld und um Staatsstellung – und meldete sich zu keiner Audienz mehr an, auch Miss Gordon nicht, auch Lore Vergeot nicht. Alle schienen auf die Revision zu warten, alle schienen ihn schonen zu wollen.

Die ewige Wolke des Staatsstreiches hing schwer über diesem Sommer. Louis sah nicht zu ihr hinauf. Seine leicht auswechselbaren und von der Adjutantur abgeschlossenen Minister hatten sie zu dementieren, wie immer.


Julimitte: das Land hält den Atem an, das Parlament hat das Wort, es hat tausend Worte, die Catos und die Antoniusse ringen in gewaltiger Beredsamkeit eine Woche lang um den Staat und um den Mann.

Victor Hugo: »... und draußen der Kadaver der römischen Republik, und Oesterreich kniet auf Ungarn, auf der Lombardei, auf Venedig … Frankreich senkt das Haupt. Napoleon bebt vor Scham in seinem Grab – und fünftausend oder sechstausend Schufte schreien: es lebe der Kaiser! Gut – sprechen wir von Ihrem Imperium, Désiré!« (Lachen).

Der Abgeordnete Le Bas ruft: »Kein Mensch denkt daran!«

Victor Hugo: »Man denkt daran, Bürger Le Bas, und es ist nicht nötig, daß Frankreich eines schönen Morgens einen Kaiser vorfindet, ohne zu wissen warum.« (Lachen links). »Einen Kaiser! – Weil es einen Mann gegeben hat, der die Schlacht von Marengo gewann und der regiert hat, wollen Sie regieren, Herr Bonaparte, der Sie nur die Schlachten von Straßburg und Boulogne gewonnen haben?« – (Gelächter). »Weil Karl der Große vor zehn Jahrhunderten sein Schwert und sein Zepter hat fallen lassen, weil tausend Jahre später ein anderes Genie erschien und sie auflas und sie fallen ließ, als die Reihe an ihn kam: deshalb wollen Sie sie nach ihm auflesen, wie Napoleon nach Karl dem Großen?« (Beifall). »Sie wollen in Ihre kleinen Hände das Zepter der Titanen nehmen und das Schwert der Riesen? Nach Augustus Augustulus? Müssen wir, weil wir Napoleon den Großen gehabt haben, Napoleon den Kleinen haben?« (Großer Beifall und Gelächter links).

Ein Antonius: »Napoleon Bonaparte hat sechs Millionen Stimmen gehabt! Sie beleidigen den Volkserwählten!«

Ein Minister: »Sie diskutieren Projekte, die es nicht gibt! Sie beleidigen!«

Der Kammerpräsident (mit der Glocke): »Herr Victor Hugo hat nicht das Recht, in beleidigender Form eine Kandidatur zu diskutieren, die nicht im Spiel ist.«

Zurufe links: »Doch, doch, sie ist im Spiel!«

Victor Hugo: »Es ist keine Beleidigung für den Präsidenten der Republik, wenn man sagt, daß er kein großer Mann sei. Wir verlangen nicht von ihm, daß er die Macht als großer Mann behalte, wir verlangen von ihm, daß er sie als Ehrenmann aufgibt!«

Abgeordneter Graf August de Morny: »Verleumden Sie ihn nicht im Voraus!«

Abgeordneter Vicomte de Persigny: »Beleidigen Sie nicht die Nation, deren souveräner Wille zur Debatte steht – und nichts Anderes sonst!«

Victor Hugo: »Die ihn beleidigen, sind jene seiner Freunde, welche hören lassen, daß er, wie es auch komme, am zweiten Sonntag des Mai 52 nicht aus der Macht scheiden wird.«

Der Abgeordnete Le Bas, bekannt als ruhiger Mann, während dieser Debattetage merkwürdig erregt, schreit: »Das sind Verleumdungen! Das sind Zweifel an der Heiligkeit des Eides!«

Der Abgeordnete Persigny beugte sich zum Abgeordneten Morny: »Wir hätten unseren roten Kaiser der Romantik doch zum Unterrichtsminister machen sollen, wie er es gerne wollte.«

»Wer hätte solche lyrische Haßfähigkeit ahnen sollen?« flüsterte Morny zurück.

»Jetzt wissen wir wenigstens den Titel eines seiner nächsten Bücher,« grinste der Prophet, »entweder: ›Augustulus‹ oder ›Napoleon der Kleine‹.«

»Und doch ist sein ›Antichrist‹ eines der wenigen Gedichte, die Louis auswendig kann,« meinte Morny.

»Und doch kam er recht gerne zu den Montagabenden,« zwinkerte Persigny, »und ließ sich von Louis anlächeln.«

»Und doch kommt er auf die erste Proskriptionsliste,« sagte Morny. –

Am Abend dieses drückenden 19. Juli um acht Uhr erfolgte die Abstimmung über die Volkseingabe der Verfassungsänderung.

»Wir kommen nicht vor zehn Uhr nach Saint Cloud,« meinte Persigny.

»Immer noch früh genug,« sagte Morny.

Zur Zweidrittelmehrheit fehlten fast hundert Stimmen: die Revision wurde verworfen.


Louis hörte still und schläfrig zu. Er hatte den Kopf zurückgebogen und den Mund gespitzt und rauchte schöne schwingende Ringe in die Luft. Die Bibliothek des Schlosses von Saint Cloud, in der er mit dem schweigsamen Bruder und dem redenden Prophet saß, ist sehr hoch, und die haltbarsten der Rauchringe stiegen über die erste Galerie hinaus. Persigny sprach nicht einmal sehr viel, auf Mornys dringende Bitte; denn es genügte ja der eine Satz: die Revision ist verworfen. Der eine Satz genügte dem Propheten nicht: er wäre wie eine Pistole gewesen, dem armen, neuen Cäsar auf die Brust gesetzt. Persigny redete aus Barmherzigkeit einen reichen Verband von Sätzen um Louis' bedauernswerten Kopf. Aber dann fühlte er, daß es genug sei, und schwieg.

Ueberall kletterten Bücher die Wände hinauf, von den beiden Rundgalerien unterbrochen, aber nicht begrenzt. Wenn man in einem der lehnenlosen, sehr niedrigen Sessel saß und nach oben blickte, war es wie ein Turm von Bücherrücken, und man konnte schwindlig werden. Von den Pilastern des Galeriegeländers kringelten sich bronzearmige Lampen mit milchigen Glasglocken in die Luft. Sie brannten nicht alle, an der zweiten Galerie nur ganz vereinzelt, die Girlanden des Plafond verloren sich im Dunkel. Das Gas in den weißen Lichtkugeln trommelte leise in der langen Stille.

Louis stand auf, mit ihm die beiden Freunde. »Jetzt gehe ich ein bißchen spazieren,« sagte er, »vielleicht für ein halbes Stündchen.« Er sagte nicht, daß er allein gehen wolle; doch die beiden wußten es. Der Prophet verbeugte sich höfisch, der Bruder nicht. Louis schritt langsam durch die Bibliothek, kurzhalsig, den Kopf etwas schief, mit hängenden Schultern – ein winziger Mann durch einen riesigen Raum.

Die beiden setzten sich wieder. Das Gas trommelte und manchmal flackerte es, gleichzeitig in allen milchigen Vollmonden. Dann begannen die Bücherrücken wie Ameisen durcheinanderzuklettern.

»Wenn er den Staatsstreich nicht macht,« sagte der Prophet, der keine Stille vertragen konnte, nicht diese Stille, »wenn er den Umsturz nicht von oben macht, dann mache ich ihn von unten. So kommt es auf das selbe hinaus.«

Seine Stimme schraubte sich den hohen Raum hinauf und flatterte hinter ihm her. Es klang nicht angenehm. Morny schwieg, verschränkte die Arme und drückte das Kinn auf die Brust. Er sah dem Bruder ähnlich. – Das Gas trommelte.

»Wenn er,« sprach Persigny wieder, doch viel leiser, »wenn er sich jetzt draußen im Park totschießt …«

»Er erschießt sich nicht,« unterbrach Morny und hob die Brauen.

»Wenn er sich jetzt totschießen würde,« flüsterte der Prophet hartnäckig, »dann ginge ich noch tiefer in den Park und schösse mich auch tot. – Glauben Sie es mir, Morny?«

»Warum nicht?« antwortete Morny etwas wegwerfend.

»Und Sie, Morny?«

»Ich?« meinte der Bruder sonderbar gereizt, »ich kehrte wieder zur Zuckerindustrie zurück.«


Es war eine schwere, aber keine dunkle Nacht. In dem großen Bassin vor dem Schloßperistyl schwamm der Mond, leicht verzerrt und überrillt, und versilberte das Wasser. Zwei schmale hohe Springbrunnen schossen aus dem Silberwasser wie zwei silberne Zypressen. Wenn der Präsident im Schloß war, liefen die Springbrunnen die ganze Nacht; denn er hörte sie bis in sein Schlafzimmer, er hörte sie gerne. Er hörte sie auch jetzt gerne, er lehnte über das silberne Bassingeländer und sah ihnen ein Weilchen zu. Er wurde schläfrig vor der stäubenden Silbersäule und dem silbernen Rauschen, schläfrig und wohlig abgelenkt. Das wollte er nicht. Er ging tiefer in den Park. Der Mond beschnitt die hohen und langen Bosketts mit seiner Silberschere und bestreute die schweren, vollen, steifen Baumkronen mit Silberschnee. Louis löste den Blick aus der luftigen Pracht der Sanftmut und sah zu Boden, aber der sanftmächtige Mondhimmel versilberte auch den Kies. Louis lächelte still über so viel hartnäckige Güte, über solchen Sommernachtswillen der Begütigung, und dachte an eine Bank, tief eingesenkt in den Ausschnitt einer Taxushecke, eine nachtschwarze, abgekehrte, schattenharte Bank der Entscheidung. Er fand sie und tappte sich auf ihr unsichtbares Holz.

Der Eid war kein bloßer Schauer über dem Nacken, der Eid war der Alp dreier Jahre, und jetzt galt es den Ringkampf: du kniest auf ihm oder er auf dir. – Louis saß auf der Bank, die ersten Augenblicke waren schwarz und dichtgewandet, ein Käfig der Entscheidung: du kommst nicht ohne Stoß und Bruch heraus, entweder mit zerbrochenem Schwur oder mit zerbrochenem Leben. Es roch nach frischem Heu, nach Blüten von Linden und Akazien, nach Sommer. Zum Ringkampf gehört ein Gegner. Der Gegner ist der Eid, Tag und Nacht gefühlt, durchdacht und geprüft. Diese Nacht hat keine Nachtmahr, sondern eine Silbersonne. Es herrscht ein sanftheller Friede, es war kein Gegner da. Nur die ersten Augenblicke waren schwarz: dann ging wieder das sanfte Licht auf und hob den Kopf des einsamen Menschen. Ueber der Hecke schien das Silber, und gegenüber der Schattenbank, hinter einer niedrigen Schattenmauer sauber beschnittenen Buschwerks, stieg eine Figur aus schlanker Säule hell in die Luft. Es war eine Nike, eine silberne Nike, und sieh, sie flog auf ihn zu. Louis lächelte spöttisch; denn diese Nacht machte ihm die Entscheidung gar zu leicht und sparte nicht mit Anspielungen und Ermutigungen, gleich als ob der Prophet die treffliche Regie führte. – So war es also schon entschieden, kampflos und wunderbar angenehm? So hatte sich diese Zaubernacht für ihn aufgespart, um das Leben mit silberner Magie zu bejahen? Louis wollte nachdenken, wenigstens nachdenken, ob er einen Eid wider das wunderbare Leben geschworen habe – die Springbrunnen rauschten bis zu ihm, ein Nachtvogel schrie, der Friede war vollkommen, die Ohren hörten hinter dem Silbersang der Welt ganz fern und süß das dünne Stimmchen der Venus ihr ewiges englisches Wiegenlied singen: Louis schlief ein, nicht tief und nicht lange; aber er war noch glücklich, als er aufwachte, von einem Nachtwind gestreift.


Louis betrat lächelnd die Bibliothek. Der Bruder und der Prophet erhoben sich und sahen ihn an und warteten. Louis' Lächeln konnte viel bedeuten, sie kannten es. Louis sagte sofort, beinahe hastig: »Ich habe mich entschieden – das heißt, ich habe einfach eine Erkenntnis gewonnen, die Erkenntnis vom wunderbaren Leben.«

Der Bruder lächelte auch und sagte nur: »Das ist gut.«

Der Prophet aber stürzte sich auf ihn, rotbäckig und dramatisch, packte seine Hände und rief: »Darf ich jetzt Fragen an Sie stellen, Sire?«

»Ja,« sagte Louis.

»Haben Sie geschworen, die Republik gegen den Volkswillen zu halten?«

Louis schwieg einen Augenblick, dann sagte er: »Nein.«

»Dürfen Sie sich denn von einer unzulänglichen Verfassung einkerkern lassen? Dürfen Sie denn gegen den einmütigen Willen des Volkes das Steuer aus der Hand geben?«

»Ich darf es nicht,« antwortete Louis.

Der Prophet ließ ihn los; denn er brauchte die Hände zum Sprechen. Er rief das längst fällige Verdikt in den hohen stillen Raum: »Die Verfassung, die einer Minderheit erlaubt, die von der Nation gewünschte Revision zu unterbinden, hat ein Attentat gegen die Volkssouveränität begangen! Der nationale Wille ist heilig! Der sogenannte Staatsstreich vollstreckt den einmütigen Willen der Nation! Er ist also kein politisches Verbrechen, sondern der Triumph des Rechts!«

Er kam ins Schreien. Louis ließ ihn schreien. Der Bruder drückte die Augen zu, empfindlich wie er.

 

Das Kaisergesicht

Die Adjutantur setzte die Dämme etwas zurück und besetzte die Ränder mit begabten Reportern. Der Strom des verneinten Volkswillens floß bereits zorniger und gefährlicher. Das bedrohliche Anschwellen zu schildern und die fürchterliche Wirkung des politischen Hochwassers auszumalen, war für die Präsidentialpresse ein aufregendes Vergnügen. Die Adjutantur lenkte den allgemeinen Blick kühn auf die bekannte Gewitterwolke über dem Land und ließ sie, die nicht mehr schwärzer sein konnte, auch ein wenig blitzen und donnern. Das Thema war schon so alt, daß seine massierte Aktualität nicht allein die Empörung, sondern auch den ironischen Sinn des Volkes stachelte. Auf den Boulevards und der Börse begegneten sich die Leute mit dem fröhlichen Ruf: »Wetten-ja, wetten-nein!« und meinten damit den Staatsstreich zum Monats-Ultimo.

Miss Howard, die illusionslose Nymphe, doch auch schon wieder mit ihrem reduzierten Zustand zufrieden und auch nicht vereinsamt in ihrem Sommerhäuschen zu Sèvres – es lag also nur der Park von Saint Cloud zwischen ihr und ihm – fragte ihren unveränderten Freund bescheiden: »Ist es wahr, Loulou, daß auf dem Nordbahnhof ständig ein Sonderzug für dich unter Dampf steht, für den Fall des … des Mißlingens?« Sie konnte jetzt ruhig von der Sache sprechen, von der alle Welt sprach; denn ihr josefinischer Traumadler hatte keine Flügel mehr und die Gedanken hafteten auf einer Welt, die sich auch durch den Staatsstreich nicht viel verwandeln würde. Im Grunde ihres Wesens war sie nüchtern: ob Nymphe des Präsidenten oder des Kaisers, das blieb sich ziemlich gleich, wußte sie, und die Frage ihrer Dauer war eine kosmetische Frage. – »Nein,« antwortete Louis freundlich, »das ist nicht wahr.« Sie schlang ihre schönen, kühlen Arme um seinen Hals und fragte demütig und zärtlich: »Ist es wahr, Loulou, daß die rot..., die altgoldene Eugenie nach Saint Cloud kommt?« – »Das ist wahr,« sagte er ohne weiteres. Aber er war doch bei ihr, der Weizenblonden.

Die Adjutantur filterte nochmals die hohen Kommandostellen durch. Louis verschaffte sich aus Algerien, der Hohen Schule für Energie, einen neuen Kriegsminister und als Garnisonschef von Paris jenen Liller Divisionär, der mit dem Herzen schon bei Boulogne gewesen war. Die Pariser Regimenter ließen bei den Paraden den Kaiser leben und Louis führte dankend die Hand an das unrechtmäßige Generalskäppi. Nur die zivilen Minister durften ahnungslos bleiben und dementieren und sich der wettenden Hauptstadt als komische Außenseiter darbieten.

Von Louis' Saint Clouder Arbeitszimmer aus sah man Paris. Die Cousine Mathilde stand am offenen Fenster, sie liebte Paris so sehr, daß sie auch den Sommer im Anblick der Stadt zu verbringen pflegte, am liebsten in einem Parkpavillon auf der Höhe des Hügels von Saint Cloud. »Sie können es mir ruhig sagen,« bat Louis hinter ihr. – »Ja,« sagte Mathilde, »Eugenie ist abgereist, für längere Zeit.« Louis sah an ihrer hübschen Silhouette vorbei in die weite sanfte Landschaft: Bäume, Wiesen, Hügel, der anmutige Schlangenleib der Seine und ganz fern die riesige Kulisse der Stadt in einer Trübung wie aus Goldstaub. – Es tut nicht weiter weh, dachte Louis, und er meinte: »Sie war hier, natürlich mit der Mutter, ich hatte allerdings nur einen meiner Herrn dabei, den Baciocchi, ich sah sie immerzu an, das kann man doch, ich wollte mit ihr durch den Park gehen, ich hätte sie dann vielleicht geküßt, das ist schon möglich; aber sie ging mit dem Baciocchi und überließ mir die Mutter. – Sie ist über die Maßen empfindlich, Ihre Freundin Eugenie.« – »Sie ist über die Maßen unempfindlich,« sagte Mathilde, »aber sehr vorsichtig, sehr vorsichtig.« – »Berechnet?« fragte Louis. – »Mit sich; denn sie überblickt sich – nicht mit Ihnen, Louis; denn Sie sind noch nicht zu überblicken. Vielleicht ist sie abgereist, um aus der Entfernung abzuwarten, wie die Dinge sich gestalten.« – »Ach so,« sagte Louis und wurde schweigsam.

Er setzte ziemlich überraschend den 17. September für die Aktion fest: in der Nacht militärische Besetzung von Paris, am Morgen das Präsidialdekret der Parlamentsauflösung wegen Widerstandes gegen den Willen des Volkes und der achtzig von achtundachtzig Generalräte, schließlich Ankündigung des Plebiszits. Anwesend waren Morny, Persigny, der Kriegsminister, der Kommandierende General und der Polizeipräsident. Die Herren, mit Ausnahme des Bruders und des Propheten, schienen verblüfft. Der Polizeipräsident, der einzige der wichtigen Männer, über den die Adjutantur noch nicht das letzte Wort gesprochen hatte, fürchtete dies und das. Louis schrieb auf einen Zettel den Namen eines überaus revisionseifrigen Departementspräfekten: das war der neue Polizeipräsident; denn dieser zweifelsvolle Herr mußte gehen. Vielleicht war der plötzliche Kriegsrat nur der Prüfstein für die Verläßlichkeit des Generalstabes: die Mutprobe. Wer kannte sich in Louis aus? Er sah schläfrig den Kriegsminister an: »Und Ihre Meinung, Saint-Arnaud?« Der Mann mit den energischen Augen sagte, daß er im Gegensatz zum Polizeipräsidenten nichts befürchte, garnichts, aber daß er den genannten Termin aus dem einfachen Grund für verfrüht ansehe, weil das Parlament in den Ferien sei, also nicht greifbar. – »Und Sie, Magnan?« Der Chefgeneral war der gleichen Meinung: man solle keine leere Falle zuklappen. – »Und Sie, Morny?« – »Die Generäle haben recht,« sagte der Bruder, »und außerdem ist es nicht vorteilhaft, allein die Revision zum Aktionsanlaß zu nehmen. Schaffen wir eine neue und unpersönlichere Differenz mit der Legislative. Warten Sie die neue Parlamentssession ab und verlangen Sie die Abschaffung des Wahlverschlechterungsgesetzes vom Mai 50.« Louis lächelte dem Bruder zu, dem künftigen Innenminister. »Ich dachte schon daran,« sagte er. »Die Aktion wird verschoben.«

Der Prophet, ungefragt, bestimmte: »Der Tag der Aktion ist der 2. Dezember.«

»Warum der 2. Dezember?« fragte Louis.

»Sire,« rief Persigny vorwurfsvoll, »das ist der Tag von Austerlitz!«

»Ach so,« lächelte Louis und dachte an die vorwurfsvolle Hortense.

Die Herbstwochen waren aufregend; denn die Gerüchte von einem Gegenstaatsstreich des Parlaments mußten propagandistisch verwertet und zugleich doch seine Bemühung um einen gesetzlichen Einfluß auf das Armeeoberkommando, ja, um die Unterstellung des Heeres unter die parlamentarische Befehlsgewalt mit äußerster Sorgfalt überwacht und bekämpft werden. Louis blieb kühl und unbeirrt, zum wenigsten schien es so, vielleicht war er viel robuster, als er selber wußte. Aber man mußte doch mit ihm vorsichtig sein, und da man ihn politisch nicht mehr schonen konnte (und scheinbar auch nicht mehr zu schonen brauchte), so sollte man doch die gleichsam privaten Belästigungen von ihm fernhalten. Der Prophet war anspruchslos wie ein Anachoret und uneigennützig wie ein Apostel; denn er wußte immer noch nicht, ob er Minister und wann er Herzog werden würde, und dachte dennoch keinen Augenblick an sich und alle Zeit an seinen neuen Cäsar, einen genügend belasteten und zumeist unfrohen Mann. Louis hatte Geister, die ihn quälten, so wenig er es sich merken ließ. Lore Vergeot quälte ihn durch ihr stilles Warten, Miss Gordon und der fatale Leon quälten ihn durch einen neuen Sturm von Gesuchen. Persigny beschloß, die drei lästigen Fälle ins Reine zu bringen, und so zwar, daß der Chef des Staates, der andere Sorgen hatte, davon nichts merke. (Wahrlich, Louis hatte andere Sorgen, es war Novembermitte, das Parlament hatte die geforderte Streichung des Wahlverschlechterungsgesetzes abgelehnt, und die Lanciers der Quai d'Orsay-Kaserne, die peinlichen Nachbarn des Palais Bourbon, hielten Tag und Nacht die Pferde gesattelt und die Karabiner geladen).

Persigny erteilte den drei Lästigen auf eigene Faust die oft verlangte Audienz an einem Tage, an dem Louis zu einer Truppenbesichtigung nach Versailles gefahren war. Der Prophet war ein vielbeschäftigter Mann, ja, er war der Atlas, der das neue Reich trug: er erübrigte für drei Nebenfälle ein halbes Stündchen insgesamt. Aber er blieb der große Regisseur auch für die kleinen Szenen, er holte aus dem Raum, was ihm an Zeit fehlte. Er drittelte gleichsam die Bühne, der Eile halber, er verteilte die drei Fälle auf drei Wartezimmer wie ein diskreter und dennoch konzentrischer Arzt; zwischen jedem Zimmer war ein leerer Raum, geschwinde zu durchschreiten – und keiner der Drei wußte, sah und hörte etwas von den Mitpatienten.

Persigny benötigte einen Assistenten nur für das erste Zimmer. Er betrat es, in Begleitung eines würdigen, sanft beleibten und etwas mißgestimmten Herrn mit Louis-Bart. Lore Vergeot sah erstaunt auf, sie erwartete nicht den einen und kannte nicht den andern. »Mademoiselle,« sprach der eilige Prophet, »ich habe die Ehre, Ihnen den Milchbruder unseres hohen Herrn, Oberintendanten der Präsidentschaft Baron von Bure vorzustellen. Der Herr freut sich schon lange auf Ihre Bekanntschaft.« Der Herr verbeugte sich, er war weder Baron noch adlig; aber das konnte noch kommen, und Persigny war der Mann, aristokratisch in die Zukunft zu sehen. Er nahm Lore beiseite, nicht sonderlich diskret; denn er hatte wenig Zeit. »Der künftige Generalschatzmeister der Krone,« flüsterte er nicht sonderlich leise, »das Ebenbild des Kaisers, nicht wahr, Lore? Und Louis hat schon mit ihm gesprochen und Sie sind eine vernünftige Frau.« Lore fand keine Aehnlichkeit mit dem geliebten Mann, aber sie war eine vernünftige Frau. Sie war jetzt ein wenig über dreißig, groß und üppig, keineswegs gegen den Geschmack des Milchbruders, dessen Stirn sich glättete, und ihre Augen lachten nicht mehr von selber, aber sie lachten, wenn sie es wollte.

Der Fall war in der gehörigen Zeit erledigt. Persigny zog rasch die Uhr, während er durch den leeren Zwischenraum schritt. Dann schüttelte er dem Grafen Leon die Hand; er begann immer mit der Freundlichkeit, das hatte er von Louis gelernt. »Sie müssen mit mir vorlieb nehmen, lieber Graf, der Präsident bedauert lebhaft …«

»Ja, ja, die Regierungsgeschäfte,« unterbrach Leon und setzte sein freches Lächeln auf.

Persigny hatte wenig Zeit und außerdem war er empfindlich. »Nicht nur die Geschäfte, sondern ein Entschluß, Herr Graf. Der Präsident empfängt Sie nicht noch ist er in der Lage, Sie in den Staatsdienst aufzunehmen. Die Entscheidung ist endgültig und Sie sollten sich damit abfinden.«

»Ich finde mich damit nicht ab,« versicherte Leon.

»Es wird Ihnen garnichts Anderes übrig bleiben und ich darf mich kurz fassen. Sie haben bisher an die zwanzigtausend Francs bekommen, lieber Graf, das ist nicht wenig, auch in Anbetracht Ihrer Wahlverdienste, das ist sogar viel zu viel, wenn wir uns an Ihre verdächtige Freundschaft mit jenem ausgewiesenen Engländer erinnern wollen. Mit welcher Schlußzahlung können also Ihre angeblichen Ansprüche abgefunden werden?«

»Mit den restlichen 480 000 Francs meines Fesch-Legats,« sagte Leon freundlich.

Persigny hatte keine Zeit. Er zog grob die Uhr und sagte: »Ist es mit fünftausend Francs nicht getan, lieber Graf? Das ist mein vorletztes Wort.«

»Ich warte gerne auf das letzte,« lächelte Leon.

»Wie unklug!« wunderte sich Persigny, »mein letztes Wort heißt nämlich: Verhaftung. Der Präsident fühlt sich von Ihnen belästigt, vielleicht sogar bedroht. Das ist Grund genug. Wollen Sie so oder so Ruhe geben, lieber Graf? – Bitte wählen Sie.«

Persigny war ein mächtiger Mann, Leon ein Nichts, ein sichtlich erschrockenes Nichts; denn er hatte dieses letzte Wort nicht erwartet. Durfte er jetzt noch wagen, sich auf Louis' Londoner Zusage der Zehntausendfrancsrente zu berufen? Sie galt doch noch nicht; denn Louis war noch nicht am Ziel. Sie galt vielleicht nie; denn sie war die Antwort auf eine Bedrohung, die Antwort des Schwachen. Die Verhaftung war die Antwort des Starken. Louis war stark geworden.

»Ich bin der Sohn des Kaisers,« sagte Leon leise.

»So kann Ihnen die Wahl nicht schwer fallen,« meinte Persigny und schritt zur Tür, »und so verhafte ich Sie auch nicht im anderen Falle vom Fleck weg. Wenn Sie mir durch Boten bis morgen Vormittag zehn Uhr die gewünschte Loyalitätserklärung schicken, dann kommt zu Ihnen der Geldbriefträger und nicht die Polizei. Seien Sie vernünftig, lieber Graf, und leben Sie wohl.« Er öffnete die Tür, zwei blitzende Leibgardisten waren zu sehen, die Regie klappte, Leon war bleich.

Der zweite Fall war erledigt, aber er beschäftigte noch den Bearbeiter der Schicksale. – Er ist nun einmal der Sohn des Kaisers, dachte der Prophet, als er durch den Zwischenraum eilte, fünftausend Francs sind nicht viel für den Sohn des Kaisers, ich werde mit Louis sprechen …

Ach, die Zeit war knapp geworden und sie ging auf Kosten des dritten Falles, der eigentlich der schwierigste war. Die Vergeot war zu verheiraten (wenngleich der Milchbruder hartnäckig auf ein ausgedehntes und durch keinen Termin bedrängtes Konkubinat als Probezeit bestand), Leon war zu kaufen oder einzusperren, für die arme Gordon, deren vergangene Verdienste sich unselig mit vergangenen Leidenschaften verstrickten, blieb vielleicht nur die nackte Grausamkeit übrig, der zeit- und leidsparende Gnadenstoß. Es ist bekannt, daß der Vicomte de Persigny nicht nur ein Staatsmann war, sondern auch ein Mensch mit Herz und Gemüt, nicht empfindsam, aber doch gefühlvoll, sogar mit starker Neigung zum Ueberschwang. Zu sagen, daß er Miss Gordon immer noch liebte, wäre indessen nicht ehrlich; denn sie war alt, häßlich, traurig vergangen, ein aufgeschwemmtes Nichts, ein angeschwemmtes Wrack, wert der mitleidigen und wehleidigen Gedanken, aber nicht der Liebe, und für ihn, den wichtigen und stattlichen Mann, waren süße Herzoginnen gerade gut genug: doch er hing noch an den Erinnerungen des Gefühls, er liebte in ihr die Geschichte einer großen Liebe, im Gegensatz zu dem scheinbar erinnerungslosen, kühlen, neuen Cäsar. Ach, besäße der Prophet den Reichtum an Zeit wie an Gefühl: er würde die unglückliche Frau so zart und sanft und langsam aus der Welt heben und in das Grab der Vergangenheit betten, daß ihr das Scheiden gewiß nicht weh täte. So aber, knappe zehn Minuten zur Verfügung, mußte er die Barmherzigkeit und vielleicht auch eine gute männliche Träne zurückhalten und für die eigene Freizeit aufsparen.

Er stürmte in das Zimmer und gab ihr einen gehetzten Handkuß, so daß sie von Anfang an hätte spüren müssen, wie streng die Zeit die Peitsche schwang. Sogar seine Rede war wie gespornt: »Ich freue mich, Sie zu sehen, liebe gnädige Frau, aber meine Zeit ist entsetzlich knapp …«

Ach, sie vergaß die lange Zeit, das Meer der Zeit, die zwischen ihr und ihm aufgelaufen war. Weil er sich wenig verändert hatte, im Aeußern und im Innern, weil er aufreizend war wie je, behandelte sie ihn schlecht, als wäre sie noch seine Göttin. »Ich habe gar kein Interesse, Fialin,« unterbrach sie ihn, »Ihre Zeit zu beanspruchen. Ich habe gar keine Absicht auf Sie, ich möchte den Präsidenten sprechen.«

Das war falsch, das war falsch. Der Prophet schlug schon zu. »Der Präsident bedauert lebhaft, Ihnen sagen lassen zu müssen, was Sie nach der Erfahrung der drei letzten Jahre schon hätten merken sollen. Der Präsident wünscht entschieden und endgültig, von Ihnen in Ruhe gelassen zu werden. Sie erhalten für Ihre unbestreitbaren Verdienste um die Idee eine lebenslängliche Pension von 4800 Francs, Sie sind pensioniert, gnädige Frau, das bedeutet, Sie brauchen nicht mehr tätig zu sein. Der Präsident ist bereit, die Pension auf sechstausend Francs zu erhöhen, wenn Sie sich unverzüglich entschließen, ins Ausland zu gehen. Briefe werden nicht mehr beantwortet. Wenn Sie glauben, hierbleiben zu müssen, wird das Hausverbot über Sie verhängt.«

Während er sprach, gespornt, im Galopp, kamen ihre schweren, schlaffen Backen ins Zittern und ihr vielfaches Kinn ging auf und ab, als spräche sie lautlos mit sich selber. Sie flüsterte auch etwas, immer den gleichen Satz, er wurde deutlich, als der Nachrichter schwieg. »Das ist nicht wahr, das ist nicht wahr, das ist nicht wahr …«

Ihre Augen waren schön geblieben und traurig waren sie immer gewesen. Die feindselige Zeit hatte ihre Augen in Frieden gelassen. Der Prophet konnte nicht mehr in sie hineinsehen, er hatte kein weiches Herz, aber eine zärtliche Seele. So zog er rasch die Uhr. »Ihren Wegzug brauchen Sie nur dem Sekretariat der Präsidentschaft schriftlich anzuzeigen,« sagte er und ging zur Tür.

Sie lief ihm nach, das hohe Zimmer bebte unter ihrer Masse, der Lüster klingelte, sie packte ihn am Aermel: »Informationen, ganz wichtige Informationen!« stöhnte sie. Selbst ihre schlanke dunkle Stimme war kleinlich und fettig geworden; es war mit ihrer Stimme nicht wie mit ihren Augen.

»Ihre Mitarbeit ist unerwünscht,« sagte Persigny und lockerte die enge Kravatte. Der Fall war quälend.

»Thiers spioniert fast jeden Abend um das Elysée,« flüsterte sie hastig und lächerlich geheimnisvoll, »und für die Nachtstunden hat er einen eigenen Geheimdienst …«

»Wissen wir,« unterbrach der Prophet. »Außerdem …«

»Der Abgeordnete Charras hat in einer Geheimsitzung des Quästorenrats die Verhaftung des Präsidenten …«

»Nichts Neues, Frau Gordon, Altbekanntes, und wenn Sie es wissen wollen, unterstützen wir sogar insgeheim diese Staatsmeuterei, weil sie uns ungemein gelegen käme; aber leider gelangt sie nicht aus den Geheimsitzungen hinaus. – Das sind auch Informationen, nicht wahr, Gnädigste, und wenn Sie die andern, die sich auf Sie beziehen, hinzunehmen, dann wissen Sie vollkommen Bescheid. Und damit ist die Zeit abgelaufen …«

Aber sie hing noch an seinem Aermel. »Ich will Doktor Conneau sprechen …«

»Conneau ist in Versailles.«

»Dann Herrn Thelin – nur Herrn Thelin …«

»Thelin ist in Versailles. – Laß mich los, Eleonore, bitte – sei vernünftig, es geht nun einmal nicht anders …«

»Ich will ihn nur sehen – ich will Napoleon nur sehen …«

»Stellen Sie sich doch einfach auf die Avenue Marigny, Madame, wenn er ausreitet. Da stehen immer Menschen. Aber stellen Sie sich nicht in die erste Reihe – er hat scharfe Augen, man soll es nicht glauben …«

Sie ließ ihn los, ja, sie rannte davon, der Lakai im Vorzimmer, der sie unter Umständen hätte hinausschaffen sollen, prallte erschrocken vor der fliehenden Masse zurück und lief ihr dann pflichtgetreu nach, daß sie nicht von dem rechten Weg zum Ausgang abweiche. (Jeder der drei Patienten hatte einen anderen Führer und einen anderen Ausgang: Fräulein Vergeot den Milchbruder zur Marigny, Leon zwei Soldaten zur St. Honoré, Miss Gordon den Lakai zur Rue de l'Elysée: ein guter Regisseur denkt an alles).

Der Fall war erledigt, der dritte und schwerste, die Zeit war etwas überschritten, der Prophet eilte zur Adjutantur. Unterwegs strich er sich mit dem Handrücken über die Augen und dann, wie aus Verlegenheit, die Backenbartbüschel hoch. Die erste Bewegung war ungewohnt, die zweite gewohnt. – Das Leben ist nun einmal hart, dachte er dabei, man müßte ein Herz aus Stein haben, ich habe es nicht. – Aber dann mußte er schon an anderes denken, er hatte viel zu denken, wahrlich mehr als der Riese Atlas, der nur zu tragen brauchte.


Miss Gordon lief die Gasse entlang zu den Champs Elysées. Die Bäume waren schon kahl und unfreundlich. Sie wollte eigentlich fliehen; aber sie lief um das Areal des Palastes herum, sie hatte keinen rechten Willen und ein beschämendes Ziel: sie bog in die Marigny ein. Der Präsident war schon in der Frühe mit großem Gefolge zum Bahnhof St. Lazare gefahren. Trotzdem standen die Unentwegten vor dem Schloßportal. Miss Gordon stellte sich ganz hinten an, sie überlegte nicht viel, sie war ein verstörter Mensch, und doch tat sie gut, nicht vorne zu stehen; denn eine Equipage kam aus dem Elysée und fuhr hart an den ersten Reihen vorbei. In Karrossen, die aus Schlössern rollen, sitzen für die Zaungäste immer vornehme und beneidenswerte Leute. Miss Gordon war so groß, daß sie bequem über die Vordermänner hinweg sehen konnte. In dem Wagen saß der Milchbruder mit Lore, und Lore lachte gerade oder ihre Augen lachten doch, Lore war ihre Freundin, die Gefährtin des Leids, und dieser Aufzug war ein Verrat, ein neuer Schlag mit der Keule des Unrechts. Miss Gordon duckte den Kopf und schrie leicht auf. Ein paar Umstehende wandten sich um; sie riß die Augen auf; denn unter den Gesichtern, die sie ansahen, war ein halbwegs napoleonisches Gesicht.

»Ach,« sagte Leon und trat zu ihr hin, »Madame Gordon!«

Er kannte sie vom Achtundvierziger Wahlkomitee her. Damals war sie noch eine respektable und etwas sagenhafte Persönlichkeit. Ueber ihren Abstieg mochte er durch den kundigen Freund Young-Fitz-Roy unterrichtet sein. Sie kannte ihn besser, länger und vielseitiger, sie kannte ihn durch und durch; denn sie war ihm seit elf Jahren auf den Fersen. Jetzt war sie zerschlagen und unbrauchbar gemacht und alles war unnütz, auch ihre Arbeit gegen den schlimmen Leon. Er sah sie aufmerksam an und sagte dann: »So stehen wir jetzt, wo wir hingehören, nicht wahr, Madame? Außerdem ist er garnicht in Paris, wie mir jemand gerade sagte.«

»Ich gehe,« sprach sie und löste sich aus dem Haufen.

Er ging mit, ohne viel zu fragen, so als gehörten sie zusammen. Miss Gordon litt es, der Novembertag hing grau und schwer in die Straßen hinein, sie fand nicht zu sich und hatte sogar eine unbestimmte Angst vor dem Alleinsein. Gleich auch gehörten sie in Wahrheit zusammen; denn Leon sagte nach wenigen Schritten, mit einer Kopfbewegung zum Elysée hin: »Man hat mich hinausgeworfen.«

»Mich auch,« sagte sie.

»Ich bin der Sohn des Kaisers.«

»Ich bin …« begann sie; aber dann stockte sie.

»Sie sind eine schöne Frau,« redete er.

Sie wußte doch, was er für ein Mensch war, was für ein übler, verlogener, verkommener und gefährlicher Mensch. Oder sie wußte es nicht mehr, so durchrüttelt war sie, und sie lächelte ein wenig auf das Kompliment, sie nahm es an. Sie steckte es ein; denn es war nach langer Zeit das erste gute Wort, nach furchtbar langer Zeit wieder einmal die Anerkennung ihres Geschlechts. Was war es für ein unwahrscheinlicher und undeutlicher Tag! Ihr Kopf dröhnte noch von den Keulenschlägen; aber neben ihr ging der Sohn des Kaisers, neben ihr schwebte sein cäsarisches Profil. Die Straßen glitten an ihnen vorbei, der November vernebelte den Himmel und deckte frühzeitig die Stadt zu. Die Frau kam ins Reden, und als sie nach den ersten Worten merkte, wie gut es tat, von ihrem Leid zu sprechen, und wie gut der Mann es verstand, mitleidig zu sein, lud sie die große Last des Unrechts und der Undankbarkeit ab, die man auf sie getürmt hatte. Leon half ihr kräftig, mit Worten des Unmuts und der Empörung, mit barmherzigen und mit bewundernden Blicken. Sie gehörten zusammen, sie bekamen zur gleichen Zeit Hunger und speisten in einem vornehmen Lokal des Palais Royal. Leon sah sie an und lobte sie, er lobte sie immerzu, er lobte sie als Frau und als Emissärin, er setzte ihr Leben zusammen, das man ihr zerschlagen hatte, und fand es bewundernswert. Dann sagte er, daß er nur fünf Francs bei sich habe. Sie schob ihm unter der Serviette einen Hundertfrancsschein zu.

Die Beiden trieben dem Norden der Stadt zu. Miss Gordon merkte es nicht. Der Abend kam früh, der Nebel umhüllte sie wie ein Sack, sie und ihn und die Straße, die sie gerade gingen, ihr Leben lief in einer Wolke, seltsam losgelöst und sichtlos. Sie wußte plötzlich, daß eine Rückkehr nicht mehr möglich war. Eine Rückkehr wohin? In den Dienst Louis'? In die Sehnsucht nach Louis? Oder einfach die Rückkehr auf die Erde? (Denn sie war nicht auf der Erde, nicht im Himmel, nicht in der Hölle – sie hing zwischen den Räumen). Der Klotz der Porte St. Martin tauchte auf, der riesige Mittelbogen zerstob in der Luft, je zwei Laternchen stocherten mühselig die beiden kleinen Seitendurchgänge frei. Wieder wie an jenem Februarabend 48, als Louis in seine unbekannte Hauptstadt schlich wie der Dieb in der Nacht und von der anderen Seite an Sankt Martins Tor stieß, funkelte von der unsichtbaren Front eines nahen Hauses das Transparent: Estaminet de Strasbourg. Miss Gordon sah hinauf. Das Leuchtband war für sie in die Nacht geschrieben, als Lob der Erinnerung.

»Straßburg!« rief sie aus dem Traum.

Sie gingen in die Schenke und tranken jungen Türckheimer Wein, der ins Blut geht, und Miss Gordon erzählte die Geschichte vom Straßburger Putsch, ihre Geschichte. Leon hörte bewundernd zu und trank viel. Sein geerbtes Gesicht, am Tage vieldeutig und fragwürdig, wurde im trüben Licht der Wirtsstube großartig. Die ihn sahen, stießen sich an, und Miss Gordon wurde stolz auf ihn. Er trank Kaysersberger und dann Zwetschgenwasser und schließlich Absinth. Sie blieb bei dem elsässischen Wein, der ihr gut tat, sonderbar gut. Er bekam schwimmende Augen, doch er wurde nicht betrunken. Plötzlich sagte er: »Jetzt fahren wir zu mir nach Hause.«

»Nein,« sagte sie, aber sie fraß ihn mit den Augen.

»Ich bitte Sie sehr darum,« sprach er artig, »ich habe Ihnen eine wichtige Entdeckung zu machen. Dazu müssen wir ungestört sein.«

Die Droschke ratterte nach Norden. Sie glaubte, daß er sie jetzt umarmen würde, sie wartete wohl sogar darauf; aber er hielt sich still neben ihr, auf den Knien die Flasche Wein und die Flasche Absinth, die er in der Schenke gekauft hatte. In den Lichtschlägen der Straßenlaternen glomm sein Gesicht für den Augenblick gespenstig kaiserlich auf und erlosch schon. Sie spürte eine kleine Angst. »Ich wohne noch vor der Barriere,« sagte er, wie in Sorge, die Fahrt könne ihr zu lange währen.

Das dürftige Hinterhauszimmer war voll von Kaiserbildern. Miss Gordon sah sich nicht um; sie war auch noch von den vier Stiegen außer Atem. Er half ihr aus der kurzen Pelzjacke und berührte dabei nicht einmal ihre Hand. »Hier wohne ich, wenn ich kein Geld habe,« sagte er dabei; »wenn ich Geld habe, wohne ich im Hotel des Princes.« Vielleicht war es Lüge, vielleicht nicht, es kümmerte sie nicht. Sie setzte sich auf das verbrauchte Kanapee hinter dem Tisch und sank tief ein. Sie löste mit einem Ruck die Schleife unter dem Kinn und nahm die kleine enge Schute ab. Sie hatte noch schönes Haar. Er setzte sich nicht zu ihr, der runde Tisch war zwischen ihnen.

»Ich bin religiöser Sozialist,« sagte er überraschend, »ich habe ihm trotzdem geholfen, uneigennützig und nachsichtig. Jetzt gibt er mir den Fußtritt wie Ihnen. Mir geht es wie Ihnen.«

»Ja,« sprach sie wirr, seine Worte mochten Lüge sein oder nicht.

»Sie sind eine große Bonapartistin.« Er fragte es nicht, sondern stellte es fest.

»Ja,« sagte sie. Der eiserne Ofen in der Ecke glühte, die Luft war schlecht und überhitzt, sie atmete beklommen, sie trug ein starkes Mieder.

»Er hat keinen Tropfen meines Blutes,« sprach Leon. »Er betrügt nicht nur Sie und mich und die ganze Nation, sondern auch den toten Kaiser.«

»Nein,« sagte sie leise.

Er trank Absinth aus einem Wasserglas, mit kleinen Schlucken, und sah sie dabei an. »Ich weiß, Sie lieben ihn,« sagte er dann.

»Ja.«

Er stellte das Glas weit von sich, als wollte er es nie mehr berühren. »Wie heißen Sie mit Vornamen?« fragte er.

»Eleonore,« antwortete sie gehorsam.

»Mir geht es schlechter als Ihnen, Eleonore; denn vor Ihnen hat er keine Angst, vor mir hat er Angst.« Sie schwieg und starrte zu ihm empor; denn sie saß sehr niedrig, er ziemlich hoch. Die stinkende Petroleumlampe stand abseits auf einem kleinen Sekretär, das Licht schien gedämpft und geheimnisvoll auf sein Gesicht. Sein Gesicht wurde so kaiserlich, daß sie die Augen schloß. »Ich werde morgen verhaftet,« sagte er schlicht. Sie rührte sich nicht, und er ließ ihr doch Zeit für ein Wort. »Ich habe kein Geld zur Flucht,« flüsterte er schließlich. – Er will ja nur Geld, dachte sie und schwieg. Er wartete. – »Und das ist gut so!« rief er plötzlich und stand auf, »das muß so sein, das versperrt die Feigheit und zwingt zum Mut!« Er ging hinaus.

Sie saß so niedrig, daß ihr die Beine einschliefen, und sie hob sie auf das Kanapee. Der Ofen krachte, das Zimmer wurde immer enger. Sie hatte Durst und trank den warmen Wein aus dem Wasserglas, das er ihr hingestellt hatte. Es wurde ihr noch heißer, sie öffnete sachte das Kleid. Ueber dem Kanapee hing ein Stich von der Statue des nackten Prometheus-Napoleon auf der place Ventimille. Sie starrte es an.

Sie fuhr auf und hielt sich das Kleid zu. Der Kaiser trat ein, die Haarsträhne in der breiten Stirn. Er trug eine dunkle, doppelreihige, viel zu enge Uniform; denn es war siebzehn Jahre her, daß er die Nationalgarde von St. Denis kommandierte. Er war auch viel zu groß für den Kaiser, er überschritt das historische Maß um Haupteslänge; aber auch das konnte Miss Gordon nicht stören; denn sie war noch viel größer als er und hatte für Körpermaße den befangenen Blick der Riesin. – Sein Gesicht! – Ihr Leben war unglaubhaft geworden, aber dieses Gesicht war glaubhaft, oh, es war lebendig und zugleich wunderbar. Er schob den Tisch ein wenig zur Seite und setzte sich zu ihr auf das Kanapee. Sie war mit einemmal betrunken, sie fühlte, wie sie wie ein Boot auf kleinen Wellen trieb, unter dem Zaubermond dieses Gesichts, und daß sie aufgerissen war wie ein leckes Boot und immer tiefer glitt, immer versunkener, und daß nichts doch der Lust gleichkomme zu versinken …

»Ich bin bald sechsundvierzig,« sagte er, »mit sechsundvierzig kam zu meinem Vater Waterloo und das Ende. Zu mir kommt jetzt erst die Mission; aber sie dauert nur einen Pistolenschuß lang.«

Das waren dunkle und grausige Worte, gesprochen vom kaiserlichen Gesicht. Doch sie war betrunken und mondsüchtig, sie wollte versinken und das Antlitz mit sich mitziehen. Sie legte ihre Hände um seinen Nacken und flüsterte: »Den kleinen Hut … hast du nicht das Hütchen …« (Denn auf der Hülle der Weltgeschichte, die in Straßburg der Prophet zum Kaiser trug, lag oben das Querhütchen.)

Ihr Kleid spaltete sich auf und auf das kaiserliche Antlitz sprang für einen Augenblick ein fremdes, freches, gemeines, furchtbar ungehöriges Lächeln. Sie löste erschrocken die Hände von ihm und hielt das Kleid zusammen. Er sagte streng: »Hören Sie doch zu, es geht nämlich um Leben und Tod!«

»Ich weiß schon,« flüsterte sie aus der Tiefe, aus tiefer und verworrener Ueberzeugung, und lächelte noch dazu.

Er schüttelte den Kopf, beugte sich zurück und langte nach dem verstoßenen Glas Absinth. »Nein!« rief sie; denn es war des Gesichtes unwürdig, daß er Absinth trank. Er ließ das Glas auch stehen.

»Er stand schon einmal vor meiner Pistole,« sprach er langsam und kreuzte auf berühmte Art die Arme, »damals wollte es Gott nicht und ich ging in mich und diente ihm, weil ich an seine Berufung glaubte, an seine republikanische Berufung. Ich warnte ihn doch auch vor dem großen Betrug seines Kaisertums, ich warnte ihn sogar auch vor mir. Er weiß, warum er mich fürchtet. Seitdem ich weiß, daß er seinen Eid brechen und seinen Betrug vollenden wird, seitdem ich erkannt habe, mit welchen Mitteln er an die Macht gekommen ist, seitdem ich mit meinen eigenen Augen einen Schuldschein über eine Millionensumme in den Händen eines englischen Zuhälters gesehen habe – des Zuhälters seiner englischen Elysée-Hure, und leider kaufte sie ihm das kostbare Papier für lumpige tausend Francs ab und ließ ihn dann ausweisen – seitdem ich weiß, daß der Zorn des Himmels über den neuen Cäsar kommen wird, fühlte ich wieder den Zwang meiner Mission …«

Hörte sie zu, hörte sie nicht zu? Sie lag vor ihm, ein Gebirge von einer Frau, und fraß ihn mit den Augen. Er packte sie bei den Schultern und schrie: »Ich bin nur ein Mensch, ich habe viel Hölle in mir und viel Angst vor der Guillotine, die hart hinter meiner Mission steht! Hören Sie doch zu! Retten Sie ihn und mich! Sie können es, Eleonore, Sie haben eine Pension, vielleicht auch noch Vermögen, wir fliehen zusammen, wir beginnen irgendwo ein neues Leben …«

»Du willst ja nur mein Geld,« sagte sie zärtlich, »du mit deinem Gesicht – und ich will kein neues Leben …«

»Dann ist es gut!« schrie er, »dann kommt es, wie es kommen muß! Die Uniform, die ich trage, hat einen mörderischen Sinn, Madame, glauben Sie mir – ich stehe morgen als Nationalgardist auf der Marigny vor dem Torgitter, das ist unauffällig – und in der Hand habe ich eine Zeitung und darin ist die Pistole – und ich trete auf den steinernen Prellbock des Tores, wenn er ausreitet oder ausfährt, und dann schieße ich auf drei Meter Entfernung, ein Kinderspiel!«

Er war herrlich in seinem Brutuszorn, ob er log oder nicht. Vielleicht log er nicht, vielleicht war Louis der größere Lügner, der schlechtere Mensch. Er hatte sie fortgejagt: was ging er sie noch an? Das herrliche Gesicht aber war ganz nahe, sie versank und zog es mit sich.

»Wollen Sie ihn retten?« schrie er zornig und wehrte sich.

»Ich will nicht!« jubelte sie. Sie war stark, sie hatte schon einmal einen kleinen Zukunftskaiser aufgehoben wie ein Kind und auf das Sofa getragen, ein unechtes gelbes, entsetztes Gesichtchen. Jetzt küßte sie das wahre Antlitz. Doch dieser Kaiser war viel grober und kräftiger als das Kaiserchen, er biß sie wütend in die Lippen, und als sie den Kopf zurückriß, hatte er die Hand an ihrer Kehle, und sie mußte ihn loslassen und er schleuderte sie auf das verkommene Kanapee, daß die Federn krachten – und der Kaiser, die Uniform zurecht ziehend, schrie: »Alte …« Es war ein Wort der letzten Gemeinheit. –

Miss Gordon mußte bis zum Nordbahnhof laufen, ehe sie eine Droschke fand. Sie hatte große Eile, nach Hause zu kommen. Sie wohnte im Viertel Montparnasse, am anderen Ende der Welt. Es war die letzte Bosheit des Schicksals, ihr einen so langen Heimweg zu schaffen. – Ach, es war nicht die letzte Bosheit; aus dem Rütteltakt des nächtlichen Wagens sprangen die Silben des Berufs ins Hirn: In-for-ma-tion – Information! Sie hatte eine ungeheuerliche Information für das Elysée, ob Leon log oder nicht. Sie konnte an die Scheibe klopfen, sich zum Posten an der St. Honoré fahren und den Wachhabenden herausrufen lassen oder sie konnte beim nächsten Polizeirevier halten – und Louis brauchte nichts von ihrer verbotenen Information zu erfahren. Aber sie tat es nicht, sie begann zu lachen, ich tu es nicht, Sire, es geht mich nichts mehr an, ich habe an mich zu denken, ich habe Eile … – Auch sie hatte eine Pistole; denn ihr Beruf war gefährlich gewesen und außerdem liebte sie ein klein wenig das dramatische Klappern zum Handwerk, wie ihr ehemaliger Freund Persigny. Auch die Pistole war pensioniert und lag im linken Schubfach ihres Schreibtisches; aber sie war immer geladen. Miss Gordon dachte immerzu an das Schubfach: so verging die Fahrzeit; doch der Gedanke an Louis verging nicht. Als der Wagen über den Pont Neuf fuhr, wurde sie fröhlich; denn es fiel ihr eine Information ein, die allerletzte und eine so vortreffliche, daß es schade um sie wäre, würde sie später kommen als der kaiserliche Nationalgardist mit der schießenden Zeitung. Miss Gordon lachte, sie wird mit ihrer großen kräftigen Handschrift ein paar Worte auf ein Blatt Papier schreiben und es auf den Nachttisch legen. Die Leute, die sie dann finden, werden lesen:

»Die Begräbniskosten zahlt der Neue Cäsar, zur Zeit Palais de l'Elysée-Bourbon, rue du Faubourg St. Honoré 59.«


Leon wachte auf und sah sofort auf die Uhr. Er hatte einen schweren und außerdem verärgerten Kopf; aber er dachte dennoch an die Zehn-Uhr-Frist. Nun, es war neun Uhr. Er schrieb eine würdig gehaltene Erklärung, daß er sich den Wünschen und Maßnahmen des Präsidenten ohne Vorbehalt füge. Vierundzwanzig Stunden später kam eine Ordonnanz mit einem Siegelbrief. Leon riß ihn auf und griff zuerst nach der Bankanweisung: sie lautete über tausend Francs. Das war ein neuer Betrug – Leon wurde blaß vor Wut und bekam wieder das Brutus-Gesicht; doch als er das Sekretariats-Schreiben zu lesen begann, ging die Sonne des Lächelns auf, wenn auch keine kaiserliche Sonne: er, Graf Leon, Präsident der Pazifistischen Gesellschaft, wird auf Verfügung des Präsidenten der Republik ab 1. Januar 1852 in den Genuß einer Leibrente von zehntausend Francs gesetzt. – Wie sicher er seiner Sache ist, lächelte Leon und schrieb dann, in seinem verblasenen Stil, einen langen Brief des Dankes. –

Miss Gordon war zu eitel gewesen, um sich in den Kopf zu schießen. Sie hatte sich in die Brust geschossen. Sie lag noch ein paar Tage im Hotel-Dieu. So kam es, daß sich die Gesamtkosten ihres Todes auf 720 Francs beliefen. Der Milchbruder, der der Präsidentschaftskasse vorstand, war beruflich ein genauer Mann. Er fand die Summe hoch und die Zahlungsverpflichtung zweifelhaft. Er ging zu dem Propheten, der zuerst wenig Zeit hatte (denn der Dezember stand vor der Tür) und dann, über den Fall unterrichtet, sehr blaß wurde, totenblaß, und sich beinahe heftig bereit erklärte, die 720 Francs aus der eigenen Tasche zu bezahlen. »Denn ich habe sie einmal sehr geliebt,« erklärte er, »ich will nicht, daß in euren kalten Rechnungsbüchern ihr Tod zu finden ist – sie war eine herrliche Frau …« Er war sehr bewegt und flüsterte: »Auch Louis hat sie sehr geliebt und ihn vor allem müssen wir in diesen schweren Tagen schonen, verstehen Sie, mon vieux? Ihn müssen wir mit dieser traurigen Schlußrechnung verschonen – und Conneau muß auf die Zeitungsausschnitte acht geben …« Sein Gesicht wurde ganz krumm und er schlug plötzlich mit beiden Fäusten auf seinen prunkvollen Louis-XV-Schreibtisch: »Das Leben macht einen schlechter als man ist, mon vieux!« Der Milchbruder begriff den Schlußsatz nicht und noch weniger die heftigen Fäuste; aber er verstand sehr gut die geforderte Rücksicht auf eine alte Liebe; denn er lebte ja gerade in einer jungen Liebe.

 

Rubikon

Der erste Dezember war ein Montag. Der übliche Abendempfang bei dem Präsidenten der Republik unterschied sich wenig von den früheren Montagabenden. Es hatte Soirees gegeben, die stärker, und wieder andere, die schwächer besucht waren. Der Besuch also war mittelmäßig, auch die Besucher waren mittelmäßig, wenn man will; denn die großen parlamentarischen Namen blieben schon seit dem Sommer fort, seit der Revisionsverwerfung. Die elysäischen Montage waren keine Zwischenakte der Neutralität mehr, beim besten Willen nicht. Aber die Stimmung der anwesenden Mittelmäßigen war vorzüglich, von einer leichten Heiterkeit wie im Zwischenakt eines Lustspiels. Denn der berühmte Staatsstreich war im Begriff, ein Komödienstoff zu werden, und in der Höhle des sanften Löwen zu spazieren, war ganz vergnüglich und brachte zum wenigsten den politischen Witz der Woche ein. Wetten-ja? Wetten-nein? Ach, es wurde schon langweilig, eine dreijährige Gewitterwolke ist eine abgestandene Drohung. Nun ja, die literarischen Seher unter dem Oberbefehl des Propheten sahen neuerlich ganz wirksame Gespenster: das rote Gespenst der Kommune, geführt vom roten General Cavaignac und den roten Parteihäuptlingen, und das weiße Gespenst der Restauration, geführt vom weißen General Changarnier und den lilienhaften Herren Thiers und Berryer, tauchten mordbrennerisch oder reaktionswütig im Rücken des Désiré auf, dem die Stricke der Verfassung Arme und Beine fesselten. Nun ja, nun ja, er sprenge die Stricke, es geht so nicht weiter, wir wissen es, aber wir wissen es schon zu lange, wir haben keine Lust mehr zu wetten – nur die Wetter aus Leidenschaft wetteten jetzt, mit Rücksicht auf Weihnachten, auf den Januar –, wir sprechen schon mehr vom Erdbeben von Saloniki oder vom neuen italienischen Tenor oder vom neuen Lotterieskandal als vom Staatsstreich: er mache in Gottes Namen endlich seinen abgestandenen Staatsstreich!

»Wann setzt ihr uns endlich vor die Tür?« fragte ein Spaßvogel von einem Abgeordneten einen Dezembristen – und gewiß wußte er, daß der neue Cäsar in der Nähe stand.

»Bald, lieber Freund, ich hoffe, recht bald,« tröstete der Dezembrist den Witzigen und klopfte ihn herzlich auf die Schulter. – Louis stand in der Nähe mit dem alten Grafen Flahaut, er war heute kein finsterer Präsident, er trug sein dünnes Lächeln hierhin und dorthin, er hörte mit seinen scharfen Ohren dies und jenes, die Witzbolde bewiesen ihm ziemlich dreist ihre Ahnungslosigkeit, das war gewiß gut; aber der Unernst dieses Abends, der einen schweren Ernst in den Falten seiner Nacht verbarg, kränkte ihn heimlich. Es war die alte Kränkung für den ernsten Mann, der Unernst klebte an ihm so hartnäckig wie das Glück; aber sein Glück war doch so humorlos wie er. Der alte Flahaut, der so viel Glück erlebt hatte, wunderte sich über jedes neue Glück, jetzt über das unausbleibliche Glück des Staatsstreiches. Er war gefühlsselig und erinnerungssüchtig und wußte doch so wenig wie die Spaßmacher, was die nahe Nacht verbarg. »Wenn ich Sie sehe, Monseigneur,« gestand er bewegt, »denke ich immer an …«

»... an Napoleon, nicht wahr?« half Louis freundlich.

»... an Horten... an die Königin,« sagte der Alte inständig, »sie war die mutigste Frau und einmal …« Flahaut führte das Taschentuch an den Mund und biß vorsichtig mit seinen falschen Zähnen in den Stoff, so lebendig war die Erinnerung an Hortense, wie sie damals neben ihm von St. Leu nach Paris fuhr, im letzten Augenblick vor der Geburt seines Kindes, und wie sie mit den Zähnen das Spitzentuch zerriß, wenn die Wehen kamen, wie sie, lautlos, mit den Zähnen den Schmerz zerriß – doch das konnte er dem Präsidenten nicht sagen, natürlich nicht – – aber wie hieß nur die Straße, die schreckliche Straße, in der sie seinen Sohn bekam und mit maßloser Härte beide von sich stieß, den Sohn und den Vater: wie hieß nur die Straße? Er fand die Straße nicht.

»Wo ist eigentlich mein Sohn, Hoheit?« fragte er; denn er fand auch den Grafen Morny an diesem Abend nicht, er war sehr stolz auf seinen Sohn.

»Im Theater,« sagte Louis zerstreut, um seinen trüben Kopf stand Zigarettendampf, sein Kopf war umwölkt wie seine Augen. Der Bruder war im Theater, in der Opéra-Comique, zur Premiere von »Blaubarts Schloß«, um sich in seiner gewohnten Orchesterloge zu zeigen, um aller Welt zu zeigen, wie harmlos dieser Montagabend sei. Gewiß, er wird nur bis zur großen Pause bleiben, er hat kurz nach zehn Uhr hier zu sein: aber das wußte niemand, das gehörte zum anderen Theater. Louis kniff die Augen zusammen, Flahaut schwätzte greisenhaft gerührt, er konnte ihm nicht verbieten, von Hortense zu sprechen, der großen und wachsamen Mutter, er konnte ihm nicht verbieten, ihr Geliebter gewesen zu sein, die Komödie rührte bis an ihren heiligen Ernst. Der große Speisesaal war lustig, bis auf die feierlichen Lakaien, die Punsch und belegte Brötchen servierten. Selbst die Landschaften an den Wänden waren heiter: da war das Schloß [Benrath] am Rhein bei Düsseldorf, heiter und prächtig, – und der Rhein war doch für ihn ein ernster, gar ein unleidlicher Strom – und im Vordergrund des Bildes spielten Murats Kinder. Alle Gäste waren guter Dinge, und die Wissenden schienen gerne mitzumachen. Der Prophet saß bei seinen süßen Herzoginnen, rotbäckig und glücklich, und man sah ihm den Esprit an, den er entwickelte. Mathilde war hübsch, klug und heiter, dieser Dreiklang gehörte zu ihr, man sah ihr keine Unruhe an, sie kannte ja auch nicht den Inhalt dieser Nacht, sie wußte nur, daß es bald geschehen würde, sie hatte Geld flüssig gemacht und sogar einen Schmuck verkauft, damit der Milchbruder Reserven habe; denn die gute und zuverlässige Stimmung der stark vermehrten Garnison Paris kostete viel Geld –, sie sorgte sich gewiß für ihn und für seine Seele, die sie nicht für kräftig hielt, und für sein Herz, das sie für sehnsüchtig hielt und dennoch niemandem gönnte, auch nicht der vorsichtig fernen Eugenie – doch sie zeigte es nicht, sie ließ ihren Dreiklang spielen und lachte mit ihrem bärtigen Antinous. Der General Vaudrey federte ewig jung und aufgepolstert umher, Kavalier des Empire, des alten und des neuen, blitzender Feldherr des kalten Büfetts, und er kommandierte die Lakaien wie einst die vierte Artillerie, glorreich, aber im Grunde überflüssig. Der Kriegsminister unterhielt sich mit dem berühmten Novellisten, der trotz seiner kalten Augen die »Carmen« geschrieben hatte und zudem ein alter Freund der Familie Teba war; und konnte man aus ihren heiter besinnlichen Gesichtern schließen, was sie sprachen, so ging es wieder um gefährliche Frauen. Der Polizeipräsident stand bei dem neuernannten Stabschef der Nationalgarde, mit dem der Präsident der Republik vorhin eine wenig beachtete Unterredung gehabt hatte, die Hand an einem Uniformknopf des Obersten – die beiden Eingeweihten standen zusammen; aber auch sie waren nicht ernst, wie es diese Nacht verlangte, sie lachten sogar laut, sie erzählten sich vielleicht Staatsstreichwitze. – Gibt es heute keinen ernsten Menschen außer mir?

Aus dem angrenzenden Salon des aides-de-camp (in dem der große N Sonntags zu speisen pflegte) trat ein ernster Mensch in den spaßigen Saal und blieb verschüchtert stehen. Es war der Lehrer Le Bas.

Louis eilte zu ihm. Es ging so schnell, daß der alte Graf Flahaut noch eine Weile ins Leere schwatzte. Wer aufmerksam war – es waren nicht viele –, der konnte sehen, wie der kalte Cäsar einen fremden Mann sehr innig umarmte. Der Prophet gehörte zu den Aufmerksamen, er hielt sich immer so, daß er den Präsidenten nicht aus dem Auge verlor, er war der Riese Atlas, der alles trug, er war der Christophorus, der den schweren und unwägbaren Herrn auch über den Rubikon zu tragen hatte, er trug selbst die Verantwortung für die Seelenlast des neuen Cäsar und er kannte den umarmten Fremdling. Die Beiden schritten schon aus dem Saal, Arm in Arm. Er holte sie ein. »Welch seltener Gast, verehrter Professor!«, und er schloß sich ihnen an. Doch Louis sagte freundlich, aber mit unfreundlichen Augen: »Bleiben Sie ruhig bei den Damen, lieber Persigny.«

 

»Ja, Philipp, es ist beschlossen, unwiderruflich. Es geschieht bald, sehr bald. Es ist die Erfüllung des souveränen und immer ungeduldigeren Volkswillens. Es geschieht, um die Anarchie zu vermeiden.«

Le Bas lächelte bitter, er war gealtert. »Ich sehe, Hoheit, daß Sie sich die bekannten Schlagworte zu eigen gemacht haben.«

»Nennen Sie mich bei meinem Namen,« bat Louis, »weiß Gott, wann wir uns wiedersehen.«

»Weiß Gott,« sagte Le Bas, »und selbst die Hoheit gilt nicht mehr lange, selbst der Name, mit dem ich Sie nennen soll, gilt nicht mehr lange; denn Sie wollen doch nicht, daß ich Sie Napoleon nenne?«

»Nein, Philipp,« antwortete Louis; »aber verhöhnen Sie nicht Ihr eigenes Herz. Sie leiden ja mehr als ich. Sie dürfen Ihr ganzes Leid aussprechen, Ihre Bitterkeit, Ihre Angst, Ihren Abscheu, Sie dürfen sogar anklagen. Ich werde mich wenig verteidigen; aber ich werde zuhören und uns nicht stören lassen und Ihr liebes Gesicht anschauen. Weiß Gott, wann wir uns wiedersehen.«

»Louis!« flehte Le Bas, »ich bitte Sie, verteidigen Sie sich! Machen Sie mich nicht noch unnützer und vergeblicher, als ich schon bin!«

»Was wollen Sie, ohne Anklage, für eine Verteidigung hören, Philipp? Ich lasse unmittelbar nach der Aktion das Volk, dem ich das uneingeschränkte Wahlrecht wiedergebe, über meine Zwangsmaßnahmen und meine Verfassungsvorschläge abstimmen. Ich tue nichts ohne die Autorisation des Volkes. Ich tue alles, weil das Volk es so will.«

»Louis, darf man den Eid brechen, weil das Volk es so will?«

»Ich habe darüber drei Jahre nachgedacht, und inzwischen hat das Volk meinen Eid zerbrochen, und jetzt reißt es den zerbrochenen Eid von mir ab.«

»Das ist keine edle Erklärung, Louis, keine mutige Verteidigung. Das riecht nach den bekannten Fleckwassern Ihrer Komplizen.«

»Ich habe nur einen Komplizen, Philipp, einen gewaltigen Anstifter, einen unwiderstehlichen Antreiber und Wegbereiter: die Nation.«

»Und warum lassen Sie nicht lieber sich als Ihren Eid in Stücke reißen, Louis?«

»Weil mit mir Vernunft, Ordnung und Wohlfahrt des Staates in Stücke ginge.«

Le Bas bedeckte die Augen mit der Hand, er konnte den kühlen und sicheren Mann nicht mehr ansehen. – Früher, dachte er, berief er sich auf seinen Stern, heute ist er selber Stern, Volksstern, und beruft sich dreist auf sich. – »Louis,« sagte er, »Sie sind nicht aufrichtiger geworden.«

Louis schwieg.

»Louis, jetzt muß ich weiter reden; denn unsere Wege trennen sich ja ganz und gar und ich muß meine verfehlte Sendung bei Ihnen abschließen, ich bin ein schlechter Lehrer, aber dennoch gewissenhaft. Es gibt auf dieser Erde keinen, der Sie länger und besser kennt als ich, und ich kenne Sie nicht gut. Die Undeutlichkeit ist Ihre Kunst, Ihre Waffe und eines der Geheimnisse Ihres Erfolges. Ich bin also nicht hergekommen, weil ich mir einbildete, Sie in zwölfter Stunde von dem Weg abzubringen, auf dem Sie zeitlebens gehen, für den Sie geboren sind und auf dem schon Ihre große Mutter ging, als sie Sie trug. Es muß eine Kraft der Mutterschaft geben, die auch das schwunglose Kind im Schwung des vorgefaßten Schicksals erhält. So erkläre ich mir Ihr erstaunliches Leben, seinen mittelbaren Trieb und sein indirektes Glück. Denn Sie sind kein Cäsar und heißen doch nun so. – Ich bin gekommen, um Ihnen Abschiedsworte zu sagen, ich hatte zwanzig Jahre lang Zeit, sie zu überlegen. Es sind überlegte Worte, Louis, es sind harte Worte. Ich leide dabei mehr als Sie, wie Sie wissen.«

Louis schwieg.

»Louis, ich weiß, Sie sind populär. Sie werden die Absolution für den Staatsstreich erhalten, Sie werden Ihre neue Zweikammerverfassung mit der Präsidialspitze mühelos erreichen, Sie werden durch Senatskonsult das Kaisertum vorschlagen und es wiederum durch das Plebiszit mühelos, und sogar mit großartiger Mehrheit erreichen, in einem halben Jahr oder in einem Jahr. Das ist der technische Weg, wie ihn Ihre ungeduldigen Freunde schon oft skizziert haben. Sie können mit dem Volk machen, was Sie wollen. Aber man kann zu Ihrer Rechtfertigung auch sagen: das Volk kann mit Ihnen machen, was es will. Was sind Sie also für ein brüchiger Cäsar, Louis – haben Sie darüber schon nachgedacht? Warum sind Sie der Désiré? Weil Sie zur richtigen Zeit da sind. Gut, das ist schon ein Verdienst, das ist das passive Genie der meisten Volkstribunen, das ist die gute Position aller Revolutionsgewinnler. Denn, nicht wahr? jede Revolution schlägt immer höhere Wellen des Radikalismus, die Große Revolution gebar fünf, sechs Springfluten von Blut und Terror, dann kam der Große Napoleon, der Mann der Vorsehung, die das entsetzte Volk immer vor die leichte Wahl stellt: Selbstvernichtung oder Vernichtung des Wahnsinns. Das Volk war gewitzigt und im Grunde revolutionsfeindlich geblieben. Achtundvierzig schlug zwei kleine, blutige Ringe: dann kamen schon Sie, namens Napoleon. Ist das keine glatte empirische Rechnung? Ja und nein, Louis. Denn ich sage Ihnen: der echte Bonapartismus ist eine einmalige Exaltation gewesen, der letzte und gänzlich unfranzösische Wahnsinnsring der Großen Revolution. Unser Volk liebt nicht und nie mehr das Kolossalische, das Uebertriebene, Maßlose, das Irrationale. Wie also kamen die zwei Spekulationen so trefflich zusammen: das Ordnungsbedürfnis und die Vernunftsgier der Nation mit dem bewußten Trieb Ihrer Existenz? Nicht durch Zufall, Louis, nicht nur durch die grimmige Mathematik der Zeit, wahrhaftig nicht durch Ihre persönliche Leistung, Louis, sondern durch einen zugleich verlegenen, höhnischen und gewissenlosen Kompromiß der Zeitgeschichte. Unser Volk hat eine religiöse Liebe für die Tradition, sie ist das einzige, vor dem unsere ironische Vernunft verstummt, und unsere Gloire ist eigentlich unübersetzbar. Die Traditions-Gloire unseres Jahrhunderts ist Napoleon, keineswegs der unfranzösische echte Bonapartismus. Sie, Louis, erscheinen in dem wunderbar richtigen, verhängnisvoll richtigen Zeitpunkt, wo eine Generation zwischen uns und der Gloire steht. Das heißt: die Alten haben die Menschenhekatombe vergessen, die sie gekostet hat, und die Jugend kennt nur die Aureole. Die gewitzigte Zeitgeschichte aber findet Sie, einen reizenden, liebenswürdigen, maßvollen, gänzlich unnapoleonischen Menschen namens Napoleon. Sie zieht Ihnen die Traditionsuniform an, und das Volk glaubt an die Wiederauferstehung. Ihr habt euch auf den Kompromiß des unechten Bonapartismus geeinigt. Glaubt ihr denn, daß es gut gehen wird? – Um Gott, Louis, glauben Sie denn, daß es gut gehen wird?«

Louis schwieg.

»Louis, der erste Bonapartismus war das Verhängnis der ersten Jahrhundertshälfte, nicht nur für uns. Der unechte Bonapartismus, der prompt mit der Säkularmitte anhebt, wird das Verhängnis der zweiten Hälfte sein, und die Dritte Republik, die einmal sein schweres Erbe antreten wird, wird noch darunter zu leiden haben, sicherlich auch Europa. Sie haben Achtundvierzig verdorben, Louis, nicht nur in Frankreich, sondern in aller Welt, aber Sie verderben noch mehr, viel mehr. Sie verderben alles, wie Sie an Tugenden aufzeigen; denn auch Ihre Tugenden sind unecht. Sie sind liberal und werden den Liberalismus verderben; denn Sie werden als liberaler Kaiser, lächelnd und liebenswürdig, zur Tyrannis kommen, um sich halten zu können, zur offenen oder versteckten. Und Ihr verdorbener Liberalismus wird weiter wirken, weil er sich als handlich und praktisch erwiesen hat, und vielleicht noch das zwanzigste Jahrhundert unglücklich machen. Sie wollen den Frieden, Sie lieben ihn sogar; denn Ihr Wesen ist unkriegerisch und Ihr Herz, Ihr gutes Herz, kann sich wohl verschließen, aber vielleicht nicht verhärten. Doch Sie prägen die falsche, die blasphemische Formel: das Imperium ist der Friede, und Sie verderben damit den Frieden; denn Sie züchten damit den anspruchsvollen Nationalismus, der bald, Louis, sehr bald an Ihrer Traditions-Uniform und der musealen Gloire sich übergesehen haben wird. Der Kompromiß wird an der furchtbaren Gloire scheitern, die man von Ihnen verlangt, früher oder später. Sie werden mit Ihren Kriegsgottrequisiten Kriege machen müssen, um den Sturm der Enttäuschung von innen nach außen zu lenken. Sie werden mit Ihren weichen Händen das harte französische Schicksal versuchen müssen, das jenseits des Rheins ist, Sie werden gegen das rätselhafte Land ziehen müssen, das Ihnen das erste Wissen und die erste Sprache gegeben hat, vielleicht auch den sanften und eigensinnigen Traumwandel Ihrer Geduld. Sie, der blutscheue Mann, werden Blut säen und Blut ernten, Sie werden den furchtbaren Wechselhaß vom Sieger und Besiegten auslösen und den unabsehlichen Wechselgang von Triumph und Revanche, der über die Generationen hinzieht und sie vernichtet oder für die nächste Vernichtung aufspart. So wie Sie diesen Staatsstreich machen: so unwillig-willig, so vergewaltigt-gewalttätig, so gequält rabulistisch werden Sie die Welt vergiften müssen, mit dem Verhängnis Ihrer Unechtheit und mit den Drogen Ihrer Liebenswürdigkeit, und wenn es Gottes Zorn will, wird das Gift noch hundert Jahre wirken. Und da Sie klug sind, sehr klug, so klug wie schwach gegen den Trieb Ihres Lebens, da Sie immer klüger werden, immer schwächer auch gegen die Strömung, so werden Sie vielleicht der Einzige sein, der erkennen wird, wohin Ihr Zeitstrom geht. Sie sind nicht zu beneiden, Louis; denn Sie werden sehenden Auges sein, immer hellsichtiger, immer nebliger und immer willenloser. Sie sind kein Cäsar, Louis; denn Ihr Glück ist keine Sonne, sondern ein Grubenlicht.«

Louis schwieg.

»Louis, ich, liebe Sie seit mehr als dreißig Jahren, und dies jetzt ist der Epilog. Ich sollte mich damit begraben lassen, aber dazu bin ich noch zu jung. Wäre ich maßlos und rabiat wie die Brutusse und Catos aus meines Vaters Kreis, so käme ich bis zur heroischen Konsequenz, Sie zu töten, um der Nation und um Ihnen selber den Cäsar zu ersparen, oder mich zu töten, damit ich aus dem alten Dilemma herauskomme Aber ich tue weder das eine noch das andere, ich habe nicht das Zeug dazu, ich bin skeptisch gegen derlei und ich bezweifle auch, ob jene merkwürdige Frau Gordon, die möglicherweise der einzige Held unserer Zeit ist, an Cato dachte, als sie neulich das andere getan hat; denn sie war doch, schien mir immer, vom Cäsar besessen.«

Louis schwieg, ja, er schwieg auch jetzt noch, er empfing stumm Stoß um Stoß, er mußte doch bluten – er ließ die schweren Lider hängen und rauchte schon geraume Zeit nicht mehr, das war alles.

– Er ist unheimlich, dachte der Lehrer, er ist, wenn er will, unmenschlich, er kann sich doch verhärten, rings um das weiche Herz herum, ich spreche gegen einen Stein, wenn er will.

»Louis, wozu habe ich dann noch das Zeug, wenn ich nicht groß handeln und nicht klein beigeben will? Ich habe im Sommer für die Revision gestimmt, um Ihnen den Meineid zu ersparen. Es war umsonst und wohl auch nicht nötig; denn Sie sind auch damit fertig geworden. Jetzt, Louis, gehe ich zu den Feinden über; denn Sie haben ja noch Feinde, glauben Sie mir. Der Widerstand ist organisiert, und dient er auch nur dazu, der Truppe die gute Gelegenheit zum Schießen zu geben. Ich gehe auf die Barrikade, Louis, vielleicht komme ich dann aus dem Dilemma.«

Louis schwieg und der Lehrer war fertig, er war ausgepumpt und leer und sehr unglücklich. Louis sah aus wie ein kummervoller Schläfer.

»Sprechen Sie doch ein Wort!« flehte Le Bas verzweifelt.

»Lieber, lieber Feind,« sagte Louis weich und gehorsam.

Le Bas rief erschüttert: »Das genügt nicht, Louis – nach alledem!«

»Nach alledem …« sann Louis und hielt den Kopf etwas schief. »Philipp, ich habe unser Arenenberg verkaufen müssen, – aber ich werde es zurückkaufen, wenn ich Kaiser bin.«

 

Persigny war zerstreut und sein Esprit ließ nach. Endlich erschien Louis wieder im Saal, allein. Der Prophet hatte scharfe Augen: Louis' Gesicht war unverändert, er zeigte sein schläfriges Lächeln jedem, der es sehen wollte. Persigny war beruhigt und wieder galant bei der Sache; aber er hatte die Uhr im Kopf. Er suchte mit den Augen den Kapitän Laity, der den Blick auffing und leicht nickte.

Louis winkte dem eleganten Kommandeur eines Versailler Kavallerieregiments. »Sie fahren heute noch zurück, Herr Oberst?« – »Ich wollte eigentlich im Hotel übernachten, Hoheit.« – »Sie haben die Freundlichkeit, zurückzufahren und die Nacht in der Kaserne zu bleiben. Es könnten Orders kommen.« – »Zu Befehl, Hoheit.«

Louis lehnte an einer Säule, plötzlich müde. Irgend jemand redete auf ihn ein. »Ja ja,« sagte er hin und wieder. Er sah zu Persigny hinüber. – Was soll ich ihn fragen? dachte er. Soll ich ihn fragen, warum sich die Gordon das Leben genommen hat? Was für eine dumme Frage! Denn er wird nicht antworten: um Ihretwillen. Warum soll ich fragen? Wenn ich so verhängnisvoll bin, wie Le Bas sagt, muß ich mir die Neugierde gänzlich abgewöhnen. – Sporen schlugen leicht zusammen, Louis sah auf, Kapitän Laity sagte: »Zehn Uhr, Herr Präsident.« – »Danke, mein Lieber,« sagte Louis und sah ihn an. – Er hat auch die Gordon schon vergessen, dachte er, und tanzte doch auch in ihrem Reigen mit.

Als er sich auf stille Art zurückziehen wollte, sah er Mathildens ernsten Blick. Er ging zu ihr, sie kam ihm entgegen. »Ich muß noch etwas arbeiten,« sagte er lächelnd, »ich darf mich verabschieden, Liebe.«

»Ich gehe auch,« sprach sie, und sie setzte leise hinzu: »Wenn Sie es nicht bald wagen, Louis, nimmt man es nicht mehr ernst.«

»Mein Ernst genügt,« sagte er, »und Sie dürfen mir für diese Nacht alles Gute wünschen.«

»Lieber Gott …« flüsterte sie und wurde blaß. Aber dann sagte sie laut und lustig: »Also gute Nacht, Louis, gute Nacht!« Denn es waren Leute in der Nähe.

Kapitän Laity sagte zum Kriegsminister: »Es ist zehn Uhr, Exzellenz.« Dann ging er zum Polizeipräsidenten. »Es ist zehn Uhr, Herr de Maupas.« Der Minister mußte noch ins Ministerium, der Präfekt ins Präsidium. Es waren fleißige Leute, und sie verursachten den allgemeinen Aufbruch. Es geschah ein wenig früher als gewöhnlich; aber man hatte sich nichts mehr zu sagen und auch nichts mehr zu witzeln. Der Präsident hatte sich schon zurückgezogen, man drängte aus der Höhle des sanften Löwen. – »Wette Januar!« rief der Spaßvogel in der Garderobe. Man sah den Kriegsminister und den Polizeipräsidenten das Palais durch das helle Hauptportal zur St. Honoré verlassen.

Der Schloßhof war dunkel. Die beiden Herren schlugen einen überraschenden Haken nach links und drückten sich in eine Kellertür, die nur angelehnt war. Dahinter stand Thelin mit einem Windlicht.


Das Arbeitskabinett war sehr hell, auf Befehl des Präsidenten, gegen den Regiewunsch des Propheten, der von seiner halbdunklen Verschwörerbeleuchtung nicht lassen konnte. Louis saß am Schreibtisch, auf dem zum Ueberfluß noch ein siebenarmiger Leuchter brannte, die anderen standen. Er zeigte ein kaltes Gesicht und gar keine Feierlichkeit. Persigny, der dramatische Mann, war damit nicht recht einverstanden; ihm brannten gewaltige Worte auf der Zunge, lapidare Napoleon-Worte; denn es war doch schließlich eine große Stunde. Der neue Cäsar sagte: »Also!«, weiter nichts, öffnete ein Geheimfach und entnahm ihm einen großen, grauen, versiegelten Umschlag, auf dem mit mächtigen Versalien: Rubikon stand. Das Kennwort hatte der Prophet erdacht und geschrieben, ein klassischer Mann.

»Rubikon,« sagte Louis leichthin, sogar etwas spöttisch, und tat, als läse er es zum ersten Mal. Dann erbrach er die Siegel und öffnete den Umschlag. Es enthielt die offiziellen Dokumente des Staatsstreiches: das Dekret der Parlamentsauflösung und der Wiederherstellung des unbeschränkten Wahlrechtes, die Verhängung des Belagerungszustandes über das Seine-Departement, die Proklamation des Kriegsministers an die Armee, den Aufruf des Polizeipräsidenten an die Pariser Bevölkerung und die Ernennung des Grafen Morny zum Minister des Innern mit außerordentlichen Vollmachten. Louis unterschrieb Akt für Akt mit rascher und leichter Feder. Der Kriegsminister wünschte die Spezialorders für sich und den Kommandierenden General schriftlich und in doppelter Ausfertigung, er war ein mutiger, aber auch ein genauer Mann. Louis diktierte sie klar und knapp seinem Kabinettschef und unterschrieb sie dann. Der Kriegsminister nahm sie an sich und war immer noch nicht zufrieden; er wünschte zum Auflösungsdekret die gesetzliche Gegenzeichnung eines Zivilministers. Die gesetzliche Gegenzeichnung zu einem ungesetzlichen Akt? Louis lächelte. Der Prophet meinte: »Die Zivilminister schlafen bekanntlich, Exzellenz.« Louis sah den Bruder an und sagte: »Herr Minister des Innern, paraphieren Sie.« Der Bruder war im Frack und weißer Binde, er trat an den Schreibtisch und schrieb, weiß behandschuht und nachlässig, seinen Namen in die vorgeschriebene Ecke. Ein Ordonnanzoffizier nahm die für die Nationaldruckerei bestimmten Dokumente an sich.

»Ich wiederhole die Generallinie,« sagte Louis. »Um Mitternacht erfolgt die militärische Besetzung der Nationaldruckerei, der Telegraphen und aller Glockentürme. Um drei Uhr empfängt der Kommandierende General im Kriegsministerium den Aktionsbefehl und übernimmt die vollziehende Gewalt. Um drei Uhr dreißig beginnt der Truppenaufmarsch, der bis fünf Uhr dreißig beendet zu sein hat. Um sechs Uhr setzt die Polizeiaktion ein, um sechs Uhr dreißig müssen alle Verhaftungen erfolgt sein. Um sieben Uhr besetzt Graf Morny mit einer Infanteriekompagnie das Innenministerium und übernimmt die Amtsgewalt. Zur gleichen Zeit besetzt Vicomte de Persigny als Regierungskommissar mit zwei Bataillonen Infanterie das Palais Bourbon, evakuiert die Nationalversammlung und schließt den Staatsrat. Die Verantwortung für alles, was geschieht, trage ich allein, für Gegenwart und Zukunft.«

Jetzt war es eine Weile still. Louis legte den Kopf an die hohe Rückwand des Schreibtischstuhls, blinzelte in das Licht der Kerzen und tastete mit der Hand nach dem Zigarettenkasten. – Er ist unheimlich ruhig, dachte Persigny und reichte ihm Feuer, er ist unheimlich.

Louis zog den Rauch tief in die Lunge. Dann sagte er: »Herr de Maupas, die Liste.«

Der junge Polizeipräsident fuhr ein wenig zusammen; denn er erwartete nicht, daß er noch aufgerufen würde, und hielt gerade im Geist eine Rede an die Pariser Polizeikommissäre, die im Präsidium auf ihn warteten, und diese Rede war von der leisen kühlen sachlichen Rede des neuen Cäsar stark beeinflußt, ja, sie kopierte sie sogar bis auf den berühmten fremden Akzent und das unbewegliche Gesicht. Der große Präsident war imponierend, der kleine strebsam. Er zog ein schwarzledernes Notizbuch aus der Tasche. »Die Haftbefehle sind bereits ausgeschrieben, werden von mir um zwölf Uhr unterzeichnet und ausgegeben. Die fraglichen Straßen werden durch Polizei und republikanische Garde gesichert, soweit sie nicht schon militärisch besetzt sind. Punkt sechs Uhr fünf Minuten werden verhaftet: General Changarnier, rue du Faubourg St. Honoré 3, durch Kommissar Lerat und Kapitän Baudinet; General Cavaignac, rue du Helder 17, durch Kommissar Collin; Herr Adolphe Thiers, place St. Georges 1, durch Kommissar Hubaut I …« Es war eine ziemlich lange Liste.

Louis rauchte schöne blaue Ringe in die Luft. Der Präfekt war am Ende, es war sehr still. Louis warf die Zigarette fort. »Setzen Sie ferner auf die Liste,« sagte er und sah in die Luft, »Professor Philipp Le Bas, rue du Sentier 12.«

Es war so still im Raum, daß man die Kerzen brennen hörte. Selbst der Prophet senkte den Kopf. Nur der Bruder lächelte vor sich hin: es war eine sonderbare Familie.


Louis lag im Bett und las Oden von Victor Hugo. Sie schläferten nicht ein, zum Unterschied von den monotonen Edelversen des anderen großen Dichters; aber Louis wollte sich nur prüfen, ob er in dieser Nacht Gedichte lesen könnte. Nun, er las sie recht aufmerksam, wenn auch mit müden Augen. – Meine Feinde sind treffliche Poeten, dachte er, ich bin das Verhängnis auch für die großen Dichter – das hatte Le Bas vergessen zu erwähnen.

Thelin kam mit zwei Gläsern, einem Glas milchigen und einem Glas klaren Wassers, und stellte das Tablett auf den Nachttisch. Das war das Schlafmittel. Louis schaute vom Buch auf und sah ihm in das Gesicht mit den eingebügelten Falten. – Ob er weiß, daß Miss Gordon tot ist? Ich könnte ihn doch fragen – ich möchte doch gerne von ihr sprechen … – Thelin ließ die Lider hängen wie er und sah immer etwas abweisend aus; Louis wußte auch, daß ihm undienstliche Gespräche unangenehm waren. – Warum soll ich von ihr sprechen? Es läuft ja doch auf die dumme Frage hinaus … Thelin öffnete ein Fenster auf den vorgeschriebenen Spalt und fragte dann wie an jedem Abend (ganz als wäre diese Nacht wie jede andere Nacht): »Was ziehen Hoheit morgen an?«

»Ja,« lächelte Louis, »was ziehe ich wohl morgen an?«

»Zivil natürlich,« sagte Thelin und machte Zeitgeschichte, »denn man kann es keine Parade nennen.«

»Richtig, mein Lieber, ganz richtig. Und Sie wecken mich morgen wie gewöhnlich, gute Nacht.«

Louis schloß die Augen. Jetzt werden die Gedanken anmarschieren, Le Bas hat den Generalmarsch geschlagen, und es sind wahrhaftig nicht lauter neue Gedanken, die er alarmierte. Wenn Louis das große Verhängnis ist, für die Gordon, für Le Bas, für das Parlament, für Frankreich, für Europa, für die Gegenwart, für die Zukunft, wird er füglich in dieser Nacht nicht schlafen können. Aber sieh, das Verhängnis ist die vertraute Wolke und segelt mit ihm sanft in den Raum. – ›Angesichts Gottes und vor dem französischen Volk … schwöre ich …‹ Das ist der Schwur, von weit her, Fetzen des Schwures aus sanfter Ferne, kaum ein Nachruf: so schnell schwebt er davon. Das Leben ruht gut und weich in der Wolke. Gott ist still, sein Schweigen kann Lob sein oder Tadel oder auch nur Geduld gegen den Geduldigen oder Langmut gegen das schwere Herz. Louis schlief ein, ohne das Schlafmittel.

Es marschiert, es marschiert, es sind doch die aufgewirbelten Gedanken, die gegen die Bastei des Schlafes rennen: Louis wacht auf, durch den schwarzen Raum klappt leiser Laut immerzu, trockner Takt, trockner Takt, es ist mein Herz, es ist das laute Herz dieser Nacht, es ist Massenschritt, die Bataillone hämmern herrlich durch die Straßen, sie marschieren auf, sie marschieren!

Louis lächelt. Er will ein guter Kaiser sein. Er marschiert mit, in der Wolke des Schlafes.

 

Louis wachte auf. Die Sonne von Austerlitz schien nicht, wie aus Trotz, es war ein kalter grauer Tag. Thelin brachte eine Depesche des rührigen Polizeipräsidenten. Sie lautete napoleonisch:

»Sieg auf der ganzen Linie.«

Es war eine komische Depesche; denn im Programm des Staatsstreiches war keine Schlacht vorgesehen. Das neue Reich begann unernst.

Paris wachte auf und las die Proklamationen. Nun gut und endlich! Niemand weinte dem Parlament eine Träne nach. Aber was für eine schreckliche Kriegsmaschine setzte der liebe, alte Staatsstreich in Bewegung? Paris konnte sich nicht rücken und nicht rühren und kaum atmen: ein so großmächtiger Waffenpanzer lag plötzlich auf der Stadt. Eine Soldatenmauer stand von den Tuilerien bis zum Elysée, auf den Boulevards, um alle öffentlichen Gebäude, auf allen irgendwie strategischen Punkten; Kanonen auf dem Konkordienplatz, vor der Madeleine, auf dem Bastilleplatz, auf dem Bourgogneplatz: will Désiré mit seinen vielen Kanonen auf die vielen Spatzen schießen? Paris ist eine ironische Stadt. Aber die vielen, neuen Staatsstreichwitze kamen so wenig auf wie die Barrikaden. Der Panzer war zu dicht.

Louis ritt aus, mit cäsarischem Prunk, in einer Wolke von Generälen, zwischen Soldatenmauern. Der Staatsstreich war eine Parade, nichts als eine neue Parade; ganz im Hintergrund das Publikum sah es nicht anders. Louis kehrte mittags zurück und war sehr ernst. Der Glockensturz seiner Macht war über das große Gelächter gestülpt. Das Rumpfparlament, das in einer Mairie tagte und den Präsidenten der Republik dramatisch und sinnlos außerhalb des Gesetzes stellte, wurde zusammengetrieben wie eine Schafherde und interniert. Der Tag war still, viel zu stille. Die Stadt war viel zu still.

Im Elysée war es still. Der neue Cäsar saß unter dem Glockensturz seiner fugenlosen Macht und wird vielleicht ersticken. Es wäre der schaurigste Witz seiner Zeitgeschichte.

»Wir haben zu reinen Tisch gemacht,« sagte der Bruder. »Paris ist an seine Dreitagerevolution mit den bekannten Steigerungen gewöhnt. Wir werden uns danach richten müssen, sonst glaubt man uns nicht, daß wir ernst gemacht haben.«

»Wo sind denn,« rief Louis, »die polizeinotorischen Terrorgruppen, die Anarchisten und Kommunisten?«

»Sie sind schon da, Louis; aber sie finden leider nicht das kleinste Plätzchen, sich zu entfalten.«

»Selbst Le Bas sagte, daß der Widerstand organisiert sei. Ich bemerke nichts.«

»Fürchten Sie, Louis,« lächelte Morny, »daß Sie Ihren fürsorglich verhafteten Freund Le Bas ganz umsonst von den Barrikaden und dem Standrecht bewahrt haben?«

»Ich fürchte den Unernst, Morny.«

Am 3. Dezember sagte der Innenminister zum Kommandierenden General: »Der Plan des Gegners ist, sich totzustellen und die Truppe zu ermüden. Sie haben nicht nur die Generalvollmacht, Exzellenz, Sie haben auch unser Vertrauen.«

Am Nachmittag und gegen Abend zog der Chefgeneral die Truppen aus der Innenstadt zurück. Am Abend und in der Nacht sprangen die Barrikaden aus der Erde.

Die Nacht war sehr unruhig, die regelrechte Nacht vom zweiten auf den dritten Revolutionstag. Die Gerüchte, die quer durch die Häuser wehten, waren die Sturmzeichen. Das Elysée sei gestürmt, der Prinz verhaftet, der Prinz erschossen. Man glaubte es nicht; aber man fröstelte. Der Ernst strich kalt über die Stadt.

Louis sagte zu Conneau: »Eine Preisfrage, Doktor. Was geschähe, wenn ich mir, sozusagen aus purer Bosheit, heute Nacht das Leben nähme?« Der Arzt sah ihn bestürzt an. Louis sah gelb aus, aber er lächelte. Er schlief mit Schlafpulver. Conneau und Thelin wachten abwechselnd im Nebenzimmer.

Der Chefgeneral saß über dem Plan von Paris und zeichnete die Barrikaden ein, die man ihm laufend meldete. Dann teilte er die Stadtviertel unter seine Divisionäre auf. Er kam aus der alten Garde und hatte keine Nerven. Er sagte zum Innenminister: »Ich lasse der Kommune bis zum frühen Nachmittag Zeit. Dann dürfte ich sie beisammen haben. Neugierige soll der Polizeipräsident warnen. Hoffentlich hat der Prinz gute Nerven.« – »Er hat gute Nerven,« bestätigte Graf Morny.

»Sie haben gute Nerven, Louis,« sagte er am Vormittag des 4. Dezembers zum Bruder, »aber ein weiches Herz.«

»Unsere Mutter hatte ein zähes Herz,« sprach Louis.

»Heute ist der berüchtigte dritte Revolutionstag,« sagte der Bruder, »wir tragen ihm Rechnung und bleiben dennoch bei der bewährten Pünktlichkeit. Punkt zwei Uhr beginnt der Ernst.«

»Es ist nicht der blutige Ernst, den ich meine,« flüsterte Louis.

»Monseigneur,« sprach der Bruder, »man darf sich gewiß Handschuhe anziehen, wenn man Revolution macht. Aber die Handschuhe, es ist nun einmal so, verhindern nicht, daß Blut an die Finger kommt und ein wenig auch unter die Nägel.«


Louis saß an seinem Schreibtisch, der auch der Schreibtisch des großen N gewesen war. Ein Fenster stand offen. Draußen schien die Sonne, verspätete Austerlitzsonne, eine eigenwillige, ungehörige und tückische Sonne; denn sie lockte die Neugierigen auf die gefährliche Straße, trotz der Warnung, die überall angeschlagen war. Die Luft war kalt, aber Louis fror nicht. Vor ihm lag seine Taschenuhr, zwischen seinen flachen Händen, die er auf die Tischplatte drückte.

Punkt zwei Uhr begann die Luft zu trommeln und dann zu pauken und dann zu krachen. Seine Hände flogen auf, er drückte sie auf die Platte zurück, er schwitzte vor Anstrengung, so schwer war es, die Hände im Zaum zu halten. Es wurde auch mit Kartätschen geschossen, er hörte es, er war gelernter Artillerist. Es dauerte stundenlang, schien es ihm; er gewöhnte sich schließlich daran. Die Hände wurden ruhig.

 

»Zweitausend Tote und Verwundete, vorsichtig gerechnet,« meldete der Bruder, »der amtliche Bericht wird noch viel vorsichtiger rechnen. Der Ernst ist auf der ganzen Linie gewonnen.«

Der Kaiser sah zum ersten Mal die Wolken vor seinen Augen. Der Anblick nahm den Atem und auch die Sicht auf das Leben; denn die Wolken waren rot. Aber das Herz hatte nur einen Augenblick ausgesetzt. Dann schlug es weiter.

 

Finis libri

 


Der zweite Roman von der Tragödie des neunzehnten Jahrhunderts: » Kaiserreich« erscheint 1935.

 


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