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Meister Olivers Haltung nach dem Abzug des Herzogs war den wenigsten begreiflich. Er wandte seinen ganzen Einfluß auf, um das Temperament der Stadt von unnützem Lärmen gegen Brüssel abzuhalten. Er erreichte es durch die ihm ergebenen Zünfte bei den Stadtschöffen, daß in den ersten erregten Tagen die Häuser der herzoglichen Beamten durch Bewaffnete geschützt und die in Schutzhaft genommenen Führer der proburgundischen Partei ohne Beeinträchtigung ihrer bürgerlichen Ehre und Stellung freigelassen wurden. Durch die Stimmen dieser Leute und der Gemäßigten unter den Zunftmeistern gelang es ihm, eine knappe Majorität gegen die Radikalen aufzubringen, die ein Bündnis mit dem vor der offenen Rebellion stehenden Lüttich verlangten.
Am Tage nach dieser geheimen Beratung traf Oliver den Pieter Heuriblocq vor den Lagerhäusern der Koornlei. Der Kaufmann, der keiner der regierenden Körperschaften angehörte, war dem Meister nach jener Auseinandersetzung und unter dem Eindruck der letzten Ereignisse ängstlich ausgewichen. Als er ihn jetzt unvermutet neben sich sah, versuchte er, seine Angst unter kalter Höflichkeit zu verstecken. Doch Oliver machte eine ungeduldige Handbewegung und sagte ernst:
»Man will dir nicht schaden, Heuriblocq, im Gegenteil, man braucht dich.«
Pieter sah ihn mißtrauisch an. Der Meister zog ihn in einen Torweg, sagte ihm mit leisen, knappen Worten Thema und Resultat der Abstimmung und forderte ihn auf, nach Brüssel zu fahren und sie seinen Geschäftsfreunden mitzuteilen – geschickt natürlich, scheinbar nebenbei, zwischen zwei beruflichen Gesprächen. Heuriblocq runzelte die Stirn:
»Hältst du mich für so dumm, Oliver, daß die plumpste deiner Teufelsfallen für mich gut genug sei?«
Der Meister schüttelte ärgerlich den Kopf: ob er nicht das Stadtgesetz kenne, welches Amtsgeheimnis verletzende Ratspersonen als Hochverräter bestraft.
»Und was willst du damit sagen, Necker?«
»Mein Gott, Heuriblocq, ich will damit sagen, daß du, ein unbeamteter Mann, mich, ein Ratsmitglied, von diesem Augenblick an in der Hand hast. – Glaubst du jetzt noch immer an Fallen und siehst du mir nicht meine Sorge an?«
Der Kaufmann schwieg. Seine Sorge sei, fuhr Oliver fort, daß der Herzog die Stadt zu gleicher Zeit und nicht anders behandeln werde als Lüttich; es gelte, ihn zu beruhigen.
»Da du ihm gute Nachricht bringen kannst«, schloß er, »darfst du dir den persönlichen Gewinn in Ziffern ausrechnen, Pieter.«
Er ging. Am Nachmittag kam Heuriblocq zu ihm und sagte ihm, daß er den Auftrag übernehme. –
Die Ereignisse gaben dem Meister recht. Lüttich schlug los, ermordete die herzoglichen Beamten und stieß bis Sankt Truiden vor. Es gab noch schwere Tage für Oliver und die gemäßigten Stadtschöffen, als die Radikalen über ihre Köpfe hinweg das wilde Genter Volk unter Waffen riefen. Der kühne Schachzug des Magistrats, der auf den Rat (oder auf die Lüge) Olivers den Sieg des Herzogs vierundzwanzig Stunden zu früh manifestierte, brachte den Umschwung. Zwei der Aufwiegler wurden in eiligem Gerichtsverfahren hingerichtet und die Brüsseler Regierung in dem Augenblick von dem Urteil unterrichtet, als der Herzog in Wahrheit die Lütticher Kräfte bei Sankt Truiden und Tongern schlug. Während er vor Lüttich zog und nach wenigen Tagen fast kampflos die Stadt nahm und schwer bestrafte, schickte Oliver den Pieter Heuriblocq ein zweites Mal nach Brüssel. Als er zurückgekommen war, überraschte der Meister den Magistrat mit einem ungeheuerlichen Vorschlag: wollten sie der Stadt den gewichtigen Teil der Privilegien und den Frieden erhalten, so genüge die Neutralität nicht mehr, so sei ein Loyalitätsbeweis notwendig, der freiwillig auf rein formale Vorrechte verzichte. Er rief mit erhobener Stimme den erregten Unterbrechenden zu:
»Ich weiß, was ich rede, ihr Herren! Ich weiß vielleicht auch, warum ich so rede! Meine Bemühungen haben ein redliches Teil zur Stärkung der gentischen Partei und zur Zurückgewinnung der gentischen Rechte beigetragen. – Ist einer unter euch, der meinte, meine Vorschläge der letzten Zeit dienten einem anderen Interesse als dem gentischen?«
Man schwieg.
»So darf ich dem Hohen Rat um des Wohles unserer guten Stadt willen empfehlen, ohne Verzug zehn der angesehensten Bürger mit den Bannern der Zünfte nach Brüssel zu schicken, demütig zu Fuß nach Brüssel, und sie dem Herrn Herzog zu Füßen zu legen. Er wird sie zurückgeben oder er wird sie behalten. Was tut es? Es gibt Seide genug in Gent. Der junge Herr liebt Zeremonien. Die Geste der Demut wird ihn die Demütigung vergessen lassen, die er plant – wahrhaftig, ihr Herren, die er plant!«
Die letzten, laut und eindringlich gesprochenen Worte ließen keinen Einwand zu. Der Erste Schöffe fragte nach einer schweren Pause:
»Würdet Ihr bereit sein, die Delegation zu führen, Meister Necker?«
Oliver bedachte sich einen Augenblick, mit geschlossenen Augen und dünnen Lippen, die Hände gegen die Tischkante pressend. Jetzt antwortete er langsam:
»Ich danke meinem Herrn Schöffen für die ehrende Frage. Ich bin bereit, der Delegation anzugehören. Sie zu führen, besitze ich, der jüngste Zunftmeister, nicht genügend Qualifikation. Eine solche Ernennung schadete dem Unternehmen, zumal in den scharfen Augen des Herzogs.« –
Man wählte als Führer der Abordnung den Dritten Stadtschöffen, als Mitglieder außer Oliver vier Ratsherren und drei Zunftmeister, die mehr oder weniger zur burgundischen Partei gehörten, und auf Olivers Vorschlag den Weinhändler Heuriblocq, dem er seine Brüsseler Informationen verdanke. –
»Anne«, sagte Oliver lächelnd, als er zu Hause war, und küßte sie, »das große Spiel beginnt. Aber Gent wird von mir nur um einen guten Barbier und neun brave Bürger gebracht; und das ist kein zu hoher Preis für seine Rettung. – Und unser großes Spiel beginnt, Anne.«
Die Delegation brach zwei Tage später auf, nachdem die Stadt in feierlicher Proklamation die Sorge für ihre persönlichen und beruflichen Interessen auf sich genommen hatte. Jedes Mitglied hatte einen Diener bei sich, Oliver den Daniel Bart. In Wetteren, dem ersten Rastort, nahm der Meister in einem unbemerkten Augenblick ein florentinisches Pulver. Auf dem Weitermarsch wurde er gelb im Gesicht und bekam Fieber. Er schleppte sich, auf Daniel gestützt, bis Aalst. Dort brach er zusammen, delirierend, mit glasigen Augen. Er mußte unter der Obhut Barts in einem Gasthof zurückgelassen werden. Heuriblocq versuchte, mit dem Phantasierenden allein zu sprechen. Aber Daniel Bart wich nicht vom Bett und sagte endlich mit bösen Augen:
»Herr Pieter, mein Meister sagte noch in Gent, daß Sie nicht weniger wissen als er. Was wollen Sie also von ihm?«
Heuriblocq ging ohne ein Wort hinaus. Da Oliver in einem lichten Augenblick nach dem Priester und nach Anne verlangt hatte, sandte der bestürzte Schöffe kurz vor dem Aufbruch der Delegation einen berittenen Boten nach Gent, um die Neckerin herbeizurufen. Es überraschte den Boten ein wenig, die Frau bereits reisefertig zu finden; aber ihr heftig geäußerter Schmerz über die Erkrankung des Mannes und einige Silbertaler hielten den Aalster davon ab, weiter über die Zusammenhänge nachzudenken.
Die Abordnung, die den Verlust Olivers als Erschwerung ihrer Mission beklagte, kam mißmutig nach Brüssel, wunderte sich, daß zu ihrem Empfang nicht die geringsten Anstalten getroffen waren, und ahnte nichts Gutes. Sie wartete viele Tage, ehe sie vorgelassen wurde, trotz des Antichambrierens des häufig abwesenden Heuriblocq. Als die Mehrzahl der Delegierten schon willens war, nach Gent zurückzukehren, und ihre Absicht der Behörde mitteilte, war die militärische Bewachung ihrer Quartiere die Antwort. Schließlich empfingen sie in wenig höflicher Form den Befehl, vor dem Herzog zu erscheinen. Sie fanden einen sehr ungnädigen Herrn, der vor ihren Augen die Banner zerreißen ließ und die Genter als Geiseln zurückbehielt, um sich – wie er grimassierend sagte – vor künftigen Wundern Sankt Lievins zu schützen. Im übrigen sei seine Gnade groß; denn er wolle vorerst kein anderes Exempel gegen Gent statuieren, sosehr die aufsässige Stadt es verdient habe. Er gebe ihnen die Erlaubnis, einen ihrer Diener nach Gent zurückzuschicken, um den Magistrat von der Lebensgefahr zu unterrichten, die sie bei der kleinsten Insurrektion in der Stadt liefen. – Als die Delegierten unter Bedeckung ins Quartier zurückgebracht wurden, merkten sie, daß Heuriblocq fehlte. Er wurde am gleichen Tag vom Herzog als Steuereinnehmer nach Lüttich gesandt.
Die Wirkung des schwachdosierten Präparates – eines jener Geheimmittel, mit denen die florentinischen Apotheker ihren jeweiligen Herren wirksamer dienten als Kondottieri – wurde durch ein gemäßes Antidot in wenigen Stunden neutralisiert. Anne fand den Meister bereits in heilsamem Schlaf. Am nächsten Morgen war er wieder bei Kräften und sagte dem Wirt, daß er bereits nach Brüssel weiterreisen könne. Die drei verließen auch Aalst in südlicher Richtung, schwenkten aber bei dem ersten Dorf westlich ab und kamen nach Oudenaarde, wo das Gepäck und ein fester Reisewagen auf sie wartete. Sie schlossen sich einem Kaufmannszug an, der nach Valenciennes ging. Sie waren schon in Paris, als in Gent das Gerücht laut wurde, der kranke Meister sei mit der Neckerin und seinem Altgesellen zwischen Aalst und Brüssel auf rätselhafte Weise verschollen; man vermutete, daß sie Opfer von Strauchdieben oder der feindseligen Bevölkerung geworden waren. Man beklagte sie ehrlich, noch voller Leid um das Schicksal der anderen Delegierten. –
Oliver hatte schon unterwegs erfahren, daß der Hof in der Touraine weile, und Jean de Beaune von seiner Ankunft unterrichtet. Er wartete in Paris auf die Antwort. Nach etlichen Tagen kam in das Gasthaus nahe der Porte du Temple, dessen Adresse er angegeben hatte, ein Kurier mit dem nicht signierten, doch durch königliches Siegel geschlossenen Befehl, seinen Aufenthalt in Paris zu benutzen, um gegen den Franziskanermönch Antoine Fradin, dessen Predigten in der Klosterkirche bei der Porte Saint Germain vieles Aufsehen erregten und dem König mißliebig seien, Material zu sammeln; dann solle er nach Amboise kommen.
»Anne«, lachte Oliver, »der Herr will mir noch einen Prüfstein in den Weg rollen – oder ist es schon das große Spiel?«
Sie hörten eine Predigt des Fraters an. Viel Volk war zusammengelaufen. Der Mönch, ein schöner Mann, zeigte seine guten Zähne. Seine mächtige Stimme füllte und färbte die graue gotische Basilika. Er donnerte gegen die Sünden des Fleisches und gegen die Wollust und gegen das Laster der Hoffart; er gebrauchte kräftige nackte Worte –, Oliver lächelte; und schon klagte er, mit einer kleinen Tonverschiebung die sinnliche Atmosphäre über den Zuhörern lockernd, ohne sie indes aus ihrer folgsamen Erregung zu lassen, über die Laster der Stände, glitt unmerklich in die Politik, tadelte die schlechte Justiz der Städte, der Herren und Fürsten; schon nannte er die Person des Königs, mit fanatischem Schwung der Stimme seine Kühnheit berechtigt, fast selbstverständlich machend: unser großer König! – dann schwieg er zwei Sekunden, der mächtige Raum wagte nicht laut zu atmen, die Frauen hingen berauscht an seinem Gesicht: doch die Kritik machte einen kleinen Bogen; es war, als hätte die Stimme sich vor der Majestät verbeugt: Der König ist gut, der König will das Gute; aber die Leute, die ihn umgeben, sind schlecht; sie sind Erpresser, Henker – und vielleicht Verräter! – Oliver kniff die Augen zusammen. – Der Mönch hob die Stimme noch höher und sprach fast leise, die Augen von den Köpfen fort in die Höhe gehoben: er sehe Gefahr für den König, Gefahr für das Land; die Verräter wollen Krieg; das Volk wisse, was Krieg ist; die Stadt möge an die Drangsal der letzten Belagerung denken, von der kaum drei Jahre sie trennen; man vermeide Krieg! – Oliver betrachtete ihn ernst. Er flüsterte der Neckerin zu:
»Der Mann ist nicht ungeschickt; mir scheint, es steckt allerlei hinter ihm; aber sein Körper ist dumm und dumpf wie der eines Stiers. Er ist mit den plumpsten Mitteln zu fangen.«
Anne beichtete bei ihm, nicht mit gesenkten, sondern mit fordernden Augen. Nach der hastigen Absolution bat er sie, erregt über ihren Hals fingernd und das Busentuch verschiebend, um eine Zusammenkunft. Die Neckerin nannte eine bestimmte Stelle im Wald von Neuilly nahe dem Seineufer; dort würde sie am kommenden Tag nach Einbruch der Dunkelheit ihm zu Willen sein. Doch als der Bruder Antoine zur angegebenen Zeit den bewaldeten Hügel hastig vom Ufer aus hinanstrebte und gerade noch einen Schatten sich vom Dickicht lösen sah, empfing er einen starken Schlag gegen den Hinterkopf. Daniel Bart hob den Ohnmächtigen auf und band ihn mit Olivers Hilfe an einen Baum. Dann hielt ihm der Meister eine scharf riechende Essenz unter die Nase. Der Mönch öffnete die Augen, stemmte sich gegen die Stricke und wollte schreien. Aber die Säure, durch den Mund geatmet, erstickte ihn fast. Oliver, der die Blendlaterne aus großer Nähe dem hustenden Frater ins Gesicht scheinen ließ, steckte die Phiole ein und brachte die Order mit dem königlichen Siegel in den Lichtschein. Er sprach fast höflich:
»De par le roy, Bruder Antoine; es wäre also nicht angebracht, Zeter und Mordio zu schreien. Sie sind leider in die Falle gegangen. Daß Sie von Beruf ein Moralist und von Natur ein Bock sind, gehört zu den häufigsten Späßen, die sich der liebe Gott mit uns erlaubt. Als sündiger Mensch könnte ich Sie also begreifen; doch als Justizagent des Königs hätte ich dadurch schon Material genug, um meinen Leuten zu gestatten, sowohl die Wirkung des Strickes als auch Ihr augenblickliches Verhältnis zu diesem Baum im sehr wörtlichen Sinn zu erhöhen und als bekannte Sanktion des Verfahrens die Lilie in die Rinde zu schnitzen.«
Er ließ für den Bruchteil einer Sekunde den Lichtkegel der Laterne zur Seite schwingen, wo Daniel Bart – nach Art der Henker im ärmellosen Wams – in der Übertreibung der Schatten mit mächtigen Schultern wie ein Zyklop hockte. Der Mönch sagte heiser und hastig:
»Ich unterstehe nicht der weltlichen Gerichtsbarkeit, sondern der meines Priors.«
Oliver lachte leise:
»Wissen Sie denn nicht, Frater, daß sich der König nicht nur häufig, sondern auch mit augenscheinlichem Vergnügen über solche Vorurteile hinwegsetzt? – Und glauben Sie denn, er würdigte Sie einer eigenen Order, nur weil Sie ein Bock sind? Der Bock ist doch nur der Sündenbock für das andere – und das andere ist, daß man keine Böcke schießen darf, wenn man politischer Agent ist, Bruder Antonie. – Von dieser Sünde kann ich Sie auf keinen Fall absolvieren.«
Der Mönch preßte die Lippen zusammen und blinzelte in das Licht. Dann bat er leise:
»Darf ich das Gesicht dessen sehen, der mit mir spricht? - Es ist schwer, gegen das Dunkel zu antworten. Und die Sprache, die ich höre, ist nicht die eines Profosen.«
Er schloß die Augen und ließ den Kopf sinken.
»Vielleicht versucht mich der Teufel wie in jenem Weibe«, stöhnte er.
Oliver riß die Augen auf und ließ das Licht einen Augenblick in der Nähe seines gewaltsam starren, hohlwangigen Gesichts.
»Apage Satana!« schrie der Mönch, rüttelte an den Stricken und begann, sinnlos rasch zu beten.
»Frater!« lachte Oliver, »ich könnte jetzt mit dieser simplen Phantasmagorie alles aus Ihnen herausbekommen, was ich nur wollte; aber ich will es auf schlichtere und verlässigere Art tun, als es die zufällige Regie einer mondlosen Nacht und Ihre Verwirrung empfiehlt. Ob ich der Teufel oder ein Profos bin oder ob gar der Teufel Profos des Königs ist, mag für unseren Fall ziemlich gleichgültig sein.« – Er sprach plötzlich flämisch, ohne die kleinste Pause zwischen den Sätzen zu lassen: »Und Sie sind Brabanter, lieber Freund, und arbeiten für den Herzog.«
Der Mönch unterbrach das Gebet und schien eine Antwort auf den Lippen zu haben; aber er hustete nur krampfhaft und betete weiter. Oliver sagte ungeduldig, in der gleichen Mundart:
»Frater, das ist keine Teufelei! Ich hörte es schon aus Ihrer Predigt, bei gewissen Worten, die für flämische Zungen schwer sind – trotz Ihres guten Französisch.«
Der Bruder flüsterte mit geschlossenen Augen schnelle lateinische Worte. Oliver sprach über die Schulter auf flämisch:
»Ich habe es satt, Daniel; nimm deine Leute und mach Schluß mit ihm.«
Man hörte das Knacken von Zweigen. Der Mönch, dem der Schweiß über die Backen rann, sah entsetzt in die Finsternis und rief:
»Ja, ich bin aus Brüssel!«
Oliver befahl in die Dunkelheit hinein: »Wartet!« Dann wandte er sich wieder an den Frater:
»Hören Sie mir jetzt zu, Bruder Toon; aus Ihrer Haltung weiß ich genug: Sie gehören zu den Agenten des Burgunders, die zumal in Paris gegen einen Krieg agitieren; denn der Herzog kann ihn jetzt noch nicht gebrauchen, weil er noch genug in seinem eigenen Haus aufzuräumen hat oder weil er vielleicht noch Alliierte sammelt, vielleicht sogar Alliierte unter des Königs eigenen Städten. So sollen Sie den König unpopulär machen. Alles das ist nur für Sie gefährlich, wie Sie sehen. – Aber nun geben Sie acht: Sie sprachen in der Predigt von dem Erpresser – das ist Herr de Beaune, von dem Henker – das ist Herr Tristan; doch Sie sprachen auch von dem Verräter. War es Rhetorik? Oder spielen Sie ein wenig Deum ex machina zugunsten Ihrer Prophetie? – Sie wissen, daß man die beiden ersten nicht ohne den dritten nennt: den Kardinal Balue. - Frater, wenn Sie ihn mit dem Verräter meinen und mir die geringste Unterlage für Ihre Behauptung sagen, schneide ich Sie vom Baum los – und Sie sind frei.«
Er hielt die Laterne so, daß sein Gesicht beleuchtet war wie das andere. Die beiden Männer sahen sich schweigend an. Oliver sprach langsam:
»Ich bin aus Gent, Frater, und diene nur mir, auch wenn ich fremden Herren diene. Und ich schade niemals einem Menschen, der mir Nutzen bringt. Sie werden mich wohl verstehen. Sie bringen mir Nutzen, wenn Sie meine Frage beantworten. So werde ich als Entgelt Ihren Kopf retten, der sonst ohne Rettung verloren ist.«
Der Franziskaner sagte leise, nach kurzer Überlegung:
»Der Kardinal führt von Paris aus heimliche Korrespondenz mit Herrn de Crèvecœur, dem burgundischen Kanzler, in dessen Diensten ich stehe. Einer unserer Konfratres ist der Bote. Der Beweis für ihre Zusammenarbeit ist nicht schwer: der Kardinal wird in kurzer Zeit dem König raten, in eine Zusammenkunft mit dem Herzog einzuwilligen. Das wird für den König die Gefahr sein, von der ich sprach.«
»Weiß der Kardinal von Ihrer Existenz und der Bedeutung Ihrer Predigten?«
»Gewiß nicht«, entgegnete der Mönch; »ich arbeite ganz unabhängig von seiner scheinbar noch zweifelhaften Unternehmung. – Ich arbeite wohl auch für den Fall, daß das offenbare Mißtrauen des Herzogs gegen ihn sich rechtfertigen sollte.«
»Sagen Sie nur noch den Namen des Boten, Frater.«
»Jacques Viole.«
»Ich danke Ihnen, Bruder Toon. – Wir werden uns vielleicht noch brauchen.«
Oliver schnitt die Stricke durch, die den Mönch an den Stamm banden. Fradin bewegte die schmerzenden Glieder. Er möge jetzt gehen, sagte der Meister freundlich, sich ruhig verhalten und die Kanzel meiden. Er habe nichts Schlimmeres zu erwarten als das Verbot, öffentliche Predigten abzuhalten, und als verschärfte Klausur. Der Frater ging mit hastigem Dank, ohne sich umzusehen.
»Der Anfang ist gut«, sagte Oliver zu Daniel Bart, »und nicht einmal schwer.«
Am anderen Morgen verließen die drei Paris, durchquerten das sanfte Beauceland, übernachteten in Orleans und folgten dann dem Lauf der Loire. Zur Zeit des Sonnenunterganges sahen sie das Schloß Amboise, mißtrauisch und abwehrbereit auf dem Felsen, böse inmitten des schönen Friedens fruchtbarer Landschaft – und Anne sagte, Olivers Arm berührend:
»Das wird ein ernstes Spiel, mein Freund. Das ist ein Hasser, der nichts liebt als seinen Willen.«
Oliver antwortete mit einem guten Lächeln:
»Ich liebe außer meinem Willen noch dich, Anne; so bin ich ihm vielleicht überlegen.«
Die schweren Rundtürme des Schlosses schlugen das letzte Rot des Tages hinter Mauer und Fels; seine düstere Silhouette hing in der Luft wie eine Faust, die der Himmel über die Erde ballt.
»Ich habe Angst«, sagte Anne.
Oliver strich ihr beruhigend über die Stirn; doch auch er fühlte den Druck der steinernen Drohung auf die Seele. Er dachte daran, daß jene Residenz wie ein infernalisches Gleichnis die Kellerkerker der Oubliette als Fundament hatte, die furchtbar endgültigen Vergessenheiten für die Feinde des Ludwig Valois, Qualkammern für hundert langsam Sterbende, Schächte der tiefsten Verzweiflung, des erstickten Stöhnens und der vergeblichen Flüche. – Wenn dieser Mann auf solchem Bett schlafen kann, dachte er, und wenn es mir nicht gelingt, ihn schlaflos zu machen, dann ist er der Stärkere und dann wird es schlimm um mich stehen, will ich ihn abschütteln – und dann werde ich ihn abschütteln müssen, will ich nicht ausgesaugt werden ... Er runzelte die Brauen. – Aber wenn es mir gelingt, sein Gewissen zu erspähen und in die Hände zu bekommen, so wird er weder mich noch sein Gewissen abschütteln können ... – Doch er sagte nichts von seinen Gedanken zu Anne.
Schon vor dem stark befestigten Stadttor standen Posten an drei aufeinanderfolgenden Barrieren und prüften die Passierenden. Vor der königlichen Order, die Oliver zeigte, öffneten sich sofort Schlagbäume und Tor. Da es dem Meister zu spät erschien, um mit der müden Frau und dem Gepäck noch aufs Schloß zu fahren, stiegen die drei bei dem nahe gelegenen Gasthof ab. Eine Stunde darauf – es mochte gegen zehn Uhr sein – erschien ein schottischer Leibgardist mit dem Befehl für den Necker, vor dem König zu erscheinen. Oliver unterdrückte Unmut und Müdigkeit und folgte dem Soldaten. Sie gingen durch nachtstille Straßen und stiegen auf steilem, beschwerlichem Pfad zum Schloß empor. Oliver hielt sich dicht hinter dem Führer, weil man ihm von Fußfallen und Eisenspitzen erzählt hatte, die die Zufahrtstraßen bedrohten. In kurzen Abständen rief der Gardist die Parole ins Dunkel; niemand antwortete, doch man hörte neben sich, vor sich, über sich das dumpfe Schüttern gepanzerter Männer, die in ihre Nischen zurücktraten und den Weg freigaben. Jetzt stieg die äußere der drei Umfassungsmauern auf. Drei Tore, unregelmäßig hintereinanderliegend, ließen sie durch kleine Ausfallpforten passieren. Oliver folgte dem anderen durch Höfe, Verbindungsgalerien, verwirrende Gänge, über viele Treppen, durch viele Räume, an unbeweglichen Posten vorbei, immer durch graue, beunruhigende, beklemmende Stille, hinter den ungeheuren Quadern seltsam von der Angst gedrückt, nicht mehr atmen zu können.
Er biß die Zähne zusammen: seine Nerven durften jetzt nicht rebellieren. – Es ist nur Reisemüdigkeit, beruhigte er sich. – Sie kamen jetzt in den vom König bewohnten Schloßflügel. In einem kleinen Kabinett, dessen Wände rings mit flandrischen Gobelins bekleidet waren und das keine Tür sehen ließ, bat der schweigsame Führer den Meister, zu warten. Als sich Oliver in dem Gemach umsah, war der Soldat verschwunden; einen Augenblick hörte man Stimmen. Oliver ging die Wand entlang und suchte in der Tapete nach der Tür, durch die sie eingetreten waren und die eben sein Begleiter wahrscheinlich wieder benutzt hatte. Er fuhr zurück, da der Stoffbehang jetzt unter seinen Händen nachgab und er einen menschlichen Körper berührt zu haben glaubte. Der Teppich schlitzte sich fast unmittelbar neben ihm. Jean de Beaune betrat das Zimmer und begrüßte ihn mit seiner gutmütigen fetten Stimme. Wieder wurde der Behang aufgehoben: ein alter hochgewachsener Mann mit verwittertem Gesicht und wässerigen geröteten Augen in schwarzer Höflingskleidung von erlesenem Schnitt ließ den Stoff hinter sich zurückfallen und blieb an der Wand stehen.
»Meister Oliver«, sagte Jean de Beaune, »bevor Sie den König sehen, will Herr Tristan mit Ihnen ein paar Worte wegen jenes eloquenten Franziskaners sprechen.«
Tristan L'Hermite, der Generalprofos, seit dreißig Jahren im Namen des Königs folternd und henkend, gefürchtet und verflucht wie kein zweiter Mann des Reiches, ging mit etwas unsicheren Schritten und ein wenig vorgebeugt auf Oliver zu und reichte ihm die blasse schmale Greisenhand. Seine Stimme war leise und wohlklingend:
»Verzeihen Sie, Meister, daß ich Sie noch heute abend bitte, mir Ihre Wahrnehmungen über diesen Fall mitzuteilen. Ich möchte noch diese Nacht den Kurier an den Parlamentspromotor abfertigen.«
Die Frage war gut für Oliver; sie erfrischte seinen Geist mit dem Bewußtsein, daß er wohlgerüstet war. Die Mattigkeit des Hirns, welche die Düsternis der Zeit, des Ortes und der Menschen auf nicht gewohnte Art und fast kampflos hatte eindringen und die Seele bedrängen lassen, wich schnell vor der blanken Freude, auch hier Schicksale in der Hand zu haben, zu wissen, was die anderen nicht wußten, auf seine sonderliche Weise ein paar Schritte voraus in der Zukunft zu stehen und die Blinden in die Richtung zu ziehen, die ihm beliebte. Das war die heimliche Technik und die Lust seines Lebens; und sie auch gegen die gesteigerte, gefährliche, vielleicht gleichwertige Energie dieser Herrschenden zu üben, war er hier. – Wie er es gegen gewichtige Gegner zu tun pflegte, die er einkreisen wollte und gegen die er mit Finten begann, sah er antwortend den Frager nicht an.
»Messire«, sprach er in dem höflichen, durchaus nicht gewichtigen Ton eines berichterstattenden Beamten, »der Franziskaner-Bruder Antoine Fradin scheint einer der typischen, rednerisch begabten Ekklesiasten zu sein, die weniger aus orthodoxer Religiosität als aus Freude an der persönlichen Wirkung auf der Kanzel agieren. Er ist also ein mittelmäßiger und harmloser Mensch. Es genügt – und es wird für ihn Strafe genug sein –, ihm durch seinen Prior das Predigen zu verbieten und meinethalben noch strenge Klausur über ihn zu verhängen.«
Tristan kniff ein wenig die Augen zusammen und wiegte den Kopf hin und her.
»Ich danke Ihnen sehr für die Auskunft, Meister«, sprach er freundlich; »aber es möchte mir fast scheinen, als seien für uns die eitlen Priester gefährlicher als die fanatischen. Könnten auch Sie nicht der Ansicht sein, daß der Wunsch zu wirken einen Rhetor sehr leicht einem demagogischen Ziel zuführt? Ist also Ihr Urteil über seine Harmlosigkeit nur als Folgerung aus der Erkenntnis seiner Mittelmäßigkeit zu verstehen?«
Oliver hob etwas den Kopf und lächelte ein wenig.
»Ich glaubte, seine Mittelmäßigkeit zu erkennen, Seigneur«, sagte er geschmeidig, »als ich ihn auf sehr unschädliche Weise von den menschlichen Lastern auf die politischen Laster sich schwingen sah; denn ich hatte bereits Ihre erste Frage präzisiert: ist seine mögliche Demagogie die Folge persönlicher Eitelkeit oder vielleicht gar eines fremden Befehls?«
Der Profos betrachtete ihn überrascht.
»Das eben ist unser Verdacht, Meister«, sprach er nach einer kleinen Pause; »und er wird Ihrer Meinung nach allein schon durch die Art der Predigt entkräftet?«
Oliver sah ihn einen Augenblick an.
»Durchaus nicht, gnädiger Herr: ich hatte ihn zu sprechen und zu prüfen Gelegenheit.«
Tristan war verwirrt und seine Stimme um ein wenig lauter:
»Wenn ich mich aber doch entschlösse, mich seiner Person zu bemächtigen und ihn einem peinlichen Verhör zu unterziehen?«
Oliver betrachtete lässig seine Hände.
»Messire«, sagte er gleichmütig, »auch ich hatte mich seiner Person bemächtigt und unterzog ihn einem gleichsam peinlichen Verhör, wobei mein Diener, ein stämmig gebauter Mann, die Rolle eines Profosknechtes spielte, der jenen aufzuhängen bereit war. – Und der Arme hatte nichts anderes zu gestehen als lateinische Gebete.«
Jean de Beaune lachte, Herr Tristan lachte, hinter den Gobelins lachte ein Dritter. Oliver wandte sich um. Die Bespannung der Wand bewegte sich; Beaune sprang hinzu und hob sie zur Seite. Ein mittelgroßer, etwa fünfzigjähriger Mann trat ein; er trug ein abgenutztes Jagdwams und auf dem Kopf einen alten Filzhut mit kleinen bleiernen Heiligenbildern an der aufgebogenen Krempe. Das bartlose, etwas gedunsene Gesicht war von einer Häßlichkeit, die erschreckte. Über den sinnlichen und brutalen Wülsten der Lippen hing eine ungeheure, schiefe Nase. An den eingekniffenen Mundwinkeln saßen die Kerben der Ironie und der Grausamkeit. Doch die Augen unter geraden, strengen Brauen, in einem Gewirr von Runzeln und Fältchen, waren von merkwürdiger Schönheit, groß, tiefliegend, unbestimmt gefärbt, klug, durchdringend zugleich und undurchdringlich, schwer zu ertragen der Blick und doch anlockend.
Er hat meine Augen, dachte Oliver, als er die Hand des Königs küßte.
Herr Tristan und Jean de Beaune waren still zurückgetreten und standen an der Wand. Der König wandte sich an den Profos.
»Gevatter«, sprach er mit tiefer, tönender Stimme, »du wirst den Kurier nicht abschicken und das Mönchlein nicht mit deinem Namen ängstigen. Wir werden dem Rat unseres Flamand folgen und das Redeverbot für das Mönchlein durch Balue, der ja den Fall von Anfang an für harmlos gehalten hat, auf episkopalem Weg erlassen. – Jetzt, Compères, laßt uns mit unserem Freund Oliver ein wenig allein.«
Die beiden Herren verbeugten sich und gingen. Der König setzte sich auf einen der schweren, hochlehnigen Stühle, die an den Wänden standen, winkte Oliver zu sich heran und betrachtete ihn lange, nachdenklich und dringlich. Er nahm den Hut ab und zeigte eine hohe reine Stirn, die sich unter der Arbeit der Gedanken faltete.
»Oliver«, sprach er dann langsam und fuhr hastig durch das graue Haar, »ich kannte dich besser, als ich dich noch nicht gesehen hatte; ich erkannte dein Genie, das dem meinen ähnlich ist. Ich benutzte es. Ich rief es hierher. Ich erkannte es eben noch, als ich hinter jenem Vorhang lauerte und lachte. Aber jetzt sehe ich nicht in dich hinein, Oliver; nicht einmal die Bestätigung sehe ich, daß ich dein Herr bin – nicht einmal, daß du zu fürchten bist! – Täte ich klüger zu sagen, ich lese in deinem Gesicht und in deinem Blick, was ich erfahren wollte und was abzulesen ich gewohnt bin?«
Der Meister war von dieser Frage seltsam betroffen und fühlte jäh eine tiefe Neigung für den anderen.
»Oliver«, sagte der König wieder, fast flüsternd, »du hast jetzt Augen wie ein guter Mensch. – Freund, selbst die guten Menschen haben vor mir böse oder hassende oder feige Augen. Und man nennt dich den Teufel, und ich rief dich, den Teufel. – Bist du so mutig? Bist du, Le Mauvais, bis zu dem Grade mutig, gut sein zu können? – Ahnst du, was solches Beispiel für mich bedeuten möchte? – Oliver, wirst du den Mut haben, gut zu sein zu einem Menschen, wie ich es bin?«
»Sire«, antwortete der Necker erschüttert, »ich liebe Sie.«