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Drittes Kapitel.
Die Gatten

Carlotta, die zweiundvierzigjährige Königin, war eine stille, früh gealterte Frau, die sich mit dem freudlosen Leben abgefunden hatte. Von Natur nicht einmal sanft und nachgiebig und in der ersten Zeit der Ehe vom hochfahrenden Blut des Vaters und der Anna von Zypern oft zum Widerspruch hingerissen, war sie durch den Kampf mit Ludwigs geistiger Überlegenheit und politischer Härte sehr bald entkräftet. Der König hatte sie als Dauphin geheiratet, weil er als rebellischer Sohn des mächtigen savoyischen Nachbarn Freundschaft brauchte. Auf dem Thron sah sein scharfer Blick des Mailänder Sforza größere Vitalität; er kehrte mit scharfer Wendung Savoyen den Rücken. Die Feindschaft mit dem geliebten väterlichen Haus zerbrach die Lebenskraft der Carlotta; das Bewußtsein ihrer Einflußlosigkeit, die Ludwig bis zu zeremoniellen Unterlassungen und Kränkungen betonte, machte sie menschenscheu; die unbedenklichen oder brutalen Pläne, die neben ihr gegen ihre Familie und ihre Heimat vorbereitet und ausgeführt wurden und die abzuwenden oder aufzuhalten sie keine Möglichkeit hatte, der kaum verdeckte Haß ringsum gegen sie und ihr immer verdeckter Haß gegen ihre Umgebung, die Qualen des von jeder Minute getroffenen und ausgehöhlten Stolzes machten sie alt; die Einsamkeit ihres kleinen Tourainer Schlosses und die abnehmende Kraft ihres seelischen Widerstandes machten sie wortkarg und müde. Als man ihren Bruder einkerkerte, hatte sie keine Tränen mehr.

Die körperliche Isoliertheit, in der sie der König seit fünfzehn Jahren hielt, war der mildeste Schmerz ihres schweren Lebens. Ihr Leib, durch sechs Jahre seiner Gier verwüstet, durch fünf aufeinanderfolgende Geburten geschwächt, wollte nichts als Ruhe. Die Sinnlichkeit flackerte immer seltener auf und starb früh in der Monotonie der Tage. Der frühe Tod des einen Sohnes und zweier Töchter, die ihre zärtliche Art geerbt hatten und ihr die liebsten waren, die tiefe Abneigung der zwei anderen Töchter und ihre Wesensferne – klug, kalt, männlich, schön die älteste, klug, kalt, sehr häßlich und scheu die zweite – dünkten ihrem religiösen Gemüt schließlich nur noch die notwendige und folgerichtige Vollendung ihrer irdischen Passion. –

Der Befehl des Königs, nach Amboise zu kommen, verwunderte sie nur wegen des Ortes; denn es kamen in jedem Jahr Einzüge, gottesdienstliche und höfische Akte vor, bei denen aus zeremoniellen Gründen ihre Anwesenheit nicht zu vermeiden war. Sie liebte diese Gelegenheiten voll von formalem Zwang so wenig wie der König, der selbst in der Öffentlichkeit nicht seine abweisende und übersehende Art gegen sie aufgab. In Amboise aber war sie trotz der geringen Entfernung seit langer Zeit nicht gewesen. Der König hatte es schon bald nach seiner Trennung von ihr vermieden, sie in die Räume seines täglichen Aufenthaltes einzulassen und mit den Menschen seiner gewohnten Umgebung in Berührung zu bringen. Mit den Jahren, als er immer mißtrauischer, immer betriebsamer in seinem befestigten Amboiser Schloß hockte und seine Abneigung gegen sie sich in völlige Entfremdung und Gleichgültigkeit verflachte, wurde jeder persönliche Verkehr und jedes mündliche Wort in einer Weise ausgeschaltet, daß seine Residenz und die Art seines täglichen Lebens ihr fremd und fern zu bleiben hatten, wie ihm der Ort und der Inhalt des ihren. Wenn er sie als Repräsentantin seiner Königlichkeit nötig hatte, beorderte er sie nach Paris, Orleans, Tours, Reims, Lyon, auf die jeweilige Bühne des monarchischen Theaters, und schickte sie nach ihrer Szene rasch wieder fort. In sein Haus gehörte sie so wenig wie in die Nachbarschaft seiner Gedanken und seiner Interessen. Und sie war stets ihrer Berufspflicht gehorsam gewesen: zu kommen, wohin er befahl, ein paar Minuten im fremden Prunk neben fremder Majestät zu sitzen, zu gehen, wenn er es befahl, und still und einsam wieder zu leben, ohne Frage und ohne Klage. – So gehorchte sie auch jetzt, schon wissend, daß sie die dünnen Lippen nicht einmal öffnen werde, um ihr Erstaunen zu gestehen: sie betrete sein fremdes Haus und den unbekannten Bereich seines Tages.

Nicht der König empfing sie, sondern Jean de Beaune, der seinen von Arbeit überlasteten Herrn bis zum Abend entschuldigte und die Fürstin und die wenigen Frauen ihrer Begleitung in die für sie bestimmten, sorgfältig eingerichteten Räume führte. Über den Zweck ihres Aufenthaltes und über seine Dauer sagte der Rat nichts; und seine devote Haltung, anmutig verbunden mit seiner natürlichen Gutmütigkeit, entschied bei der heimlich beobachtenden Königin nicht einmal die Frage, ob er es selber wisse. –

Ludwig indessen arbeitete nicht; er hatte sich seit der Abreise des Bruders im Turmzimmer eingeschlossen, ließ keinen zu sich als Oliver und kämpfte mit sich den schweren Kampf zu Ende. Es waren schlimme Tage für den Hof gewesen, der in der Erregung des unsichtbaren Königs bebte, und für die obersten Verwaltungsbehörden, die von hundert Befehlen, Absetzungen, Strafen aus dem hämischen Turm gequält wurden. Wie immer, wenn sich dieser seltsame Mensch in der Erschütterung einer von innen oder außen kommenden und noch nicht gemeisterten Gewalt von seiner Welt abschloß, so steigerte er auch dieses Mal – krank vor Mißtrauen gegen die eigene Kraft die Aktivität des Selbstherrschers bis zur Tyrannis. Und da er gegen die noch nicht gekannte Macht des eigenen Gefühls kämpfte, da er wußte, daß er es besiegen müsse, doch von dem Widerstand betroffen war und in schmerzlicher, absonderlicher Gedankenverbindung den Einbruch der Greisenhaftigkeit fürchtete, schleuderte er in den Pausen, wütig wie noch nie, durch die dicken Mauern seines Turmes Beweise der ungebrochenen Majestät über den geduckten Hof und das verstörte Land. Oliver, der die Macht gehabt hätte, offensichtliche Ungerechtigkeiten und des launischen Jähzorns brutalste Wirkungen abzustellen, verhinderte nichts. Da er die Zusammenhänge kannte und dem Kampf zusah, gönnte er ihm diese Art der kräfteausgleichenden Erholung.

Denn es waren auch für Ludwig schlimme Tage gewesen. Am Abend nach Karls Aufbruch und der Abfertigung der Kuriere an den Großmeister und an die Königin saß er schweigend und voll heimlicher Unruhe mit Oliver im Arbeitskabinett und hatte nur die eine Frage im Hirn: warum kommt Anne nicht? Als ob es eben dieses neuen und nicht erwarteten Widerstandes, der verhaßten, nahen, unvermeidlichen Störung seiner Liebe bedurft hätte, um sie unersetzlich, einzig und unsagbar drängend zu machen, litt er fast körperlich unter seiner Leidenschaft und dem Zwang, sie immer wieder und gerade heute zu erfüllen. Da er das steinerne Gesicht des Meisters nicht mehr ertragen konnte und sich gerne einredete, die Anwesenheit des Neckers mochte die Frau abhalten zu kommen, schickte er ihn bald fort. Oliver verbeugte sich stumm und sah ihn noch einen Augenblick an, ehe er ging, ohne Erbarmen, wie es dem Fürsten schien, und in den Augen das Nein, vor dem er zitterte. – Dann wuchs die Stille um ihn bis zur äußersten Belastung der Nerven. Der kreisrunde Raum schien vor Stille die Luft zu verdicken. Ludwig sah mit offenem Munde die Wände entlang und atmete schwer. – Warum kommt sie nicht? – Die Gegenstände pflockten sich grausam vor Stille und Sachlichkeit in seinen Blick. Die Welt um ihn und seine Inbrunst war lieblos bis zur Blasphemie. Er trat, irr vor Sehnsucht nach dem Menschen, an einen Spiegel und betrachtete sich – schauderte doch schon, die Schönheit der Geliebten in den Sinnen, vor der eigenen Häßlichkeit und der Maske des alten Mannes, die ihn aus Runzeln und Falten anstarrte. Er trat zurück, in Enttäuschung verzerrt, und fühlte die unbändige Begierde nach Trost, nach der Wohltat der Lüge. Und seine gehetzte Imagination fand sie auf wunderbare Art. Er fand seine Hände, die sehr schön waren und weiß, schlank und schmalfingrig von seinem alten Geschlecht zeugten. Er hob sie, um sie von dem armen Körper zu trennen, seitlich vor den Spiegel, streckte sie, spreizte sie, krümmte sie und freute sich an der Anmut des lebendigen Bildes. – Doch das Spiel konnte nur Sekunden dauern. Die Uhr der Schloßkirche schlug mit bronzenem Ton eine späte Stunde. – Konnte sie noch kommen? fragte er sich gequält, die Arme mutlos senkend. – Er dachte an die anderen Abende, die glücklichen Abende, an denen er um diese Zeit kam und die Anne über den braunen Deckenbalken wußte. – Er wollte wieder lügen – er lächelte wie ein Kind – und mit einem kleinen Kunstgriff ihr die Möglichkeit verschaffen, unbemerkt nach oben zu gelangen, oder sich nur die Illusion geben, daß sie da sein könnte, oder sich nur für einige Minuten, nur für den Weg durch das Zimmer und über die zwanzig glückseligen Stufen der Wendeltreppe die Ungewißheit schenken, ob sie nicht vielleicht doch da sei. – Und er stahl sich aus dem Turmzimmer, schlich die Galerie zum Schloßinnern entlang, bog in einen Nebengang, um ihr den Weg freizugeben, und wartete in einem kahlen dunklen Ratszimmer, sich zu einem Stuhl tastend und mit steifem Rücken sitzend, die Zeit, die er zu warten vermochte – eine kurze oder lange Zeit, er wußte es nicht. Dann ging er zurück, betrat wieder seinen Turm, schloß sorglich die Tür, die er nur angelehnt hatte und deren Spalt gewißlich breiter war als vorhin, durchquerte lächelnd das Zimmer, trat durch die Paneeltür, die er vor seinem Weggehen geöffnet hatte, schritt ein wenig langsamer als gewöhnlich die Wendeltreppe hinauf und hob sachte den Wandbehang. – Der Raum war leer. Das Bett lag traurig und wie vergeblich inmitten der sinnlosen Wollust des Gemaches. Die rücksichtslose versteinernde Stille herrschte auch hier. Die Stoffe, die Farben, das Licht waren Dinge ohne Seele, ja ohne Willen zur Erinnerung, die der Mensch ihnen geben mußte. – Stumpf an der Wand lehnend und mit trüben Augen, hatte Ludwig nicht mehr die Kraft, den Inhalt des Blickes mit der Geliebten zu verbinden. – War sie jemals hier? fragte er sich immer wieder. – Der Raum war leer. – Der König tat den Schritt zurück, den er sich vorgewagt hatte, und ließ langsam wieder die Tapete fallen. Er stieg, in den Knien tief einknickend, die Treppe hinunter. Er schloß die Wandtür erloschenen Gesichts und saß dann in dem königlichen Stuhl, der wie von ungefähr viel zu mächtig für ihn schien, wie alte Männer sitzen: mit rundem Rücken, hängenden Schultern, die Arme zwischen den gespreizten Schenkeln pendelnd. Und er saß so, das Kinn auf der Brust, eine lange oder kurze Zeit, er wußte es nicht.

Doch ein Gedanke dann riß Kopf und Körper zurück und die Augen auf, ballte seine Fäuste und schnellte ihn schon hoch. Er sprang zur gewölbten Bronzeschale, hob den Klöppel, um den nächsten Gardisten herbeizuläuten ... er warf ihn wieder in den ledernen Köcher, den Kopf schüttelnd, lief zur Tür, aus dem Zimmer, die Galerie entlang, daß die Fackel in seinen Händen Funken regnete, stieß den entsetzten Schotten vor seinem Schlafgemach beiseite, durcheilte den Ankleideraum und blieb jäh vor einer Tür stehen, keuchend und mit bebenden Gliedern. Es war die Kammer Olivers, in der er zu schlafen pflegte, wenn er weder beim König noch in seiner Wohnung übernachtete. – Ludwig legte zögernd die Hand auf die Klinke. – Wenn auch dieser Raum ihn enttäuschte! Wenn auch dieser Raum leer war! Großer Gott! Wenn diese böse Nacht noch Blut sehen wollte! – Er schloß die Augen und drückte auf den Griff. Die Tür gab nach: eines Schlafenden tiefe Atemzüge hörte sein Ohr. Er lächelte und öffnete die Lider. Oliver lag ruhig auf seinem schmalen eisernen Bett, die Hände unter dem Nacken, wie es seine Gewohnheit war.

»Nein, nein, nein«, flüsterte Ludwig und schloß leise wieder die Tür, »er ist nicht bei ihr.«

Er ging in sein Schlafzimmer und fühlte mit einemmal die äußerste Müdigkeit, die jeden Gedanken einhüllte. Er konnte schlafen. –

Doch am anderen Abend war die Angst, die gleiche Einsamkeit und die gleiche Pein erdulden zu müssen, so groß, daß sie die Scheu vor dem Necker überwand.

»Bleib! Bleib!« rief der König gequält, als sich Oliver wieder zu früher Stunde zurückziehen wollte. Der Meister setzte sich auf sein Taburett zurück und sah ihn an. Ludwig kämpfte immer schwächer gegen den Wunsch, von Anne zu sprechen. Er hatte es während des Tages nicht gewagt, er hatte nicht einmal Jean de Beaune zu ihr geschickt; denn er wußte seit dem Anbruch der nüchternen Frühe, die ihm die klaren Gedanken brachte, warum der Necker sie trennte. Jetzt aber, vor der erregenden Nacht, erlag er.

Oliver sagte in plötzlichem Mitleid:

»Bestehen Sie diese wenigen Tage, Sire.«

Ludwig sah ihn demütig an.

»Sie kommt auch heute nicht, Bruder?«

»Nein«, sagte der Necker ernst und bestimmt. Der König stand auf und umklammerte seine Schultern.

»Ich will sie nur sehen!« flehte er, »nur sehen!«

Oliver schüttelte den Kopf. »Wenn es Ihnen guttut, Herr«, sprach er, »so sagen Sie sich, sie sei krank.«

Ludwig stützte sich auf ihn, von einem Frost geschüttelt.

»Ich leide!« stöhnte er, »Oliver, ich leide!«

»Leiden Sie, Herr«, sagte der Necker leise; »ich liebe Sie darum.«

Er blieb bei ihm und machte ihn ruhig durch seine gütige Ruhe. – Der König konnte schlafen. –

Am Tag von der Königin Ankunft, als Carlotta schon im Schloß war und geduldig den Abend und sein Erscheinen erwartete, kam der schwere Rückschlag. Ludwig befahl plötzlich und mit scharfer Stimme dem Jean de Beaune, der ihre Grüße zurückbrachte, der hohen Frau zu bedeuten, daß wichtige Geschäfte ihn nach Paris riefen und daß er sie bitte, morgen früh wieder in ihre Residenz zurückzukehren.

»Sie werden begreifen, Seigneur«, wandte sich Oliver gelassen und ohne Zögern an den Hofmann, »daß Seine Majestät zu scherzen belieben.«

»Ich scherze durchaus nicht!« schrie Ludwig und schlug mit der Hand auf die Tischplatte.

»Ich werde mir in einer Viertelstunde den Befehl Eurer Majestät, den auch ich nicht gutheißen kann, wiederholen lassen«, sagte Jean de Beaune gewandt und verließ rasch das Zimmer. Oliver ging auf den Fürsten zu.

»Wenn es kein Scherz war, Sire«, sagte er kalt, »dann war es doch nicht der Befehl des Königs.«

Ludwig schüttelte die Fäuste.

»Der König befiehlt!« raste er. »Gehorcht man ihm nicht mehr?«

Oliver wich zurück und verbeugte sich.

»Der König befiehlt«, sprach er leise; »man wird ihm gehorchen. – Der König befiehlt den Tod eines Menschen; man wird ihm gehorchen.«

Ludwig schrie auf:

»Oliver! Oliver! – Nein! Nein!«

Und dann wieder mit zerbrochener Stimme:

»Ich leide, Bruder, ich leide!«

Der Necker beugte sich über seine Hand.

»Der König nicht, der Mensch leidet«, flüsterte er; »denken Sie an dieses Leid, wenn Sie wieder König sind.« –

Sie schwiegen jetzt. Jean de Beaune kehrte zurück und wartete stumm. Ludwig sah ihn sinnend an.

»Ich beliebte zu scherzen, Seigneur«, sagte er endlich.

 

Der Abend kam. Carlotta unterhielt sich leise und befangen mit ihren Damen. Die ungewohnte Nähe Ludwigs bedrückte sie, die fremden Räume und das Rätsel ihrer Berufung machten sie unruhig. Das Gespräch erstarb. Die Fürstin preßte die Handflächen gegeneinander und schloß die Augen. Ihr Gesicht, das nicht unschön gewesen sein mochte, hatte breite, fast grobe Züge und schien seltsam nackt. Die Stirn, die noch nach der Sitte der Jahrhundertmitte durch Ausrupfen der Haare künstlich erhöht war, wölbte sich wuchtig und männlich über einer kurzen flachen Nase und kurzwimprigen, matten, etwas vorstehenden Augen und zog sich oft in schmerzlichen Falten zusammen. Der Gebrauch von Sublimatschminken hatte die Haut grau gemacht, die Zeit und der Kummer hatten nicht mit Runzeln und körnigen Vertiefungen gespart. Geringe Bewegung und die vielen Geburten nahmen dem schweren Körper das Straffe der Jugendjahre und gaben ihm Fett und Unförmigkeit.

Carlotta seufzte leise und hob traurig die rasierten, mit dünnem Strich geschminkten Brauen. Eine Hofdame wollte sie erheitern, nahm die Laute und begann eine sanfte Gagliarda, die die Fürstin liebte. Carlotta nickte den Takt mit dem Kopf und summte mit. – Jetzt wurde die Tür geöffnet. Das Lied brach ab. Ein Page, auf der Schwelle, sagte:

»Der König!«

Die Hofdamen standen auf. Carlotta ordnete erregt und hastig die schweren Falten des Kleides, die Füße einziehend, und sah aufrecht, mit einem wehen Lächeln zur Tür hin. Ludwig trat mit schnellen Schritten ein, nahm den schäbigen Hut ab und küßte flüchtig ihre Hand. Sie sahen sich einen Augenblick an; sie sahen beide in ihren Augen das Erstaunen über ihre gealterten Gesichter. Den König schien ihr Blick zu verletzen. Er warf den Kopf zurück und sagte unfreundlich zu den anwesenden Frauen:

»Die Damen wollen mich mit Ihrer Majestät allein lassen.«

Jene gingen mit höfischer Verneigung. Der König starrte auf den Teppich, der unter dem Sessel Carlottas lag. Er preßte die Lippen zusammen und atmete laut und schnell. Er sprach nichts. Die Fürstin war durch den unverwandten Blick auf ihre Füße, durch sein Schweigen, durch die Bedrängnis auf seinem verquälten Gesicht vollends fassungslos. Die Knie zitterten ihr unter dem steifen Brokat. Sie hustete vor Pein. Ludwig sah rasch auf und musterte sie mit grausamer und rätselhafter Genauigkeit, betrachtete langsam Haare, Stirn, Augen, Nase, Mund, Hals, Brust – und sein Blick blieb auf ihrem Schoß. Er sprach nichts, er preßte die Lippen zusammen. Carlotta brannte im Feuer einer seltsamen Scham. Sie wußte nicht, warum sie sein Blick zugleich aufwühlte und niederschlug. Sie wußte nicht, warum er sie so ansah und ihren Körper kränkte, der ihm doch nicht mehr zukam. Sie hielt es nicht mehr aus, machte mit den Schultern eine Bewegung, die hilflos und erschütternd mädchenhaft war und faltete wirr die Hände über dem Leib.

»Sire ...«, flüsterte sie gefoltert.

Der König schaute auf. Ihr Gesicht war durch die Erregung unregelmäßig gerötet und glänzte ein wenig feucht. Das Runzelgewirr unter den Augen schwoll zu kleinen Säcken und schien die Pupillen noch mehr herauszudrücken. Sie war jetzt so häßlich, daß Ludwig sich heftig abwandte und sich in brutaler Entfernung hinter einen Stuhl stellte wie hinter eine Barrikade. Carlotta senkte den gedemütigten Kopf. Er rüttelte an dem geschnitzten Zierat der Rückenlehne, als sei die Überwindung der eigenen Stummheit eine Mühe der Muskeln. Er begann endlich mit heiserer Stimme:

»Sie mögen sich wundern, Madame, daß ich Sie hierherzukommen bat. Es handelt sich ... es handelt sich ... um einen Entschluß ...«

Dieser Mann, dem die Worte zu Gebote standen wie die hörigen Menschen seines Reiches und dessen großer Geist noch kein Ziel erkannte, das er nicht erreichte oder zu erreichen gewiß war, stockte hilflos nach zwei gestammelten Sätzen, hilflos vor Widerwillen. Das furchtbare, innerliche, immer lautere, dröhnende Ich kann nicht!, daß das Herz mit dem Blut durch den Körper zu jagen schien, in jedes Glied und jeden Nerv, erwürgte die Sprache. Er hob den schweren Stuhl an den Säulenknöpfen des Rahmens auf und wurde rot vor Anstrengung.

»Ich freue mich ... freue mich, Eure Majestät wiederzusehen«, stotterte Carlotta, um ihm zu helfen.

Der König ließ den Stuhl krachend zurückfallen und stöhnte besiegt die drei Worte, die allein sein Hirn noch wußte:

»Ich – kann – nicht ...«

Carlotta sah auf ihre gefalteten Hände und hatte Tränen in den Augen. Ihre Schultern zuckten. Sie begriff diese neue und nicht mehr erwartete Qual sowenig, wie sie die vielen Leiden der Vergangenheit von Grund auf erkannt hatte. Aber sie wagte nicht zu fragen. Sie flüsterte nur nach einem langen Schweigen, während Ludwig seinen Kopf zwischen den aufgestützten Händen hielt:

»Haben Sie Sorgen, Sire?«

Der König achtete nicht auf die Frage. Er schien jetzt einen Gedanken zu fassen und richtete sich auf.

»Madame«, sagte er leise, »ich habe einen treuen Diener, einen vertrauten Menschen, den ich zu Ihnen schicken werde und den Sie anhören wollen. – Es gibt Dinge, Madame, die schwer auszusprechen sind. Da ich sie nicht sagen kann, soll er sie Ihnen sagen. Warten Sie wenige Minuten und bleiben Sie allein. – Und verzeihen Sie mir.«

Er ging hastig hinaus, die Schultern hochgezogen. – Carlotta, ein wenig in sich zusammensinkend, verwehrte jeder Frage den Einlaß und dem schmerzenden Kopf den Versuch, zu überlegen und gegen den Angriff zu rüsten. Sie saß gebückt und stumpf und sah zu Boden, sah unter ihren Füßen den kleinen erlesenen Teppich aus Isfahan, der auch Ludwigs Blicke angezogen hatte – das sanfte Spiel von Farben, Rosa, Elfenbein, Grün, Rot, auf dunkelblauem Grund, Bäume, gerankte Zweige, Blätter, Knospen, Blüten, Früchte –, wahrhaftig, die armen Augen sahen nur dies und ersetzten die Minuten des gehorsamen Wartens durch ein liebliches Prisma.

Dann klopfte es sacht. Carlotta nickte nur, als könnte der Fremde draußen ihre müde Bewegung hören wie ein Jawort. Und er hörte es wohl; denn die Tür öffnete sich sofort. Die Königin sah auf, in plötzlicher Spannung. Ein hagerer Mann mit rotem, etwas angegrautem Haar und blassem scharfem Gesicht trat ein und verbeugte sich tief, richtete sich schnell wieder auf und kam mit der Sicherheit des Menschen näher, der eine Entscheidung mit sich trägt. Zwei Schritt vor der Sitzenden blieb er stehen und sah sie mit freiem Blick an.

Er hat seine Augen, dachte sie, durch diese Wahrnehmung sonderlich berührt; aber sie kränken mich nicht. – Sie wurde ruhiger.

»Ich höre, Seigneur«, sprach sie schlicht.

Oliver senkte etwas den Kopf und strich mit der Hand über Stirn und Schläfe. Er war innerlich nicht ganz so fest, wie er es zeigte. Das erschöpfte Gesicht des Königs, das er eben sah, und das Ich kann nicht!, das er eben hörte, hatten ihn betroffen. Und Anne war krank geworden, noch ehe er zu der florentinischen Phiole gegriffen hatte – unter Symptomen krank, die ihn mit einem dunklen Verdacht erfüllten. Sollte er die Kraft der Neigung, die Ludwig von ihm übernahm oder selber erzeugte, unterschätzt haben? Oder sollte er, was schlimmer wäre, sie mit unbewußtem Willen – als Rächender doch – unterschätzt haben? War die Menschenseele so stark, daß sie noch – aufgegeben und dem anderen hingegeben – in Ludwigs Schicksal ungebrochen weiterarbeitete? War er, außer sich gebracht, als Mensch überwunden und aufgesogen, selbst in dem fremden Leben noch der Stärkere, und ohne es zu wollen? – Und dies vor allem: spürte er den geringsten Wunsch, daß dem so sei oder nicht so sei? – Er hatte den Kopf geschüttelt, als er den König verließ. Alle diese Fragen waren unnütz und vielleicht sogar schädlich; denn sie lockten die Gedanken nach rückwärts und bargen die Gefahr der Erinnerung an sich selber. – Und wer war Oliver? – Er lächelte vor der Tür der Königin: Oliver ist der König. –

»Meine Aufgabe ist nicht ganz leicht«, begann er freundlich und ruhig; »aber die Ihre ist schwer, gnädigste Frau. Sie müssen mich nicht als einen fremden Menschen sehen, sondern als den Sprecher unseres hohen Herrn, der ihm so nahe steht, daß er das Bedeutungsvolle für ihn sagen kann, und doch genug ein anderer ist, um das Letzte und Verhüllte, vor dem der Takt der Majestät zurückscheut, ohne Beschämung Ihrer erlauchten Person auszusprechen. Betrachten Sie mich wie einen Arzt, dem auch die Keuschheit den bloßen Leib zeigen darf.«

»Ich sehe Sie nicht als einen fremden Menschen«, entgegnete sie leise und lächelte verlegen, »aber ich bedarf auch keines Arztes, Seigneur.«

»Das mag man nicht immer bestimmen können«, meinte er ernst, »und dann gibt es auch Ärzte der Seele und Ärzte der Beziehungen von Mensch zu Mensch. Ich spreche für Ihren königlichen Gemahl, mit dem Recht und dem Wissen des Vertrauten. Bedarf auch Ihre Ehe keines Arztes, gnädigste Frau?«

Carlotta wurde sehr blaß und ihre Wangen bebten wie vor verhaltener Angst. Sie krampfte die Finger ineinander, langsam und ohne Hoffnung den Kopf schüttelnd.

»Ich weiß nicht«, sprach sie mit flatternder Stimme, »und ich zweifle sehr, ob es einen Arzt für meine Ehe geben kann. – Und, Seigneur«, setzte sie fester und mit Hoheit hinzu, »daß ich nicht glaube, Sie wollen mich kränken, und daß ich Ihnen solche Antwort gebe, beweise Ihnen mein Vertrauen. – Sprechen Sie frei.«

Der Necker hüllte sie wieder mit seinem Blick ein und sah seine Wirkung an dem unruhigen Wachsen ihrer Pupille.

»Ich danke Ihnen, Madame«, sagte er langsam; »Sie machen mir die Aufgabe leicht; denn Sie haben eben selber entschieden, daß ich keine Finten anzuwenden gezwungen bin. Wenn Sie den leisesten Laut der Hoffnung von sich gegeben hätten, dann würde ich haben sagen müssen, daß der König versuchen wolle, aus irgendwelchen gefühlsmäßigen Gründen das eheliche Leben wieder aufzunehmen. Das wäre eine Lüge gewesen oder eine Kränkung, wie Sie sie schon empfanden.«

»Seigneur!« rief die Königin beklommen, »wo wollen Sie hinaus?«

»In die Wahrheit«, antwortete der Necker sofort, »und in die Pflicht, die beide immer hart und immer erhaben sind. Wenn der kleine Mensch das Privileg hat, gegen den Entschluß, den ich Ihnen mitzuteilen habe, mit kleinen Sentiments zu protestieren, so haben Sie, Majestät, die Pflicht, den königlichen Zweck einzusehen. – Die Wahrheit ist, hohe Frau, daß der König nicht an Sie, sondern an die Dynastie denkt.«

Carlotta sprang auf.

»Und sein Entschluß?« fragte sie in äußerster Erregung.

»Er wird in dieser Nacht Gott und Sie bitten, ihm einen Sohn zu schenken«, sagte Oliver ruhig und klar.

Die Königin machte eine jähe Bewegung mit der Hand und entblößte die Zähne, als ob sie ein Nein hervorstoßen wollte. Aber sie hielt inne, vom Blick des Neckers gefangen, und setzte sich langsam wieder in den Sessel, den Mann mit großen Augen ansehend. Sie blieb in steifer Haltung auf der Kante sitzen, sie ordnete auch von neuem die Falten des Kleides, mit mechanischer oder verlegener Hantierung, ohne das Gesicht von ihm abzuwenden.

»Herr Karl ist Thronfolger«, sprach sie mit anderer Stimme, verschleiert und doch auch bestimmt. »So weiß der König, daß sein Bruder nicht länger leben wird als er? – Sie brauchen mir nichts zu antworten, Seigneur, ich kenne Ludwigs Arbeiten mit der Zukunft anderer Menschen. – Ich weiß jetzt ... weiß jetzt alles, ich erkenne seine Technik ...«

Sie schwieg eine Zeitlang, müde lächelnd; dann flüsterte sie:

»Aber dies noch, Herr: ich bin eine verbrauchte Frau – und es ekelt ihn vor mir ... doch nein, was besorgt es mich? – Er möge kommen. Wie sollte ich sagen dürfen, er möge nicht kommen? – Oder er möge mich befehlen, wohin es ihn beliebt. – Aber er soll mich nicht mehr kränken. Er soll mich nicht mehr anschauen. Er weiß ja, wie ich aussehe. Er ahnt vielleicht auch, wie das Leben zu mir war.«

»Darf ich Ihnen die Hände küssen, Majestät«, bat Oliver.

 

Der König speiste allein. Selbst Tristan und Jean de Beaune, die gewohnten Tischgenossen, mußten fernbleiben. Selbst Oliver, der ihn bediente, mußte hinter ihm stehen. Er fürchtete in dem Abscheu vor dieser Nacht jedes Gesicht, das ihn ansah. Er aß hastig und schweigsam scharfgewürzte Speisen, an Säure und Saft schwere Wildgerichte, er trank aufwühlende Gewürzweine und erregende goldhaltige Liköre. Er trank hastig und viel. Der Necker sah nur seinen schmächtigen Rücken, den es zuweilen schüttelte, und selten, wenn er sich rasch vorbeugte und Teller und Becher füllte, sein grobes verhärtetes Profil und das Auge, das sich dann immer schloß. Nach dem Essen blieb er eine lange Zeit sitzen, die Arme ausgestreckt über den Tisch, den Hals eingezogen, mit steifem Genick, viel trinkend. Plötzlich sprang er auf, den schweren Stuhl zurückschnellend, daß ihn Oliver halten mußte. Ludwig wandte ihm sein böses Gesicht zu.

»Wo wirst du schlafen?« fragte er scharf.

»Wo ich in der letzten Zeit zumeist schlief«, antwortete Oliver ruhig, »in der Kammer neben dem Gemach Eurer Majestät.«

Der König ging rasch auf ihn zu und packte seine Handgelenke.

»Geh nicht zu ihr, Oliver«, flehte er.

»Sie ist krank«, sagte der Necker kalt. Ludwig ließ ihn einen Augenblick los und preßte dann mit großer Kraft seine Arme:

»Hast du sie«, rief er unterdrückt, »Oliver, hast du sie ...«

Der Necker sah ihm in die Augen und spannte die Muskeln, um den schmerzenden Griff zu ertragen.

»Sie hat es selber getan, um es Ihnen leicht zu machen, Sire.«

Der König hob die Hände und lächelte seltsam, den Blick in der Ferne.

»Das ist Mut!« flüsterte er und eilte fort. –

Oliver sah ihm nach und schüttelte ernst den Kopf. – Es ist kein Mut, fürchte ich, es ist Müdigkeit bei ihr und ihm. Es ist kein Mut bei ihnen. – Er zuckte zweifelnd mit den Schultern und klatschte Lakaien herbei, die die Tafel abräumten. Er ging langsam seiner Kammer zu, mit dem nagenden Gefühl, daß er in dieser Nacht so bald nicht würde zum Schlaf kommen. Die Gedanken der drei Menschen, die er zusammenzwang und auseinanderriß, sprangen ihn rebellisch und klagend an. Die Einsamkeit des Ganges, den er durchschritt, brachte ihn wieder auf sich selber. Warum tue ich alles dies? fragte er sich – und schnell wieder das alte: wer denn ist Oliver? – Aber er schüttelte wieder den Kopf, er mochte jetzt nicht der König sein; er mochte jetzt nicht der Necker sein. Das Nichts wäre gut, der Schlaf, der Tod; doch das eine kann zu erreichen so schwer sein wie das andere. – Le Mauvais! der Böse! Die Welt hält wohl nicht grundlos ein Leben mit solchem Namen umfangen. Und der Sinn des Bösen ist immer wach und ist ewig. – Beten? Kruzifixe sind an jeder Ecke und über jeder Tür. Doch Beten kann so schwer sein wie Schlafen oder Sterben. Was soll ich beten, und wer wird mich hören? Wer fragt, kann nicht beten. Gott ist der Frage Gegensatz in Ewigkeit. – Aber dies täte wohl: einen guten Menschen sehen. Anne war gut. Doch wer allein trägt die Schuld, daß sie es nicht mehr ist? – Ein Kind sehen: das täte wohl. Doch in diesem steinbösen Bau gab es keine Kinder.

Einen Augenblick noch fühlte Oliver in der Schwächung seines Lebensgefühls den Wunsch, Jean de Beaunes gutmütiges und warmblütiges Gesicht zu sehen und sein irdisches Lachen zu hören. Er blieb schon stehen, um umzukehren und ihn aufzusuchen. Dann aber drängte er die eigene Bedrängnis zurück, schlug sie mit den Fäusten seines leiblichen Körpers, lachte auch über sich selber, die Ohren schon verstopfend, um das häßliche Echo nicht zu hören, und schritt schnell weiter – lief jetzt in sein Zimmer. Das ruhige Bett, die ruhigen Bücher, das heitere und warme Licht der Kerzen taten wohl. Er zog sich nicht aus. Er griff nach dem Lukan, den er liebte, und las die klarkalten, ein wenig gläsernen Verse der »Pharsalia«.

Schritte hörte er eine halbe Stunde später sich der Tür nähern, die langen kräftigen Schritte Daniel Barts. Oliver schob die Handschrift beiseite. Es erstaunte ihn nicht, daß man in dieser Nacht zu ihm kam; es erregte ihn auch nicht. Es wird nicht die letzte Störung sein, dachte er; dazu bin ich da.

»Komm herein, Daniel!« rief er, ehe jener klopfte. Der Bart trat herein, mit besorgtem, etwas übernächtigem Gesicht.

»Ja, ich bin es«, sagte er, ein wenig verblüfft.

»Die Dame Necker verlangt nach mir?« fragte Oliver, gleichmütig nach einem Folianten greifend. »Es geht ihr hoffentlich besser?«

Er sah seinen Gesellen nicht an; er erwartete ein Nein, eine schlimme Kunde, das Schlimmste gar. Dieser Nacht war viel zuzutrauen. Doch Daniel sagte ja, kurz und mit deutlichem Unwillen. Oliver blätterte in dem Buch, las auch hier und da und schien den anderen vergessen zu haben.

»Herr!« brach Bart los, »sehen Sie mich doch an und fragen Sie doch weiter oder hören Sie mir zu! Wenn ich zu solcher Zeit von einem kranken Menschen komme, würden Sie sich auch einer kräftigen Angst nicht zu schämen brauchen.«

Oliver schaute gehorsam auf.

»Schon gut, schon gut«, sagte er lächelnd, »du gabst doch zu, es ginge ihr besser; also hat das Gegenmittel gewirkt.«

»Nun ja«, meinte Daniel ungeduldig, »sie deliriert wenigstens nicht mehr. – Aber Sie können ja selbst ihren Zustand prüfen. Sie will Sie dringend sprechen. – Es quält sie irgend etwas. Kommen Sie sofort mit, Meister.«

Oliver rührte sich nicht.

»Ich habe Dienst«, sagte er zögernd.

»Sie haben Dienst?« staunte Bart, »hier in Ihrem Zimmer über Folianten? Und wenn Sie auch Dienst hätten, könnten Sie der Meisterin diesen Wunsch abschlagen? Und wenn selbst der König nein sagte und Sie es wollten ...«

»Der König hat mir verboten, das Zimmer zu verlassen«, unterbrach Oliver.

»Und wenn Sie es wollten«, rief Daniel erregt, »was würde es Sie hindern? – Ich diene Ihnen fünfzehn Jahre, Meister, ich weiß, wenn Sie nicht wollen! – Ich schäme mich für Sie, Herr, mit Verlaub ...«

Er drehte sich um und wollte gehen. Der Necker sprang auf und schrie:

»Zum Teufel, wenn ich nicht will, was du willst: zu was hast du dann den Riesenklotz von Körper und deinen Schulterkran? – Hast du Angst, ich sei stärker als du?«

Der Bart sah ihn einen Augenblick erstarrt und ohne Begreifen an; dann glitt breit ein Grinsen über sein Gesicht. Er packte ihn wortlos bei den Schultern, daß der Magere in die Knie sank, hob ihn auf und trug ihn wie ein Kind davon. –

Anne lag mit gelbem, durchsichtigem Gesicht in den Kissen. In den Augen glänzte noch das Fieber; aber der Körper wurde nicht mehr von Frost und Hitze geschüttelt. Oliver trat ans Bett und griff nach ihrem Puls.

»Gut, gut«, sagte er unfreundlich; »und du kennst seine närrische Eifersucht, Anne. Was läßt du mich zu solcher Stunde kommen? Er ist heute unberechenbar.«

»Ich berechne ihn gut«, sagte sie sehr leise, und ihr Blick hing an ihm; »deshalb eben bat ich dich zu kommen, Oliver. – Du solltest gütiger zu mir sein, Oliver ...«

Der Necker senkte den Kopf, von ihren großen grauen, nächtigen Augen betäubt und schwach.

»Er ist jetzt bei ihr«, flüsterte sie nach einer Weile, und es schien ihm (er mochte sie nicht anblicken), als spräche sie von fern her, durch die Wände hindurch.

»Ja«, murmelte er. Und er hörte:

»Er – kann – nicht ... Er liebt mich ... nur mich ...«

Oliver sah schnell auf, wie im Zwang, gleich, als ob eine sanfte und starke Hand sein Kinn hob. Und er sah ihr altes Lächeln, das zauberische Lächeln der Anne. Und er sah im milden Glanz des lächelnden Gesichts seine alte Liebe, die zauberische Liebe zu Anne. Und es schüttelte sein Herz, daß er wirr rief:

»Wer, Anne?«

Oder er hatte es nicht gerufen, sondern es rief nur in ihm; denn die Frau antwortete darauf nicht; nur dies sprach sie:

»Soll ich helfen, Oliver? – Ich vermöchte es wohl ...«

Der Necker preßte die Fäuste gegen die pochenden Schläfen. – Wem helfen? Wem helfen? – Und er rief es doch:

»Wem helfen, Anne?«

Sie hörte es gewiß; denn sie antwortete:

»Dem König und somit dir, Oliver. Was fragst du?«

Was frage ich? Was frage ich? stöhnte er in sich hinein. Warum will ich wissen, was ich weiß? – Und was frage ich es doch:

»Anne, Anne, sind er und ich eins?«

Oder er hatte es nicht gefragt; denn sie schwieg, ihr Kinn bebte, ihre Zähne schlugen leise aufeinander; er sah in ihren Augen Tränen. – Die Phantasmagorie des Lächelns erlosch. – Der Necker sah ihr krankes Gesicht.

»Warum hast du das getan, Anne?« fragte er sanft. Die Frau bewegte unruhig die Hände; ihr ermattetes Hirn konnte dem gehetzten Hin und Her seiner Gedanken nicht mehr folgen. Sie fühlte wohl seine tiefe Bewegung, aber sie vermochte nicht mehr zu entscheiden, ob es für sie Freude oder Leid bedeute. Sie wußte in diesem Augenblick nicht einmal mehr, warum der Mann vor ihrem Bett stand und was sie während der vergangenen Stunden beschäftigt hatte. Sie erwiderte bedrückt:

»Ich weiß nicht recht, was du meinst, Oliver – ich habe so vieles getan in der letzten Zeit.«

»Warum hast du dich krank gemacht«, sprach er langsam, durch die Anmut ihres Geständnisses berührt und traurig; »warum hast du dich vergiftet, Anne? – Das Pulver ist ein böses Gift, wenn man seine Dosierung nicht kennt.«

Anne sah ihn ein wenig von der Seite an und versuchte zu lächeln.

»Kannst du nicht glauben, Oliver – auch wenn ich dich darum bitte –, daß ich krank geworden bin, wie jeder Mensch krank werden kann?«

Der Necker schüttelte den Kopf und strich leicht über ihre feuchte Stirn.

»Das kann ich nicht«, sagte er; »denn die Phiole zeigte mir die Spuren einer ungeübten Hand, von manchem anderen abgesehen. – Das will ich nicht glauben, Anne; denn ich mache mir nicht das Leben auf deine Kosten leicht.«

Anne hob ein wenig den Kopf und öffnete weit die Augen, an ihm vorbeiblickend.

»Sieh, Oliver«, sprach sie unvermittelt, »und ich wollte nicht, daß dir das schwere Leben um meinetwillen noch schwerer wird. Ich wollte nicht, daß du und er und das Reich über mich stolpern. Deshalb habe ich es getan; und – mir fiel es leichter von meiner Hand als von deiner Hand.«

Sie zog etwas die Brauen hoch und bekam noch dünnere Lippen: sie hatte den Zusammenhang wiedergefunden. Ihr Gesicht schien überlegen, fast ironisch und schüchterte ihn ein; denn er war noch nicht von neuem hart geworden.

»Vielleicht wäre es nicht notwendig gewesen, Anne«, wich er zurück; »vielleicht hätte ich es nicht zu tun brauchen.«

Sie wies es mit einer kurzen strengen Handbewegung ab. »Es wäre notwendig gewesen, du hättest es getan, Oliver«, sagte sie beinahe scharf, »denn die bloße Trennung von mir kann er überwinden, die Krankheit aber nicht!«

»Und wenn auch! Und wenn auch!« beharrte er, immer weiter, fast wollüstig sich von seiner Schwäche treiben lassend. »Anne, es wäre etwas anderes, hätte ich es getan. Es wäre eine kleine Korrektur des Schicksals, wie ich es oft tat, ein Eingriff von abgewogener und ganz begrenzter Wirkung, um ihm zu helfen ...«

»Wem?« unterbrach sie lauernd. Oliver, sehr erregt, ahnte, was kommen mochte; doch er ließ sich weiter treiben. – Oder war es nicht Schwäche? Er antwortete rasch, er schloß den seltsamen Kreis, den ihre erschütterten Seelen gegangen waren: »Dem König und somit mir, Anne.«

Er sah sie an, voller Erwartung, daß sie das andere frage, was jetzt von ihr doch wohl zu fragen war: ist er und du eins? – Aber sie richtete sich auf, stemmte die Arme rückwärts in die Kissen; und ihre Augen klammerten sich an ihn, fiebernd von letzter Energie, in Bitte und Hoffnung; und sie wagte den großen Angriff.

»Oliver, Oliver, was geht mich der König an!« rief sie.

Er sah sie an, und in seinem Innern zerriß die Spannung der letzten Stunde; es rissen die letzten Fäden zwischen ihm und ihr. Was ihm Schwäche eben noch schien – er wußte es jetzt – war grausames Anziehen und Nachlassen, tragisches Spiel seiner Dämonie. – Er sah sie an: Anne fiel mit einem schwachen Schrei in die Kissen zurück, besiegt, verloren.

»Wer ist Oliver?« flüsterte er, »weißt du es, Anne?«

Sie bewegte sich nicht und antwortete nicht. Sie weinte auch nicht. Sie lag weiß und kalt, mit blassen Lippen, das Kinn etwas vorgestreckt. Er beugte sich über sie.

»Ludwigs Liebe zu dir, Anne: das ist Oliver.«

Sie öffnete wieder die Augen und betrachtete sein nahes Gesicht. Sie spürte seinen Atem.

»Dann müßte ich ihm gewiß helfen«, sagte sie schwachen Tones; »ich bat dich ja deshalb zu kommen.« – Ein Gedanke belebte sie und sie sprach klarer. – »Ich hätte gewünscht, nur dies eine hätte ich zu hören gewünscht, daß du das Leid über ihn verhängt hast, weil er über dich Leid verhängte, Leid um mich. – Oliver, ich weiß jetzt, daß du lügen müßtest, möchtest du es mir sagen. – Willst du lügen, Oliver?«

»Ich kann nicht«, sagte Oliver ernst, »jetzt nicht mehr. – Vielleicht hätte ich es heute abend vermocht.«

»Du hättest es nicht getan, Oliver«, sprach sie und bewegte verneinend den Kopf in den Kissen hin und her, »so gewiß nicht, wie du das andere, das Fieber für mich, getan haben würdest. – Ich hatte dich an dieser Stelle vorhin unterbrochen; ich weiß, was du noch sagen wolltest. – Du hattest recht, Oliver: bei dir wäre es eine kleine – bei mir war es eine große Korrektur des Schicksals. – Wir wollen darüber nicht mehr viel sprechen, ich bitte dich darum, Oliver.«

Er nickte langsam mit dem Kopf. Sie schwieg eine Weile; vielleicht war sie sehr müde. Dem Necker war, als hörte er irgendwo Türen schlagen und als sei die Stille im Schloß nicht mehr vollkommen und fest wie ein guter Wall. Er wurde unruhig.

»Anne«, sagte er, »ich muß ...«

Er stockte. Sie hatte die Hand gehoben und lauschte, den Kopf etwas aufgerichtet, die Augen geschlossen.

»Ich glaube, er kommt«, flüsterte sie.

»Wer?« rief Oliver verwirrt und schon zusammenfahrend. Auch er hörte es wie Schritte.

»Der König kommt, Oliver.«

»Bist du von Sinnen?« murmelte der Necker tonlos; »er hierher? zu solcher Stunde? an den Wachen vorbei? – Dann rast er!«

Die Schritte wurden deutlicher. Daniel in einem der Vorzimmer schien die Tür zum Gang zu öffnen, wohl um zu sehen, wer kommt. Man hörte seinen Ruf des Erstaunens.

»Der König kommt«, sprach sie wieder und sah den Meister mit mattem Lächeln an. »Das eben wollte ich: ihn sprechen – und daß er mich sieht, so wie ich jetzt bin. – Begreifst du? – Ich vermag viel über ihn.«

Man hörte Ludwigs Stimme im Nebenzimmer, heiser, grob:

»Zum Teufel, Kerl, bleib, wo du bist! Ich weiß, wohin ich will!« –

Anne flüsterte noch hastig:

»Geh bald, Oliver! – Sieh zu, daß du sie noch heute nacht, noch in dieser Stunde in seinen Turm bringst. – Begreifst du?«

Er nickte; sein Gesicht schien noch blässer zu werden. – Die Tür wurde aufgerissen. Der König, völlig angekleidet, im geröteten Gesicht und der jähen Bewegung sonderbar Scham, Zorn und Bestürzung zeigend, lief einige Schritte ins Zimmer, blieb plötzlich stehen, sah die Frau mit dem matten und keuschen Ausdruck des Kranken im Bett, in einigem Abstand von ihr, kalt und ruhig, den Necker – und lächelte schon, leidend und etwas verquält, in den Augen noch den Schauder eines Erlebnisses.

»Ich – kann – es – nicht ...«, stöhnte er und ließ die Arme hängen. Oliver und Anne sahen ihn an; der Mann mit seinem dunklen fangenden Blick, die Frau sanft und hilfreich. Ludwig wollte zu ihr hin; aber er hielt sich mit ungeschickter Gewaltsamkeit zurück und wandte sich an den Necker.

»Verzeih mir, Oliver«, bat er leise, »ich bin ein Narr.«

»Ich habe gewiß nichts zu verzeihen«, sagte Oliver zurückhaltend; »ich meine nur, Sire, daß Sie sich nicht in solcher Weise hätten bloßstellen dürfen. Es wäre vielleicht besser gewesen, mich von einem Schotten suchen zu lassen, als zu dieser Stunde Ihre königliche Person ohne Begleitung den Wachen und dem Schloßflügel subalterner Beamten zu zeigen. – Ich wurde von meinem Diener Daniel Bart, der durch einen Fieberanfall der Dame Necker erschreckt war und sich nicht abweisen ließ, dringend hierhergerufen.«

Er rief laut:

»Daniel!«

Der Geselle zeigte sein verstörtes Gesicht. Oliver lächelte ein wenig:

»Erzähle der Majestät, wo du mich fandest und wie du mich herbrachtest.«

Daniel Bart räusperte sich verlegen.

»Ich fand meinen Herrn in seinem Zimmer«, sagte er stockend, »allein und lesend in seinem Zimmer. Ich sagte ihm, die Meisterin sei sehr krank und brauche ihn. Als er Bedenken hatte, mitzukommen, wurde ich böse und trug ihn davon. Ich dachte ...«

»Es ist gut, Mann«, unterbrach Ludwig und lachte kurz und gezwungen. Der Bart zog sich zurück.

»Das ist eine schlimme Nacht«, begann der König wieder, den Rücken krümmend, als ob es ihn fröre. »Ich finde mich selbst nicht mehr, und als ich auch dich nicht fand, lief ich hierher. – Ich bin vielleicht doch betrunken.«

Er drehte den Kopf zaghaft der Frau zu.

»Verzeihen Sie mir, Madame. – Es tut mir – weh, Sie so zu sehen.«

Er hatte sehr leise gesprochen; er kämpfte um seine Haltung. – Er sah sie lächeln und ihm die Hand hinstrecken. Er stürzte ans Bett.

»Anne ...«, stöhnte er, »hast du dich für mich ...«

Er hielt inne, weiß vor Schrecken. Er sah über seine Schulter, der Necker war verschwunden.

»Oliver ... er ist fort?« fragte Ludwig beklommen und hielt ihre Hand fest.

»Er ist fort«, beruhigte sie ihn und lächelte fast mütterlich; »er wartet vielleicht im Turm auf Sie, Sire.«

Ludwig setzte sich auf den Bettrand und streichelte ihre Hand; seine Augen wurden ruhig und schön, als er sie ansah.

»Hat er es dir befohlen, Anne?« fragte er jetzt.

»Nein, ich tat es selber und freiwillig.«

Der König beugte sich ein wenig vor.

»Um meinetwillen, Anne, oder um seinetwillen?«

»Für Sie und somit für ihn«, antwortete die Frau mit unruhigem Blick.

Und er fragte dies:

»Anne, Anne, sind er und ich eins?«

Sie schloß in einem innerlichen Beben die Augen. Die Wucht der Wiederholungen höhlte sie aus. Der Kreis ohne Erbarmen, den das Schicksal dieser Nacht das zweitemal um sie zog, saß schon wie eine Klammer um ihre Brust. Sie stöhnte bedrängt.

»Doch, Anne, doch!« flüsterte Ludwig, voll von Geheimnis; »wir sind eins! – Aber er wütet in mir; fühlst du es nicht? – Er verhängt Leiden über mich ... dieses Leid ...« Er umklammerte in jäher Angst ihren Arm.

»Anne, Anne, ob er uns strafen will mit alledem? – Haben wir so gesündigt, Anne?«

»Ich weiß es nicht ...«, hauchte sie, das Gesicht unsäglich müde abkehrend. Er fiel in der äußersten Furcht vor dem Bett auf die Knie.

»Anne, Anne, bleibst du ... bleibst du mir? – Will er, daß du stirbst ...«

»Ich weiß es nicht ... Ich weiß es nicht ...«

Da er lange Zeit schwieg und keine Bewegung machte und seine Hände auf ihrem Arm kalt wurden, wandte sie den Kopf wieder ihm zu. Er hatte das Gesicht in das Bettleinen gewühlt; sie sah nur sein graues Haar; sie berührte es leise mit den Fingern. Sie war ruhig jetzt.

»Ich möchte Ihnen wohl helfen, Sire.«

Er sah auf, blaß und alt.

»Ja«, sagte er wirr. Sie strich ihm mit der Hand über Stirn und Augen. Er lächelte. Sie sprach mit ganz leiser Stimme, die silbern über die Sinne glitt:

»Lassen Sie meine Hand auf Ihren Augen und denken Sie ... denken Sie an mich in unserem Turm ...«

Er zuckte zusammen; sie beugte sich schnell zu ihm, und ihre Lippen berührten sein Gesicht. Sie flüsterte in seine Haut:

»Vielleicht werde ich dort sein, und vielleicht will ich, daß keine Ampel brenne – vielleicht will ich auch nur den Glauben an mich ... Geh jetzt hin und glaube an die gute Lüge! – Es muß ja sein ... Sieh, Freund, wenn du es nur willst, bin ich es dann ... Geh hin.«

Sie ließ ihn los und lächelte. Er sah sie groß an, wie ein Wunder.

»Anne«, sagte er leise und sehr langsam, »meine gute Frau – Gott kann auch in der Lüge sein. – Ich will es versuchen – ich nehme dich in meinen Sinnen mit. – Und er helfe unserer armen Seele.«

Er küßte sie auf die Stirn und ging. – Sie wartete, bis seine Schritte verhallt waren und kein Ton mehr die Stille ringsum störte. Dann richtete sie sich auf, überwand den Schwindel der Schwäche, verließ das Bett und ging, ein wenig taumelnd, zu einem kleinen Wandschrank.

»Er hat ihn nicht abgeschlossen«, lächelte sie und entnahm ihm die Phiole.

»Er hat sie nicht fortgenommen. – Er weiß, daß es das beste ist – für mich ... ohne ihn ...«

Sie schüttelte eine winzige Menge des gelblichen Pulvers in einen Becher mit Wein und trank.

»Was geht ihn die Anne an ...«


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