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Drittes Kapitel.
Der Sieger

Gott schien die gute Tat nicht anzurechnen. An einem sehr heißen Junitag ließ er den zweiten Schlag gegen den König zu. Fast ohne Laut sank Ludwig in dem Stuhl zusammen, in dem er zufällig saß. Oliver verschloß mit leiser und ruhiger Hand die Tür der Bibliothek und setzte sich dann zu dem Bewußtlosen, seine kalten feuchten Hände haltend. Er tat nichts sonst, er hielt nur seine Hände, mit den Fingerspitzen den rasenden und gemach sich verlangsamenden Puls prüfend, das wildrote, allmählich sich entfärbende Gesicht betrachtend – und wartete. Ludwig hatte die Augen geschlossen. Er wurde blasser und blasser, das Herz ging langsamer und langsamer, immer mehr neigte sich der Oberkörper nach vorne, jetzt ließ er sich mit einem kleinen und fast kindlichen Stöhnen in Olivers Arme fallen, der Kopf sank an die Brust des Neckers, der ihn nicht einmal zur Seite wandte oder aufrichtete, damit das Gesicht freier atmen könnte. Dann glitten auch, wie unter einem leisen Stoß, des Königs Schenkel, Knie und Beine aus der Stellung des Sitzens; der Necker umfaßte den sinkenden Körper fester und hob ihn auf seinen Schoß.

So saß er wohl zwei Stunden mit der Menschenlast, die schwerer wurde, je mehr sie sich vom Leben zu entfernen schien. Es kam der Augenblick, wo er nicht Atem noch Herzschlag mehr hörte, doch er wurde nicht unruhig, nicht traurig, nicht angerührt vom Schicksal des einen oder anderen Körpers. Es waren nicht einmal viele Gedanken in seinem Kopf, wie er den anderen versehrten Kopf unter sich betrachtete, nur das eine wußte er: das ist der Tod noch nicht. Dann, in einer seltsamen Sekunde des ausstrahlenden und vortastenden Gefühls, war es ihm, als belebte sich der Herzschlag des Königs von neuem an seinem eigenen ruhigen und lebensstarken. – Er kann nicht sterben! stöhnte er, und das erstemal in seinem Leben hatte er den Gedanken an Selbstmord. –

Der König erwachte in einer so großen körperlichen und geistigen Schwäche, daß die lähmende Wirkung dieses zweiten Anfalles in ihrem Ausmaß nicht erkannt werden konnte. Doch er schien die Nähe des Neckerschen Körpers empfunden zu haben und zu entbehren, als Oliver ihn schließlich auf das Ruhebett trug, das in der Bibliothek für ihn bereitstand. Der Meister hörte und begriff auch bald die ganz verhaltenen Zeichen des Unwillens und Unbehagens, die Ludwig so lange fortsetzte, bis Oliver ihn von neuem aus den Kissen hob und mit seinem Körper stützte. So, wieder an seiner Brust, fiel er auch bald in den schweren totenstarren Schlaf, den der Necker von der ersten Krankheit her als Beweis der überstandenen Gefahr kannte. Der nächste Tag zeigte wohl Ludwigs gesteigerte Hinfälligkeit, aber doch auch keine Lähmung einer leiblichen oder sinnlichen Funktion. Der zweite Schlag schien ohne schädliche Folgen überstanden. Der König sprach und bewegte sich an diesem und den beiden nächsten Tagen wenig, wohl noch im Banne des großen körperlichen Schreckens, doch Oliver, der stets bei ihm war, wußte, daß sein Geist schon wieder arbeitete und nach neuen Waffen gegen den Feind suchte. Er glaubte auch, daß die Enttäuschung, die Gott dem König bereitet hatte, sich in einer heftigen Abkehr von jeder menschlichen Demut äußern werde, in gesteigerter Kraft von Haß, Mißtrauen und Verachtung.

Er täuschte sich nicht. Der Rekonvaleszent überraschte ihn und den Hof mit einer unheimlich durchdachten Reform aller Verteidigungs- und Absperrmaßregeln. Zunächst filterte er von neuem die zivile Schloßbesatzung durch und schränkte die Zahl der Beamten und Domestiken auf das äußerste ein. Durch viele Tage prüfte er persönlich die Personallisten und schied rücksichtslos die Leute aus, die durch irgendeine noch so geringfügige Ursache – durch einen suspekten Vetter, einen peinlichen Namen – sein Mißfallen erregten. Der also gesiebte Rest unterlag seinem »Bewegungsgesetz«, dem » panta rhei«, wie er es mit verkniffenem Mundwinkel dem Necker formulierte: die Leute wurden außerhalb des Schlosses kaserniert und hatten sich nach einem klug berechneten System, das jede gefährliche Vertrautheit mit den Dingen und Geschehnissen des Schloßinnern ausschloß, im Dienst abzulösen. So erreichte es Ludwig, daß außer dem Necker und Jean de Beaune nur noch die vierhundert Mann der Schottengarde ständig im Schloß wohnten. Kein Gast, kein fremder Gesandter, selbst nicht die Mitglieder des königlichen Hauses durften in Plessis übernachten oder auch nur die Aufenthaltsdauer überschreiten, die ihnen, nach Stunden bemessen, schon vor ihrer Ankunft mitgeteilt wurde. Rings um die Feste, und zwar noch ein gutes Stück außerhalb des Mauerwalles, wurde ein Gitterwerk aus starken Eisenstangen gezogen, so daß das gesamte Schloßviereck zu einem furchtbar gesteigerten Gleichnis jener Käfige wurde, die der König zur Einkerkerung hervorragender Gefangener erfunden hatte. An den vier Ecken des ungeheuren Käfigs wurden vier rollende Panzertürme errichtet – Haubenlerchen genannt – und mit je vierzig Scharfschützen bemannt, die nachts ohne Anruf jeden sich auf ihrer Längsseite dem Gitterwerk nähernden Menschen zu erschießen hatten und während der Einlaßstunden die angemeldeten Personen – ob Fürst oder Lieferant – körperlich untersuchten. Die Mauern hinter den Käfigstangen waren mit Sporen und Widerhaken gespickt und der Zwischenraum in gedeckte Laufgräben verwandelt, in denen Tag und Nacht Gardisten patrouillierten.

Oliver verlor über einen solchen sinnlosen Eifer kaum ein Wort. Nur einmal fragte er den König, scheinbar ohne Spott:

»Befürchten Sie eine Belagerung, Sire?«

Ludwig wandte ihm sein schiefes Gesicht zu:

»Ich werde belagert«, erwiderte er mit einem Ernst, der zugleich die Frage tadelte. »Und man soll wissen, daß es sich noch verlohnt.«

Das Bedürfnis des Königs, sich und der Welt sein Dasein zu beweisen, steigerte sich mit dem körperlichen Verfall. Obwohl er so schwach war, daß er die Bibliothek nicht mehr verlassen konnte und sich nur noch einmal des Tages auf einem Tragstuhl zu den Tieren bringen ließ, obwohl außer dem Necker, dem Schatzmeister und einigen Leibgardisten kaum noch ein anderer Mensch vor sein verstörtes Auge trat, brach er jetzt mit der Gewohnheit eines ganzen Lebens und kleidete den ausgemergelten Leib in prunkende Gewänder, in weite und lange, pelzverbrämte Mäntel, die sich stattlich über dem armen Körper aufbauschten. Jetzt auch begann er wieder, persönlich in die Geschäfte der Regierung und gar in geringfügige Verwaltungsangelegenheiten einzugreifen und eine Sprache in die Welt zu schicken, die um so herrischer und härter schien, je beschwerlicher dem müden Mund die Rede wurde. Und jetzt erst stieß er auf die Gegnerschaft des Neckers.

Oliver stemmte sich nicht gegen den Tätigkeitsdrang des Alten, auch nicht gegen die Ausbrüche einer tückisch kleinlichen Tyrannei, die je nach dem Grade des eigenen Siechtums die Untertanen reizte oder quälte, Pensionen beschnitt oder aufhob, Ämter und Würden einzog und mit erschreckender Willkür Strafen aller Art verhängte: der Necker wollte nicht gestatten, daß der königliche Name auf so häßliche Weise befleckt wurde. Er verlangte, daß solche Disziplinarverfügungen von ihm gezeichnet würden, wie es in der letzten Zeit stets geübt worden war. Der König wiederum schien von einer unvermuteten Eifersucht gestachelt und verbiß sich desto fester in den Willen, alle Dekrete – ob politischer oder administrativer Art – wieder persönlich abzufassen und zu unterschreiben. Gewiß hätte Oliver die Schicksalsdinge, die doch schon – glaubte er – sehr nahe bis zur notwendigen Entscheidung gediehen waren, ruhig weitertreiben lassen können, aber in dem eigenen Schauder über Ludwigs Art und Kraft des leiblichen Widerstandes schien ihm der zufällige Gegensatz zwischen sich und ihm wie das sinnfällige Mittel, ihn von sich fortzudrängen – so weit eben, daß er vor dem Tod kapitulierte und solchen Lebens trauriges Spiel zu Ende kam. Denn Oliver war sehr müde schon.

Aus diesen Gründen blieb er widerspenstig und zeigte eine Schroffheit, die in keinem rechten Verhältnis zu dem Wesen des Streites stand und nur verletzen sollte. Ludwig saß zusammengeschrumpft und wie ausgedörrt – ein blutloses, knochendürres altes Männchen – in dem viel zu mächtigen Lehnstuhl, legte die Hand auf die linke Gesichtshälfte und sah den Necker mit einem merkwürdigen Blick von unten her an.

»Muß ich wirklich«, sprach er schwerfällig, »gerade bei dir die Bestätigung des schlimmen Gedankens finden, der mir in diesen Wochen arg zusetzt: daß man den König nicht mehr respektiert, weil er alt ist – und vielleicht krank?«

Oliver machte eine heftige Bewegung.

»Wenn Sie mich nicht von solchen Erwägungen ausnehmen können, Sire«, sagte er scharf, »so ist mehr in Gefahr als die Arbeit, die ich in Ihren Diensten geleistet zu haben glaube.« Doch Ludwig blieb ruhig, er blinzelte nur ein wenig mit dem gesunden Auge.

»Meinst du mein Leben oder meinen Thron, Oliver?« fragte er mit einer schwermütigen Ironie, die den Necker überraschte und traf. »Und meinst du, ich sei so krank, daß ich nicht mehr deinen veränderten Ton hören oder gar begreifen könnte? – Glaubst du, Oliver, ich höre deine Drohung als – Drohung?«

Der Necker blieb stumm und unbewegten Gesichts an seinem Platz und hob auch nicht den Blick. Aber sein Herz klopfte. Er fühlte mit einemmal die Bedeutsamkeit dieses Gesprächs, doch er wußte nicht, mit keinem vordrängenden Gedanken, was gesprochen werden würde. Und das verwirrte ihn wie in jener ersten Zeit des gemeinsamen Schicksals, in der er Ludwigs dämonischen Anteil an seiner Seele nicht abzuschätzen vermochte. Daß dieser halbe Mensch noch über Wissen und Kraft verfügen möchte, die er schon verloren hatte oder vielleicht niemals besaß, konnte ihn fast demütigen und den ungeheuerlichen Kampf, den er zugleich mit ihm und gegen ihn führte, endlos ausdehnen. – Er stöhnte verhalten.

»Armer Bruder«, sprach der König leise, und Mitleid stak mit absonderlich fremdem Kehlklang in seiner Heiserkeit, »wir sind verbrüderter, als es für dich gut ist. Für mich ist es gut, denn ich allein bin der Nutznießer: ich lebe davon. Aber ich habe auch von dir deine Bedenken, deine Zweifel, deine heimliche Müdigkeit übernommen. – Sieh, Oliver, so weiß ich wohl das meiste, was dich quält. Doch wie darf ich es aufkommen lassen?« – Ludwig ließ die Hand von dem Gesicht sinken und hob den Kopf, den Worten, die er jetzt langsam in die Luft flüsterte, gleichsam nachblickend. – »Ich glaube an unsere Zweieinheit, Oliver, und an deine Lebenskraft in mir und um mich. Es muß vielleicht sein, daß ich, der grausame Mann, zu keinem doch grausamer bin als zu dir, mein armer Bruder ...«

Der Necker schwieg und rührte sich nicht. Er hob nicht die Augen von dem vielfarbigen Mosaik des Fußbodens. Es bewegte sich auch kein Muskel in seinem Gesicht, das taub schien.

»Ach, Oliver«, fuhr Ludwig fort, ohne des andern Regungslosigkeit zu beachten, und seine Stimme hob sich wie klagend, »es handelt sich ja nicht um meinen erhobenen oder deinen verhaßten Namen unter diesem oder jenem Papier! Es handelt sich ja nicht um das Opfer deiner Person, die mir ja schon geopfert ist! Es handelt sich nicht um dein Leben, das du abschütteln willst, sondern um das Leben des Königs, das mein ist und dein ist!«

Der Necker schwieg. Ludwig legte wieder die Hand auf das Gesicht und kauerte sich zusammen.

»So beantworte mir dies nur, Bruder«, murmelte er müde, »trägst du dich jetzt mit dem Gedanken, den ich vielleicht schon vor dir aus deinem Hirn trug: denkst du an Selbstmord, an überraschenden oder angekündigten, damit ich sterben kann?«

Oliver hob nicht den Kopf, er preßte die Hände an die Stirn und die Schläfen, er kam keinen Schritt näher.

»Ich kann nicht mehr!« stöhnte er, von innen heraus geschüttelt, als bräche die Verzweiflung aus der Brust wie ein Sturm. »Ich kann nicht mehr, Sire! So lassen Sie mir doch meinen Tod!«

»Nein!« sagte der König hart und ballte die Hand auf dem Gesicht zur Faust, »nein! Denn du hast keinen Tod für dich allein!«

»So sterben Sie mit mir!« schrie der Necker gegen den Boden. »Sind wir nicht weit genug? Und alt genug?«

»Der König darf nicht sterben«, sagte Ludwig streng; schon fügte er hastig hinzu: »Und jetzt denkst du an Mord, Bruder!«

Oliver riß die Augen auf, aber er brachte den Kopf nicht in die Höhe. »Und was täte es mir!« keuchte er.

»Und warum tust du es nicht, Bruder?« –

Jetzt erst brach der Necker in die Knie, mit Händen und Stirn gegen die Fliesen schlagend. Der König blieb eine Weile still.

»Armer Bruder«, sprach er endlich, »ich habe dich lieb. – Ich muß es wohl noch einmal mit Gott versuchen ... vielleicht war es zu wenig, was ich tat. Vielleicht hilft er doch ...«

 

In diesen Wochen eines glühenden Juli, während der Körper wie ein brüchiges Gefäß mit jedem Tag die Lebenstropfen verlor und der Geist sie doch immer mit seinem Willen zu ergänzen glaubte, geschah des belagerten und bedrängten Menschen einzigartiger Ausfall gegen den Tod. Ludwig blieb der kluge Stratege, der er zeit seines Lebens war. Er liebte, andere für sich kämpfen zu lassen. Setzte man ihm hart zu, so war sein Gegenangriff selten ein Werk der eigenen Waffen, zumeist der überredenden Kunst des Wortes oder des Geldes. Und mit den kleinen Umwegen, die er schätzte, war es dann irgendein Entsatzheer, das von außen kam und den Belagerer im Rücken packte. Jetzt, als er die letzte Entlastung des Neckers versuchte, galt es den Sturm auf die Huld Gottes, der für ihn kämpfte und den großen Feind gleichsam von rückwärts überrasche und überwinde. Sein Hirn, das doch schon sehr lange Strecken der Leere und der Finsternis zu überwinden hatte, arbeitete in einigen kühlen und zutunlichen Nächten den großen Plan zur Bestechung des Höchsten aus. Jean de Beaune hatte ihn sofort in die Tat umzusetzen.

Der Stein Plessis schüttete Gold über die Kirchen und Klöster Europas. Alle Kathedralen und Abteien des Reiches erhielten Weihopfer und Geschenke an Kleinodien, Geld und Land, Reliquiarien und Reliquienschreine, goldene Kelche, Kirchengeräte und edelsteinbesetzte Monstranzen, der berühmte Silberrost Sankt Martins von Tours, der achtzehntausend Mark Silber wog, und das kostbare Kästlein des guten, heiligen Eutropius von Xanten wurden bedeutsamen Kirchen des Auslandes gespendet: den Heiligen Drei Königen von Köln, Unseren Lieben Frauen von Aachen, Sankt Servatius von Utrecht, San Bernardino von Aquila, Santa Maria Novella von Florenz, San Giovanni in Laterano zu Rom. Nach Sankt Bavo zu Gent wurde ein kostbares Kruzifix gesandt: ein goldenes Kreuz mit elfenbeinernem, aus einem Stück geschnitztem Heiland. Bevor der Bischof von Tours in Ludwigs Auftrag mit dem Kleinod nach Flandern aufbrach, zeigte der König es dem Necker, der während dieser Tage still und verschlossen seinem Dienst nachging.

»Ich habe Gent nicht vergessen«, bemerkte der König, wohl in dem Wunsch, ihm eine Freude zu machen.

»Gents Gottesmänner mögen dankbarer sein als Gents Bürger«, versetzte Oliver gleichmütig, »ich weiß es nicht.«

Durch die Antwort ein wenig entmutigt, zögerte Ludwig, eine heimliche Absicht auszusprechen; aber als der Necker das Zimmer wieder verlassen wollte und schon in der Tür stand, warf er hin:

»Wenn du willst, Oliver, mag es in deinem Namen nach Gent gehen. Vielleicht ...«

»Sire«, unterbrach der Meister unwillig, »das wäre doch Lästerung! Zu laute Lästerung! Ich wenigstens muß aus dem Spiel bleiben.« –

Jean de Beaune hatte schlaflose Nächte, Ludwigs Praktiken gegen den Himmel kosteten fast eine Million Franken, den Wert der verschenkten Ländereien nicht eingerechnet. Der Schatzmeister war zu klug, um jetzt noch das ausgepreßte Volk unter eine neue Steuerfolter zu legen; denn er sah den Zustand des Herrschers und fürchtete Aufruhr und Zerfall des Reiches. Noch ehe Ludwigs Grab geschlossen war, würde in diesem Augenblick eine neue Woge der Erbitterung über das Land gehen.

»Wüßte ich wenigstens, wie lange dieser Wahnsinn noch dauert«, wandte er sich an den Necker, »wie lange er noch lebt?«

Oliver zuckte mit den Achseln. Jean de Beaune sah ihn kopfschüttelnd an.

»Ich hoffe nur Ihretwegen, daß er sich noch hält, Necker«, sagte er bekümmert, »denn Ihre Stellung ist in einer Weise exponiert, wie Sie wissen, daß sein Tod Sie in unmittelbare Gefahr bringen muß. – Ich ahne ja, Meister«, fuhr er beschwichtigend fort, als er Olivers Unmut sah, »ich ahne ja, wie Sie zu diesen Letzten Dingen stehen, und ich hüte mich, Sie zu beraten. Aber hören Sie doch noch dies: ich habe erfahren, daß das Parlament ein heimliches Verfahren gegen Sie und den Bart eröffnet hat, Material und Zeugen sammelt, daß es über das Leiden des Königs besser unterrichtet ist, als er und wir glauben, und nur auf das Ende wartet, um den Schlag gegen Sie zu führen. – Lösen Sie es wenigstens auf, solange Sie noch die Macht dazu haben, oder sichern Sie sich durch hervorragende Geiseln, den abgesetzten und darum um so volkstümlicher gewordenen Le Boulanger zum Beispiel, den Sie in die Oubliettes stecken können.«

Oliver winkte ungeduldig mit der Hand.

»Ist der Staatshaushalt durch die letzten Ausgaben in bedenkliche Unordnung gekommen, Jean?«

»Ich habe die Reserven angreifen müssen, weil bares Geld knapp ist.«

Der Necker überlegte eine Weile.

»Eine neue Steuer darf nicht auferlegt werden«, sagte er schließlich, »das gebe ich zu, wenngleich mich das Nachher nicht mehr viel kümmert. Aber man kann die bedenklichen Sonderausgaben durch andere Maßnahmen zu decken versuchen: ich werde den Bart anweisen, die diesjährigen Erträge aus meinen Salz- und Holzmonopolen an Sie abzuführen. Das dürfte ein Drittel des Ausfalls ausgleichen. Dann werde ich einige Enteignungsdekrete gegen den Altpräsidenten Le Boulanger und ein paar andere reiche Parlamentarier erlassen.« – Er lächelte müde. – »Es kommt mir auf ein bißchen mehr oder weniger Feindschaft nicht mehr an.«

Jean de Beaune senkte den Kopf und sprach nichts.

»Und schließlich steht es Ihnen ja frei, Jean«, fuhr Oliver lebhafter fort, »zum König zu gehen und ihm neue Kirchenopfer auszureden. Ich selber darf aus guten Gründen seinen Wahn nicht stören.« –

Doch Ludwig ließ sich nicht stören. Als ihm sein Schatzmeister mit Worten, die absichtlich derb und deutlich waren, bedeutete, daß es unsinnig sei, die reichen Kirchen und feisten Domherren auf Kosten des geplagten Volkes noch reicher und feister zu machen, zeigte er nur sein schiefes Lächeln.

»Ich könnte antworten, Gevatter«, entgegnete er listig, »für das Heil des Königs sind keine Ausgaben zu viel. Aber ich bin nicht hoffärtig und sage, daß die Ausgaben beendet sind und jetzt die Einnahmen kommen. Vielleicht erwarte ich noch besondere Zinsen dazu.«

So begann er seine befremdliche Ernte. Die Versicherungen des Dankes, mit denen Rom nicht sparte, nahm er nicht als leere Formel. Den Legaten, der den Segen des Papstes brachte, ließ er zu Olivers Überraschung zur Audienz, obwohl an jenem Tage die Schwäche schon wie eine Totenmaske auf seinem Gesicht lag und die geflüsterten Worte kaum mehr verständlich machte. Der Prälat sah erschüttert den zerfallenen Menschen und hörte, die Ohren ganz nahe seinem Munde, keine Demut, keine Bitte um den letzten Beistand, keine Bereitschaft zu sterben, sondern ungewöhnliche Wünsche, fast schon Befehle des königlichen Mannes an Gottes Stellvertreter, daß er mit seiner ganzen pontifikalen Macht helfen möge, das königliche Leben, das unsäglich wichtige und wahrhaftig gefährdete Leben zu erhalten und zu verlängern.

»... und zu verlängern«, wiederholte Ludwig, die Worte mühselig und inbrünstig, doch mit dem kurzen Atem hinausstoßend. –

Der gütige und auch staatsmännisch kluge Papst tat, was der Kranke wollte, denn auch ihm schien, daß sich die Mühe verlohnen möchte. Er schickte ihm nach Plessis das Korporale, über dem Sankt Peter Messe gesungen hatte, und auch die anderen Reliquien, die Ludwig zur Anbetung verlangte, er befahl, daß die niemals noch von ihrer Stelle entfernte heilige Ampolla zu Reims, die das Krönungsöl enthielt, in das Krankenzimmer verbracht werde. Und er willfahrte auch dem seltsamsten der königlichen Wünsche: er mobilisierte die lebendigen Heiligen, Brüder und Einsiedler von glückseligem Wandel, irdische Wundertäter, die großen und verehrten Beter, Helfer und Heiler, und schickte sie einzeln und mit dem Gelübde, gegen die Welt über ihre Mission zu schweigen, nach Plessis, daß sie versuchten, Mittler zu sein zwischen Gott und Ludwig. Mehr sagte er ihnen nicht, und er hatte seine guten Gründe.

Gegen Ende des Sommers begann die absonderliche Prozession der Heiligen. In Tours empfing sie der Bischof, hielt sie stets getrennt und schickte sie in Abständen von je einem Tag nach Plessis. Doch keiner der Gottesmänner blieb länger im Schloß als ein oder zwei Stunden, dann wurden sie reich beschenkt und nach Orleans gebracht, von wo sie in ihre Heimat zurückkehrten. Keiner von ihnen – von den Deutschen, Italienern, Spaniern, Franzosen, den Theologen, Eremiten, Mönchen aller Orden, den Brennenden und Stumpfen, Aufrechten und Pharisäern – vergaß die Augenblicke, die er vor den armseligen Resten des großen Königs stand, vor dem halben Gesicht, dem gehetzten Blick und der Stimme, die klang, als sei sie zertreten. Ludwig fragte immer das gleiche, mit äußerster Sparsamkeit an Ton und Wort:

»Vater, kann Gott in dir mein Leben verlängern?«

Und er hörte immer das gleiche, aus erschrockenen, sanften oder harten Mündern:

»Sire, diese Macht habe ich nicht.«

»Vater, warum sagst du, daß du sie nicht hast, wo Gott sie dir in jeder Sekunde könnte geben?«

Und er hörte Verwahrungen, Versprechen, verlegenes Geschwätz, ehrliches Mitleid, leise oder grobe Ermahnungen, sich nicht aufzulehnen, sondern sich des Höchsten Willen zu ergeben, wie er auch sei. Es wußten die Männer Gottes, die beredten, die gehemmten, die dreisten und die zaghaften, niemals, ob der König von ihren Worten getroffen wurde oder angerührt oder ob er sie auch nur angehört hatte und nicht schon teilnahmslos sei oder gar schon abwesend. Er kauerte im Lehnstuhl, das Gesicht, das die Rechte halb verdeckte, stets im Schatten, einen schmalen Lederriemen unterhalb der Achseln um die Brust und das Gestänge der Rückenlehne, daß der Oberkörper nicht in einem Augenblick der Ohnmacht nach vorne fiele. Es wußten die Männer Gottes nie, ob sein freies Auge, das wohl auf sie gerichtet war, mit dem Blick sie umfasse und bemerke oder durch sie hindurchsehe wie durch das Nichts, das schon in der tiefen Höhle saß wie bei Blinden. Und wenn sie sich leer geredet hatten, die einen früher, die anderen später, und alle mutlos oder verängstigt geworden waren, sah jeder von ihnen die Hand auf dem Gesicht verabschiedend die Finger bewegen und hörte jeder von ihnen die gleichen geflüsterten Worte:

»Vater, küß mich mit dem Mund Gottes und segne meinen Atem.«

Die Hand auf dem Gesicht drückte ein wenig den Kopf zurück und ließ die grauen Lippen frei, die sich öffneten. Der Heiligen Münder – welke, vollippige, bauernderbe und gelehrtenschmale – berührten sie mit dem frommen Kuß, und der Geküßte hauchte dann jedem einzelnen zu: »Atmet aus!« – und nahm den fremden Atem auf, der selten frisch war und zumeist stank wie von hungrigen und kranken Greisen.

Die Gottesmänner, etwa zwanzig an der Zahl, kamen und gingen. Ludwig hielt keinen. Er sprach kein Wort über sie, auch nicht zum Necker, den die Heiligen nicht zu Gesicht bekamen. Auch über den Erfolg oder Mißerfolg ihrer vorübergewandelten Wundertätigkeit schwieg er und über seine Befriedigung oder Enttäuschung. Doch als einige Tage vergingen und kein Anachoret mehr erschien, fragte er ihn eigentümlich lauernd:

»Kommt niemand mehr, Oliver? – Ich fand noch keinen Jesaia, armer Bruder, nicht einmal jenen wunderbaren Robertus von Tarent, von dem der Heilige Vater viel Redens und Rühmens machte. Ist er noch nicht in Frankreich?«

Der Necker sah ihn an, hörte seine belebte Sprache und fühlte wieder den Schauder – den Schauder vor wem? vor sich selber – kalt über das Herz streichen. Es hatte Tage gegeben (zumal solche, die ihn nicht ständig bei dem König sahen), in denen Ludwig abzusterben schien, gleichsam von außen nach innen verkalkend. Und dann kam immer wieder ein Augenblick, wie eben jetzt (»armer Bruder« nannte ihn stets dann der Kranke), in dem die Vampirseele des anderen an seinen Körper sich schnellte, ein paar Tropfen Lebens aus ihm sog und von innen nach außen, gewiß ganz spärlich und jämmerlich, den Leib mit Leben neu speiste. – Wie bin ich müde! klagte Oliver für sich, und sein Blick war nicht ohne Bitterkeit, nicht ohne ganz leisen Haß.

»Ach, Bruder«, jammerte Ludwig leise, wie durch vernehmlichen Vorwurf gekränkt, »ich gebe ja den lieben Gott noch nicht auf! Was tue ich nicht alles! Und wie warte ich auf den wunderbaren Robertus von Tarent!«

»Er ist seit drei Tagen schon in Tours«, sagte der Necker bedeutsam.

»Und warum kommt er nicht?« fragte hastig der König. Oliver beeilte sich nicht mit der Antwort, doch dann waren seine Worte frei von jedem Spott:

»Wohl, weil er erfahren hat, daß hier der Teufel lebt.«

Der König war eine Weile still. Jetzt meinte er, den Mundwinkel herabziehend:

»Was ist das für ein seltsamer Heiliger, der nicht einmal den schlichten Mut des Exorzisten aufbrächte!«

»Vielleicht«, lächelte der Necker, »hat er den Mut, den die anderen alle nicht bewiesen, und vielleicht fürchtet er, daß er mit der Teufelsaustreibung Ihnen und Ihren Wünschen schlecht dienen möchte, Sire.«

»Ist das deine neue Art zu scherzen, Oliver?« fragte Ludwig erheitert, und als der Necker nichts erwiderte, sprach er unvermutet schlau und sicher, mit der abgründigen Ironie seiner guten Tage: »So soll der Teufel nach Tours gehen und den Heiligen holen. Das wird vielleicht ein seltsamer Wettstreit, mir zu dienen. Das möchte mir wohlgefallen, Bruder.«

Roberto Rizzo, ein apulischer Bauernsohn, war Eremit von seinem zwölften bis zu diesem seinem sechsundsechzigsten Jahr, in welchem ihn die Bitte des Papstes nach Plessis rief. Als dem Knaben die wilde, fast wütige Stimme seines Gottes befahl, von des Vaters Schafen, Maisfeldern, Oliven und verstaubten Weinranken über verkrüppelten Maulbeerbäumen, aus seiner ganzen engen, sonnenschweren Welt davonzulaufen und in einem Felsenloch der tarentinischen Küste sich mit den Begierden seines früh entwickelten Körpers herumzuschlagen, legte sich sogleich Scheu, Verehrung, Anbetung der gottlüsternen Nachbarn wie ein Riegel vor seine Höhle. So kam er nicht mehr heraus, und als ein Mensch mit brennendem Ehrgeiz nach einer Einzigartigkeit, die anerkannt sei, wollte er es auch bald nicht mehr. So blieb er in dem Felsen, wurde Jüngling, Mann, Greis, war theologischer Autodidakt von ungeheuerlicher Energie und Einseitigkeit, im Dienst der göttlichen Güte so hart und wild gegen sich wie gegen die anderen Sünder, die aus den Dörfern, Städten, Landschaften der Heimat, dann aus dem Königreich und schließlich aus der ganzen katholischen Welt zu ihm kamen, brachte nicht Fleisch, nicht Fisch, nicht Eier, nicht Butter, nicht Milch über seine messerdünnen Lippen und unterbrach die fünfzig Höhlen jähre nur, um zweimal nach Jerusalem zu pilgern und in Nordafrika zwei Kirchen zu errichten. Allmählich wurde sein Einfluß auch kirchenpolitisch, und obwohl er jede geistliche Würde ausschlug, wirkte er seit seiner späten Manneszeit als die Seele einer unbeugsam orthodoxen Partei, die bei jedem Konklave von den Kardinälen – zumal der spanischen Richtung – umschmeichelt und von keinem Papst übersehen wurde. Daß er dem Wunsch Roms, den Allerchristlichsten König aufzusuchen, nach heftigem Sträuben willfahrte, geschah wohl nur, um durch seine Wirkung auf den Valois die schon damals erschütterte Zentralgewalt Roms über die gallikanische Kirche wiederherzustellen. Seine Reise durch Italien wurde der nicht mehr erwartete Triumph seiner Heiligkeit. Ein päpstlicher Legat und der Prinz von Tarent, der neapolitanische Königssohn, holten ihn ab. In Neapel ehrte ihn der König wie ein Sohn den Vater und kam zu Fuß und barhaupt in die bescheidene Herberge Robertos, daß er ihn segne. In Rom war sein Erscheinen das Ereignis des Jahres. Die Kardinäle drängten sich in den Palast des Papstnepoten und Stadtgouverneurs, in dem der Anachoret eine kahle Dachkammer und eine Holzpritsche angenommen hatte. Robertus behandelte die mächtigen und üppigen Männer mit wohlerwogenem Freimut und der geschickten Rauheit des Asketen, der außerhalb der Faktionen und der höfischen Sitte stand; er bestrickte sie mit seinem Gegensatz, seinem großen Ruf und seiner bäurisch grobschlächtigen Kameradschaft mit Gott; und obgleich er ein wenig zu bewußt die Sonderrechte des außerhierarchischen Machtfaktors ausnutzte, hatte er einen persönlichen Erfolg ohnegleichen. Während seines dreitägigen römischen Aufenthalts gewährte ihm der Papst drei Audienzen, denen niemand sonst beiwohnte und die stets drei oder vier Stunden dauerten. Der kluge Klemens ehrte ihn nicht nur durch den Sessel an seiner Seite, nicht nur durch den Auftrag, einen Orden von Franziskanereremiten zu gründen, sondern auch durch eine genaue Information über den Zustand und die persönlichen Verhältnisse des französischen Königs und über das zugleich politische und christliche Ziel, das jetzt Ludwigs wahrscheinliche Enttäuschungen durch die anderen Gottesmänner erreichbar zu machen schienen: die Trennung des todkranken Valois von jenem dämonischen, viel verschrienen, in geistlichem und weltlichem Sinne gefährlichen Minister Le Mauvais, der ihn bisher völlig in der Gewalt habe und nicht nur Frankreich ungemein tyrannisiere, sondern auch die gute Gelegenheit, gerade in diesem unschätzbaren Augenblick den ersehnten Einfluß über die Person und die Politik des Königs und seines minorennen Nachfolgers zu erlangen, als einziger zu vereiteln imstande sei. Jetzt erkannte der Wunderbare die Mission als die Krönung seines ganzen gottgezeichneten Lebens.

Sein Zögern zu Tours war nur eines der planmäßigen Manöver, die mit primitiver Schlauheit die Erwartung des Königs und die eigene Notwendigkeit zu steigern beabsichtigten. Der Bischof, wie alle Prälaten des Reiches ein Feind des Neckers, zögerte nicht, auf seine behutsamen Fragen den Kronteufel mit den Farben des großen Hasses zu malen. Das Bild des Günstlings, unterwegs durch vorsichtige Forschung schon eingefangen, wurde jetzt plastisch abgerundet. Robertus, der krasse Fälle liebte, war gewiß, diesen nichts als Bösen mit wenigen Handgriffen zu packen und mit ein, zwei Schlägen der göttlichen Keule abzutun.

Und doch wurde er blaß wie der Bischof, als die Ankunft Le Mauvais' gemeldet wurde und schon der erzene Schritt von zweihundert Schotten durch die engen Straßen klirrte.

»Reize ihn nicht, mein Vater«, flüsterte noch der Bischof, der sich sorglich zurückzog, kaum daß es feststand, wem der Besuch des Neckers gelte, »reize ihn nicht! Denn er achtet unser Gewand und unsere Immunität verteufelt wenig – und Rom ist weit, nah aber ist die Oubliette ... und Balues Käfig ist leer ...«

Der Wunderbare barg die Hände in den weiten Kuttenärmeln und kreuzte sie über der Brust. Die untergehende Sonne warf ein so brennendes Rot durch den hohen Fensterbogen, daß es dem von unbekannten Gefühlen, Angst und Ratlosigkeit Verwirrten fast schien, als kündigte sich der Böse mit dieser höllischen Lohe an und als möchte er jeden Augenblick grell durch das Fenster eindringen wie sie. So starrte er unverwandt in den roten Lichtfluß, zu stolz, um jetzt schon Gottes Hilfe anzurufen, und so sehr mit dem eigenen Gleichgewicht beschäftigt, daß er den grauen Mann am anderen Ende des dämmerigen Saales nicht sah, nicht hatte eintreten hören und daß er ihm Minutenmuße gewährte, den kühnen Holzschnitt seines Profils auf rotem Grunde zu betrachten.

»Mein Vater!« sagte der Necker sanft aus seinem Schattenwinkel. Robertus zuckte zusammen und wandte heftig den Kopf der Stimme zu. Doch sein Blick war so voll roten Lichtes, daß er nichts sah als wieder rotes Licht. Seine Hände bebten aus den Ärmeln, und die Rechte faßte nach dem Kruzifix, das seitlich am Rosenkranz hing. Die Bewegung, dünkte es Oliver, war wie die des Soldaten, der nach dem Säbel greift. Der strenge Kopf kniff die Augen zusammen; die weißen Büsche der Brauen berührten sich.

» Chi è?« fragte er, grob und mißtrauisch wie ein Wachtposten.

»Erlaubt, mein Vater«, sagte Oliver und trat langsam näher. Robertus schützte mit der Hand die Augen vor dem Licht und betrachtete den sanften Sprecher, der mit jedem Schritt deutlicher wurde und jetzt nahe vor ihm in der Helle stand, jetzt sich über seine Hand beugte – einen grauhaarigen Mann, vielleicht in seinem Alter, vielleicht jünger, mit einem Gesicht, wie er es liebte (wie er selber es hatte! gemeißelt und gegeißelt vom strengen Gott!), doch mit den weise-traurigen Augen, die ihm unbehaglich waren, selbst bei seinem Jesus-Herrn und bei manchen zarten Heiligen.

»Spreche ich mit dem Rat des Königs?« fragte er in verlegenem Latein, zwischen unheimlicher Neigung und dem gerechten Abscheu schwankend, und gewaltsam dann, der vielen Inkarnationen des Satan wieder eingedenk, sich auf seine Pflicht besinnend, fuhr er in rustikalem Italienisch und mit seiner stets etwas heiseren Scheltstimme fort: »Ihr seid jener Ser Le Mauvais, nicht wahr?«

»Ja, mein Vater«, antwortete Oliver, freundlich lächelnd, »ich komme im Namen des Königs, Euch zu ihm zu bitten und zu geleiten, wenn Ihr seine Einladung annehmt.«

»Was will der große König von mir kleinem Klausner?« leitete Robertus vorsichtig den Kampf ein. Der Necker sah ihn ernst an, ruhig, gleichsam die eingelegte Lanze beiseite schiebend, und der alte Mann errötete vor diesem Blick.

»Wenn Ihr es noch nicht wißt, mein Vater«, entgegnete Oliver, »so werdet Ihr es erfahren. Jetzt aber sind noch einige Worte notwendig zwischen Euch und mir.«

Robertus, von solcher Unmittelbarkeit überrascht, bog den Oberkörper zurück und entschloß sich dann, dem Angriff zuvorzukommen.

»Messer«, sagte er hart, »wenn ich mich bereit erkläre, der Majestät in den Fragen der Religion beizustehen, so bedeutet das nicht, daß man mich höfischer Vorbereitung oder gar besonderen Interessen hörig finden wird. – Oder haben wir beide von geistlichen Dingen zu reden?«

»Gewiß, mein Vater«, erwiderte Oliver mit Nachdruck, »Ihr wißt, daß man mich hierzulande den Teufel nennt.«

Der Wunderbare hob sich halb aus seinem Stuhl und streckte abwehrend den Arm vor, nicht wissend, ob jetzt schon das Apage am Platz sei.

»Und soll ich annehmen«, rief er drohend, »daß Euch dieser verruchte Beiname gefällt?«

»Nein«, sagte der Necker leise, »aber Ihr sollt versuchen, Vater, den König von solchem Gefallen abzuwenden. Ihr sollt versuchen, Vater, ihn vor mir zu retten oder vor dem, den er in mir sieht – der ich vielleicht sein mag.«

Robertus sank in den Stuhl zurück, mit großen staunenden Kinderaugen.

»Das sagt Ihr mir, Messer?« flüsterte er.

»Sehr krank ist der König!« drängte der Necker in plötzlicher Verzweiflung über seiner Worte ohnmächtiges Pendeln von Wahrheit zu Lüge, »angefressen ist der König von dem Irrglauben an die Kraft des Bösen, den er in mir sieht – der ich vielleicht sein mag. Erstarrt ist er in der Ferne von Gott und neben mir! Rettet sein Leben, mein Vater, denn er will leben! Denn es geht um sein Leben, nicht um seine Seele, die ja nach Euch verlangt! Rettet ihn durch Euer göttliches Gebot, sich von mir zu trennen, Vater! Vater!«

Er umklammerte, auf die Knie fallend, die Beine des Wunderbaren, den es wie ein Fieber schüttelte.

»Apage ...«, stöhnte er, von der Liebe zum Bösen gefoltert und ihn abzudrängen sich mühend, »der Herr weiß, was mir zu tun sein wird, ma non mi toccare! – Apage, Satana!« schrie er jetzt, ihn roh zurückstoßend und das Kruzifix schwingend. Aber er hatte Tränen in den Augen.

 

Sie brachen noch in derselben Stunde auf, der Necker an der Spitze der Schotten, der Heilige hinter dem letzten Mann, und kamen gegen Mitternacht nach Plessis. In der Bibliothek war noch Licht. Der König hockte in dem tiefen Stuhl, still in seinem Riemen, die Beine in dicke Decken gehüllt, den Kopf mit den geschlossenen Augen auf der Brust. Oliver wußte nicht, ob er schlief. Und so ausgelöscht, so blutlos grau stak der Menschenrest im Rahmen der Lehne, daß Robertus, dem Necker über die Schulter sehend, nicht wußte, ob er lebte. Doch sein Führer schien daran nicht zu zweifeln, er drehte sich zu ihm und legte den Finger an den Mund: das galt wohl den grobknarrenden Sandalen des Eremiten. Die Dogge Tristan zu Ludwigs Füßen hörte nicht auf zu knurren. Robertus hielt sich still.

»Oliver«, sagte der König mit einemmal, ohne sich zu bewegen oder die Augen zu öffnen, »weißt du, wie böse diese Nacht ist? Hast du mich verraten, Bruder – zum zweiten Male?«

Es war ganz still. Vom Vogelhaus nur drangen hin und wieder kurze Schreie der Nachteulen gedämpft in den Raum. Oliver blieb ganz ruhig, und so friedlich war für ihn diese Spanne Zeit zwischen Ludwigs Frage und seiner Antwort, daß er seiner Ruhe gleichsam zunicken konnte, beifällig und voller Vertrauen, wie der Lehrer einer guten Schülerin. Er wandte sich von neuem um – und lächelte. Dem Heiligen zitterte das Kinn und in den Kuttenärmeln die Hände. Dann, wieder zum Kranken blickend, fragte Oliver leise zurück:

»Verrat, Sire? Wie soll ich ja sagen, wenn Sie selbst ihn riefen? Aber wie soll ich auch nein sagen? Es kommt, Herr, wie es kommen muß.«

Ludwig stöhnte. Oliver sprach lauter:

»Der Pater Robertus von Tarent steht hinter mir.«

»Ja, ja«, sagte der König, als wüßte er es. Aber jetzt erst öffnete er die Augen, und zugleich auch legte er die eine Hand auf die linke Hälfte des Gesichts. Die andere streckte zwei Finger aus: das war das Zeichen für den Necker, unbemerkt hinter der Wandverkleidung zu bleiben. Oliver ging, dem Wunderbaren zulächelnd, und betrat den Saal wieder auf der Höhe des königlichen Sessels durch eine seitliche Tapetentür, die durch einen unmerklich gespaltenen Gobelin verdeckt war. Dort blieb er stehen.

Robertus hatte sich noch nicht von der Stelle gerührt. Das Grauenvolle der Beziehung, das wie ein Spinngewebe zwischen dem König und dem Teufel hing, zwischen ihren Körpern, ihren Seelen, ihren Worten, schlug ihn mit einer tollen Furcht. Doch wie oft bei Menschen von jähzorniger und selbstbewußter Art lag die Tollkühnheit ganz dicht daneben und bedurfte nur des überspringenden Funkens, um aufzuflammen. Es mußte gehandelt werden, um der göttlichen Ehre willen, die er vertrat. Als der Böse ihm das zweitemal zulächelte, war jener betäubende Fluchtgedanke überwunden, durch den Gegendruck der Feindschaft oder Freundschaft: er wußte es nicht einmal. Er blieb in seinem Winkel stehen, weil er nicht erkennen konnte, ob das offene Auge des König ihn schon erblickte oder nicht. Er fühlte sich wohl in der Entfernung sicherer. Aber er erschrak nicht mehr, als des Königs schwache Stimme sich an ihn wandte: »Komm näher, Vater Robertus.« Er trat vor, und die Sandalen schlugen die Fliesen so lärmend, wie er noch keinen Laut in diesem Raum voll Nacht gehört hatte. Er versuchte, zusammenfahrend, den Schritt zu dämpfen, doch als es ihm nicht gelang, wußte er, daß Gott hier laut auftreten wollte – und er donnerte durch die Halle. Der König zuckte empfindlich mit der Schulter. Drei Schritte vor dem Lehnstuhl blieb der Mönch stehen und hob grüßend oder segnend die Hand. Ludwig bekreuzigte sich, ihn nicht aus den Augen lassend. Die Dogge knurrte lauter.

»Still, Tristan!« befahl der König und schwieg wieder. Robertus wurde unruhig. Er mußte sprechen, er mußte den Höchsten Namen in diese böse Ruhe rufen – um des Kranken willen nicht weniger als um seinetwillen –, daß er von Anfang an da sei, reinigend und tonangebend. Er mußte ihn wie einen Anker auswerfen, daß er den Höllentrug des Bodenlosen durchschlage und Grund finde. Er rief viel zu laut:

»Der Herr ist die Allmacht! Der Herr ist die Güte! Der Herr ist die Rettung!«

Wieder zuckte Ludwigs Schulter, als täte ihm die scharfe Stimme weh. Er fragte müde:

»So kannst du mir helfen, mein Vater?«

»Ja«, sprach Robertus, froh über die Demut der Worte und jetzt schon fast wild auf die Beute, die er aus der Höhle des Bösen schleppen würde vor den anerkennenden Gott. Er fühlte, wie in allen glücklichen Augenblicken seines Lebens – den Augenblicken vor dem Sturm auf Menschen – das Blut in lustvollem, grausamem Reiz, gleichsam in seinem roten Schwung durch den Körper strömen, jene besondere und gewiß fromme Wut, die niemals weit davon entfernt war, den Sünder körperlich zu züchtigen, und es zuweilen auch tat. Verdoppelt fühlte er Reiz, Schwung und Wut durch die Größe der Aufgabe und der Gefahr. Und doch übersah er nicht das Merkwürdige, das Verwundernswerte: den König durchzuckte nicht sein heiliges Ja mit dem Strahl der Hoffnung, berührte nicht einmal mit dem milden Licht der Zuversicht, nicht mit dem schwächsten Abglanz eines seelischen Gewinns. Er blieb matt und zaghaft, er fragte gar: »Um welchen Preis, mein Vater?«

»Um den Preis des Bösen!« toste der Wunderbare auf, »um den Preis jenes Besessenen und Verfluchten, der vom Satan Namen hat und Atem und doch neben Euch lebt und in Eurem Namen spricht und wider Euch empört den Himmel und die Erde! Und laßt Ihr ihn, so wird Gott Euch segnen und Euren Körper lösen aus der Klammer der Krankheit, die Sein Zorn Euch sandte, und leben werdet Ihr einen langen sanften Abend des Greises! Und laßt Ihr ihn nicht, so wird Gott Euch Geschlagenen mehr noch schlagen, auf jedes Glied und auf jeden Sinn, schlagen in den Tod und schlagen in die Verdammnis!«

Die Dogge knurrte, gereizt durch des Heiligen Gebrüll und Gesten.

»Still, Tristan!« befahl mit Anstrengung der König, der sich nicht gerührt hatte und nur unter der Wortwelle die Augen schloß. Jetzt bewegte er die Hand auf dem Gesicht und flüsterte:

»Ich lasse meinen guten Bruder nicht ...«

Robertus schüttelte die Arme, wuterstickt. Doch dann wieder brachen seine Worte sich Bahn, formten sich zu brutalen Bildern von Leid und Tod, von der Folter des unseligen Sterbens und der Hölle des Jenseits. Mit der sich immer steigernden Beredsamkeit der Ekstase rüttelte er an dem Zustand der Gegenwart, zauberte das Reich in Revolution, Verfall und Untergang, war dann wieder in anderem Tonfall, in der Fülle gottgefälliger Macht, im Segen des Friedens, in der Freude des beruhigten Landes, in der Liebe des befriedigten Volkes ... Er schöpfte Atem.

»Ich lasse meinen guten Bruder nicht ...«, flüsterte Ludwig, geängstigt durch die Erregung, die seit Olivers Aufbruch nach Tours durch den Körper wühlte und jetzt unter Blutstößen hochtrieb. Des Heiligen Worte wurden gefährlich wie Steinwürfe. Er näherte sich dem Äußersten: der Drohung mit dem Anathem ...

»... und Gott wird dich Geschlagenen schlagen noch diese Nacht!« schrie er. Da rief eine starke Stimme aus der Wand, mächtiger noch als die seine:

»Es ist genug!«

Robertus taumelte zurück, mit zurückgeworfenem Kopf, als wären die drei Worte drei Schläge gegen seine Stirn. Doch auch dem König fiel die Hand von dem Gesicht, das vor Angst milchig glänzte, wie wenn er nicht wüßte, wem die Stimme gehörte. Oder es war das tückische Blut, das schon den ganzen Tag lauerte, mit dem Abend sich duckte wie ein Raubtier (oh, wie er es kannte!) und jetzt losbrach.

»Ein Wunder!« stöhnte er erstickt und warf die Arme auf, von dem Entsetzen des bedrohten Körpers eingekesselt, kein Entrinnen vor den rings aufgehobenen Fäusten wissend, »ein Wunder geschehe ... hilf ...«

Den Wunderbaren riß es hoch. Gottes Stimme war es eben nicht, denn sie unterbrach sein gerechtes Werk. So gehörte sie dem Teufel. So mußte sie bekämpft werden. Und sieh: jener Wandteppich teilte sich und läßt den Bösen ein! Doch rief der König nicht nach Gottes Wunder? War er nicht schon gewonnen? – Jetzt galt es ...

Er stürzte sich gegen Oliver, das Kreuz wie eine Streitaxt schwingend, und schrie:

»Apage! Apage! – Gott gib ein Wunder!«

Die Dogge hinter ihm fuhr wütig bellend auf ... schon fühlte er einen furchtbaren Schmerz im Schenkel ... schon fiel er in eine maßlose, gefühlauflösende Tiefe. –

Der Necker sprang, den Hund fortreißend, über ihn hinweg zum Lehnstuhl. Im Riemen hing mit pendelnden Armen und blutrotem Gesicht der König.

 

Es ging dem Morgen zu, dem letzten Tag des Septembers. Oliver kauerte neben Ludwigs weiß und still gewordenem Antlitz. Er wartete auf das Erwachen und den neuen Beginn des Kampfes ohne Ende. Doch warum verließ nicht die Wunderruhe seine Brust? Warum hatte sie seine Erschütterung über die königliche Treue in die Augenblicke der lautersten menschlichen Freude verwandelt? Und warum verließ ihn nicht das Gefühl eines fast einfältigen Glückes, als sei er am Ende des Weges? –

Ganz ohne Übergang aus der Starre zum Leben, ohne ein Zeichen des Körpers, daß er erwache, bewegten sich Ludwigs Lippen, lautlos zuerst und dann leise deutlich:

»Das Öl ... das heilige Öl ... schnell, Bruder, schnell, daß ich dich salbe!«

Dem Necker war es, als würde sein Körper ganz leicht und als schlüge ihm das Herz nicht mehr. Doch dies alles war nicht Leid, sondern ein Aufblühen von Freude und Liebe und ein Verströmen von Dankbarkeit. Er berührte mit den Lippen die feuchte Stirn Ludwigs.

»Das ist die Stunde der Lösung!« jubelte er ihm in die Haut.

»Das Öl!« drängte die Flüsterstimme, »der König darf nicht sterben!«

»Der König nicht, es stirbt Le Mauvais«, lächelte Oliver, richtete sich auf und nahm die Ampolla vom Gebetpult. Er drückte sie an Ludwigs schlaffe Finger.

»Ich kann sie nicht halten«, klagte die Stimme.

»Mich salbt das Wort«, begütigte Oliver und legte dem König leise die Ampolla auf das Herz.

»Der König geht ein in dich, mein Bruder«, hauchte feierlich die Stimme. Der Necker flüsterte in Ludwigs Mund:

»Oliver geht ein in dich, mein Bruder.«

Er küßte die aufgerissenen Lippen. – Dann begann er zu sprechen, mit der tönenden Stimme des gesunden Königs den nächtigen Raum füllend, und seine Worte spielten die alten und bekannten Melodien der Majestät auf, voll klaren und kühnen Lebens. Er sprach von künftiger Politik und den Maßregeln, den Frieden zu sichern; man werde keinen Streit mit der Bretagne suchen, dem einzigen noch selbständigen Herzogtum im Reich; man werde das Land durch kluge dynastische Politik kampflos gewinnen. Man werde auch wegen Calais keinen neuen Krieg mit England riskieren, sondern versuchen, mit Geld zu erobern. Die Außenpolitik den anderen Mächten gegenüber sei fortzusetzen und die steuerliche Belastung des Volkes allmählich zu mildern. Groß und machtvoll sehe man die Zukunft des Reiches.

»Groß und machtvoll ist der König«, hauchte die Stimme, und der Atem wurde mühsam. Oliver stand leise auf, immer sprechend, und zog an einer versteckten Klingelschnur. Seine Worte wurden wärmer, als sie jetzt von den strengen Bildern der Regierung ließen und zu den Tieren kamen. Er nannte die geliebten Namen, scherzte mit den Kranichen und den Eulen, lockte die Hunde und klopfte den Pferden auf die schönen Hälse.

»Die guten Tiere«, röchelte die Stimme.

Die Tür öffnete sich leise. Jean de Beaune wurde durch einen Blick unterrichtet und verschwand wieder.

»Mehr Tiere müssen es sein«, redete Oliver etwas hastig und trocknete den kalten Schweiß von Ludwigs Stirn; »nach Hunden soll man überall nachfragen, in Spanien nach Alanos und Windspielen und Valenzianer Pinschern. In Sizilien müssen Maultiere gesucht werden. Und in der Berberei gibt es eine Art kleiner Wölfe, die Addib heißen ...«

Jetzt trat der Hauskaplan an das Sterbebett.


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