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Die griechische Philosophie scheint mit einem ungereimten Einfalle zu beginnen, mit dem Satze: daß das Wasser der Ursprung und der Mutterschooß aller Dinge sei. Ist es wirklich nöthig, hierbei stille zu stehen und ernst zu werden? Ja, und aus drei Gründen: erstens weil der Satz Etwas vom Ursprung der Dinge aussagt; zweitens weil er dies ohne Bild und Fabelei thut; und endlich drittens, weil in ihm, wenngleich nur im Zustande der Verpuppung, der Gedanke enthalten ist »Alles ist Eins«. Der erstgenannte Grund läßt Thales noch in der Gemeinschaft mit Religiösen und Abergläubischen, der zweite aber nimmt ihn aus dieser Gesellschaft und zeigt uns ihn als Naturforscher, aber vermöge des dritten Grundes gilt Thales als der erste griechische Philosoph. Hätte er gesagt: aus Wasser wird Erde, so hätten wir nur eine wissenschaftliche Hypothese, eine falsche, aber doch schwer widerlegbare. Aber er gieng über das Wissenschaftliche hinaus. Thales hat in der Darstellung dieser Einheits-Vorstellung durch die Hypothese vom Wasser den niedrigen Stand der physikalischen Einsichten seiner Zeit nicht überwunden, sondern höchstens übersprungen. Die dürftigen und ungeordneten Beobachtungen empirischer Art, die Thales über das Vorkommen und die Verwandlungen des Wassers oder, genauer, des Feuchten, gemacht hatte, hätten am wenigsten eine solche ungeheure Verallgemeinerung erlaubt oder gar angerathen; Das, was zu dieser trieb, war ein metaphysischer Glaubenssatz, der seinen Ursprung in einer mystischen Intuition hat und dem wir bei allen Philosophien, sammt den immer erneuten Versuchen, ihn besser auszudrücken, begegnen: – der Satz » Alles ist Eins«.
Es ist merkwürdig, wie gewaltherrisch ein solcher Glaube mit aller Empirie verfährt: gerade an Thales kann man lernen, wie es die Philosophie, zu allen Zeiten, gemacht hat, wenn sie zu ihrem magisch anziehenden Ziele, über die Hecken der Erfahrung hinweg, hinüberwollte. Sie springt auf leichten Stützen voraus: die Hoffnung und die Ahnung beflügeln ihren Fuß. Schwerfällig keucht der rechnende Verstand hinterdrein und sucht bessere Stützen, um auch selbst jenes lockende Ziel zu erreichen, an dem der göttlichere Gefährte schon angelangt ist. Man glaubt, zwei Wanderer an einem wilden, Steine mit sich fortwälzenden Waldbach zu sehen: der eine springt leichtfüßig hinüber, die Steine benutzend und sich auf ihnen immer weiter schwingend, ob sie auch jäh hinter ihm in die Tiefe sinken. Der andere steht alle Augenblicke hülflos da, er muß sich erst Fundamente bauen, die seinen schweren, bedächtigen Schritt ertragen, mitunter geht dies nicht, und dann hilft ihm kein Gott über den Bach. Was bringt also das philosophische Denken so schnell an sein Ziel? Unterscheidet es sich von dem rechnenden und abmessenden Denken etwa nur durch das raschere Durchfliegen großer Räume? Nein, denn es hebt seinen Fuß eine fremde, unlogische Macht, die Phantasie. Durch sie gehoben, springt es weiter von Möglichkeit zu Möglichkeit, die einstweilen als Sicherheiten genommen werden: hier und da ergreift es selbst Sicherheiten im Fluge. Ein genialisches Vorgefühl zeigt sie ihm, es erräth von ferne, daß an diesem Punkte beweisbare Sicherheiten sind. Besonders aber ist die Kraft der Phantasie mächtig im blitzartigen Erfassen und Beleuchten von Ähnlichkeiten: die Reflexion bringt nachher ihre Maßstäbe und Schablonen heran und sucht die Ähnlichkeiten durch Gleichheiten, das Nebeneinander-Geschaute durch Causalitäten zu ersetzen. Aber selbst, wenn dies nie möglich sein sollte, selbst im Falle des Thales hat das unbeweisbare Philosophiren noch einen Werth; sind auch alle Stützen gebrochen, wenn die Logik und die Starrheit der Empirie hinüber will zu dem Satze »Alles ist Wasser«, so bleibt immer noch, nach Zertrümmerung des wissenschaftlichen Baues, ein Rest übrig; und gerade in diesem Reste liegt eine treibende Kraft und gleichsam die Hoffnung zukünftiger Fruchtbarkeit.
Ich meine natürlich nicht, daß der Gedanke, in irgend einer Beschränkung oder Abschwächung, oder als Allegorie, vielleicht noch eine Art »Wahrheit« behalte: etwa wenn man sich den bildenden Künstler am Wasserfalle stehend denkt, und er in den ihm entgegenspringenden Formen ein künstlerisch vorbildendes Spiel des Wassers mit Menschen» und Thierleibern, Masken, Pflanzen, Felsen, Nymphen, Greifen, überhaupt mit allen vorhandenen Typen sieht: so daß für ihn der Satz »Alles ist Wasser« bestätigt wäre. Der Gedanke des Thales hat vielmehr gerade darin seinen Werth – auch nach der Erkenntniß, daß er unbeweisbar ist –, daß er jedenfalls unmythisch und unallegorisch gemeint war. Die Griechen, unter denen Thales plötzlich so bemerkbar wurde, waren darin das Gegenstück aller Realisten, als sie eigentlich nur an die Realität von Menschen und Göttern glaubten und die ganze Natur gleichsam nur als Verkleidung, Maskerade und Metamorphose dieser Götter-Menschen betrachteten. Der Mensch war ihnen die Wahrheit und der Kern der Dinge, alles Andre nur Erscheinung und täuschendes Spiel. Ebendeshalb machte es ihnen unglaubliche Beschwerde, die Begriffe als Begriffe zu fassen: und umgekehrt wie bei den Neueren auch das Persönlichste sich zu Abstraktionen sublimirt, rann bei ihnen das Abstrakteste immer wieder zu einer Person zusammen. Thales aber sagte: »nicht der Mensch, sondern das Wasser ist die Realität der Dinge«, er fängt an, der Natur zu glauben, sofern er doch wenigstens an das Wasser glaubt. Als Mathematiker und Astronom hatte er sich gegen alles Mythische und Allegorische erkältet, und wenn es ihm nicht gelang, bis zu der reinen Abstraktion »Alles ist Eins« ernüchtert zu werden, und er bei einem physikalischen Ausdrucke stehen blieb, so war er doch, unter den Griechen seiner Zeit, eine befremdliche Seltenheit. Vielleicht besaßen die höchst auffälligen Orphiker die Fähigkeit, Abstraktionen zu fassen und unelastisch zu denken, in einem noch höheren Grade als er: nur daß ihnen der Ausdruck derselben allein in der Form der Allegorie gelang. Auch Pherekydes aus Syros, der Thales in der Zeit und in manchen physikalischen Conceptionen nahe steht, schwebt mit seinem Ausdrucke derselben in jener Mittelregion, in der der Mythus sich mit der Allegorie gattet: so daß er zum Beispiel wagt, die Erde mit einer geflügelten Eiche zu vergleichen, die mit ausgebreiteten Fittigen in der Luft hängt und der Zeus, nach Überwältigung des Kronos, ein prachtvolles Ehrengewand umlegt, in das er mit eigner Hand die Länder, Wasser und Flüsse eingestickt hat. Solchem kaum in's Schaubare zu übersetzenden düster-allegorischen Philosophiren gegenüber ist Thales ein schöpferischer Meister, der ohne phantastische Fabelei der Natur in ihre Tiefen zu sehen begann. Wenn er dabei die Wissenschaft und das Beweisbare zwar benutzte, aber bald übersprang, so ist dies ebenfalls ein typisches Merkmal des philosophischen Kopfes. Das griechische Wort, welches den »Weisen« bezeichnet, gehört etymologisch zu sapio ich schmecke, sapiens der Schmeckende, sisyphos der Mann des schärfsten Geschmacks; ein scharfes Herausschmecken und -erkennen, ein bedeutendes Unterscheiden macht also, nach dem Bewußtsein des Volkes, die eigenthümliche Kunst des Philosophen aus. Er ist nicht klug, wenn man klug Den nennt, der in seinen eignen Angelegenheiten das Gute herausfindet; Aristoteles sagt mit Recht: »Das, was Thales und Anaxagoras wissen, wird man ungewöhnlich, erstaunlich, schwierig, göttlich nennen, aber unnütz, weil es ihnen nicht um die menschlichen Güter zu thun war.« Durch dieses Auswählen und Ausscheiden des Ungewöhnlichen, Erstaunlichen, Schwierigen, Göttlichen grenzt sich die Philosophie gegen die Wissenschaft ebenso ab, wie sie durch das Hervorheben des Unnützen sich gegen die Klugheit abgrenzt. Die Wissenschaft stürzt sich, ohne solches Auswählen, ohne solchen Feingeschmack, auf alles Wißbare, in der blinden Begierde, Alles um jeden Preis erkennen zu wollen; das philosophische Denken dagegen ist immer auf der Fährte der Wissenswürdigsten Dinge, der großen und wichtigsten Erkenntnisse, Nun ist der Begriff der Größe wandelbar, sowohl im moralischen als ästhetischen Bereiche: so beginnt die Philosophie mit einer Gesetzgebung der Größe, ein Namengeben ist mit ihr verbunden. »Das ist groß« sagt sie und damit erhebt sie den Menschen über das blinde ungebändigte Begehren seines Erkenntnißtriebes. Durch den Begriff der Größe bändigt sie diesen Trieb: und am meisten dadurch, daß sie die größte Erkenntniß, vom Wesen und Kern der Dinge, als erreichbar und als erreicht betrachtet. Wenn Thales sagt »Alles ist Wasser«, so zuckt der Mensch empor aus dem wurmartigen Betasten und Herumkriechen der einzelnen Wissenschaften, er ahnt die letzte Lösung der Dinge und überwindet, durch diese Ahnung, die gemeine Befangenheit der niederen Erkenntnißgrade. Der Philosoph sucht den Gesammtklang der Welt, in sich nachtönen zu lassen und ihn aus sich herauszustellen in Begriffen: während er beschaulich ist wie der bildende Künstler, mitleidend wie der Religiöse, nach Zwecken und Causalitäten spähend wie der wissenschaftliche Mensch, während er sich zum Makrokosmos aufschwellen fühlt, behält er dabei die Besonnenheit, sich, als den Wiederschein der Welt, kalt zu betrachten, jene Besonnenheit, die der dramatische Künstler besitzt, wenn er sich in andre Leiber verwandelt, aus ihnen redet und doch diese Verwandlung nach außen hin, in geschriebenen Versen zu projiciren weiß. Was hier der Vers für den Dichter ist, ist für den Philosophen das dialektische Denken: nach ihm greift er, um sich seine Verzauberung festzuhalten, um sie zu petrificiren. Und wie für den Dramatiker Wort und Vers mir das Stammeln in einer fremden Sprache sind, um in ihr zu sagen, was er lebte und schaute und was er direkt nur durch die Gebärde und die Musik verkünden kann, so ist der Ausdruck jeder tiefen philosophischen Intuition durch Dialektik und wissenschaftliches Reflektiren zwar einerseits das einzige Mittel, um das Geschaute mitzutheilen, aber ein kümmerliches Mittel, ja im Grunde eine metaphorische, ganz und gar ungetreue Übertragung in eine verschiedene Sphäre und Sprache. So schaute Thales die Einheit des Seienden: und wie er sich mittheilen wollte, redete er vom Wasser!