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Der Gedanke ist in der Gestalt, in welcher er kommt, ein vieldeutiges Zeichen, welches der Auslegung, genauer, einer willkürlichen Einengung und Begränzung bedarf, bis er endlich eindeutig wird. Er taucht in mir auf — woher? wodurch? das weiß ich nicht. Er kommt, unabhängig von meinem Willen, gewöhnlich umringt und verdunkelt durch ein Gedräng von Gefühlen, Begehrungen, Abneigungen, auch von andern Gedanken, oft genug von einem ”Wollen” oder ”Fühlen” kaum zu unterscheiden. Man zieht ihn aus diesem Gedränge, reinigt ihn, stellt ihn auf seine Füße, man sieht, wie er dasteht, wie er geht, Alles in einem erstaunlichen presto und doch ganz ohne das Gefühl der Eile: wer das Alles thut, — ich weiß es nicht und bin sicherlich mehr Zuschauer dabei als Urheber dieses Vorgangs. Man sitzt dann über ihn zu Gericht, man fragt: was bedeutet er? „was darf er bedeuten? hat er Recht oder Unrecht?” — man ruft andere Gedanken zu Hülfe, man vergleicht ihn. Denken erweist sich dergestalt beinahe als eine Art Übung und Akt der Gerechtigkeit, bei dem es einen Richter, eine Gegen-Partei, auch sogar ein Zeugenverhör giebt, dem ich ein wenig zuhören darf — freilich nur ein wenig: das Meiste, so scheint es, entgeht mir. — Daß jeder Gedanke zuerst vieldeutig und schwimmend kommt und an sich nur als Anlaß zum Versuch der Interpretation oder zur willkürlichen Festsetzung, daß bei allem Denken eine Vielheit von Personen betheiligt scheint —: dies ist nicht gar zu leicht zu beobachten, wir sind im Grunde umgekehrt geschult, nämlich beim Denken nicht an's Denken zu denken. Der Ursprung des Gedankens bleibt verborgen; die Wahrscheinlichkeit dafür ist groß, daß er nur das Symptom eines viel umfänglicheren Zustandes ist; darin daß gerade er kommt und kein anderer, daß er gerade mit dieser größeren oder minderen Helligkeit kommt, mitunter sicher und befehlerisch, mitunter schwach und einer Stütze bedürftig, im Ganzen immer aufregend, fragend — für das Bewußtsein wirkt nämlich jeder Gedanke wie ein Stimulans —: in dem allen drückt sich irgend etwas von unserem Gesammtzustande in Zeichen aus. — Ebenso steht es mit jedem Gefühle, es bedeutet nicht an sich etwas: es wird, wenn es kommt, von uns erst interpretirt und oft wie seltsam interpretirt! Man denke doch an die uns fast “unbewußte” Noth der Eingeweide, an die Blutdruck-Spannungen im Unterleibe, an die krankhaften Zustände des nervus sympathicus —: und wie Vieles giebt es, wovon wir kaum durch das sensorium commune einen Schimmer von Bewußtsein haben! — Nur der anatomisch Unterrichtete räth bei solchen ungewissen Unlust-Gefühlen auf die rechte Gattung und Gegend der Ursachen; alle Anderen aber, im Ganzen also fast alle Menschen, so lange es Menschen giebt, suchen bei solcher Art von Schmerzen keine physische, sondern eine psychische und moralische Erklärung und schieben den thatsächlichen Verstimmungen des Leibes eine falsche Begründung unter, indem sie im Umkreise ihrer unangenehmen Erfahrungen und Befürchtungen einen Grund herausholen, sich dermaßen schlecht zu befinden. Auf der Folter bekennt sich fast Jemanden schuldig; bei dem Schmerz, dessen physische Ursache man nicht weiß, fragt sich der Gefolterte so lange und so inquisitorisch selbst, bis er sich oder Andere schuldig findet: — wie es zum Beispiel der Puritaner that, welcher den einer unvernünftigen Lebensweise anhaftenden Spleen sich gewohnheitsmäßig moralisch auslegte, nämlich als Biß seines eigenen Gewissens. —
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Das logische Denken, von dem die Logik redet, ein Denken, wo der Gedanke selbst als Ursache von neuen Gedanken gesetzt wird —, ist das Muster einer vollständigen Fiktion: ein Denken der Art kommt in Wirklichkeit niemals vor, es wird aber als Formen-Schema und Filtrir-Apparat angelegt, mit Hülfe dessen wir das thatsächliche, äußerst vielfache Geschehen beim Denken verdünnen und vereinfachen: so daß dergestalt unser Denken in Zeichen faßbar, merkbar, mittheilbar wird. Also: das geistige Geschehen so zu betrachten, wie als ob es jenem regulativem Schema eines fingirten Denkens wirklich entspräche, das ist das Kunststück von Fälschung vermöge deren es etwas wie “Erkenntniß” und “Erfahrung” giebt. Erfahrung ist nur möglich mit Hülfe von Gedächtniß; Gedächtniß ist nur möglich mittelst einer Abkürzung eines geistigen Vorgangs zum Zeichen. “Erkenntniß”: das ist der Ausdruck eines neuen Dings durch die Zeichen von schon “bekannten”, schon erfahrenen Dingen. — Heute freilich faselt man gar von einem empirischen Ursprung der Logik: aber was nicht in der Wirklichkeit vorkommt, wie das logische Denken, kann auch nicht aus der Wirklichkeit genommen sein, ebenso wenig als irgend ein Zahlengesetz, während es noch keinen Fall gegeben hat, in welchem die Wirklichkeit mit einer arithmetischen Formel sich gedeckt hätte. Die arithmetischen Formeln sind ebenfalls nur regulative Fiktionen, mit denen wir uns das wirkliche Geschehen, zum Zweck praktischer Ausnützung, auf unser Maaß — auf unsre Dummheit — vereinfachen und zurechtlegen.
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— — — durch das Denken wird das Ich gesetzt; aber bisher glaubte man wie das Volk, im “ich denke” liege irgend etwas von Unmittelbar-Gewissem, und dieses “Ich” sei die gegebene Ursache des Denkens, nach deren Analogie wir alle sonstigen ursächlichen Verhältnisse verstünden. Wie sehr gewohnt und unentbehrlich jetzt jene Fiktion auch sein mag, — Das allein beweist noch nichts gegen ihre Erdichtetheit: es kann ein Glaube Lebensbedingung und trotzdem falsch sein.
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“Wahrheit”: das bezeichnet innerhalb meiner Denkweise nicht nothwendig einen Gegensatz zum Irrthum, sondern in den grundsätzlichsten Fällen nur eine Stellung verschiedener Irrthümer zu einander: etwa daß der eine älter, tiefer als der andere ist, vielleicht sogar unausrottbar, insofern ein organisches Wesen unserer Art nicht ohne ihn leben könnte; während andere Irrthümer uns nicht dergestalt als Lebensbedingungen tyrannisiren, vielmehr, gemessen an solchen “Tyrannen”, beseitigt und “Widerlegt” werden können. Eine Annahme, die unwiderlegbar ist, — warum sollte sie deßhalb schon wahr sein? Dieser Satz empört vielleicht die Logiker, welche ihre Gränzen als Gränzen der Dinge ansetzen: aber diesem Logiker-Optimismus habe ich schon lange den Krieg erklärt.
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Auch jetzt noch ist Frankreich der Sitz der geistigsten und raffinirtesten Cultur Europas, aber man muß dies „Frankreich des Geschmacks” zu finden wissen. Wer zu ihm gehört, hält sich gut verborgen: im Vordergrunde wälzt sich ein verdummtes und vergröbertes Frankreich, das neuerdings, bei dem Leichenbegängnisse V. H<ugo>'s eine wahre Orgie des Ungeschmacks gefeiert hat — es mag eine kleine Zahl sein, dazu Menschen die nicht auf den kräftigsten Beinen stehen, zum Theil Fatalisten, zum Theil Verzärtelte (solche die Gründe haben sich zu verbergen) — sie insgesammt erkennen als ihre Vorfahren und Meister etwa folgende höhere Geister an. Vorerst Stendhal, das letzte große Ereigniß des französischen Geistes, der mit einem Nap<oleonischen> tempo durch sein unentdecktes Europa marschirt ist und zuletzt sich allein fand — schauerlich allein: denn es hat zweier Geschlechter bedurft, um ihm nahe zu kommen. Jetzt wie gesagt commandirt er, ein Befehlshaber für die Ausgewähltesten; und wer mit feinen und verwegenen Sinnen begabt ist, neugierig bis zum Cynismus, Logiker beinahe aus Ekel, Räthselrather und Freund der Sphinx gleich jedem geborenen Europäer, der wird ihm nachgehen müssen. Möge er ihm auch dahin folgen, voller Scham vor den Heimlichkeiten, welche die große Leidenschaft hat, stehen zu bleiben! Diese Noblesse des Schweigen-Könnens, Stehen-bleiben-Könnens hat er zum Beispiel vor Michelet und sonderlich vor den deutschen Gelehrten voraus. — Sein Schüler ist Mérimeè, ein vornehmer zurückgezogener Artist und Verächter jener schwammichten Gefühle, welche ein demokratisches Zeitalter als seine “edelsten Gefühle” preist, streng gegen sich und voll der härtesten Ansprüche an seine künstlerische Logik, beständig bereit, kleine Schönheiten und Reize einem starken Willen zur Nothwendigkeit zu opfern: — eine ächte, wenngleich nicht reiche Seele in einer unächten und schmutzigen Umgebung und Pessimist genug, um die Komödie mitspielen zu können, ohne sich zu erbrechen. — Ein anderer Schüler Stendhals ist Tainc, jetzt der erste lebende Historiker Europas, ein entschlossener und noch in seiner Verzweiflung tapferer Mensch, welchem der Muth so wenig als die Willenskraft unter dem fatalistischen Druck des Wissens in Stücke gegangen ist, ein Denker, welchen weder Condillac in Hinsicht auf Tiefe noch Hegel in Hinsicht auf Klarheit beeinträchtigt haben, einer vielmehr, der zu lernen verstand und für lange Zeit verstehen wird zu lehren: — die Franzosen der nächsten Generation haben in ihm ihren geistigen Zuchtmeister. Er vornehmlich ist es, der den Einfluß Renans und Sainte-Beuves zurückdrängt, welche beide ungewiß und skeptisch bis auf den letzten Grund ihres Herzens sind. Renan, eine Art katholischer Schleiermacher, süßlich, bonbon, Landschaften und Religionen anempfindend: Sainte-Beuve, ein abgebrannter Dichter, der sich auf die Seelen-Anschnüffelei verlegt und gar zu gern verbergen möchte, daß er weder im Willen, noch in der Philosophie irgend einen Halt hat, ja sogar, was nach Beidem nicht Wunder nimmt, eines eigentlichen festen Geschmacks in artibus et litteris ermangelt. Zuletzt merkt man ihm die Absicht an, noch aus diesem Mangel eine Art Princip und Methode von kritischer Neutralität zu bilden: aber der Verdruß verräth sich zu oft, einmal darüber, daß er in der That für gewisse Bücher und Menschen wirklich einigemale nicht neutral, nämlich begeistert gewesen ist — er möchte diese schrecklichen “petits faits” aus seinem Leben wegstreichen, weglügen — sodann aber über das viel unangenehmere grand fait, daß alle großen französischen Menschenkenner auch noch ihren eigenen Willen und Charakter im Leibe hatten, von Montaigne, Charron, La Rochefoucauld bis auf Chamfort und Stendhal: — denen allen gegenüber ist Sainte-Beuve nicht ohne Neid und jedenfalls ohne Vorliebe und Vorverständniß. — Viel wohlthätiger, einseitiger, tüchtiger in jedem Sinne ist der Einfluß Flauberts: mit einem Übergewicht von Charakter, der sogar die Einsamkeit und den Mißerfolg vertrug, — etwas außerordentliches unter Franzosen —, regiert er augenblicklich in dem Reiche der Roman-Asthetik und des Stils — er hat das klingende und bunte Französisch auf die Höhe gebracht. Zwar fehlt auch ihm wie Renan und Sainte-Beuve die philosophische Zucht, insgleichen eine eigentliche Kenntniß der wissenschaftlichen Prozeduren: aber ein tiefes Bedürfniß zur Analyse und sogar zur Gelehrsamkeit hat sich zusammen mit einem instinktiven Pessimismus bei ihm Bahn gebrochen, wunderlich vielleicht, aber kräftig genug um den gegenwärtigen Romanschriftstellern Frankreichs damit ein Vorbild zu geben. In der That geht auf Flaubert der neue Ehrgeiz der jüngsten Schule zurück, sich in wissenschaftlichen und pessimistischen Attitüden vorzuführen. — Was von Dichtern jetzt in Frankreich blüht, steht unter Heinrich Heines und Baudelaires Einfluß, vielleicht Leconte de Lisle ausgenommen: denn in gleicher Weise wie Schopenhauer jetzt schon mehr in Frankreich geliebt und gelesen wird als in Deutschland, ist auch der Cultus Heinrich Heines nach Paris übergesiedelt. Was den pessimistischen Baudelaire betrifft, so gehört er zu jenen kaum glaublichen Amphibien, welche ebensosehr deutsch als pariserisch sind; seine Dichtung hat etwas von dem, was man in Deutschland Gemüth oder “unendliche Melodie” und mitunter auch “Katzenjammer” nennt. Im Übrigen war Baudelaire der Mensch eines vielleicht verdorbenen, aber sehr bestimmten und scharfen, seiner selbst gewissen Geschmacks: damit tyrannisirt er die Ungewissen von Heute. Wenn er seiner Zeit der erste Prophet und Fürsprecher Delacroix’ war: vielleicht, daß er heute der erste “Wagnerianer” von Paris sein würde. Es ist viel Wagner in Baudelaire.
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Victor Hugo, ein “Esel von Genie” — der Ausdruck ist von Baudelaire — welches immer den Muth zu seinem schlechten Geschmacke gehabt hat: er verstand damit zu commandiren, er, der Sohn eines napoleonischen Generals. In seinen Ohren hatte er die Bedürfnisse einer Art von militärischer Rhetorik, er ahmte Kanonenschüsse und das Knattern von Raqueten in Worten nach; der französische esprit erscheint bei ihm gleichsam durch Dampf und Lärm verdunkelt, oft bis zur baren nackten Dummheit. Niemals hat ein Sterblicher solche dumpfe platzende Antithesen geschrieben. Zum andern Theil gab er auch den Maler-Begierden seiner Augen die Herrschaft über seinen Geist: er strotzt von pittoresken Einfällen und thut oft nichts als genau abschreiben, was er sieht, was die Maler-Hallucination ihm vor seine Augen stellt. Er, der Plebejer, der seinen starken Sinnes-Begierden, ich meine seinen Ohren und Augen, auch mit dem Geiste zu Willen ist — Das nämlich ist die Grundthatsache des französischen romantisme, als einer plebejischen Reaktion des Geschmacks —: er ist damit auf der entgegengesetzten Bahn und will gerade das Umgekehrte von dem, was die Dichter einer vornehmen Kultur, wie zum Beispiel Corneille, von sich wollten. Denn diese hatten ihren Genuß und Ehrgeiz daran, ihre vielleicht noch stärker gearteten Sinne mit dem Begriffe zu überwältigen und gegen die brutalen Ansprüche von Farben, Tönen und Gestalten einer feinen hellen Geistigkeit zum Siege zu verhelfen: womit sie, wie mich dünkt, auf der Spur der großen Griechen waren, so wenig sie gerade davon gewußt haben mögen. Genau Das, was unserem plump sinnlichen und naturalistischen Geschmack von Heute Mißbehagen an den Griechen und den älteren Franzosen macht, — war die Absicht ihres künstlerischen Wollens, auch ihr Triumph: denn sie bekämpften und besiegten gerade den “Sinnen-Pöbel”, dem zu einer Kunst zu verhelfen der Ehrgeiz unserer Dichter, Maler und Musiker ist. Zu diesem künstlerischen Wollen Victor Hugos stimmt sein politisches und moralisches: er ist flach und demagogisch, vor allen großen Worten und Gebärden auf dem Bauche, ein Volks-Schmeichler, der mit der Stimme eines Evangelisten zu allen Niedrigen, Unterdrückten, Mißrathenen, Verkrüppelten redet und nicht einen Hauch davon weiß, was Zucht und Redlichkeit des Geistes, was intellektuelles Gewissen ist, — im Ganzen ein unbewußter Schauspieler, wie fast alle Künstler der demokratischen Bewegung. Sein Genie wirkt auf die Masse nach Art eines alkoholischen Getränks, das zugleich berauscht und dumm macht. — Dieselbe Gattung von Sympathien und Antipathien und manches Ähnliche in der Begabung besitzt ein anderer Fürsprecher des Volks, der Historiker Michelet, nur an Stelle der Maler-Augen eine bewunderungswürdige Fähigkeit, Gemüths-Zustände bei sich nachzubilden, nach Art der Musiker: — im unklaren D<eutschland> würde man ihn heute daraufhin als einen Menschen des Mitleids ansprechen. Dieses “Mitleid” ist jedenfalls etwas Zudringliches; in seinem Verkehr und noch in seiner Verehrung vergangener Menschen liegt viel Unbescheidenheit, ja, es scheint mir bisweilen, als ob er an seine Gefühls-Arbeit mit einem Eifer herangeht, daß er dazu nöthig hat, seinen Rock auszuziehen. Seine Augen sehen nicht in die Tiefe: alle leicht “begeisterten” Geister waren bisher oberflächlich. Er ist mir zu erregt: Gerechtigkeit ist ihm ebenso unzugänglich als jene Gnade, welche nur aus der höchsten Überlegenheit quillt. Auf einer gewissen Höhe von Erregung überkommt ihn jedesmal der Anfall des Volks-Tribunen, er kennt auch aus eigner Erfahrung die Raubthier-Wuthanfälle des Pöbels. Daß ihm Napoleon ebensosehr als Montaigne fremd ist, bezeichnet das Unvornehme seiner Moralität genügend. Seltsam, daß auch er, der arbeitsame sittenstrenge Gelehrte, reichlich an der neugierigen Geschlechts-Lüsternheit seiner Rasse Theil hat: und je älter er wurde, desto mehr wuchs diese Art der Neugierde. — Demokratisch endlich und folglich ebenfalls schauspielerisch ist das Talent der George Sand: sie ist beredt in jener schlimmen Manier, daß ihr Stil, ein bunter, zuchtloser übertreibender Weiber-Stil, jede halbe Seite mit ihrem Gefühle durchgeht, — nicht umgekehrt, so sehr sie wünscht, daß man das Umgekehrte glaube. In der That, man hat viel zu sehr an ihr Gefühl geglaubt: während sie reich in jener kalten Geschicklichkeit des Schauspielers war, der seine Nerven zu schonen weiß und das Gegentheil davon alle Welt glauben macht. Man darf ihr zugestehen, daß sie eine große Begabung zum Erzählen hat; aber sie verdarb alles und für immer durch ihre hitzige Weibs-Koketterie, sich in lauter Manns-Rollen zu zeigen, welche gerade ihrem Wuchse nicht zusagten — ihr Geist war kurzbeinig —: sodaß ihre Bücher nur eine kleine Zeit ernst genommen wurden und schon heute unter die unfreiwillig komische Litteratur gerathen sind. Und wenn es vielleicht nicht nur Koketterie sondern auch Klugheit war was sie trieb, sich immer mit Manns-Problemen und männlichem Zubehör zu drapiren, eingerechnet Hosen und Cigarren: zuletzt springt das sehr weibliche Problem und Unglück ihres Lebens trotzdem in die Augen, nämlich daß sie zuviel Männer nöthig hatte und daß auch noch in diesen Ansprüchen ihre Sinne und ihr Geist uneins waren. Was konnte sie dafür, daß die Männer, an denen ihr Geist Wohlgefallen fand, jedesmal zu kränklich waren, um ihren Sinnen genug zu thun? Daher das ewige Problem zweier Liebhaber zugleich und eine ewige Nöthigung der weiblichen Scham, über diesen Thatbestand zu täuschen und sich zu geben, wie als ob ganz andere, viel allgemeinere, viel unpersönlichere Probleme bei ihr im Vordergrunde stünden. Zum Beispiel das Problem der Ehe: aber was ging sie die Ehe an!
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Man ist jetzt überall bemüht, von dem eigentlichen großen Einflusse, den Kant in Europa ausgeübt hat, den Blick abzuziehen — und namentlich über den Werth, welchen er sich selber zugestand, klüglich hinwegzuschlüpfen. Kant war vor Allem und zuerst stolz auf seine Kategorien-Tafel und sagte, mit dieser Tafel in den Händen: das ist „das Schwerste, was jemals zum Behufe der Metaphysik unternommen werden konnte” (man verstehe doch dies „werden konnte”!) — er war stolz darauf, im Menschen ein neues Vermögen, das Vermögen zu synthetischen Urtheilen a priori entdeckt zu haben. Es geht uns hier nichts an, wie sehr er sich hierin selber betrog: aber die deutsche Philosophie, so wie sie im ganzen Europa seit hundert Jahren bewundert wird und gewirkt hat, hängt an diesem Stolze und dem Wetteifer der Jüngeren womöglich etwas noch Stolzeres zu entdecken — und jedenfalls neue Vermögen! Es machte den eigentlichen Ruhm der deutschen Philosophie bisher aus, daß man durch sie an eine Art “intuitiver — und instinktiver Erfassung der Wahrheit” glauben lernte; und auch Schopenhauer, so sehr er Fichten, Hegeln und Schelling zürnte, war im Grunde auf derselben Bahn, als er an einem alten bekannten Vermögen, dem Willen ein neues Vermögen entdeckte — nämlich selber “das Ding an sich” zu sein. Das hieß in der That kräftig zugreifen und seine Finger nicht schonen, mitten hinein ins “Wesen”! Schlimm genug, daß dieses Wesen sich dabei unangenehm erwies, und, infolge verbrannter Finger, durchaus der Pessimismus und die Verneinung des Willens zum Leben nöthig erschien! Aber dieses Schicksal Schopenhauers ist ein Zwischenfall, der für die gesammte Bedeutung der deutschen Philosophie, für ihren höheren “Effekt", ohne Einfluß blieb: in der Hauptsache nämlich bedeutete sie in ganz Europa die frohlockende Reaktion gegen den Rationalismus des Descartes und gegen die Skepsis der Engländer, zu Gunsten des “Intuitiven”, “Instinktiven” und alles “Guten, Wahren und Schönen”. Man meinte, der Weg zur Erkenntniß sei nunmehr abgekürzt, man könne unmittelbar den “Dingen” zu Leibe gehen, man hoffte ”Arbeit zu sparen”: und alles Glück, welches edle Müßiggänger, Tugendhafte, Träumerische, Mystiker, Künstler, Dreiviertels-Christen, politische Dunkelmänner und metaphysische Begriffs-Spinnen zu empfinden fähig sind, wurde den Deutschen zur Ehre angerechnet. Der gute Ruf der Deutschen war auf einmal in Europa hergestellt: durch ihre Philosophen! — Ich hoffe, man weiß es doch noch, daß die Deutschen in Europa einen schlechten Ruf hatten? Daß man bei ihnen an servile und erbärmliche Eigenschaften, an die Unfähigkeit zum “Charakter”, an die berühmte Bedienten-Seele glaubte? Mit Einem Male aber lernte man sagen: “die Deutschen sind tief, die Deutschen sind tugendhaft, — man lese nur ihre Philosophen”! Im letzten Grunde war es die verhaltene und lange aufgestaute Frömmigkeit der Deutschen, welche in ihrer Philosophie endlich explodirte, unklar und ungewiß freilich, wie alles Deutsche, nämlich bald in pantheistischen Dämpfen, wie bei Hegel und Schelling, als Gnosis, bald mystisch und weltverneinend, wie bei Schopenhauer: in der Hauptsache aber eine christliche Frömmigkeit, und nicht eine heidnische, — für welche Goethe und vor ihm schon Spinoza so viel guten Willen gezeigt haben.
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Der Wille. — In jedem Wollen ist eine Mehrheit von Gefühlen vereinigt: das Gefühl des Zustandes, von dem weg, das Gefühl des Zustandes, zu dem hin, das Gefühl von diesem “weg und hin” selber, das Gefühl der Dauer dabei, zuletzt noch ein begleitendes Muskel-Gefühl, welches, auch ohne daß wir Arme und Beine in Bewegung setzen, durch eine Art Gewohnheit sobald wir “wollen“ sein Spiel beginnt. Wie also das Gefühl und zwar vielerlei Fühlen als Ingrediens des Willens anzuerkennen ist, so zweitens auch noch das Denken: in jedem Willensakte commandirt ein Gedanke, — und man soll ja nicht glauben, diesen Gedanken von dem Wollen selber abscheiden zu können, wie als ob dann noch Wollen übrig bliebe. Drittens ist der Wille nicht nur ein Complex von Fühlen und Denken, sondern vor Allem noch ein Affect: und zwar jener Affect des Commandos. Das was Freiheit des Willens genannt wird, ist wesentlich das Überlegenheits-Gefühl in Hinsicht auf den der gehorchen muß: “ich bin frei, er muß gehorchen” — dieß Bewußtsein steckt in jedem Willen, und eben jene Spannung der Aufmerksamkeit, jener klare Blick, der ausschließlich Eins ins Auge faßt, jene ausschließliche Werthschätzung “jetzt thut dieß Noth und nichts anderes”, jene innere Gewißheit darüber, daß gehorcht wird, wie dieß Alles zum Zustande des Befehlenden gehört. Ein Mensch der will —, befiehlt einem Etwas in sich, das gehorcht, oder von dem er glaubt daß es gehorchen wird. Nun aber beachte man, was das Wesentlichste am “Willen” ist, an diesem so complicirten Dinge, für welches das Volk Ein Wort hat. Insofern wir im gegebenen Falle zugleich die Befehlenden und Gehorchenden sind und als Gehorchende die Gefühle des Widerstehens, Drängens, Drückens, Bewegens kennen, welche sofort nach dem Akte des Willens zu beginnen pflegen; insofern wir aber die Gewohnheit haben mit dem synthetischen Begriff “Ich” uns über diese Zweiheit hinweg zu setzen, hinweg zu täuschen , hat sich an das Wollen noch eine ganze Kette von irrthümlichen Schlüssen und folglich von falschen Werthschätzungen des Willens selber angehängt: — so daß der Wollende in gutem Glauben glaubt, sein Wille selber sei zur gesamten Aktion das eigentliche und ausreichende mobile. Und weil in den allermeisten Fällen nur gewollt worden ist, wo auch die Wirkung des Befehls, der Gehorsam, also die Aktion erwartet werden durfte, so hat sich der Anschein in das Gefühl übersetzt, als ob es da eine Nothwendigkeit der Wirkung gäbe: genug, der Wollende glaubt, mit einem ziemlichen Grade von Sicherheit, daß der Wille und die Aktion irgendwie Eins seien — er rechnet das Gelingen der Ausführung des Willens noch dem Willen selber zu und genießt dabei einen Zuwachs jenes Machtgefühls, welches alles Befehlen mit sich bringt. “Freiheit des Willens”: das ist das Wort für jenen sehr gemischten Zustand des Wollenden' der befiehlt und zugleich als Ausführender den Triumph der Überlegenheit über Widerstände genießt, der aber urtheilt, der Wille selber überwinde die Widerstände: — er nimmt die Lustgefühle des ausführenden erfolgreichen Werkzeugs — des dienstbaren Willens und Unterwillens — zu seinem Lustgefühle als Befehlender hinzu. — Dieses verflochtene Nest von Gefühlen, Zuständen und falschen Annahmen, welches vom Volk mit Einem Worte und wie Eine Sache bezeichnet wird, weil es plötzlich und auf “Ein Mal” da ist und zu den allerhäufigsten, folglich “bekanntesten” Erlebnissen gehört: der Wille, so wie ich ihn hier beschrieben habe — sollte man es glauben, daß er noch niemals beschrieben worden ist? Daß das plumpe Vorurtheil des Volks bisher noch in jeder Philosophie ungeprüft zu Recht bestanden hat? Daß darüber, was „wollen” sei, es unter den Philosophen keine Verschiedenheit der Meinung gab, weil alle glaubten, hier gerade habe man eine unmittelbare Gewißheit, eine Grund-Thatsache, hier sei Meinen gar nicht am Platze? Und daß alle Logiker noch die Dreieinigkeit “Denken, Fühlen, Wollen” lehren, wie als ob “Wollen” kein Fühlen und Denken enthalte? — Nach alledem erscheint Schopenhauers großer Fehlgriff, als er den Willen wie die bekannteste Sache von der Welt, ja wie die eigentlich und allein bekannte Sache nahm, weniger toll und willkürlich: er hat ein ungeheures Vorurtheil aller bisherigen Philosophen, ein Volks-Vorurtheil, nur übernommen und, wie es im Allgemeinen Philosophen thun, übertrieben. —
38 [9]
Die Gefahr bei außerordentlichen Geistern ist keine kleine, daß sie irgend wann die fürchterlichen Genüsse des Zerstörens, des Zugrunderichtens, des langsam Zugrunderichtens erstreben lernen: wenn ihnen nämlich durchaus die schaffende That, etwa durch den Mangel an Werkzeugen oder sonstigen Unfug des Zufalls, versagt bleibt. In dem Haushalte solcher Seelen giebt es dann kein Entweder-Oder mehr; und vielleicht müssen sie gerade das was sie bis dahin am Meisten geliebt haben, mit der Lust eines Teufels auf eine feine langwierige Art <verderben.>
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Der Mensch ist ein Formen- und Rhythmen-bildendes Geschöpf; er ist in nichts besser geübt und es scheint daß er an nichts mehr Lust hat als am Erfinden von Gestalten. Man beobachte nur, womit sich unser Auge sofort beschäftigt sobald es nichts mehr zu sehen bekommt: es schafft sich Etwas zu sehen. Muthmaßlich thut im gleichen Falle unser Gehör nichts anderes: es übt sich. Ohne die Verwandlung der Welt in Gestalten und Rhythmen gäbe es für uns nichts “Gleiches”, also auch nichts Wiederkehrendes, also auch keine Möglichkeit der Erfahrung und Aneignung, der Ernährung. In allem Wahrnehmen, das heißt dem ursprünglichsten Aneignen, ist das wesentliche Geschehen ein Handeln, strenger noch: ein Formen-Aufzwingen: — von “Eindrücken” reden nur die Oberflächlichen. Der Mensch lernt seine Kraft dabei als eine widerstrebende und mehr noch als eine bestimmende Kraft kennen — abweisend, auswählend, zurechtformend, in seine Schemata einreihend. Es ist etwas Aktives daran, daß wir einen Reiz überhaupt annehmen und daß wir ihn als solchen Reiz annehmen. Dieser Aktivität ist es zu eigen, nicht nur Formen, Rhythmen und Aufeinanderfolgen der Formen zu setzen, sondern auch das geschaffene Gebilde in Bezug auf Einverleibung oder Abweisung abzuschätzen. So entsteht unsre Welt, unsre ganze Welt: und dieser ganzen uns allein zugehörigen, von uns erst geschaffenen Welt entspricht keine vermeinte “eigentliche Wirklichkeit”, kein “An sich der Dinge”: sondern sie selber ist unsre einzige Wirklichkeit, und “Erkenntniß” erweist sich, dergestalt betrachtet, nur als ein Mittel der Ernährung. Aber wir sind schwer zu ernährende Wesen und haben überall Feinde und gleichsam Unverdauliches —: darüber ist die menschliche Erkenntniß fein geworden und zuletzt so stolz noch auf ihre Feinheit, daß sie es nicht hören mag, sie sei kein Ziel, sondern ein Mittel oder gar ein Werkzeug des Magens, — wenn nicht selber eine Art von Magen! — —
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Der höhere philosophische Mensch, der um sich Einsamkeit hat, nicht weil er allein sein will, sondern weil er Etwas ist, das nicht Seinesgleichen findet: welche Gefahren und neuen Leiden sind ihm gerade heute aufgespart, wo man den Glauben an die Rangordnung verlernt hat und folglich diese Einsamkeit nicht zu ehren und nicht zu verstehen weiß! Ehemals heiligte sich der Weise beinah durch ein solches Beiseite-Gehen für das Gewissen der Menge, — heute sieht sich der Einsiedler wie mit einer Wolke trüber Zweifel und Verdächtigungen umringt. Und nicht etwa nur von Seiten der Neidischen und Erbärmlichen: er muß Verkennung, Vernachlässigung und Oberflächlichkeit noch an jedem Wohlwollen heraus empfinden, das er erfährt, er kennt jene Heimtücke des beschränkten Mitleidens, welches sich selber gut und heilig fühlt, wenn es ihn, etwa durch bequemere Lagen, durch geordnetere, zuverlässigere Gesellschaft vor sich selber zu “retten“ sucht, — ja er wird den unbewußten Zerstörungstrieb zu bewundern haben, mit dem alle Mittelmäßigen des Geistes gegen ihn thätig sind, und zwar im besten Glauben an ihr Recht dazu! Es ist für Menschen dieser unverständlichen Vereinsamung nöthig, sich tüchtig und herzhaft auch in den Mantel der äußeren, der räumlichen Einsamkeit zu wickeln: das gehört zu ihrer Klugheit. Selbst List und Verkleidung werden heute noth thun, damit ein solcher Mensch sich selber erhalte, sich selber oben erhalte, inmitten der niederziehenden gefährlichen Stromschnellen der Zeit. Jeden Versuch, es in der Gegenwart, mit der Gegenwart auszuhalten, jede Annäherung an diese Menschen und Ziele von Heute muß er wie seine eigentliche Sünde abbüßen: und er mag die verborgene Weisheit seiner Natur anstaunen, welche ihn bei allen solchen Versuchen sofort durch Krankheit und schlimme Unfälle wieder zu sich selber zurückrief.
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Und wißt ihr auch, was mir “die Welt” ist? Soll ich sie euch in meinem Spiegel zeigen? Diese Welt: ein Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang, ohne Ende, eine feste, eherne Größe von Kraft, welche nicht größer, nicht kleiner wird, die sich nicht verbraucht sondern nur verwandelt, als Ganzes unveränderlich groß, ein Haushalt ohne Ausgaben und Einbußen, aber ebenso ohne Zuwachs, ohne Einnahmen, vom “Nichts” umschlossen als von seiner Gränze, nichts Verschwimmendes, Verschwendetes, nichts Unendlich-Ausgedehntes, sondern als bestimmte Kraft einem bestimmten Raum eingelegt, und nicht einem Raume, der irgendwo “leer” wäre, vielmehr als Kraft überall, als Spiel von Kräften und Kraftwellen zugleich Eins und “Vieles”, hier sich häufend und zugleich dort sich mindernd, ein Meer in sich selber stürmender und fluthender Kräfte, ewig sich wandelnd, ewig zurücklaufend, mit ungeheuren Jahren der Wiederkehr, mit einer Ebbe und Fluth seiner Gestalten, aus den einfachsten in die vielfältigsten hinaustreibend, aus dem Stillsten, Starrsten, Kältesten hinaus in das Glühendste, Wildeste, Sich-selber-widersprechendste, und dann wieder aus der Fülle heimkehrend zum Einfachen, aus dem Spiel der Widersprüche zurück bis zur Lust des Einklangs, sich selber bejahend noch in dieser Gleichheit seiner Bahnen und Jahre, sich selber segnend als das, was ewig wiederkommen muß, als ein Werden, das kein Sattwerden, keinen Überdruß, keine Müdigkeit kennt —: diese meine dionysische Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstörens, diese Geheimniß-Welt der doppelten Wollüste, dieß mein jenseits von Gut und Böse, ohne Ziel, wenn nicht im Glück des Kreises ein Ziel liegt, ohne Willen, wenn nicht ein Ring zu sich selber guten Willen hat, — wollt ihr einen Namen für diese Welt? Eine Lösung für alle ihre Räthsel? ein Licht auch für euch, ihr Verborgensten, Stärksten, Unerschrockensten, Mitternächtlichsten? — Diese Welt ist der Wille zur Macht — und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht — und nichts außerdem!
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Als ich jünger war, machte ich mir Sorge darüber, was denn eigentlich ein Philosoph sei: denn ich glaubte an den berühmten Philosophen entgegengesetzte Merkmale wahrzunehmen. Endlich ging mir auf, daß es zwei unterschiedliche Arten von Philosophen giebt, einmal solche, welche irgend einen großen Thatbestand von Werthschätzungen, das heißt ehemaligen Werthsetzungen und Werthschöpfungen (logischen oder moralischen), festzuhalten haben, sodann aber solche, welche selber Gesetzgeber von Werthschätzungen sind. Die ersteren suchen sich der vorhandenen oder vergangenen Welt zu bemächtigen, indem sie dieselbe durch Zeichen zusammenfassen und abkürzen. Diesen Forschern liegt es ob, alles bisher Geschehene und Geschätzte übersichtlich, überdenkbar, faßbar, handlich zu machen, die Vergangenheit zu überwältigen, alles Lange, ja die Zeit selbst abzukürzen, eine große und wundervolle Aufgabe. Die eigentlichen Philosophen aber sind Befehlende und Gesetzgeber, sie sagen: so soll es sein! sie bestimmen erst das Wohin und Wozu des Menschen und verfügen dabei über die Vorarbeit der philosophischen Arbeiter, jener Überwältiger der Vergangenheit. Diese zweite Art von Philosophen geräth selten; und in der That ist ihre Lage und Gefahr ungeheuer. Wie oft haben sie sich absichtlich die Augen zugebunden, um nur den schmalen Saum nicht sehen zu müssen, der sie vom Abgrund und Absturz trennt: zum Beispiel Plato, als er sich überredete, das Gute, wie er es wollte, sei nicht das Gute Platos, sondern das Gute an sich, der ewige Schatz, den nur irgend ein Mensch Namens Plato auf seinem Weg gefunden habe! In viel gröberen Formen waltet dieser selbe Wille zur Blindheit bei den Religions-Stiftern: ihr “du sollst” darf durchaus ihren Ohren nicht klingen wie “ich will”, — nur als dem Befehle eines Gottes wagen sie ihrer Aufgabe nachzukommen, nur als “Eingebung” ist ihre Gesetzgebung der Werthe eine tragbare Bürde, unter der ihr Gewissen nicht zerbricht. — Sobald nun jene zwei Trostmittel, das Platos und das Muhameds, dahin gefallen sind und kein Denker mehr an der Hypothese eines “Gottes” oder “ewiger Werthe” sein Gewissen erleichtern kann, erhebt sich der Anspruch des Gesetzgebers neuer Werthe zu einer neuen und noch nicht erreichten Furchtbarkeit. Nunmehr werden jene Auserkornen, vor denen die Ahnung einer solchen Pflicht aufzudämmern beginnt, den Versuch machen, ob sie ihr wie als ihrer größten Gefahr nicht noch “zur rechten Zeit” durch irgend einen Seitensprung entschlüpfen möchten: zum Beispiel indem sie sich einreden, die Aufgabe sei schon gelöst, oder sie sei unlösbar, oder sie hätten keine Schultern für solche Lasten, oder sie seien schon mit andern näheren Aufgaben überladen, oder selbst diese neue ferne Pflicht sei eine Verführung und Versuchung, eine Abführung von allen Pflichten, eine Krankheit, eine Art Wahnsinn. Manchem mag es in der That gelingen auszuweichen: es geht durch die ganze Geschichte hindurch die Spur solcher Ausweichenden und ihres schlechten Gewissens. Zumeist aber kam solchen Menschen des Verhängnisses jene erlösende Stunde, jene Herbst-Stunde der Reife, wo sie mußten was sie nicht einmal “wollten”: — und die That, vor der sie sich am meisten vorher gefürchtet hatten, fiel ihnen leicht und ungewollt vom Baume, als eine That ohne Willkür, fast als Geschenk. —
38 [14]
Was uns von allen Platonischen und Leibnitzischen Denkweisen am Gründlichsten abtrennt, das ist: wir glauben an keine ewigen Begriffe, ewigen Werthe, ewigen Formen, ewigen Seelen; und Philosophie, soweit sie Wissenschaft und nicht Gesetzgebung ist, bedeutet uns nur die weiteste Ausdehnung des Begriffs “Historie”. Von der Etymologie und der Geschichte der Sprache her nehmen wir alle Begriffe als geworden, viele als noch werdend; und zwar so, daß die allgemeinsten Begriffe, als die falschesten, auch die ältesten sein müssen. “Sein”, “Substanz” und “Unbedingtes”, “Gleichheit”, “Ding” —: das Denken erfand sich zuerst und zu ältest diese Schemata, welche thatsächlich der Welt des Werdens am gründlichsten widersprachen, aber ihr von vornherein, bei der Stumpfheit und Einerleiheit des anfänglichen, noch unterthierischen Bewußtseins, zu entsprechen schienen: jede “Erfahrung” schien sie immer von Neuem und sie ganz allein zu unterstreichen. Die Gleichheit und Ähnlichkeit wurde allmälig, mit der Verschärfung der Sinne und der Aufmerksamkeit, mit der Entwickelung und dem Kampfe des vielfältigsten Lebens, immer seltener zugestanden: während für die niedersten Wesen Alles “ewig sich gleich”, “Eins”, “beharrlich", “unbedingt”, “eigenschaftslos” erschien. Allmälig vervielfältigte sich dergestalt die “Außenwelt”; aber ungeheure Zeiträume hindurch galt auf Erden ein Ding als gleich und zusammenfallend mit einem einzigen Merkmale, zum Beispiel mit einer bestimmten Farbe. Die Vielheit der Merkmale an einem einzelnen Ding wurde mit der größten Langsamkeit zugestanden: noch aus der Geschichte der menschlichen Sprache sehen wir ein Widerstreben gegen die Vielheit der Prädikate. Die längste Verwechselung aber ist die daß das Prädikat-Zeichen mit dem Ding selber als gleich gesetzt wird; und die Philosophen, welche gerade die ältesten Instinkte der Menschheit auch die ältesten Ängste und Aberglauben (wie den Seelen-Aberglauben) am besten in sich nachgebildet haben — man kann bei ihnen von einem Atavismus par excellence reden — drückten ihr Siegel auf diese Verwechselung, als sie lehrten, gerade die Zeichen, nämlich die “Ideen” seien das wahrhaft Vorhandene, Unveränderliche und Allgültige. Während thatsächlich das Denken, bei der Wahrnehmung eines Dings, eine Reihe von Zeichen umläuft, welche das Gedächtniß ihm darbietet, und nach Ähnlichkeiten sucht; während der Mensch mit einem ähnlichen Zeichen das Ding als “bekannt” ansetzt, faßt, ergreift: meinte er lange es eben damit zu begreifen. Das Greifen und Fassen, das Aneignen bedeutete ihm bereits ein Erkennen, ein Zu-Ende-kennen; die Worte sogar in der menschlichen Sprache schienen lange — und scheinen dem Volke heute noch — nicht Zeichen sondern Wahrheiten in Betreff der damit bezeichneten Dinge zu sein. Je feiner die Sinne, je strenger die Aufmerksamkeit, je vielfältiger die Aufgaben des Lebens wurden, um so schwerer wurde auch die Erkenntniß eines Dings, einer Thatsache als endgültige Erkenntniß, als “Wahrheit” zugestanden; und zuguterletzt, auf dem Punkte zu welchem uns heute das methodische Mißtrauen gedrängt hat geben wir uns gar nicht mehr das Recht, von Wahrheiten im unbedingten Sinne zu reden, — wir haben dem Glauben an die Erkennbarkeit der Dinge ebensosehr wie dem Glauben an die Erkenntniß abgeschworen. Das “Ding” ist nur eine Fiktion, das “Ding an sich” sogar eine widerspruchsvolle unerlaubte Fiktion: aber auch das Erkennen, das absolute und folglich auch das relative, ist ebenfalls nur eine Fiktion! Damit fällt denn auch die Nöthigung weg, ein Etwas das “erkennt”, ein Subjekt für das Erkennen anzusetzen, irgend eine reine „Intelligenz”, einen „absoluten Geist”: — diese noch von Kant nicht gänzlich aufgegebene Mythologie, welche Plato für Europa in verhängnißvoller Weise vorbereitet hat und die mit dem christlichen Grund-Dogma “Gott ist ein Geist” alle Wissenschaft des Leibes und dadurch auch die Fortentwicklung des Leibes mit dem Tode bedrohte, — diese Mythologie hat nunmehr ihre Zeit gehabt.
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Ich habe seltsame Dinge in Bezug auf Wirkung von meinen Büchern erlebt. Kürzlich traf der Brief eines alten vornehmen Holländers ein, welcher Menschliches Allzumenschliches als seinen treuesten Lebensgesellen betrachtet; die Geburt der Tragödie hat vielleicht im Leben R<ichard> W<agner>'s den größten Glücks-Klang hervorgebracht, er war außer sich, und es giebt wunderschöne Dinge in der Götter-Dämmerung, welche er in diesem Zustande einer unerwarteten äußersten Hoffnung hervorgebracht hat. (Damals — — —
Ich möchte wissen, ob dies Buch von Jemandem verstanden ist: seine Hintergründe gehören zu meinem persönlichsten Eigenthum. Zarathustra hat die Werthschätzungen von ein paar Jahrtausenden gegen sich; ich glaube absolut nicht daran, daß Jemand heute im Stande ist, seinen Gesammt-Ton klingen zu hören: auch setzt sein Verstehen eine solche philologische und mehr als philologische Arbeit voraus, wie sie heute Niemand daran setzen wird, aus Mangel an Zeit.
Ich selber bin mit der Thatsache sehr zufrieden, daß mein Geschmack in musicis und philosophicis, welcher 1865 (wo ich vielleicht der einzige Deutsche war, der Sch<openhauer> und W<agner> gleich und — — — jetzt zum deutschen Geschmack gehört.
Die Auswahl, welche man in Bezug auf meine Bücher macht, giebt mir zu denken.
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der unbedenkliche Gebrauch von Lückenbüßern und der Geistesaufwand und –Reichthum, um hier einer Schwäche die Attribute der Kraft zu geben: was beinahe dem Wagnerschen Stile den Charakter giebt —
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Schopenh<auers> Perversität der Gesinnung und meine Geburt der Tragödie!
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“er hätte anders handeln können” — dieser Gesichtspunkt zur Entstehung des Gerechtigkeitsgefühls von Reè falsch angewendet.
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Der ersten Spur philosophischen Nachdenkens, der ich, bei einem Überblick meines Lebens, habhaft werden kann, begegne ich in einer kleinen Niederschrift aus meinem 13. Lebensjahre dieselbe enthält einen Einfall über den Ursprung des Bösen. Meine Voraussetzung war, daß für einen Gott Etwas denken und Etwas schaffen Eins und Dasselbe sei. Nun schloß ich so: Gott hat sich selbst gedacht, damals als er die zweite Person der Gottheit schuf: um aber sich selber denken zu können mußte er erst seinen Gegensatz denken. Der Teufel hatte also in meiner Vorstellung ein eben solches Alter wie der Sohn Gottes, sogar einen klareren Ursprung — und dieselbe Herkunft. Über die Frage, ob es einem Gott möglich sei seinen Gegensatz zu denken, half ich mir damit hinweg, zu sagen: ihm ist aber Alles möglich Und zweitens: daß er es gethan hat, ist eine Thatsache, falls die Existenz eines Gott-Wesens Thatsache ist, folglich war es ihm auch möglich, — — —
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Ohne ein leidenschaftliches Vergnügen an den Abenteuern der Erkenntniß wird es Einer schwerlich lange in ihrem gefahrvollen Reiche aushalten; und jedem, der für derlei “Ausschweifungen” zu feige oder zu keusch ist, sei es billigerweise zugestanden, sich auch daraus eine Tugend und ein Lob zurecht zu machen. Für die stärkeren Geister aber gilt jene Forderung, daß man zwar ein Mensch der Leidenschaft, aber auch der Herr seiner Leidenschaften sein müsse, auch hinsichtlich ihrer Leidenschaft zur Erkenntniß. Wie Napoleon, zum Erstaunen Talleyrand's, seinen Zorn zur gewählten Zeit bellen und brüllen ließ und dann wieder, ebenso plötzlich, zum Schweigen brachte, so soll es der starke Geist auch mit seinen wilden Hunden machen: er muß, wie heftig auch immer in ihm der Wille zur Wahrheit ist — es ist sein wildester Hund —, zur gewählten Zeit der leibhafte Wille zur Unwahrheit, der Wille zur Ungewißheit, der Wille zur Unwissenheit, vor Allem zur Narrheit sein können.
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Die Abnahme der Anmuth. — Zu den Symptomen der allgemeinen Verhäßlichung, wie sie einem Zeitalter gemäß ist, das den Pöbel immer mehr zum Herrn macht, gehört nicht am wenigsten das wachsende Sich-gehen-lassen des Weibes und eine Art “Rückkehr zur Natur” d. h. zum Pöbel: auch an Orten, an denen man früher auf vornehme und strenge Gewohnheiten wie auf sein Vorrecht hielt: z. B. an den Höfen. Man steht verwundert vor dem Mangel an Feinheit selbst im Verkehr mit den liebenswürdigsten Frauen: und wir helfen uns — — —
38 [22]
Ein Garten, an dem selbst das Gitterwerk vergoldet ist, hat sich nicht nur gegen Diebe und Strolche zu schützen: seine schlimmsten Gefahren kommen ihm von seinen zudringlichen Bewunderern, die überall Etwas abbrechen und gar zu gern dies und jenes zum Andenken mitnehmen möchten. — Und merkt ihr es denn nicht, ihr Müssiggänger in meinen Gärten, daß ihr euch nicht einmal neben meinen Kräutern und Unkräutern rechtfertigen könnt, daß sie euch ins Gesicht sagen: fort, ihr Eindringlinge, ihr — — —