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Der Schatten: Da ich dich so lange nicht reden hörte, so möchte ich dir eine Gelegenheit geben.
Der Wanderer: Es redet: – wo? und wer? Fast ist es mir, als hörte ich mich selber reden, nur mit noch schwächerer Stimme als die meine ist.
Der Schatten (nach einer Weile): Freut es dich nicht, Gelegenheit zum Reden zu haben?
Der Wanderer: Bei Gott und allen Dingen, an die ich nicht glaube, mein Schatten redet; ich höre es, aber glaube es nicht.
Der Schatten: Nehmen wir es hin und denken wir nicht weiter darüber nach, in einer Stunde ist Alles vorbei.
Der Wanderer: Ganz so dachte ich, als ich in einem Walde bei Pisa erst zwei und dann fünf Kameele sah.
Der Schatten: Es ist gut, daß wir Beide auf gleiche Weise nachsichtig gegen uns sind, wenn einmal unsere Vernunft stille steht: so werden wir uns auch im Gespräche nicht ärgerlich werden und nicht gleich dem Andern Daumenschrauben anlegen, falls sein Wort uns einmal unverständlich klingt. Weiß man gerade nicht zu antworten, so genügt es schon, Etwas zu sagen: das ist die billige Bedingung, unter der ich mich mit Jemandem unterrede. Bei einem längeren Gespräche wird auch der Weiseste einmal zum Narren und dreimal zum Tropf.
Der Wanderer: Deine Genügsamkeit ist nicht schmeichelhaft für Den, welchem du sie eingestehst.
Der Schatten: Soll ich denn schmeicheln?
Der Wanderer: Ich dachte, der menschliche Schatten sei seine Eitelkeit; diese aber würde nie fragen: »soll ich denn schmeicheln?«
Der Schatten: Die menschliche Eitelkeit, soweit ich sie kenne, fragt auch nicht an, wie ich schon zweimal that, ob sie reden dürfe; sie redet immer.
Der Wanderer: Ich merke erst, wie unartig ich gegen dich bin, mein geliebter Schatten: ich habe noch mit keinem Worte gesagt, wie sehr ich mich freue, dich zu hören und nicht bloß zu sehen. Du wirst es wissen, ich liebe den Schatten, wie ich das Licht liebe. Damit es Schönheit des Gesichts, Deutlichkeit der Rede, Güte und Festigkeit des Charakters gebe, ist der Schatten so nöthig wie das Licht. Es sind nicht Gegner: sie halten sich vielmehr liebevoll an den Händen, und wenn das Licht verschwindet, schlüpft ihm der Schatten nach.
Der Schatten: Und ich hasse das Selbe, was du hassest, die Nacht; ich liebe die Menschen, weil sie Lichtjünger sind und freue mich des Leuchtens, das in ihrem Auge ist, wenn sie erkennen und entdecken, die unermüdlichen Erkenner und Entdecker. Jener Schatten, welchen alle Dinge zeigen, wenn der Sonnenschein der Erkenntniß auf sie fällt, – jener Schatten bin ich auch.
Der Wanderer: Ich glaube dich zu verstehen, ob du dich gleich etwas schattenhaft ausgedrückt hast. Aber du hattest Recht: gute Freunde geben einander hier und da ein dunkles Wort als Zeichen des Einverständnisses, welches für jeden Dritten ein Räthsel sein soll. Und wir sind gute Freunde. Deshalb genug des Vorredens! Ein paar hundert Fragen drücken auf meine Seele, und die Zeit, da du auf sie antworten kannst, ist vielleicht nur kurz. Sehen wir zu, worüber wir in aller Eile und Friedfertigkeit mit einander zusammenkommen.
Der Schatten: Aber die Schatten sind schüchterner als die Menschen: du wirst Niemandem mittheilen, wie wir zusammen gesprochen haben!
Der Wanderer: Wie wir zusammen gesprochen haben? Der Himmel behüte mich vor langgesponnenen, schriftlichen Gesprächen! Wenn Plato weniger Lust am Spinnen gehabt hätte, würden seine Leser mehr Lust an Plato haben. Ein Gespräch, das in der Wirklichkeit ergötzt, ist, in Schrift verwandelt und gelesen, ein Gemälde mit lauter falschen Perspektiven: Alles ist zu lang oder zu kurz. – Doch werde ich vielleicht mittheilen dürfen, worüber wir übereingekommen sind?
Der Schatten: Damit bin ich zufrieden; denn Alle werden darin nur deine Ansichten wiedererkennen: des Schattens wird Niemand gedenken.
Der Wanderer: Vielleicht irrst du, Freund! Bis jetzt hat man in meinen Ansichten mehr den Schatten wahrgenommen als mich.
Der Schatten: Mehr den Schatten als das Licht? Ist es möglich?
Der Wanderer: Sei ernsthaft, lieber Narr!
*
Gleich meine erste Frage verlangt Ernst. –
1.
Vom Baum der Erkenntniß. – Wahrscheinlichkeit, aber keine Wahrheit: Freischeinlichkeit, aber keine Freiheit, – diese beiden Früchte sind es, derentwegen der Baum der Erkenntniß nicht mit dem Baum des Lebens verwechselt werden kann.
2.
Die Vernunft der Welt. – Daß die Welt nicht der Inbegriff einer ewigen Vernünftigkeit ist, läßt sich endgültig dadurch beweisen, daß jenes Stück Welt, welches wir kennen – ich meine unsre menschliche Vernunft –, nicht allzu vernünftig ist. Und wenn sie nicht allezeit und vollständig weise und rationell ist, so wird es die übrige Welt auch nicht sein; hier gilt der Schluß a minori ad majus, a parte ad totum, und zwar mit entscheidender Kraft.
3.
»Am Anfang war.« – Die Entstehung verherrlichen – das ist der metaphysische Nachtrieb, welcher bei der Betrachtung der Historie wieder ausschlägt und durchaus meinen macht, am Anfang aller Dinge stehe das Werthvollste und Wesentlichste.
4.
Maaß für den Werth der Wahrheit. – Für die Höhe der Berge ist die Mühsal ihrer Besteigung durchaus kein Maaßstab. Und in der Wissenschaft soll es anders sein! – sagen uns Einige, die für eingeweiht gelten wollen –, die Mühsal um die Wahrheit soll gerade über den Werth der Wahrheit entscheiden! Diese tolle Moral geht von dem Gedanken aus, daß die »Wahrheiten« eigentlich nichts weiter seien, als Turngeräthschaften, an denen wir uns wacker müde zu arbeiten hätten, – eine Moral für Athleten und Festturner des Geistes.
5.
Sprachgebrauch und Wirklichkeit. – Es giebt eine erheuchelte Mißachtung aller der Dinge, welche thatsächlich die Menschen am wichtigsten nehmen, aller nächsten Dinge. Man sagt zum Beispiel »man ißt nur, um zu leben,« – eine verfluchte Lüge, wie jene, welche von der Kindererzeugung als der eigentlichen Absicht aller Wollust redet. Umgekehrt ist die Hochschätzung der »wichtigsten Dinge« fast niemals ganz ächt: die Priester und Metaphysiker haben uns zwar auf diesen Gebieten durchaus an einen heuchlerisch übertreibenden Sprachgebrauch gewöhnt, aber das Gefühl doch nicht umgestimmt, welches diese wichtigsten Dinge nicht so wichtig nimmt wie jene verachteten nächsten Dinge. – Eine leidige Folge dieser doppelten Heuchelei aber ist immerhin, daß man die nächsten Dinge, zum Beispiel Essen, Wohnen, Sich-Kleiden, Verkehren, nicht zum Objekt des stätigen unbefangenen und allgemeinen Nachdenkens und Umbildens macht, sondern, weil dies für herabwürdigend gilt, seinen intellektuellen und künstlerischen Ernst davon abwendet; so daß hier die Gewöhnheit und die Frivolität über die Unbedachtsamen, namentlich über die unerfahrene Jugend, leichten Steg haben: während andererseits unsere fortwährenden Verstöße gegen die einfachsten Gesetze des Körpers und Geistes uns Alle, Jüngere und Ältere, in eine beschämende Abhängigkeit und Unfreiheit bringen, – ich meine in jene im Grunde überflüssige Abhängigkeit von Ärzten, Lehrern und Seelsorgern, deren Druck jetzt immer noch auf der ganzen Gesellschaft liegt.
6.
Die irdische Gebrechlichkeit und ihre Hauptursache. – Man trifft, wenn man sich umsieht, immer auf Menschen, welche ihr Lebenlang Eier gegessen haben, ohne zu bemerken, daß die länglichten die wohlschmeckendsten sind, welche nicht wissen, daß ein Gewitter dem Unterleib förderlich ist, daß Wohlgerüche in kalter, klarer Luft am stärksten riechen, daß unser Geschmackssinn an verschiedenen Stellen des Mundes ungleich ist, daß jede Mahlzeit, bei der man gut spricht oder gut hört, dem Magen Nachtheil bringt. Man mag mit diesen Beispielen für den Mangel an Beobachtungssinn nicht zufrieden sein, um so mehr möge man zugestehen, daß die allernächsten Dinge von den Meisten sehr schlecht gesehen, sehr selten beachtet werden. Und ist dies gleichgültig? – Man erwäge doch, daß aus diesem Mangel sich fast alle leiblichen und seelischen Gebrechen der Einzelnen ableiten: nicht zu wissen, was uns förderlich, was uns schädlich ist, in der Einrichtung der Lebensweise, Vertheilung des Tages, Zeit und Auswahl des Verkehres, in Beruf und Muße, Befehlen und Gehorchen, Natur- und Kunstempfinden, Essen, Schlafen und Nachdenken; im Kleinsten und Alltäglichsten unwissend zu sein und keine scharfen Augen zu haben – Das ist es, was die Erde für so Viele zu einer »Wiese des Unheils« macht. Man sage nicht, es liege hier wie überall an der menschlichen Unvernunft: vielmehr – Vernunft genug und übergenug ist da, aber sie wird falsch gerichtet und künstlich von jenen kleinen und allernächsten Dingen abgelenkt. Priester und Lehrer, und die sublime Herrschsucht der Idealisten jeder Art, der gröberen und feineren, reden schon dem Kinde ein, es komme auf etwas ganz Anderes an: auf das Heil der Seele, den Staatsdienst, die Förderung der Wissenschaft, oder auf Ansehen und Besitz, als die Mittel, der ganzen Menschheit Dienste zu erweisen, während das Bedürfnis; des Einzelnen, seine große und kleine Noth innerhalb der vierundzwanzig Tagesstunden etwas Verächtliches oder Gleichgültiges sei. – Sokrates schon wehrte sich mit allen Kräften gegen diese hochmüthige Vernachlässigung des Menschlichen zu Gunsten des Menschen und liebte es, mit einem Worte Homer's, an den wirklichen Umkreis und Inbegriff alles Sorgens und Nachdenkens zu mahnen: Das ist es und nur Das, sagte er, »was mir zu Hause an Gutem und Schlimmem begegnet«.
7.
Zwei Trostmittel. – Epikur, der Seelen-Beschwichtiger des späteren Alterthums, hatte jene wundervolle Einsicht, die heutzutage immer noch so selten zu finden ist, daß zur Beruhigung des Gemüths die Lösung der letzten und äußersten theoretischen Fragen gar nicht nöthig sei. So genügte es ihm, Solchen, welche »die Götterangst« quälte, zu sagen: »wenn es Götter giebt, so bekümmern sie sich nicht um uns«, – anstatt über die letzte Frage, ob es Götter überhaupt gebe, unfruchtbar und aus der Ferne zu disputiren. Jene Position ist viel günstiger und mächtiger: man giebt dem Andern einige Schritte vor und macht ihn so zum Hören und Beherzigen gutwilliger. Sobald er sich aber anschickt das Gegentheil zu beweisen – daß die Götter sich um uns kümmern –, in welche Irrsale und Dorngebüsche muß der Arme gerathen, ganz von selber, ohne die List des Unterredners, der nur genug Humanität und Feinheit haben muß, um sein Mitleiden an diesem Schauspiele zu verbergen. Zuletzt kommt jener Andere zum Ekel, dem stärksten Argument gegen jeden Satz, zum Ekel an seiner eigenen Behauptung; er wird kalt und geht fort mit der selben Stimmung, wie sie auch der reine Atheist hat: »was gehen mich eigentlich die Götter an! hole sie der Teufel!« – In anderen Fällen, namentlich wenn eine halb physische, halb moralische Hypothese das Gemüth verdüstert hatte, widerlegte er nicht diese Hypothese, sondern gestand ein, daß es wohl so sein könne: aber es gebe noch eine zweite Hypothese, um die selbe Erscheinung zu erklären: vielleicht könne es sich auch noch anders verhalten. Die Mehrheit der Hypothesen genügt auch in unserer Zeit noch, zum Beispiel über die Herkunft der Gewissensbisse, um jenen Schatten von der Seele zu nehmen, der aus dem Nachgrübeln über eine einzige, allein sichtbare und dadurch hundertfach überschätzte Hypothese so leicht entsteht. – Wer also Trost zu spenden wünscht, an Unglückliche, Übelthäter, Hypochonder, Sterbende, möge sich der beiden beruhigenden Wendungen Epikur's erinnern, welche auf sehr viele Fragen sich anwenden lassen. In der einfachsten Form würden sie etwa lauten: erstens, gesetzt es verhält sich so, so geht es uns nichts an; zweitens: es kann so sein, es kann aber auch anders sein.
8.
In der Nacht. – Sobald die Nacht hereinbricht, verändert sich unsere Empfindung über die nächsten Dinge. Da ist der Wind, der wie auf verbotenen Wegen umgeht, flüsternd, wie Etwas suchend, verdrossen, weil er's nicht findet. Da ist das Lampenlicht, mit trübem röthlichem Scheine, ermüdet blickend, der Nacht ungern widerstrebend, ein ungeduldiger Sklave des wachen Menschen. Da sind die Athemzüge des Schlafenden, ihr schauerlicher Takt, zu der eine immer wiederkehrende Sorge die Melodie zu blasen scheint, – wir hören sie nicht, aber wenn die Brust des Schlafenden sich hebt, so fühlen wir uns geschnürten Herzens, und wenn der Athem sinkt und fast in's Todtenstille erstirbt, sagen wir uns »ruhe ein Wenig, du armer gequälter Geist!« – wir wünschen allem Lebenden, weil es so gedrückt lebt, eine ewige Ruhe; die Nacht überredet zum Tode. – Wenn die Menschen der Sonne entbehrten und mit Mondlicht und Öl den Kampf gegen die Nacht führten, welche Philosophie würde um sie ihren Schleier hüllen! Man merkt es ja dem geistigen und seelischen Wesen des Menschen schon zu sehr an, wie es durch die Hälfte Dunkelheit und Sonnen-Entbehrung, von der das Leben umflort wird, im Ganzen verdüstert ist.
9.
Wo die Lehre von der Freiheit des Willens entstanden ist. – Über dem Einen steht die Nothwendigkeit in der Gestalt seiner Leidenschaften, über dem Andern als Gewohnheit zu hören und zu gehorchen, über dem Dritten als logisches Gewissen, über dem Vierten als Laune und muthwilliges Behagen an Seitensprüngen. Von diesen Vieren wird aber gerade da die Freiheit ihres Willens gesucht, wo Jeder von ihnen am festesten gebunden ist: es ist, als ob der Seidenwurm die Freiheit seines Willens gerade im Spinnen suchte. Woher kommt dies? Ersichtlich daher, daß Jeder sich dort am meisten für frei hält, wo sein Lebensgefühl am größten ist, also, wie gesagt, bald in der Leidenschaft, bald in der Pflicht, bald in der Erkenntniß, bald im Muthwillen. Das, wodurch der einzelne Mensch stark ist, worin er sich belebt fühlt, meint er unwillkürlich, müsse auch immer das Element seiner Freiheit sein: er rechnet Abhängigkeit und Stumpfsinn, Unabhängigkeit und Lebensgefühl als nothwendige Paare zusammen. – Hier wird eine Erfahrung, die der Mensch im gesellschaftlich-politischen Gebiete gemacht hat, fälschlich auf das allerletzte metaphysische Gebiet übertragen: dort ist der starke Mann auch der freie Mann, dort ist lebendiges Gefühl von Freude und Leid, Höhe des Hoffens, Kühnheit des Begehrens, Mächtigkeit des Hassens das Zubehör der Herrschenden und Unabhängigen, während der Unterworfene, der Sklave, gedrückt und stumpf lebt. – Die Lehre von der Freiheit des Willens ist eine Erfindung herrschender Stände.
10.
Keine neuen Ketten fühlen. – So lange wir nicht fühlen, daß wir irgend wovon abhängen, halten wir uns für unabhängig: ein Fehlschluß, welcher zeigt, wie stolz und herrschsüchtig der Mensch ist. Denn er nimmt hier an, daß er unter allen Umständen die Abhängigkeit, sobald er sie erleide, merken und erkennen müsse, unter der Voraussetzung, daß er in der Unabhängigkeit für gewöhnlich lebe und sofort, wenn er sie ausnahmsweise verliere, einen Gegensatz der Empfindung spüren werde. – Wie aber, wenn das Umgekehrte wahr wäre: daß er immer in vielfacher Abhängigkeit lebt, sich aber für frei hält, wo er den Druck der Kette aus langer Gewohnheit nicht mehr spürt? Nur an den neuen Ketten leidet er noch: – »Freiheit des Willens« heißt eigentlich nichts weiter, als keine neuen Ketten fühlen.
11.
Die Freiheit des Willens und die Isolation der Facta. – Unsere gewohnte ungenaue Beobachtung nimmt eine Gruppe von Erscheinungen als Eins und nennt sie ein Factum: zwischen ihm und einem andern Factum denkt sie sich einen leeren Raum hinzu, sie isolirt jedes Factum. In Wahrheit aber ist all unser Handeln und Erkennen keine Folge von Facten und leeren Zwischenräumen, sondern ein beständiger Fluß. Nun ist der Glaube an die Freiheit des Willens gerade mit der Vorstellung eines beständigen, einartigen, ungetheilten, untheilbaren Fließens unverträglich: er setzt voraus, daß jede einzelne Handlung isolirt und untheilbar ist; er ist eine Atomistik im Bereiche des Wollens und Erkennens. – Gerade so wie wir Charaktere ungenau verstehen, so machen wir es mit den Facten: wir sprechen von gleichen Charakteren, gleichen Facten: beide giebt es nicht. Nun loben und tadeln wir aber nur unter dieser falschen Voraussetzung, daß es gleiche Facta gebe, daß eine abgestufte Ordnung von Gattungen der Facten vorhanden sei, welcher eine abgestufte Werthordnung entspreche: also wir isoliren nicht nur das einzelne Factum, sondern auch wiederum die Gruppen von angeblich kleinen Facten (gute, böse, mitleidige, neidische Handlungen u. s. w.) – beide Male irrthümlich. – Das Wort und der Begriff sind der sichtbarste Grund, weshalb wir an diese Isolation von Handlungen-Gruppen glauben: mit ihnen bezeichnen wir nicht nur die Dinge, wir meinen ursprünglich durch sie das Wahre derselben zu erfassen. Durch Worte und Begriffe werden wir jetzt noch fortwährend verführt, die Dinge uns einfacher zu denken, als sie sind, getrennt von einander, untheilbar, jedes an und für sich seiend. Es liegt eine philosophische Mythologie in der Sprache versteckt, welche alle Augenblicke wieder herausbricht, so vorsichtig man sonst auch sein mag. Der Glaube an die Freiheit des Willens, das heißt der gleichen Facten und der isolirten Facten, – hat in der Sprache seinen beständigen Evangelisten und Anwalt.
12.
Die Grundirrthümer. – Damit der Mensch irgend eine seelische Lust oder Unlust empfinde, muß er von einer dieser beiden Illusionen beherrscht sein: entweder glaubt er an die Gleichheit gewisser Facta, gewisser Empfindungen: dann hat er durch die Vergleichung jetziger Zustände mit früheren und durch Gleich- oder Ungleichsetzung derselben (wie sie bei aller Erinnerung stattfindet) eine seelische Lust oder Unlust; oder er glaubt an die Willens-Freiheit, etwa wenn er denkt »dies hätte ich nicht thun müssen«, »dies hätte anders auslaufen können«, und gewinnt daraus ebenfalls Lust und Unlust. Ohne die Irrthümer, welche bei jeder seelischen Lust und Unlust thätig sind, würde niemals ein Menschenthum entstanden sein – dessen Grundempfindung ist und bleibt, daß der Mensch der Freie in der Welt der Unfreiheit sei, der ewige Wunderthäter, sei es, daß er gut oder böse handelt, die erstaunliche Ausnahme, das Überthier, der Fast-Gott, der Sinn der Schöpfung, der Nichthinwegzudenkende, das Lösungswort des kosmischen Räthsels, der große Herrscher über die Natur und Verächter derselben, das Wesen, das seine Geschichte Weltgeschichte nennt! – Vanitas vanitatum homo.
13.
Zweimal sagen. – Es ist gut, eine Sache sofort doppelt auszudrücken und ihr einen rechten und einen linken Fuß zu geben. Auf Einem Bein kann die Wahrheit zwar stehen; mit zweien aber wird sie gehen und herumkommen.
14.
Der Mensch der Komödiant der Welt. – Es müßte geistigere Geschöpfe geben, als die Menschen sind, bloß um den Humor ganz auszukosten, der darin liegt, daß der Mensch sich für den Zweck des ganzen Weltendaseins ansieht und die Menschheit sich ernstlich nur mit Aussicht auf eine Welt-Mission zufrieden giebt. Hat ein Gott die Welt geschaffen, so schuf er den Menschen zum Affen Gottes, als fortwährenden Anlaß zur Erheiterung in seinen allzulangen Ewigkeiten. Die Sphärenmusik um die Erde herum wäre dann wohl das Spottgelächter aller übrigen Geschöpfe um den Menschen herum. Mit dem Schmerz kitzelt jener gelangweilte Unsterbliche sein Lieblingsthier, um an den tragischstolzen Gebärden und Auslegungen seiner Leiden, überhaupt an der geistigen Erfindsamkeit des eitelsten Geschöpfes seine Freude zu haben – als Erfinder dieses Erfinders. Denn wer den Menschen zum Spaße ersann, hatte mehr Geist als dieser, und auch mehr Freude am Geist. – Selbst hier noch, wo sich unser Menschenthum einmal freiwillig demüthigen will, spielt uns die Eitelkeit einen Streich, indem wir Menschen wenigstens in dieser Eitelkeit etwas ganz Unvergleichliches und Wunderhaftes sein möchten. Unsere Einzigkeit in der Welt! ach, es ist eine gar zu unwahrscheinliche Sache! Die Astronomen, denen mitunter wirklich ein erdentrückter Gesichtskreis zu Theil wird, geben zu verstehen, daß der Tropfen Leben in der Welt für den gesammten Charakter des ungeheuren Oceans von Werden und Vergehen ohne Bedeutung ist: daß ungezählte Gestirne ähnliche Bedingungen zur Erzeugung des Lebens haben wie die Erde, sehr viele also, – freilich kaum eine Handvoll im Vergleich zu den unendlich vielen, welche den lebenden Ausschlag nie gehabt haben oder von ihm längst genesen sind: daß das Leben auf jedem dieser Gestirne, gemessen an der Zeitdauer seiner Existenz, ein Augenblick, ein Aufflackern gewesen ist, mit langen, langen Zeiträumen hinterdrein, – also keineswegs das Ziel und die letzte Absicht ihrer Existenz. Vielleicht bildet sich die Ameise im Walde ebenso stark ein, daß sie Ziel und Absicht der Existenz des Waldes ist, wie wir dies thun, wenn wir an den Untergang der Menschheit in unserer Phantasie fast unwillkürlich den Erduntergang anknüpfen: ja wir sind noch bescheiden, wenn wir dabei stehn bleiben und zur Leichenfeier des letzten Menschen nicht eine allgemeine Welt- und Götterdämmerung veranstalten. Der unbefangenste Astronom selber kann die Erde ohne Leben kaum anders empfinden als wie den leuchtenden und schwebenden Grabhügel der Menschheit.
15.
Bescheidenheit des Menschen. – Wie wenig Lust genügt den Meisten, um das Leben gut zu finden, wie bescheiden ist der Mensch!
16.
Worin Gleichgültigkeit noth thut. – Nichts wäre verkehrter, als abwarten wollen, was die Wissenschaft über die ersten und letzten Dinge einmal endgültig feststellen wird, und bis dahin auf die herkömmliche Weise denken (und namentlich glauben!) – wie dies so oft angerathen wird. Der Trieb, auf diesem Gebiete durchaus nur Sicherheiten haben zu wollen, ist ein religiöser Nachtrieb, nichts Besseres, – eine versteckte und nur scheinbar skeptische Art des »metaphysischen Bedürfnisses«, mit dem Hintergedanken verkuppelt, daß noch lange Zeit keine Aussicht auf diese letzten Sicherheiten vorhanden und bis dahin der »Gläubige« im Recht ist, sich um das ganze Gebiet nicht zu kümmern. Wir haben diese Sicherheiten um die alleräußersten Horizonte gar nicht nöthig, um ein volles und tüchtiges Menschenthum zu leben: ebensowenig als die Ameise sie nöthig hat, um eine gute Ameise zu sein. Vielmehr müssen wir uns darüber in's Klare bringen, woher eigentlich jene fatale Wichtigkeit kommt, die wir jenen Dingen so lange beigelegt haben: und dazu brauchen wir die Historie der ethischen und religiösen Empfindungen. Denn nur unter dem Einfluß dieser Empfindungen sind uns jene allerspitzesten Fragen der Erkenntniß so erheblich und furchtbar geworden: man hat in die äußersten Bereiche, wohin noch das geistige Auge dringt, ohne in sie einzudringen, solche Begriffe wie Schuld und Strafe (und zwar ewige Strafe!) hineinverschleppt: und dies um so unvorsichtiger, je dunkler diese Bereiche waren. Man hat seit Alters mit Verwegenheit dort phantasirt, wo man Nichts feststellen konnte, und seine Nachkommen überredet, diese Phantasien für Ernst und Wahrheit zu nehmen, zuletzt mit dem abscheulichen Trumpfe: daß Glauben mehr werth sei, als Wissen. Jetzt nun thut in Hinsicht auf jene letzten Dinge nicht Wissen gegen Glauben noth, sondern Gleichgültigkeit gegen Glauben und angebliches Wissen auf jenen Gebieten! – Alles Andere muß uns näher stehen als Das, was man uns bisher als das Wichtigste vorgepredigt hat – ich meine jene Fragen: wozu der Mensch? Welches Loos hat er nach dem Tode? Wie versöhnt er sich mit Gott? und wie diese Curiosa lauten mögen. Ebensowenig wie diese Fragen der Religiösen gehen uns die Fragen der philosophischen Dogmatiker an, mögen sie nun Idealisten oder Materialisten oder Realisten sein. Sie allesammt sind darauf aus, uns zu einer Entscheidung auf Gebieten zu drängen, wo weder Glauben noch Wissen noth thut; selbst für die größten Liebhaber der Erkenntniß ist es nützlicher, wenn um alles Erforschbare und der Vernunft Zugängliche ein umnebelter trügerischer Sumpfgürtel sich legt, ein Streifen des Undurchdringlichen, Ewig-Flüssigen und Unbestimmbaren. Gerade durch die Vergleichung mit dem Reich des Dunkels am Rande der Wissens-Erde steigt die helle und nahe, nächste Welt des Wissens stets im Werthe. – Wir müssen wieder gute Nachbarn der nächsten Dinge werden und nicht so verächtlich wie bisher über sie hinweg nach Wolken und Nachtunholden hinblicken. In Wäldern und Höhlen, in sumpfigen Strichen und unter bedeckten Himmeln – da hat der Mensch, als auf den Culturstufen ganzer Jahrtausende, allzulange gelebt, und dürftig gelebt. Dort hat er die Gegenwart und die Nachbarschaft und das Leben und sich selbst verachten gelernt – und wir, wir Bewohner der lichteren Gefilde der Natur und des Geistes, bekommen jetzt noch, durch Erbschaft, etwas von diesem Gift der Verachtung gegen das Nächste in unser Blut mit.
17.
Tiefe Erklärungen. – Wer die Stelle eines Autors »tiefer erklärt«, als sie gemeint war, hat den Autor nicht erklärt, sondern verdunkelt. So stehen unsre Metaphysiker zum Texte der Natur; ja noch schlimmer. Denn um ihre tiefen Erklärungen anzubringen, richten sie sich häufig den Text erst daraufhin zu: das heißt, sie verderben ihn. Um ein curioses Beispiel für Textverderbniß und Verdunkelung des Autors zu geben, so mögen hier Schopenhauer's Gedanken über die Schwangerschaft der Weiber stehen. Das Anzeichen des steten Daseins des Willens zum Leben in der Zeit, sagt er, ist der Coitus: das Anzeichen des diesem Willen auf's Neue zugesellten, die Möglichkeit der Erlösung offenhaltenden Lichtes der Erkenntnis, und zwar im höchsten Grade der Klarheit, ist die erneuerte Menschwerdung des Willens zum Leben. Das Zeichen dieser ist die Schwangerschaft, welche daher frank und frei, ja stolz einhergeht, während der Coitus sich verkriecht wie ein Verbrecher. Er behauptet, daß jedes Weib, wenn beim Generationsakt überrascht, vor Scham vergehn möchte, aber » ihre Schwangerschaft, ohne eine Spur von Scham, ja mit einer Art Stolz, zur Schau trägt.« Vor Allem läßt sich dieser Zustand nicht so leicht mehr zur Schau tragen, als er sich selber zur Schau trägt; indem Schopenhauer aber gerade nur die Absichtlichkeit des Zur-Schau-Tragens hervorhebt, bereitet er sich den Text vor, damit dieser zu der bereit gehaltenen »Erklärung« passe. Sodann ist Das, was er über die Allgemeinheit des zu erklärenden Phänomens sagt, nicht wahr: er spricht von »jedem Weibe«; viele, namentlich die jüngeren Frauen, zeigen aber in diesem Zustande, selbst vor den nächsten Anverwandten, oft eine peinliche Verschämtheit; und wenn Weiber reiferen und reifsten Alters, zumal solche aus dem niederen Volke, in der That sich auf jenen Zustand etwas zu Gute thun sollten, so geben sie wohl damit zu verstehen, daß sie noch von ihren Männern begehrt werden. Daß bei ihrem Anblick der Nachbar und die Nachbarin oder ein vorüber gehender Fremder sagt oder denkt: »sollte es möglich sein –«, dieses Almosen wird von der weiblichen Eitelkeit bei geistigem Tiefstände immer noch gern angenommen. Umgekehrt würden, wie aus Schopenhauer's Sätzen zu folgern wäre, gerade die klügsten und geistigsten Weiber am meisten über ihren Zustand öffentlich frohlocken: sie haben ja die meiste Aussicht, ein Wunderkind des Intellekts zu gebären, in welchem »der Wille« sich zum allgemeinen Besten wieder einmal »verneinen« kann; die dummen Weiber hätten dagegen allen Grund, ihre Schwangerschaft noch schamhafter zu verbergen als Alles, was sie verbergen. – Man kann nicht sagen, daß diese Dinge aus der Wirklichkeit genommen sind. Gesetzt aber, Schopenhauer hätte ganz im Allgemeinen darin Recht, daß die Weiber im Zustande der Schwangerschaft eine Selbstgefälligkeit mehr zeigen, als sie sonst zeigen, so läge doch eine Erklärung näher zur Hand als die seinige. Man könnte sich ein Gackern der Henne auch vor dem Legen des Eies denken, des Inhaltes: Seht! Seht! Ich werde ein Ei legen! Ich werde ein Ei legen!
18.
Der moderne Diogenes. – Bevor man den Menschen sucht, muß man die Laterne gefunden haben. – Wird es die Laterne des Cynikers sein müssen?
19.
Immoralisten. – Die Moralisten müssen es sich jetzt gefallen lassen, Immoralisten gescholten zu werden, weil sie die Moral seciren. Wer aber seciren will, muß tödten: jedoch nur, damit besser gewußt, besser geurtheilt, besser gelebt werde; nicht, damit alle Welt secire. Leider aber meinen die Menschen immer noch, daß jeder Moralist auch durch sein gesammtes Handeln ein Musterbild sein müsse, welches die Anderen nachzuahmen hätten: sie verwechseln ihn mit dem Prediger der Moral. Die älteren Moralisten secirten nicht genug und predigten allzuhäufig: daher rührt jene Verwechselung und jene unangenehme Folge für die jetzigen Moralisten.
20.
Nicht zu verwechseln. – Die Moralisten, welche die großartige, mächtige, aufopfernde Denkweise, etwa bei den Helden Plutarch's, oder den reinen, erleuchteten, wärmeleitenden Seelenzustand der eigentlich guten Männer und Frauen als schwere Probleme der Erkenntniß behandeln und der Herkunft derselben nachspüren, indem sie das Complicirte in der anscheinenden Einfachheit aufzeigen und das Auge auf die Verflechtung der Motive, auf die eingewobenen zarten Begriffs-Täuschungen und die von Alters her vererbten, langsam gesteigerten Einzel- und Gruppen-Empfindungen richten, – diese Moralisten sind am meisten gerade nun denen verschieden, mit denen sie doch am meisten verwechselt werden: von den kleinlichen Geistern, die an jene Denkweisen und Seelenzustände überhaupt nicht glauben und ihre eigne Armseligkeit hinter dem Glanze von Größe und Reinheit versteckt wähnen. Die Moralisten sagen: »hier sind Probleme«, und die Erbärmlichen sagen: »hier sind Betrüger und Betrügereien«; sie leugnen also die Existenz gerade Dessen, was Jene zu erklären beflissen sind.
21.
Der Mensch als der Messende. – Vielleicht hatte alle Moralität der Menschheit in der ungeheuren inneren Aufregung ihren Ursprung, welche die Urmenschen ergriff, als sie das Maaß und das Messen, die Wage und das Wägen entdeckten (das Wort »Mensch« bedeutet ja den Messenden, er hat sich nach seiner größten Entdeckung benennen wollen!). Mit diesen Vorstellungen stiegen sie in Bereiche hinauf, die ganz unmeßbar und unwägbar sind, aber es ursprünglich nicht zu sein schienen.
22.
Princip des Gleichgewichts. – Der Räuber und der Mächtige, welcher einer Gemeinde verspricht, sie gegen den Räuber zu schützen, sind wahrscheinlich im Grunde ganz ähnliche Wesen, nur daß der Zweite seinen Vortheil anders als der Erste erreicht: nämlich durch regelmäßige Abgaben, welche die Gemeinde an ihn entrichtet, und nicht mehr durch Brandschatzungen. (Es ist das nämliche Verhältnis wie zwischen Handelsmann und Seeräuber, welche lange Zeit ein und dieselbe Person sind: wo ihr die eine Funktion nicht räthlich scheint, da übt sie die andere aus. Eigentlich ist ja selbst jetzt noch alle Kaufmanns-Moral nur die Verklügerung der Seeräuber-Moral: so wohlfeil wie möglich kaufen – womöglich für Nichts als die Unternehmungskosten –, so theuer wie möglich verkaufen). Das Wesentliche ist: jener Mächtige verspricht, gegen den Räuber Gleichgewicht zu halten; darin sehen die Schwachen eine Möglichkeit zu leben. Denn entweder müssen sie sich selber zu einer gleichwiegenden Macht zusammenthun oder sich einem Gleichwiegenden unterwerfen (ihm für seine Leistungen Dienste leisten). Dem letzteren Verfahren wird gern der Vorzug gegeben, weil es im Grunde zwei gefährliche Wesen in Schach hält: das Erste durch das Zweite und das Zweite durch den Gesichtspunkt des Vortheils; Letzteres hat nämlich seinen Gewinn davon, die Unterworfenen gnädig oder leidlich zu behandeln, damit sie nicht nur sich, sondern auch ihren Beherrscher ernähren können. Thatsächlich kann es dabei immer noch hart und grausam genug zugehen, aber verglichen mit der früher immer möglichen völligen Vernichtung athmen die Menschen schon in diesem Zustande auf. – Die Gemeinde ist im Anfang die Organisation der Schwachen zum Gleichgewicht mit gefahrdrohenden Mächten. Eine Organisation zum Übergewicht wäre räthlicher, wenn man dabei so stark würde, um die Gegenmacht auf einmal zu vernichten: und handelt es sich um einen einzelnen mächtigen Schadenthuer, so wird dies gewiß versucht. Ist aber der Eine ein Stammhaupt oder hat er großen Anhang, so ist die schnelle entscheidende Vernichtung unwahrscheinlich und die dauernde lange Fehde zu gewärtigen: diese aber bringt der Gemeinde den am wenigsten wünschbaren Zustand mit sich, weil sie durch ihn die Zeit verliert, für ihren Lebensunterhalt mit der nöthigen Regelmäßigkeit zu sorgen, und den Ertrag aller Arbeit jeden Augenblick bedroht sieht. Deshalb zieht die Gemeinde vor, ihre Macht zu Vertheidigung und Angriff genau auf die Höhe zu bringen, auf der die Macht des gefährlichen Nachbars ist, und ihm zu verstehen zu geben, daß in ihrer Wagschale jetzt gleich viel Erz liege: warum wolle man nicht gut Freund mit einander sein? – Gleichgewicht ist also ein sehr wichtiger Begriff für die älteste Rechts- und Morallehre; Gleichgewicht ist die Basis der Gerechtigkeit. Wenn diese in roheren Zeiten sagt: »Auge um Auge, Zahn um Zahn«, so setzt sie das erreichte Gleichgewicht voraus und will es vermöge dieser Vergeltung erhalten: so daß, wenn jetzt der Eine sich gegen den Andern vergeht, der Andere keine Rache der blinden Erbitterung mehr nimmt. Sondern vermöge des jus talionis wird das Gleichgewicht der gestörten Machtverhältnisse wiederhergestellt: denn ein Auge, ein Arm mehr ist in solchen Urzuständen ein Stück Macht, ein Gewicht mehr. – Innerhalb einer Gemeinde, in der Alle sich als gleichgewichtig betrachten, ist gegen Vergehungen, das heißt gegen Durchbrechungen des Princips des Gleichgewichts, Schande und Strafe da: Schande, ein Gewicht, eingesetzt gegen den übergreifenden Einzelnen, der durch den Übergriff sich Vortheile verschafft hat, durch die Schande nun wieder Nachtheile erfährt, die den früheren Vortheil aufheben und überwiegen. Ebenso steht es mit der Strafe: sie stellt gegen das Übergewicht, das sich jeder Verbrecher zuspricht, ein viel größeres Gegengewicht auf, gegen Gewaltthat den Kerkerzwang, gegen Diebstahl den Wiederersatz und die Strafsumme. So wird der Frevler erinnert, daß er mit seiner Handlung aus der Gemeinde und deren Moral- Vortheilen ausschied: sie behandelt ihn wie einen Ungleichen, Schwachen, außer ihr Stehenden; deshalb ist Strafe nicht nur Wiedervergeltung, sondern hat ein Mehr, ein Etwas von der Härte des Naturzustandes; an diesen will sie eben erinnern.
23.
Ob die Anhänger der Lehre vom freien Willen strafen dürfen? – Die Menschen, welche von Berufswegen richten und strafen, suchen in jedem Falle festzustellen, ob ein Übelthäter überhaupt für seine That verantwortlich ist, ob er seine Vernunft anwenden konnte, ob er aus Gründen handelte und nicht unbewußt oder im Zwange. Straft man ihn, so straft man, daß er die schlechteren Gründe den besseren vorzog: welche er also gekannt haben muß. Wo diese Kenntniß fehlt, ist der Mensch nach der herrschenden Ansicht unfrei und nicht verantwortlich: es sei denn, daß seine Unkenntniß, zum Beispiel seine ignorantia legis, die Folge einer absichtlichen Vernachlässigung des Erlernens ist; dann hat er also schon damals, als er nicht lernen wollte was er sollte, die schlechteren Gründe den besseren vorgezogen und muß jetzt die Folge seiner schlechten Wahl büßen. Wenn er dagegen die besseren Gründe nicht gesehen hat, etwa aus Stumpf- und Blödsinn, so pflegt man nicht zu strafen: es hat ihm, wie man sagt, die Wahl gefehlt, er handelte als Thier. Die absichtliche Verleugnung der besseren Vernunft ist jetzt die Voraussetzung, die man beim strafwürdigen Verbrecher macht. Wie kann aber Jemand absichtlich unvernünftiger sein, als er sein muß? Woher die Entscheidung, wenn die Wagschalen mit guten und schlechten Motiven belastet sind? Also nicht vom Irrthum, von der Blindheit her, nicht von einem äußeren, auch von keinem inneren Zwange her? (Man erwäge übrigens, daß jeder sogenannte »äußere Zwang« nichts weiter ist, als der innere Zwang der Furcht und des Schmerzes.) Woher? fragt man immer wieder. Die Vernunft soll also nicht die Ursache sein, weil sie sich nicht gegen die besseren Gründe entscheiden könnte? Hier nun ruft man den »freien Willen« zur Hülfe: es soll das vollendete Belieben entscheiden, ein Moment eintreten, wo kein Motiv wirkt, wo die That als Wunder geschieht, aus dem Nichts heraus. Man straft diese angebliche Beliebigkeit, in einem Falle, wo kein Belieben herrschen sollte: die Vernunft, welche das Gesetz, das Verbot und Gebot kennt, hätte gar keine Wahl lassen dürfen, meint man, und als Zwang und höhere Macht wirken sollen. Der Verbrecher wird also bestraft, weil er vom »freien Willen« Gebrauch macht: das heißt weil er ohne Grund gehandelt hat, wo er nach Gründen hätte handeln sollen. Aber warum that er dies? Dies eben darf nicht einmal mehr gefragt werden: es war eine That ohne »darum?« ohne Motiv, ohne Herkunft, etwas Zweckloses und Vernunftloses. – Eine solche That dürfte man aber, nach der ersten oben vorangeschickten Bedingung aller Strafbarkeit, auch nicht strafen! Auch jene Art der Strafbarkeit darf nicht geltend gemacht werden, als wenn hier Etwas nicht gethan, Etwas unterlassen, von der Vernunft nicht Gebrauch gemacht sei: denn unter allen Umständen geschah die Unterlassung ohne Absicht! und nur die absichtliche Unterlassung des Gebotenen gilt als strafbar. Der Verbrecher hat zwar die schlechteren Gründe den besseren vorgezogen, aber ohne Grund und Absicht: er hat zwar seine Vernunft nicht angewendet, aber nicht, um sie nicht anzuwenden. Jene Voraussetzung, die man beim strafwürdigen Verbrechen macht, daß er seine Vernunft absichtlich verleugnet habe, – gerade sie ist bei der Annahme des »freien Willens« aufgehoben. Ihr dürft nicht strafen, ihr Anhänger der Lehre vom »freien Willen«, nach euern eigenen Grundsätzen nicht! – Diese sind aber im Grunde Nichts, als eine sehr wunderliche Begriffs-Mythologie; und das Huhn, welches sie ausgebrütet hat, hat abseits von aller Wirklichkeit auf seinen Eiern gesessen.
24.
Zur Beurtheilung des Verbrechers und seines Richters. – Der Verbrecher, der den ganzen Fluß der Umstände kennt, findet seine That nicht so außer der Ordnung und Begreiflichkeit, wie seine Richter und Tadler: seine Strafe aber wird ihm gerade nach dem Grad von Erstaunen zugemessen, welches jene beim Anblick der That als einer Unbegreiflichkeit befällt. – Wenn die Kenntniß, welche der Vertheidiger eines Verbrechers non dem Fall und seiner Vorgeschichte hat, weit genug reicht, so müssen die sogenannten Milderungsgründe, welche er der Reihe nach vorbringt, endlich die ganze Schuld hinwegmildern. Oder, noch deutlicher: der Vertheidiger wird schrittweise jenes verurtheilende und strafzumessende Erstaunen mildern und zuletzt ganz aufheben, indem er jeden ehrlichen Zuhörer zu dem inneren Geständniß nöthigt: »er mußte so handeln, wie er gehandelt hat; wir würden, wenn wir straften, die ewige Nothwendigkeit bestrafen.« – Den Grad der Strafe abmessen nach dem Grad der Kenntniß, welchen man von der Historie eines Verbrechens hat oder überhaupt gewinnen kann, – streitet dies nicht wider alle Billigkeit?
25.
Der Tausch und die Billigkeit. – Bei einem Tausche würde es nur dann ehrlich und rechtlich zugehen, wenn Jeder der Beiden so viel verlangte, als ihm seine Sache werth scheint, die Mühe des Erlangens, die Seltenheit, die aufgewendete Zeit u. s. w. in Anschlag gebracht, nebst dem Affektionswerthe. Sobald er den Preis in Hinsicht auf das Bedürfnis des Andern macht, ist er ein feinerer Räuber und Erpresser. – Ist Geld das eine Tauschobjekt, so ist zu erwägen, daß ein Frankenthaler in der Hand eines reichen Erben, eines Tagelöhners, eines Kaufmannes, eines Studenten ganz verschiedene Dinge sind: Jeder wird, je nachdem er fast Nichts oder Viel that, ihn zu erwerben, Wenig oder Viel dafür empfangen dürfen – so wäre es billig: in Wahrheit steht es bekanntlich umgekehrt. In der großen Geldwelt ist der Thaler des faulsten Reichen gewinnbringender als der des Armen und Arbeitsamen.
26.
Rechtszustände als Mittel. – Recht, auf Verträgen zwischen Gleichen beruhend, besteht, so lange die Macht Derer, die sich vertragen haben, eben gleich oder ähnlich ist; die Klugheit hat das Recht geschaffen, um der Fehde und der nutzlosen Vergeudung zwischen ähnlichen Gewalten ein Ende zu machen. Dieser aber ist ebenso endgültig ein Ende gemacht, wenn der eine Theil entschieden schwächer als der andere geworden ist: dann tritt Unterwerfung ein, und das Recht hört auf, aber der Erfolg ist derselbe wie der, welcher bisher durch das Recht erreicht wurde. Denn jetzt ist es die Klugheit des Überwiegenden, welche die Kraft des Unterworfenen zu schonen und nicht nutzlos zu vergeuden anräth: und oft ist die Lage des Unterworfenen günstiger, als die des Gleichgestellten war. – Rechtszustände sind also zeitweilige Mittel, welche die Klugheit anräth, keine Ziele.
27.
Erklärung der Schadenfreude. – Die Schadenfreude entsteht daher, daß ein Jeder in mancher ihm wohl bewußten Hinsicht sich schlecht befindet, Sorge oder Neid oder Schmerz hat: der Schaden, der den Andern betrifft, stellt diesen ihm gleich, er versöhnt seinen Neid. – Befindet er gerade sich selber gut, so sammelt er doch das Unglück des Nächsten als ein Kapital in seinem Bewußtsein auf, um es bei einbrechendem eigenen Unglück gegen dasselbe einzusetzen: auch so hat er »Schadenfreude«. Die auf Gleichheit gerichtete Gesinnung wirft also ihren Maaßstab aus auf das Gebiet des Glücks und des Zufalls: Schadenfreude ist der gemeinste Ausdruck über den Sieg und die Wiederherstellung der Gleichheit, auch innerhalb der höheren Weltordnung. Erst seitdem der Mensch gelernt hat, in anderen Menschen seines Gleichen zu sehen, also erst seit Begründung der Gesellschaft giebt es Schadenfreude.
28.
Das Willkürliche im Zumessen der Strafen. – Die meisten Verbrecher kommen zu ihren Strafen wie die Weiber zu ihren Kindern. Sie haben zehn- und hundertmal dasselbe gethan, ohne üble Folgen zu spüren: plötzlich kommt eine Entdeckung und hinter ihr die Strafe. Die Gewohnheit sollte doch die Schuld der That, derentwegen der Verbrecher gestraft wird, entschuldbarer erscheinen lassen: es ist ja ein Hang entstanden, dem schwerer zu widerstehen ist. Anstatt dessen wird er, wenn der Verdacht des gewohnheitsmäßigen Verbrechens vorliegt, härter gestraft, die Gewohnheit wird als Grund gegen alle Milderung geltend gemacht. Umgekehrt: eine musterhafte Lebensweise, gegen welche das Verbrechen um so fürchterlicher absticht, sollte die Schuldbarkeit verschärft erscheinen lassen! Aber sie pflegt die Strafe zu mildern. So wird Alles nicht nach dem Verbrecher bemessen, sondern nach der Gesellschaft und deren Schaden und Gefahr: frühere Nützlichkeit eines Menschen wird gegen seine einmalige Schädlichkeit eingerechnet, frühere Schädlichkeit zur gegenwärtig entdeckten addirt, und demnach die Strafe am höchsten zugemessen. Wenn man aber dergestalt die Vergangenheit eines Menschen mit straft oder mit belohnt (dies im ersten Fall, wo das Weniger-Strafen ein Belohnen ist), so sollte man noch weiter zurückgehn und die Ursache einer solchen oder solchen Vergangenheit strafen und belohnen, ich meine Eltern, Erzieher, die Gesellschaft u. s. w.: in vielen Fällen wird man dann die Richter irgendwie bei der Schuld betheiligt finden. Es ist willkürlich, beim Verbrecher stehen zu bleiben, wenn man die Vergangenheit straft: man sollte, falls man die absolute Entschuldbarkeit jeder Schuld nicht zugeben will, bei jedem einzelnen Fall stehn bleiben und nicht weiter zurückblicken: also die Schuld isolieren und sie gar nicht mit der Vergangenheit in Verknüpfung bringen, – sonst wird man zum Sünder gegen die Logik. Zieht vielmehr, ihr Willens-Freien, den notwendigen Schluß aus eurer Lehre von der »Freiheit des Willens« und dekretirt kühnlich: » keine That hat eine Vergangenheit.«
29.
Der Neid und sein edlerer Bruder. – Wo die Gleichheit wirklich durchgedrungen und dauernd begründet ist, entsteht jener, im Ganzen als unmoralisch geltende Hang, der im Naturzustande kaum begreiflich wäre: der Neid. Der Neidische fühlt jedes Hervorragen des Anderen über das gemeinsame Maaß und will ihn bis dahin herabdrücken – oder sich bis dorthin erheben: woraus sich zwei verschiedene Handlungsweisen ergeben, welche Hesiod als die böse und die gute Eris bezeichnet hat. Ebenso entsteht im Zustande der Gleichheit die Indignation darüber, daß es einem Anderen unter seiner Würde und Gleichheit schlecht ergeht, einem Zweiten über seiner Gleichheit gut: es sind dies Affekte edlerer Naturen. Sie vermissen in den Dingen, welche von der Willkür des Menschen unabhängig sind, Gerechtigkeit und Billigkeit, das heißt: sie verlangen, daß jene Gleichheit, die der Mensch anerkennt, nun auch von der Natur und dem Zufall anerkannt werde; sie zürnen darüber, daß es den Gleichen nicht gleich ergeht.
30.
Neid der Götter. – Der »Neid der Götter« entsteht, wenn der niedriger Geachtete sich irgendworin dem Höheren gleichsetzt (wie Ajax) oder durch Gunst des Schicksals ihm gleichgesetzt wird (wie Niobe als überreich gesegnete Mutter). Innerhalb der gesellschaftlichen Rangordnung stellt dieser Neid die Forderung auf, daß ein Jeder kein Verdienst über seinem Stande habe, auch daß sein Glück diesem gemäß sei und namentlich daß sein Selbstbewußtsein jenen Schranken nicht entwachse. Oft erfährt der siegreiche General den »Neid der Götter«, ebenso der Schüler, der ein meisterliches Werk schuf.
31.
Eitelkeit als Nachtrieb des ungesellschaftlichen Zustandes. – Da die Menschen ihrer Sicherheit wegen sich selber als gleich gesetzt haben, zur Gründung der Gemeinde, diese Auffassung aber im Grunde wider die Natur des Einzelnen geht und etwas Erzwungenes ist, so machen sich, je mehr die allgemeine Sicherheit gewährleistet ist, neue Schößlinge des alten Triebes nach Übergewicht geltend: in der Abgrenzung der Stände, in dem Anspruch auf Berufs-Würden und -Vorrechte, überhaupt in der Eitelkeit (Manieren, Tracht, Sprache u. s. w.). Sobald einmal die Gefahr des Gemeinwesens wieder fühlbar wird, drücken die Zahlreicheren, welche ihr Übergewicht nicht im Zustande der allgemeinen Ruhe durchsetzen konnten, wieder den Zustand der Gleichheit hervor: die absurden Sonderrechte und Eitelkeiten verschwinden auf einige Zeit. Stürzt aber das Gemeinwesen ganz zusammen, geräth Alles in Anarchie, so bricht sofort der Naturzustand, die unbekümmerte, rücksichtslose Ungleichheit hervor, wie dies auf Korkyra geschah, nach dem Berichte das Thukydides. Es giebt weder ein Naturrecht, noch ein Naturunrecht.
32.
Billigkeit. – Eine Fortbildung der Gerechtigkeit ist die Billigkeit, entstehend unter Solchen, welche nicht gegen die Gemeinde-Gleichheit verstoßen: es wird auf Fälle, wo das Gesetz Nichts vorschreibt, jene feinere Rücksicht des Gleichgewichts übertragen, welche vor- und rückwärts blickt und deren Maxime ist »wie du mir, so ich dir«. Aequum heißt eben »es ist gemäß unserer Gleichheit; diese mildert auch unsere kleinen Verschiedenheiten zu einem Anschein von Gleichheit herab und will, daß wir Manches uns nachsehen, was wir nicht müßten«.
33.
Elemente der Rache. – Das Wort »Rache« ist so schnell gesprochen: fast scheint es, als ob es gar nicht mehr enthalten könne, als Eine Begriffs- und Empfindungs-Wurzel. Und so bemüht man sich immer noch, dieselbe zu finden: wie unsere Nationalökonomen noch nicht müde geworden sind, im Worte »Werth« eine solche Einheit zu wittern und nach dem ursprünglichen Wurzel-Begriff des Werthes zu suchen. Als ob nicht alle Worte Taschen wären, in welche bald Dies, bald Jenes, bald Mehreres auf einmal gesteckt worden ist! So ist auch »Rache« bald Dies, bald Jenes, bald etwas mehr Zusammengesetztes. Man unterscheide einmal jenen abwehrenden Zurückschlag, den man fast unwillkürlich auch gegen leblose Gegenstände, die uns beschädigt haben, (wie gegen bewegte Maschinen) ausführt: der Sinn unserer Gegenbewegung ist, dem Beschädigen Einhalt zu thun, dadurch, daß wir die Maschine zum Stillstand bringen. Die Stärke des Gegenschlags muß mitunter, um dies zu erreichen, so stark sein, daß er die Maschine zertrümmert; wenn dieselbe aber zu stark ist, um vom Einzelnen sofort zerstört werden zu können, wird dieser doch immer noch den heftigsten Schlag ausführen, dessen er fähig ist, – gleichsam als einen letzten Versuch. So benimmt man sich auch gegen schädigende Personen bei der unmittelbaren Empfindung des Schadens selber; will man diesen Akt einen Rache-Akt nennen, so mag es sein; nur erwäge man, daß hier allein die Selbst-Erhaltung ihr Vernunft-Räderwerk in Bewegung gesetzt hat, und daß man im Grunde nicht an den Schädiger, sondern nur an sich dabei denkt: wir handeln so, ohne wieder schaden zu wollen, sondern nur um noch mit Leib und Leben davonzukommen. – Man braucht Zeit, wenn man von sich mit seinen Gedanken zum Gegner übergeht und sich fragt, auf welche Weise er am empfindlichsten zu treffen ist. Dies geschieht bei der zweiten Art von Rache: ein Nachdenken über die Verwundbarkeit und Leidensfähigkeit des Andern ist ihre Voraussetzung: man will wehethun. Dagegen sich selber gegen weiteren Schaden sichern liegt hier so wenig im Gesichtskreis des Rache-Nehmenden, daß er fast regelmäßig den weiteren eigenen Schaden zu Wege bringt und ihm sehr oft kaltblütig vorher entgegensieht. War es bei der ersten Art von Rache die Angst vor dem zweiten Schlage, welche den Gegenschlag so stark wie möglich machte: so ist hier fast völlige Gleichgültigkeit gegen Das, was der Gegner thun wird; die Stärke des Gegenschlags wird nur durch Das, was er uns gethan hat, bestimmt. Was hat er denn gethan? Und was nützt es uns, wenn er nun leidet, nachdem wir durch ihn gelitten haben? Es handelt sich um eine Wiederherstellung: während der Rache-Akt erster Art nur der Selbst-Erhaltung dient. Vielleicht verloren wir durch den Gegner Besitz, Rang, Freunde, Kinder – diese Verluste werden durch die Rache nicht zurückgekauft, die Wiederherstellung bezieht sich allein auf einen Nebenverlust bei allen den erwähnten Verlusten. Die Rache der Wiederherstellung bewahrt nicht vor weiterem Schaden, sie macht den erlittenen Schaden nicht wieder gut, – außer in Einem Falle. Wenn unsere Ehre durch den Gegner gelitten hat, so vermag die Rache sie wiederherzustellen. Sie hat aber in jedem Falle einen Schaden erlitten, wenn man uns absichtlich ein Leid zufügte: denn der Gegner bewies damit, daß er uns nicht fürchtete. Durch die Rache beweisen wir, daß wir auch ihn nicht fürchten: darin liegt die Ausgleichung, die Wiederherstellung. (Die Absicht, den völligen Mangel an Furcht zu zeigen, geht bei einigen Personen so weit, daß ihnen die Gefährlichkeit der Rache für sie selbst – Einbuße der Gesundheit oder des Lebens oder sonstige Verluste – als eine unerläßliche Bedingung jeder Rache gilt. Deshalb gehen sie den Weg des Duells, obschon die Gerichte ihnen den Arm bieten, um auch so Genugthuung für die Beleidigung zu erhalten: sie nehmen aber die gefahrlose Wiederherstellung ihrer Ehre nicht als genügend an, weil sie ihren Mangel an Furcht nicht beweisen kann.) – Bei der ersterwähnten Art der Rache ist es gerade die Furcht, die den Gegenschlag ausführt: hier dagegen ist es die Abwesenheit der Furcht, welche wie gesagt durch den Gegenschlag sich beweisen will. – Nichts scheint also verschiedener als die innere Motivirung der beiden Handlungsweisen, die mit Einem Wort »Rache« benannt werden: und trotzdem kommt es sehr häufig vor, daß der Rache-Übende in Unklarheit ist, was ihn eigentlich zur That bestimmt hat; vielleicht, daß er aus Furcht und um sich zu erhalten den Gegenschlag führte, hinterher aber, als er Zeit hatte, über den Gesichtspunkt der verletzten Ehre nachzudenken, selber sich einredet, seiner Ehre halber sich gerächt zu haben: – dieses Motiv ist ja jedenfalls vornehmer als das andere. Dabei ist noch wesentlich, ob er seine Ehre in den Augen der Anderen (der Welt) beschädigt sieht oder nur in den Augen des Beleidigers: im letzteren Falle wird er die geheime Rache vorziehen, im ersteren aber die öffentliche. Je nachdem er sich stark oder schwach in die Seele des Thäters und der Zuschauer hineindenkt, wird seine Rache erbitterter oder zahmer sein; fehlt ihm diese Art Phantasie ganz, so wird er gar nicht an Rache denken, denn das Gefühl der »Ehre« ist dann bei ihm nicht vorhanden, also auch nicht zu verletzen. Ebenso wird er nicht an Rache denken, wenn er den Thäter und die Zuschauer der That verachtet: weil sie ihm keine Ehre geben können, als Verachtete, und demnach auch keine Ehre nehmen können. Endlich wird er auf Rache in dem nicht ungewöhnlichen Falle verzichten, daß er den Thäter liebt: freilich büßt er so in dessen Augen an Ehre ein und wird vielleicht der Gegenliebe dadurch weniger würdig. Aber auch auf alle Gegenliebe Verzicht leisten ist ein Opfer, welches die Liebe zu bringen bereit ist, wenn sie dem geliebten Wesen nur nicht wehethun muß: dies hieße sich selber mehr wehethun, als jenes Opfer wehethut. – Also: Jedermann wird sich rächen, er sei denn ehrlos oder voll Verachtung oder voll Liebe gegen den Schädiger und Beleidiger. Auch wenn er sich an die Gerichte wendet, so will er die Rache als private Person: nebenbei aber noch, als weiterdenkender, vorsorglicher Mensch der Gesellschaft, die Rache der Gesellschaft an Einem, der sie nicht ehrt. So wird durch die gerichtliche Strafe sowohl die Privatehre als auch die Gesellschaftsehre wiederhergestellt: das heißt – Strafe ist Rache. – Es giebt in ihr unzweifelhaft auch noch jenes andere zuerst beschriebene Element der Rache, insofern durch sie die Gesellschaft ihrer Selbst-Erhaltung dient und der Nothwehr halber einen Gegenschlag führt. Die Strafe will das weitere Schädigen verhüten, sie will abschrecken. Auf die Weise sind wirklich in der Strafe beide so verschiedene Elemente der Rache verknüpft, und dies mag vielleicht am meisten dahin wirken, jene erwähnte Begriffsverwirrung zu unterhalten, vermöge deren der Einzelne, der sich rächt, gewöhnlich nicht weiß, was er eigentlich will.
34.
Die Tugenden der Einbuße. – Als Mitglieder von Gesellschaften glauben wir gewisse Tugenden nicht ausüben zu dürfen, die uns als Privaten die größte Ehre und einiges Vergnügen machen, zum Beispiel Gnade und Nachsicht gegen Verfehlende aller Art – überhaupt jede Handlungsweise, bei welcher der Vortheil der Gesellschaft durch unsere Tugend leiden würde. Kein Richter-Collegium darf sich vor seinem Gewissen erlauben, gnädig zu sein: dem König als einem Einzelnen hat man dies Vorrecht aufbehalten; man freut sich, wenn er Gebrauch davon macht, zum Beweise, daß man gern gnädig sein mochte, aber durchaus nicht als Gesellschaft. Diese erkennt somit nur die ihr vortheilhaften oder mindestens unschädlichen Tugenden an (die ohne Einbuße oder gar mit Zinsen geübt werden, zum Beispiel Gerechtigkeit). Jene Tugenden der Einbuße können demnach in der Gesellschaft nicht entstanden sein, da noch jetzt, innerhalb jeder kleinsten sich bildenden Gesellschaft der Widerspruch gegen sie sich erhebt. Es sind also Tugenden unter Nicht-Gleichgestellten, erfunden von dem Überlegenen, Einzelnen, es sind Herrscher-Tugenden, mit dem Hintergedanken: »ich bin mächtig genug, um mir eine ersichtliche Einbuße gefallen zu lassen, dies ist ein Beweis meiner Macht« – also mit Stolz verwandte Tugenden.
35.
Casuistik des Vortheils. – Es gäbe keine Casuistik der Moral, wenn es keine Casuistik des Vortheils gäbe. Der freieste und feinste Verstand reicht oft nicht aus, zwischen zwei Dingen so zu wählen, daß der größere Vortheil nothwendig bei seiner Wahl ist. In solchen Fällen wählt man, weil man wählen muß, und hat hinterdrein eine Art Seekrankheit der Empfindung.
36.
Zum Heuchler werden. – Jeder Bettler wird zum Heuchler; wie Jeder, der aus einem Mangel, aus einem Nothstand (sei dies ein persönlicher oder ein öffentlicher) seinen Beruf macht. – Der Bettler empfindet den Mangel lange nicht so, als er ihn empfinden machen muß, wenn er vom Betteln leben will.
37.
Eine Art Cultus der Leidenschaften. – Ihr Düsterlinge und philosophischen Blindschleichen redet, um den Charakter des ganzen Weltwesens anzuklagen, von dem furchtbaren Charakter der menschlichen Leidenschaften. Als ob überall, wo es Leidenschaft gegeben hat, es auch Furchtbarkeit gegeben hätte! Als ob es immerfort in der Welt diese Art von Furchtbarkeit geben müßte! – Durch eine Vernachlässigung im Kleinen, durch Mangel an Selbst-Beobachtung und Beobachtung Derer, welche erzogen werden sollen, habt ihr selber erst die Leidenschaften zu solchen Unthieren anwachsen lassen, daß euch jetzt schon beim Worte »Leidenschaft« Furcht befällt! Es stand bei euch und steht bei uns, den Leidenschaften ihren furchtbaren Charakter zu nehmen und dermaßen vorzubeugen, daß sie nicht zu verheerenden Wildwassern werden. – Man soll seine Versehen nicht zu ewigen Fatalitäten aufblasen; vielmehr wollen wir redlich mit an der Aufgabe arbeiten, die Leidenschaften der Menschheit allesammt in Freudenschaften umzuwandeln.
38.
Gewissensbiß. – Der Gewissensbiß ist, wie der Biß des Hundes gegen einen Stein, eine Dummheit.
39.
Ursprung der Rechte. – Die Rechte gehen zunächst auf Herkommen zurück, das Herkommen auf ein einmaliges Abkommen. Man war irgendwann einmal beiderseitig mit den Folgen des getroffenen Abkommens zufrieden und wiederum zu träge, um es förmlich zu erneuern; so lebte man fort, wie wenn es immer erneuert worden wäre, und allmählich, als die Vergessenheit ihre Nebel über den Ursprung breitete, glaubte man einen heiligen, unverrückbaren Zustand zu haben, auf dem jedes Geschlecht weiterbauen müsse. Das Herkommen war jetzt Zwang, auch wenn es den Nutzen nicht mehr brachte, dessentwegen man ursprünglich das Abkommen gemacht hatte. – Die Schwachen haben hier ihre feste Burg zu allen Zeiten gefunden: sie neigen dahin, das einmalige Abkommen, die Gnadenerweisung zu verewigen.
40.
Die Bedeutung des Vergessens in der moralischen Empfindung.– Dieselben Handlungen, welche innerhalb der ursprünglichen Gesellschaft zuerst die Absicht auf gemeinsamen Nutzen eingab, sind später von anderen Generationen auf andere Motive hin gethan worden: aus Furcht oder Ehrfurcht vor Denen, die sie forderten und anempfahlen, oder aus Gewohnheit, weil man sie von Kindheit an um sich hatte thun sehen, oder aus Wohlwollen, weil ihre Ausübung überall Freude und zustimmende Gesichter schuf, oder aus Eitelkeit, weil sie gelobt wurden. Solche Handlungen, an denen das Grundmotiv, das der Nützlichkeit, vergessen worden ist, heißen dann moralische: nicht etwa weil sie aus jenen anderen Motiven, sondern weil sie nicht aus bewußter Nützlichkeit gethan werden. – Woher dieser Haß gegen den Nutzen, der hier sichtbar wird, wo sich alles lobenswerthe Handeln gegen das Handeln um des Nutzens willen förmlich abschließt? – Offenbar hat die Gesellschaft, der Herd aller Moral und aller Lobsprüche des moralischen Handelns, allzu lange und allzu hart mit dem Eigen-Nutzen und Eigen-Sinne des Einzelnen zu kämpfen gehabt, um nicht zuletzt jedes andere Motiv sittlich höher zu taxiren als den Nutzen. So entsteht der Anschein, als ob die Moral nicht aus dem Nutzen herausgewachsen sei; während sie ursprünglich der Gesellschafts-Nutzen ist, der große Mühe hatte, sich gegen alle die Privat-Nützlichkeiten durchzusetzen und in höheres Ansehen zu bringen.
41.
Die Erbreichen der Moralität. – Es giebt auch im Moralischen einen Erb-Reichthum: ihn besitzen die Sanften, Gutmüthigen, Mitleidigen, Mildthätigen. welche Alle die gute Handlungsweise, aber nicht die Vernunft (die Quelle derselben) von ihren Vorfahren her mitbekommen haben. Das Angenehme an diesem Reichthum ist, daß man von ihm fortwährend darreichen und mittheilen muß, wenn er überhaupt empfunden werden soll, und daß er so unwillkürlich daran arbeitet, die Abstände zwischen moralisch-reich und -arm geringer zu machen: und zwar, was das Merkwürdigste und Beste ist, nicht zu Gunsten eines dereinstigen Mittelmaßes zwischen Arm und Reich, sondern zu Gunsten eines allgemeinen Reich- und Überreich-werdens. – So wie hier geschehen ist, läßt sich etwa die herrschende Ansicht über den moralischen Erbreichthum zusammenfassen: aber es scheint mir, daß dieselbe mehr in majorem gloriam der Moralität, als zu Ehren der Wahrheit aufrechterhalten wird. Die Erfahrung mindestens stellt einen Satz auf, welcher, wenn nicht als Widerlegung, jedenfalls als bedeutende Einschränkung jener Allgemeinheit zu gelten hat. Ohne den erlesensten Verstand, so sagt die Erfahrung, ohne die Fähigkeit der feinsten Wahl und einen starken Hang zum Maaßhalten werden die Moralisch-Erbreichen zu Verschwendern der Moralität: indem sie haltlos sich ihren mitleidigen, mildthätigen, versöhnenden, beschwichtigenden Trieben überlassen, machen sie alle Welt um sich nachlässiger, begehrlicher und sentimentaler. Die Kinder solcher höchst moralischen Verschwender sind daher leicht – und, wie leider zu sagen ist, bestenfalls – angenehme schwächliche Taugenichtse.
42.
Der Richter und die Milderungsgründe. – »Man soll auch gegen den Teufel honnett sein und seine Schulden bezahlen«, sagte ein alter Soldat, als man ihm die Geschichte Faustens etwas genauer erzählt hatte, »Faust gehört in die Hölle!« – »Oh ihr schrecklichen Männer!« rief seine Gattin aus, »wie ist das nur möglich! Er hat ja Nichts gethan als keine Tinte im Tintenfaß gehabt! Mit Blut schreiben ist freilich eine Sünde, aber deshalb soll ein so schöner Mann doch nicht brennen?«
43.
Problem der Pflicht zur Wahrheit. – Pflicht ist ein zwingendes, zur That drängendes Gefühl, das wir gut nennen und für indiskutirbar halten (– über Ursprung, Grenze und Berechtigung desselben wollen wir nicht reden und nicht geredet haben). Der Denker hält aber Alles für geworden und alles Gewordene für diskutirbar, ist also der Mann ohne Pflicht, – so lange er eben nur Denker ist. Als solcher würde er also auch die Pflicht, die Wahrheit zu sehen und zu sagen, nicht anerkennen und dies Gefühl nicht fühlen; er fragt: woher kommt sie? wohin will sie? aber dies Fragen selber wird von ihm als fragwürdig angesehen. Hätte dies aber nicht zur Folge, daß die Maschine des Denkers nicht mehr recht arbeitet, wenn er sich beim Akte des Erkennens wirklich unverpflichtet fühlen könnte? Insofern scheint hier zur Heizung das selbe Element nöthig zu sein, das vermittelst der Maschine untersucht werden soll. – Die Formel würde vielleicht sein: angenommen es gäbe eine Pflicht, die Wahrheit zu erkennen, wie lautet die Wahrheit dann in Bezug auf jede andere Art von Pflicht? – Aber ist ein hypothetisches Pflichtgefühl nicht ein Widersinn?
44.
Stufen der Moral. – Moral ist zunächst ein Mittel, die Gemeinde überhaupt zu erhalten und den Untergang von ihr abzuwehren; sodann ist sie ein Mittel, die Gemeinde auf einer gewissen Höhe und in einer gewissen Güte zu erhalten. Ihre Motive sind Furcht und Hoffnung: und zwar um so derbere, mächtigere, gröbere, als der Hang zum Verkehrten, Einseitigen, Persönlichen noch sehr stark ist. Die entsetzlichsten Angstmittel müssen hier Dienste thun, solange noch keine milderen wirken wollen und jene doppelte Art der Erhaltung sich nicht anders erreichen läßt (zu ihren allerstärksten gehört die Erfindung eines Jenseits mit einer ewigen Hölle). Weitere Stufen der Moral und also Mittel zum bezeichneten Zwecke sind die Befehle eines Gottes (wie das mosaische Gesetz); noch weitere und höhere die Befehle eines absoluten Pflichtbegriffs mit dem »du sollst«, – Alles noch ziemlich grob zugehauene, aber breite Stufen, weil die Menschen auf die feineren, schmäleren ihren Fuß noch nicht zu setzen wissen. Dann kommt eine Moral der Neigung, des Geschmacks, endlich die der Einsicht – welche über alle illusionären Motive der Moral hinaus ist, aber sich klar gemacht hat, wie die Menschheit lange Zeiten hindurch leine anderen haben durfte.
45.
Moral des Mitleidens im Munde der Unmäßigen. – Alle Die, welche sich selber nicht genug in der Gewalt haben und die Moralität nicht als fortwährende im Großen und Kleinsten geübte Selbstbeherrschung und Selbstüberwindung kennen, werden unwillkürlich zu Verherrlichern der guten, mitleidigen, wohlwollenden Regungen, jener instinktiven Moralität, welche keinen Kopf hat, sondern nur aus Herz und hülfreichen Händen zu bestehen scheint. Ja es ist in ihrem Interesse, eine Moralität der Vernunft zu verdächtigen und jene andere zur alleinigen zu machen.
46.
Cloaken der Seele. – Auch die Seele muß ihre bestimmten Cloaken haben, wohin sie ihren Unrath abfließen läßt: dazu dienen Personen, Verhältnisse, Stände oder das Vaterland oder die Welt oder endlich – für die ganz Hoffährtigen (ich meine unsere lieben modernen »Pessimisten«) – der liebe Gott.
47.
Eine Art von Ruhe und Beschaulichkeit. – Hüte dich, daß deine Ruhe und Beschaulichkeit nicht der des Hundes vor einem Fleischerladen gleicht, den die Furcht nicht vorwärts und die Begierde nicht rückwärts gehen läßt: und der die Augen aufsperrt, als ob sie Münder wären.
48.
Das Verbot ohne Gründe. – Ein Verbot, dessen Gründe wir nicht verstehen oder zugeben, ist nicht nur für den Trotzkopf, sondern auch für den Erkenntnißdurstigen fast ein Geheiß: man läßt es auf den Versuch ankommen, um so zu erfahren, weshalb das Verbot gegeben ist. Moralische Verbote, wie die des Dekalogs, passen nur für Zeitalter der unterworfenen Vernunft: jetzt würde ein Verbot »du sollst nicht tödten« »du sollst nicht ehebrechen«, ohne Gründe hingestellt, eher eine schädliche als eine nützliche Wirkung haben.
49.
Charakterbild. – Was ist das für ein Mensch, der von sich sagen kann: »ich verachte sehr leicht, aber hasse nie. An jedem Menschen finde ich sofort Etwas heraus, das zu ehren ist und dessentwegen ich ihn ehre: die sogenannten liebenswürdigen Eigenschaften ziehen mich wenig an«.
50.
Mitleiden und Verachtung. – Mitleiden äußern wird als ein Zeichen der Verachtung empfunden, weil man ersichtlich aufgehört hat, ein Gegenstand der Furcht zu sein, sobald Einem Mitleiden erwiesen wird. Man ist unter das Niveau des Gleichgewichts hinabgesunken, während schon jenes der menschlichen Eitelkeit nicht genugthut, sondern erst das Hervorragen und Furchteinflößen der Seele das erwünschteste aller Gefühle giebt. Deshalb ist es ein Problem, wie die Schätzung des Mitleids aufgekommen ist, ebenso wie erklärt werden muß, warum jetzt der Uneigennützige gelobt wird: ursprünglich wird er verachtet oder als tückisch gefürchtet.
51.
Klein sein können. – Man muß den Blumen, Gräsern und Schmetterlingen auch noch so nah sein wie ein Kind, das nicht viel über sie hinweg reicht. Wir Älteren dagegen sind über sie hinausgewachsen und müssen uns zu ihnen herablassen; ich meine, die Gräser hassen uns, wenn wir unsere Liebe für sie bekennen. – Wer an allem Guten Theil haben will, muß auch zu Stunden klein zu sein verstehen.
52.
Inhalt des Gewissens. – Der Inhalt unseres Gewissens ist Alles, was in den Jahren der Kindheit von uns ohne Grund regelmäßig gefordert wurde, durch Personen, die wir verehrten oder fürchteten. Vom Gewissen aus wird also jenes Gefühl des Müssens erregt (»dieses muß ich thun, dieses lassen«), welches nicht fragt: warum muß ich? – In allen Fällen, wo eine Sache mit »weil« und »warum« gethan wird, handelt der Mensch ohne Gewissen; deshalb aber noch nicht wider dasselbe. – Der Glaube an Autoritäten ist die Quelle des Gewissens: es ist also nicht die Stimme Gottes in der Brust des Menschen, sondern die Stimme einiger Menschen im Menschen.
53.
Überwindung der Leidenschaften. – Der Mensch, der seine Leidenschaften überwunden hat, ist in den Besitz des fruchtbarsten Erdreiches getreten; wie der Colonist, der über die Wälder und Sümpfe Herr geworden ist. Auf dem Boden der bezwungenen Leidenschaften den Samen der guten geistigen Weile säen, ist dann die dringende nächste Aufgabe. Die Überwindung selber ist nur ein Mittel, kein Ziel; wenn sie nicht so angesehen wird, so wächst schnell allerlei Unkraut und Teufelszeug auf dem leer gewordenen fetten Boden auf, und bald geht es auf ihm voller und toller zu als je vorher.
54.
Geschick zum Dienen. – Alle sogenannten praktischen Menschen haben ein Geschick zum Dienen: das eben macht sie praktisch, sei es für Andere oder für sich selber. Robinson besaß noch einen besseren Diener, als Freitag war: das war Crusoe.
55.
Gefahr der Sprache für die geistige Freiheit. – Jedes Wort ist ein Vorurtheil.
56.
Geist und Langeweile. – Das Sprüchwort: »Der Magyar ist viel zu faul, um sich zu langweilen« giebt zu denken. Die feinsten und thätigsten Thiere erst sind der Langenweile fähig. – Ein Vorwurf für einen großen Dichter wäre die Langeweile Gottes am siebenten Tage der Schöpfung.
57.
Im Verkehr mit den Thieren. – Man kann das Entstehen der Moral in unserem Verhalten gegen die Thiere noch beobachten. Wo Nutzen und Schaden nicht in Betracht kommen, haben wir ein Gefühl der völligen Unverantwortlichkeit; wir tödten und verwunden zum Beispiel Insekten oder lassen sie leben und denken für gewöhnlich gar Nichts dabei. Wir sind so plump, daß schon unsere Artigkeiten gegen Blumen und kleine Thiere fast immer mörderisch sind: was unser Vergnügen an ihnen gar nicht beeinträchtigt. – Es ist heute das Fest der kleinen Thiere, der schwülste Tag des Jahres: es wimmelt und krabbelt um uns, und wir zerdrücken, ohne es zu wollen, aber auch ohne Acht zu geben, bald hier bald dort ein Würmchen und gefiedertes Käferchen. – Bringen die Thiere uns Schaden, so erstreben wir auf jede Weise ihre Vernichtung, die Mittel sind oft grausam genug, ohne daß wir dies eigentlich wollen: es ist die Grausamkeit der Gedankenlosigkeit. Nützen sie, so beuten wir sie aus: bis eine feinere Klugheit uns lehrt, daß gewisse Thiere für eine andere Behandlung, nämlich für die der Pflege und Zucht, reichlich lohnen. Da erst entsteht Verantwortlichkeit. Gegen das Hausthier wird die Quälerei gemieden; der eine Mensch empört sich, wenn ein Anderer unbarmherzig gegen seine Kuh ist, ganz in Gemäßheit der primitiven Gemeinde-Moral, welche den gemeinsamen Nutzen in Gefahr sieht, so oft ein Einzelner sich vergeht. Wer in der Gemeinde ein Vergehen wahrnimmt, fürchtet den indirekten Schaden für sich: und wir fürchten für die Güte des Fleisches, des Landbaues und der Verkehrsmittel, wenn wir die Hausthiere nicht gut behandelt sehen. Zudem erweckt Der, welcher roh gegen Thiere ist, den Argwohn, auch roh gegen schwache, ungleiche, der Rache unfähige Menschen zu sein; er gilt als unedel, des feineren Stolzes ermangelnd. So entsteht ein Ansatz von moralischem Urtheilen und Empfinden: das Beste thut nun der Aberglaube hinzu. Manche Thiere reizen durch Blicke, Töne und Gebärden den Menschen an, sich in sie hineinzudichten, und manche Religionen lehren im Thiere unter Umständen den Wohnsitz von Menschen- und Götterseelen sehen: weshalb sie überhaupt edlere Vorsicht, ja ehrfürchtige Scheu im Umgange mit den Thieren anempfehlen. Auch nach dem Verschwinden dieses Aberglaubens wirken die von ihm erweckten Empfindungen fort und reifen und blühen aus. – Das Christenthum hat sich bekanntlich in diesem Punkte als arme und zurückbildende Religion bewährt.
58.
Neue Schauspieler. – Es giebt unter den Menschen keine größere Banalität als den Tod; zuzweit im Range steht die Geburt, weil nicht Alle geboren werden, welche doch sterben; dann folgt die Heirat. Aber diese kleinen abgespielten Tragikomödien werden bei jeder ihrer ungezählten und unzählbaren Aufführungen immer wieder von neuen Schauspielern dargestellt und hören deshalb nicht auf, interessirte Zuschauer zu haben: während man glauben sollte, daß die gesammte Zuschauerschaft des Erdentheaters sich längst aus Überdruß daran an allen Bäumen aufgehängt hätte. So viel liegt an neuen Schauspielern, so wenig am Stück.
59.
Was ist »obstinat«? – Der kürzeste Weg ist nicht der möglichst gerade, sondern der, bei welchem die günstigsten Winde unsere Segel schwellen: so sagt die Lehre der Schifffahrer. Ihr nicht zu folgen, das heißt obstinat sein: die Festigkeit des Charakters ist da durch Dummheit verunreinigt.
60.
Das Wort »Eitelkeit«. – Es ist lästig, daß einzelne Worte, deren wir Moralisten schlechterdings nicht entrathen können, schon eine Art Sittencensur in sich tragen, aus jenen Zeiten her, in denen die nächsten und natürlichsten Regungen des Menschen verketzert wurden. So wird jene Grundüberzeugung, daß wir auf den Wellen der Gesellschaft viel mehr durch Das, was wir gelten, als durch Das, was wir sind, gutes Fahrwasser haben oder Schiffbruch leiden – eine Überzeugung, die für alles Handeln in Bezug auf die Gesellschaft das Steuerruder sein muß – mit dem allgemeinsten Worte »Eitelkeit«, » vanitas« gebrandmarkt: eines der vollsten und inhaltreichsten Dinge mit einem Ausdruck, welcher dasselbe als das eigentlich Leere und Nichtige bezeichnet, etwas Großes mit einem Diminutivum, ja mit den Federstrichen der Caricatur. Es hilft Nichts, wir müssen solche Worte gebrauchen, aber dabei unser Ohr den Einflüsterungen alter Gewohnheit verschließen.
61.
Türkenfatalismus. – Der Türkenfatalismus hat den Grundfehler, daß er den Menschen und das Fatum als zwei geschiedene Dinge einander gegenüberstellt: der Mensch, sagt er, könne dem Fatum widerstreben, es zu vereiteln suchen, aber schließlich behalte es immer den Sieg, weshalb das Vernünftigste sei, zu resigniren oder nach Belieben zu leben. In Wahrheit ist jeder Mensch selber ein Stück Fatum; wenn er in der angegebenen Weise dem Fatum zu widerstreben meint, so vollzieht sich eben darin auch das Fatum; der Kampf ist eine Einbildung, aber ebenso jene Resignation in das Fatum; alle diese Einbildungen sind im Fatum eingeschlossen. – Die Angst, welche die Meisten vor der Lehre der Unfreiheit des Willens haben, ist die Angst vor dem Türkenfatalismus: sie meinen, der Mensch werde schwächlich resignirt und mit gefalteten Händen vor der Zukunft stehen, weil er an ihr Nichts zu ändern vermöge: oder aber, er werde seiner vollen Launenhaftigkeit die Zügel schießen lassen, weil auch durch diese das einmal Bestimmte nicht schlimmer werden könne. Die Thorheiten des Menschen sind ebenso ein Stück Fatum wie seine Klugheiten: auch jene Angst vor dem Glauben an das Fatum ist Fatum. Du selber, armer Ängstlicher, bist die unbezwingliche Moira, welche noch über den Göttern thront, für Alles, was da kommt; du bist Segen oder Fluch und jedenfalls die Fessel, in welcher der Stärkste gebunden liegt; in dir ist alle Zukunft der Menschen-Welt vorherbestimmt, es hilft dir Nichts, wenn dir vor dir selber graut.
62.
Advokat des Teufels. – »Nur durch eigenen Schaden wird man klug, nur durch fremden Schaden wird man gut« – so lautet jene seltsame Philosophie, welche alle Moralität aus dem Mitleiden und alle Intellektualität aus der Isolation des Menschen ableitet: damit ist sie unbewußt die Sachwalterin aller irdischen Schadhaftigkeit. Denn das Mitleiden hat das Leiden nöthig, und die Isolation die Verachtung der Anderen.
63.
Die moralischen Charaktermasken. – In den Zeiten, da die Charaktermasken der Stände für endgültig fest, gleich den Ständen selber gelten, werden die Moralisten verführt sein, auch die moralischen Charaktermasken für absolut zu halten und sie so zu zeichnen. So ist Molière als Zeitgenosse der Gesellschaft Ludwig's XIV. verständlich; in unserer Gesellschaft der Übergänge und Mittelstufen würde er als ein genialer Pedant erscheinen.
64.
Die vornehmste Tugend. – In der ersten Aera des höheren Menschenthums gilt die Tapferkeit als die vornehmste der Tugenden, in der zweiten die Gerechtigkeit, in der dritten die Mäßigung, in der vierten die Weisheit. In welcher Aera leben wir? In welcher lebst du?
65.
Was vorher nöthig ist. – Ein Mensch, der über seinen Jähzorn, seine Gall- und Rachsucht, seine Wollust nicht Meister werden will und es versucht, irgendworin sonst Meister zu werden, ist so dumm wie der Ackermann, der neben einem Wildbach seine Äcker anlegt, ohne sich gegen ihn zu schützen.
66.
Was ist Wahrheit? – Schwarzert (Melanchthon): »Man predigt oft seinen Glauben, wenn man ihn gerade verloren hat und auf allen Gassen sucht, – und man predigt ihn dann nicht am schlechtesten!« – Luther: Du redest heut' wahr wie ein Engel, Bruder! – Schwarzert: »Aber es ist der Gedanke deiner Feinde, und sie machen auf dich die Nutzanwendung.« – Luther: So war's eine Lüge aus des Teufels Hinterm.
67.
Gewohnheit der Gegensätze. – Die allgemeine ungenaue Beobachtung sieht in der Natur überall Gegensätze (wie z. B. »warm und kalt«), wo keine Gegensätze, sondern nur Gradverschiedenheiten sind. Diese schlechte Gewohnheit hat uns verleitet, nun auch noch die innere Natur, die geistig-sittliche Welt, nach solchen Gegensätzen verstehen und zerlegen zu wollen. Unsäglich viel Schmerzhaftigkeit, Anmaßung, Härte, Entfremdung, Erkältung ist so in die menschliche Empfindung hineingekommen, dadurch, daß man Gegensätze an Stelle der Übergänge zu sehen meinte.
68.
Ob man vergeben könne? – Wie kann man ihnen überhaupt vergeben, wenn sie nicht wissen, was sie thun! Man hat gar Nichts zu vergeben. – Aber weiß ein Mensch jemals völlig, was er thut? Und wenn dies immer mindestens fraglich bleibt, so haben also die Menschen einander nie Etwas zu vergeben, und Gnade-üben ist für den Vernünftigsten ein unmögliches Ding. Zu allerletzt: wenn die Übelthäter wirklich gewußt hätten, was sie thaten – so würden wir doch nur dann ein Recht zur Vergebung haben, wenn wir ein Recht zur Beschuldigung und zur Strafe hätten. Dies aber haben wir nicht.
69.
Habituelle Scham. – Warum empfinden wir Scham, wenn uns etwas Gutes und Auszeichnendes erwiesen wird, das wir, wie man sagt, »nicht verdient haben«? Es scheint uns dabei, daß wir uns in ein Gebiet eingedrängt haben, wo wir nicht hingehören, wo wir ausgeschlossen sein sollten, gleichsam in ein Heiliges oder Allerheiligstes, welches für unsern Fuß unbetretbar ist. Durch den Irrthum Anderer sind wir doch hineingelangt: und nun überwältigt uns theils Furcht, theils Ehrfurcht, theils Überraschung, wir wissen nicht, ob wir fliehen, ob wir des gesegneten Augenblickes und seiner Gnaden-Vortheile genießen sollen. Bei aller Scham ist ein Mysterium, welches durch uns entweiht oder in der Gefahr der Entweihung zu sein scheint; alle Gnade erzeugt Scham. – Erwägt man aber, daß wir überhaupt niemals Etwas »verdient haben«, so wird, im Fall man dieser Ansicht innerhalb einer christlichen Gesammt-Betrachtung der Dinge sich hingiebt, das Gefühl der Scham habituell: weil einem Solchen Gott fortwährend zu segnen und Gnade zu üben scheint. Abgesehen von dieser christlichen Auslegung wäre aber auch für den völlig gottlosen Weisen, der an der gründlichen Unverantwortlichkeit und Unverdienstlichkeit alles Wirkens und Wesens festhält, jener Zustand der habituellen Scham möglich: wenn man ihn behandelt, als ob er dies und jenes verdient habe, so scheint er sich in eine höhere Ordnung von Wesen eingedrängt zu haben, welche überhaupt Etwas verdienen, welche frei sind und ihres eigenen Wollens und Könnens Verantwortung wirklich zu tragen vermögen. Wer zu ihm sagt »du hast es verdient«, scheint ihm zuzurufen »du bist kein Mensch, sondern ein Gott«.
70.
Der ungeschickteste Erzieher. – Bei Diesem sind auf dem Boden seines Widerspruchsgeistes alle seine wirklichen Tugenden angepflanzt, bei Jenem auf feiner Unfähigkeit, Nein zu sagen, also auf seinem Zustimmungsgeiste: ein Dritter hat alle seine Moralität aus seinem einsamen Stolze, ein Vierter die seine aus seinem starken Geselligkeitstriebe aufwachsen lassen. Gesetzt nun, durch ungeschickte Erzieher und Zufälle wären bei diesen Vieren die Samenkörner der Tugenden nicht auf den Boden ihrer Natur ausgesäet worden, welcher bei ihnen die meiste und fetteste Erdkrume hat: so wären sie ohne Moralität und schwache unerfreuliche Menschen. Und wer würde gerade der ungeschickteste aller Erzieher und das böse Verhängnis dieser vier Menschen gewesen sein? Der moralische Fanatiker, welcher meint, daß das Gute nur aus dem Guten, auf dem Guten wachsen könne.
71.
Schreibart der Vorsicht. – A: Aber, wenn Alle dies wüßten, so würde es den Meisten schädlich sein. Du selber nennst diese Meinungen gefährlich für die Gefährdeten, und doch theilst du sie öffentlich mit? B: Ich schreibe so, daß weder der Pöbel, noch die populi, noch die Parteien aller Art mich lesen mögen. Folglich werden diese Meinungen nie öffentliche sein. A: Aber wie schreibst du denn? B: Weder nützlich noch angenehm – für die genannten Drei.
72.
Göttliche Missionäre. – Auch Sokrates fühlt sich als göttlicher Missionär: aber ich weiß nicht, was für ein Anflug von attischer Ironie und Lust am Spaßen auch selbst hierbei noch zu spüren ist, wodurch jener fatale und anmaßende Begriff gemildert wird. Er redet ohne Salbung davon: seine Bilder, von der Bremse und dem Pferd, sind schlicht und unpriesterlich, und die eigentlich religiöse Aufgabe, wie er sie sich gestellt fühlt, den Gott auf hunderterlei Weise auf die Probe zu stellen, ob er die Wahrheit geredet habe, läßt auf eine kühne und freimüthige Gebärde schließen, mit der hier der Missionär seinem Gotte an die Seite tritt. Jenes Auf-die-Probe-Stellen des Gottes ist einer der feinsten Compromisse zwischen Frömmigkeit und Freiheit des Geistes, welche je erdacht worden sind. – Jetzt haben wir auch diesen Compromiß nicht mehr nöthig.
73.
Ehrliches Malerthum. – Raffael, dem viel an der Kirche (sofern sie zahlungsfähig war), aber wenig, gleich den Besten seiner Zeit, an den Gegenständen des kirchlichen Glaubens gelegen war, ist der anspruchsvollen ekstatischen Frömmigkeit mancher seiner Besteller nicht einen Schritt weit nachgegangen: er hat seine Ehrlichkeit bewahrt, selbst in jenem Ausnahme-Bild, das ursprünglich für eine Prozessions-Fahne bestimmt war, in der Sixtinischen Madonna. Hier wollte er einmal eine Vision malen: aber eine solche, wie sie edle junge Männer ohne »Glauben« auch haben dürfen und haben werden, die Vision der zukünftigen Gattin, eines klugen, seelisch-vornehmen, schweigsamen und sehr schönen Weibes, das ihren Erstgeborenen im Arme trägt. Mögen die Alten, die an das Beten und Anbeten gewöhnt sind, hier, gleich dem ehrwürdigen Greise zur Linken, etwas Übermenschliches verehren: wir Jüngeren wollen es, so scheint Raffael uns zuzurufen, mit dem schönen Mädchen zur Rechten halten, welche mit ihrem auffordernden, durchaus nicht devoten Blicke den Betrachtern des Bildes sagt: »Nicht wahr? Diese Mutter und ihr Kind – das ist ein angenehmer einladender Anblick?« Dies Gesicht und dieser Blick strahlt von der Freude in den Gesichtern der Betrachter wieder; der Künstler, der dies Alles erfand, genießt sich auf diese Weise selber und giebt seine eigene Freude zur Freude der Kunst-Empfangenden hinzu. – In Betreff des »heilandhaften« Ausdrucks im Kopfe eines Kindes hat Raffael, der Ehrliche, der keinen Seelenzustand malen wollte, an dessen Existenz er nicht glaubte, seine gläubigen Betrachter auf eine artige Weise überlistet; er malte jenes Naturspiel, das nicht selten vorkommt, das Männerauge im Kindskopfe, und zwar das Auge des wackeren, hülfereichen Mannes, der einen Nothstand sieht. Zu diesem Auge gehört ein Bart; daß dieser fehlt und daß zwei verschiedene Lebensalter hier aus Einem Gesichte sprechen, dies ist die angenehme Paradoxie, welche die Gläubigen sich im Sinne ihres Wunderglaubens gedeutet haben: so wie es der Künstler von ihrer Kunst des Deutens und Hineinlegens auch erwarten durfte.
74.
Das Gebet. – Nur unter zwei Voraussetzungen hatte alles Beten – jene noch nicht völlig erloschene Sitte älterer Zeiten – einen Sinn: es müßte möglich sein, die Gottheit zu bestimmen oder umzustimmen, und der Betende müßte selber am Besten wissen, was ihm noth thue, was für ihn wahrhaft wünschenswerth sei. Beide Voraussetzungen, in allen anderen Religionen angenommen und hergebracht, wurden aber gerade vom Christenthum geleugnet; wenn es trotzdem das Gebet beibehielt, bei seinem Glauben an eine allweise und allvorsorgliche Vernunft in Gott, durch welche eben dies Gebet im Grunde sinnlos, ja gotteslästerlich wird, – so zeigte es auch darin wieder seine bewunderungswürdige Schlangen-Klugheit; denn ein klares Gebot »du sollst nicht beten« hätte die Christen durch die Langeweile zum Unchristenthum geführt. Im christlichen ora et labora vertritt nämlich das ora die Stelle des Vergnügens: und was hätten ohne das ora jene Unglücklichen beginnen sollen, die sich das labora versagten, die Heiligen! – aber mit Gott sich unterhalten, ihm allerlei angenehme Dinge abverlangen, sich selber ein Wenig darüber lustig machen, wie man so thöricht sein könne, noch Wünsche zu haben, trotz einem so vortrefflichen Vater, – das war für Heilige eine sehr gute Erfindung.
75.
Eine heilige Lüge. – Die Lüge, mit der auf den Lippen Arria starb ( Paete, non dolet), verdunkelt alle Wahrheiten, die je von Sterbenden gesprochen wurden. Es ist die einzige heilige Lüge, die berühmt geworden ist; während der Geruch der Heiligkeit sonst nur an Irrthümern haften blieb.
76.
Der nöthigste Apostel. – Unter zwölf Aposteln muß immer einer hart wie Stein sein, damit auf ihm die neue Kirche gebaut werden könne.
77.
Was ist das Vergänglichere, der Geist oder der Körper? – In den rechtlichen, moralischen und religiösen Dingen hat das Äußerlichste, das Anschauliche, also der Brauch, die Gebärde, die Ceremonie, am meisten Dauer: sie ist der Leib, zu dem immer eine neue Seele hinzukommt. Der Cultus wird wie ein fester Wort-Text immer neu ausgedeutet; die Begriffe und Empfindungen sind das Flüssige, die Sitten das Harte.
78.
Der Glaube an die Krankheit, als Krankheit. – Erst das Christenthum hat den Teufel an die Wand der Welt gemalt; erst das Christenthum hat die Sünde in die Welt gebracht. Der Glaube an die Heilmittel, welche es dagegen anbot, ist nun allmählich bis in die tiefsten Wurzeln hinein erschüttert: aber immer noch besteht der Glaube an die Krankheit, welchen es gelehrt und verbreitet hat.
79.
Rede und Schrift der Religiösen. – Wenn der Stil und Gesammtausdruck des Priesters, des redenden und schreibenden, nicht schon den religiösen Menschen ankündigt, so braucht man seine Meinungen über Religion und zu Gunsten derselben nicht mehr ernst zu nehmen. Sie sind für ihren Besitzer selber kraftlos gewesen, wenn er, wie sein Stil verräth, Ironie, Anmaßung, Bosheit, Haß und alle Wirbel und Wechsel der Stimmungen besitzt, ganz wie der unreligiöseste Mensch; – um wieviel kraftloser werden sie erst für seine Hörer und Leser sein! Kurz, er wird dienen, dieselben unreligiöser zu machen.
80.
Gefahr in der Person. – Je mehr Gott als Person für sich galt, um so weniger ist man ihm treu gewesen. Die Menschen sind ihren Gedankenbildern viel anhänglicher, als ihren geliebtesten Geliebten: deshalb opfern sie sich für den Staat, die Kirche und auch für Gott – sofern er eben ihr Erzeugniß, ihr Gedanke bleibt und nicht gar zu persönlich genommen wird. Im letzteren Falle hadern sie fast immer mit ihm: selbst dem Frömmsten entfuhr ja die bittere Rede »mein Gott, warum hast du mich verlassen!«
81.
Die weltliche Gerechtigkeit. – Es ist möglich, die weltliche Gerechtigkeit aus den Angeln zu heben – mit der Lehre von der völligen Unverantwortlichkeit und Unschuld Jedermannes: und es ist schon ein Versuch in gleicher Richtung gemacht worden, gerade auf Grund der entgegengesetzten Lehre von der völligen Verantwortlichkeit und Verschuldung Jedermannes. Der Stifter des Christentums war es, der die weltliche Gerechtigkeit aufheben und das Richten und Strafen aus der Welt schaffen wollte. Denn er verstand alle Schuld als »Sünde«, das heißt als Frevel an Gott und nicht als Frevel an der Welt; andererseits hielt er Jedermann im größten Maaßstabe und fast in jeder Hinsicht für einen Sünder. Die Schuldigen sollen aber nicht die Richter ihres Gleichen sein: so urtheilte seine Billigkeit. Alle Richter der weltlichen Gerechtigkeit waren also in seinen Augen so schuldig wie die von ihnen Verurtheilten, und ihre Miene der Schuldlosigkeit schien ihm so heuchlerisch und pharisäerhaft. Überdies sah er auf die Motive der Handlungen und nicht auf den Erfolg, und hielt für die Beurtheilung der Motive nur einen Einzigen für scharfsichtig genug: sich selber (oder wie er sich ausdrückte: Gott).
82.
Eine Affektation beim Abschiede. – Wer sich von einer Partei oder Religion trennen will, meint, es sei nun für ihn nöthig, sie zu widerlegen. Aber dies ist sehr hochmüthig gedacht. Nöthig ist nur, daß er klar einsieht, welche Klammern ihn bisher an diese Partei oder Religion anhielten und daß sie es nicht mehr thun, was für Absichten ihn dahin getrieben haben und daß sie setzt anderswohin treiben. Wir sind nicht aus strengen Erkenntnißgründen auf die Seite jener Partei oder Religion getreten: wir sollen dies, wenn wir von ihr scheiden, auch nicht affektiren.
83.
Heiland und Arzt. – Der Stifter des Christenthums war, wie es sich von selber versteht, als Kenner der menschlichen Seele nicht ohne die größten Mängel und Voreingenommenheiten und als Arzt der Seele dem so anrüchigen und laienhaften Glauben an eine Universalmedicin ergeben. Er gleicht in seiner Methode mitunter jenem Zahnarzte, der jeden Schmerz durch Ausreißen des Zahnes heilen will; so zum Beispiel indem er gegen die Sinnlichkeit mit dem Rathschlage ankämpft: »Wenn dich dein Auge ärgert, so reiße es aus.« – Aber es bleibt doch noch der Unterschied, daß jener Zahnarzt wenigstens sein Ziel erreicht, die Schmerzlosigkeit des Patienten; freilich auf so plumpe Art, daß er lächerlich wird: während der Christ, der jenem Rathschlage folgt und seine Sinnlichkeit ertödtet zu haben glaubt, sich täuscht: sie lebt auf eine unheimliche, vampyrische Art fort und quält ihn in widerlichen Vermummungen.
84.
Die Gefangenen. – Eines Morgens traten die Gefangenen in den Arbeitshof: der Wärter fehlte. Die Einen von ihnen giengen, wie es ihre Art war, sofort an die Arbeit, Andere standen müßig und blickten trotzig umher. Da trat Einer vor und sagte laut: »Arbeitet so viel ihr wollt oder thut Nichts: es ist Alles gleich. Eure geheimen Anschläge sind an's Licht gekommen, der Gefängnißwärter hat euch neulich belauscht und will in den nächsten Tagen ein fürchterliches Gericht über euch ergehen lassen. Ihr kennt ihn, er ist hart und nachträgerischen Sinnes. Nun aber merkt auf: ihr habt mich bisher verkannt: ich bin nicht, was ich scheine, sondern viel mehr: ich bin der Sohn des Gefängnißwärters und gelte Alles bei ihm. Ich kann euch retten, ich will euch retten; aber, wohlgemerkt, nur Diejenigen von euch, welche mir glauben, daß ich der Sohn des Gefängnißwärters bin; die Übrigen mögen die Früchte ihres Unglaubens ernten.« »Nun, sagte nach einigem Schweigen ein älterer Gefangener, was kann dir daran gelegen sein, ob wir es dir glauben oder nicht glauben? Bist du wirklich der Sohn und vermagst du Das, was du sagst, so lege ein gutes Wort für uns Alle ein: es wäre wirklich recht gutmüthig von dir. Das Gerede von Glauben und Unglauben aber laß bei Seite!« »Und, rief ein jüngerer Mann dazwischen, ich glaub' es ihm auch nicht: er hat sich nur Etwas in den Kopf gesetzt. Ich wette, in acht Tagen befinden wir uns gerade noch so hier wie heute, und der Gefängnißwärter weiß Nichts.« »Und wenn er Etwas gewußt hat, so weiß er's nicht mehr«, sagte der Letzte der Gefangenen, der jetzt erst in den Hof hinabkam, »der Gefängnißwärter ist eben plötzlich gestorben.« – »Holla, schrieen Mehrere durcheinander, holla! Herr Sohn, Herr Sohn, wie steht es mit der Erbschaft? Sind wir vielleicht jetzt deine Gefangenen?« – »Ich habe es euch gesagt, entgegnete der Angeredete mild, ich werde Jeden freilassen, der an mich glaubt, so gewiß als mein Vater noch lebt.« – Die Gefangenen lachten nicht, zuckten aber mit den Achseln und ließen ihn stehen.
85.
Der Verfolger Gottes. – Paulus hat den Gedanken ausgedacht, Calvin ihn nachgedacht, daß Unzähligen seit Ewigkeiten die Verdammniß zuerkannt ist und daß dieser schöne Weltenplan so eingerichtet wurde, damit die Herrlichkeit Gottes sich daran offenbare: Himmel und Hölle und Menschheit sollen also da sein, – um die Eitelkeit Gottes zu befriedigen! Welch grausame und unersättliche Eitelkeit muß in der Seele Dessen geflackert haben, der so Etwas sich zuerst oder zuzweit ausdachte! – Paulus ist also doch Saulus geblieben – der Verfolger Gottes.
86.
Sokrates. – Wenn Alles gut geht, wird die Zeit kommen, da man, um sich sittlich-vernünftig zu fördern, lieber die Memorabilien des Sokrates in die Hand nimmt als die Bibel, und wo Montaigne und Horaz als Vorläufer und Wegweiser zum Verständniß des einfachsten und unvergänglichsten Mittler-Weisen, des Sokrates, benutzt werden. Zu ihm führen die Straßen der verschiedensten philosophischen Lebensweisen zurück, welche im Grunde die Lebensweisen der verschiedenen Temperamente sind, festgestellt durch Vernunft und Gewohnheit und allesammt mit ihrer Spitze hin nach der Freude am Leben und am eignen Selbst gerichtet; woraus man schließen möchte, daß das Eigenthümlichste an Sokrates ein Antheilhaben an allen Temperamenten gewesen ist. – Vor dem Stifter des Christenthums hat Sokrates die fröhliche Art des Ernstes und jene Weisheit voller Schelmenstreiche voraus, welche den besten Seelenzustand des Menschen ausmacht. Überdies hatte er den größeren Verstand.
87.
Gut schreiben lernen. – Die Zeit des Gut-redens ist vorbei, weil die Zeit der Stadt-Culturen vorbei ist. Die letzte Grenze, welche Aristoteles der großen Stadt erlaubte – es müsse der Herold noch im Stande sein, sich der ganzen versammelten Gemeinde vernehmbar zu machen –, diese Grenze kümmert uns so wenig, als uns überhaupt noch Stadtgemeinden kümmern, uns, die wir selbst über die Völker hinweg verstanden werden wollen. Deshalb muß jetzt ein Jeder, der gut europäisch gesinnt ist, gut und immer besser schreiben lernen: es hilft Nichts, und wenn er selbst in Deutschland geboren ist, wo man das Schlecht-schreiben als nationales Vorrecht behandelt. Besser schreiben aber heißt zugleich auch besser denken; immer Mittheilenswertheres erfinden und es wirklich mittheilen können; übersetzbar werden für die Sprachen der Nachbarn; zugänglich sich dem Verständnisse jener Ausländer machen, welche unsere Sprache lernen; dahin wirken, daß alles Gute Gemeingut werde und den Freien Alles frei stehe; endlich, jenen jetzt noch so fernen Zustand der Dinge vorbereiten, wo den guten Europäern ihre große Aufgabe in die Hände fällt: die Leitung und Überwachung der gesammten Erdcultur. – Wer das Gegentheil predigt, sich nicht um das Gutschreiben und Gut-lesen zu kümmern – beide Tugenden wachsen mit einander und nehmen mit einander ab –, der zeigt in der That den Völkern einen Weg, wie sie immer noch mehr national werden können: er vermehrt die Krankheit dieses Jahrhunderts und ist ein Feind der guten Europäer, ein Feind der freien Geister.
88.
Die Lehre vom besten Stile. – Die Lehre vom Stil kann einmal die Lehre sein, den Ausdruck zu finden, vermöge dessen man jede Stimmung auf den Leser und Hörer überträgt; sodann die Lehre, den Ausdruck für die wünschenswertheste Stimmung eines Menschen zu finden, deren Mittheilung und Übertragung also auch am meisten zu wünschen ist: für die Stimmung des von Herzensgrund bewegten, geistig freudigen, hellen und aufrichtigen Menschen, der die Leidenschaften überwunden hat. Dies wird die Lehre vom besten Stile sein: er entspricht dem guten Menschen.
89.
Auf den Gang Acht geben. – Der Gang der Sätze zeigt, ob der Autor ermüdet ist; der einzelne Ausdruck kann dessenungeachtet immer noch stark und gut sein, weil er für sich und früher gefunden wurde: damals als der Gedanke dem Autor zuerst aufleuchtete. So ist es häufig bei Goethe, der zu oft diktirte, wenn er müde war.
90.
Schon und noch. – A: Die deutsche Prosa ist noch sehr jung: Goethe meint, daß Wieland ihr Vater sei. B: So jung und schon so häßlich! C: Aber – soviel mir bekannt, schrieb schon der Bischof Ulftlas deutsche Prosa; sie ist also gegen 1500 Jahre alt. B: So alt und noch so häßlich!
91.
Original-deutsch. – Die deutsche Prosa, welche in der That nicht nach einem Muster gebildet ist und wohl als originales Erzeugniß des deutschen Geschmacks zu gelten hat, dürfte den eifrigen Anwälten einer zukünftigen, originalen, deutschen Cultur einen Fingerzeig geben, wie etwa, ohne Nachahmung von Mustern, eine wirklich deutsche Tracht, eine deutsche Geselligkeit, eine deutsche Zimmereinrichtung, ein deutsches Mittagsessen aussehen werde. – Jemand, der längere Zeit über diese Aussichten nachgedacht hatte, rief endlich in vollem Schrecken aus: »Aber, um des Himmels Willen, vielleicht haben wir schon diese originale Cultur – man spricht nur nicht gerne davon!«
92.
Verbotene Bücher. – Nie Etwas lesen, was jene arroganten Vielwisser und Wirrköpfe schreiben, welche die abscheulichste Unart, die der logischen Paradoxie haben: sie wenden die logischen Formen gerade dort an, wo Alles im Grunde frech improvisirt und in die Luft gebaut ist. (»Also« soll bei ihnen heißen »du Esel von Leser, für dich giebt es dies ›also‹ nicht – wohl aber für mich« – worauf die Antwort lautet: »du Esel von Schreiber, wozu schreibst du denn?«)
93.
Geist zeigen. – Jeder, der seinen Geist zeigen will, läßt merken, daß er auch reichlich vom Gegentheil hat. Jene Unart geistreicher Franzosen, ihren besten Einfällen einen Zug von dédain beizugeben, hat ihren Ursprung in der Absicht, für reicher zu gelten, als sie sind: sie wollen lässig schenken, gleichsam ermüdet vom beständigen Spenden aus übervollen Schatzhäusern.
94.
Deutsche und französische Litteratur. – Das Unglück der deutschen und französischen Litteratur der letzten hundert Jahre liegt darin, daß die Deutschen zu zeitig aus der Schule der Franzosen gelaufen sind – und die Franzosen, späterhin, zu zeitig in die Schule der Deutschen.
95.
Unsere Prosa. – Keines der jetzigen Culturvölker hat eine so schlechte Prosa wie das deutsche; und wenn geistreiche und verwöhnte Franzosen sagen: es giebt keine deutsche Prosa – so dürfte man eigentlich nicht böse werden, da es artiger gemeint ist, als wir's verdienen. Sucht man nach den Gründen, so kommt man zuletzt zu dem seltsamen Ergebniß, daß der Deutsche nur die improvisirte Prosa kennt und von einer anderen gar keinen Begriff hat. Es klingt ihm schier unbegreiflich, wenn ein Italiäner sagt, daß Prosa gerade um so viel schwerer sei als Poesie, um wie viel die Darstellung der nackten Schönheit für den Bildhauer schwerer sei als die der bekleideten Schönheit. Um Vers, Bild, Rhythmus und Reim hat man sich redlich zu bemühen – das begreift auch der Deutsche und ist nicht geneigt, der Stegreif-Dichtung einen besonders hohen Werth zuzumessen. Aber an einer Seite Prosa wie an einer Bildsäule arbeiten? – es ist ihm, als ob man ihm Etwas aus dem Fabelland vorerzählte.
96.
Der große Stil. – Der große Stil entsteht, wenn das Schöne den Sieg über das Ungeheure davonträgt.
97.
Ausweichen. – Man weiß nicht eher, worin bei ausgezeichneten Geistern das Feine ihres Ausdrucks, ihrer Wendung liegt, wenn man nicht sagen kann, auf welches Wort jeder mittelmäßige Schriftsteller beim Ausdrücken derselben Sache unvermeidlich gerathen sein würde. Alle großen Artisten zeigen sich beim Lenken ihres Fuhrwerks zum Ausweichen, zum Entgleisen geneigt – doch nicht zum Umfallen.
98.
Etwas wie Brod. – Brod neutralisirt den Geschmack anderer Speisen, wischt ihn weg: deshalb gehört es zu jeder längeren Mahlzeit. In allen Kunstwerken muß es Etwas wie Brod geben, damit es verschiedene Wirkungen in ihnen geben könne: welche, unmittelbar und ohne ein solches zeitweiliges Ausruhen und Pausiren aufeinanderfolgend, schnell erschöpfen und Widerwillen machen würden, so daß eine längere Mahlzeit der Kunst unmöglich wäre.
99.
Jean Paul. – Jean Paul wußte sehr viel, aber hatte keine Wissenschaft, verstand sich auf allerlei Kunstgriffe in den Künsten, aber hatte keine Kunst, fand beinahe Nichts ungenießbar, aber hatte keinen Geschmack, besaß Gefühl und Ernst, goß aber, wenn er davon zu kosten gab, eine widerliche Thränenbrühe darüber, ja er hatte Witz, – aber leider für seinen Heißhunger darnach viel zu wenig: weshalb er den Leser gerade durch seine Witzlosigkeit zur Verzweiflung treibt. Im Ganzen war er das bunte, starkriechende Unkraut, welches über Nacht auf den zarten Fruchtfeldern Schiller's und Goethe's aufschoß; er war ein bequemer, guter Mensch, und doch ein Verhängniß, – ein Verhängniß im Schlafrock.
100.
Auch den Gegensatz zu schmecken wissen. – Um ein Werk der Vergangenheit so zu genießen, wie es seine Zeitgenossen empfanden, muß man den damals herrschenden Geschmack, gegen den es sich abhob, auf der Zunge haben.
101.
Weingeist-Autoren. – Manche Schriftsteller sind weder Geist noch Wein, aber Weingeist: sie können in Flammen gerathen und geben dann Wärme.
102.
Der Mittler-Sinn. – Der Sinn des Geschmacks, als der wahre Mittler-Sinn, hat die anderen Sinne oft zu seinen Ansichten der Dinge überredet und ihnen seine Gesetze und Gewohnheiten eingegeben. Man kann bei Tische über die feinsten Geheimnisse der Künste Aufschlüsse erhalten: man beachte, was schmeckt, wann es schmeckt, wonach und wie lange es schmeckt.
103.
Lessing. – Lessing hat eine ächt französische Tugend und ist überhaupt als Schriftsteller bei den Franzosen am fleißigsten in die Schule gegangen: er versteht seine Dinge im Schauladen gut zu ordnen und aufzustellen. Ohne diese wirkliche Kunst würden seine Gedanken, so wie deren Gegenstände, ziemlich im Dunkel geblieben sein, und ohne daß die allgemeine Einbuße groß wäre. An seiner Kunst haben aber Viele gelernt (namentlich die letzten Generationen deutscher Gelehrten) und Unzählige sich erfreut. Freilich hätten jene Lernenden nicht nöthig gehabt, wie so oft geschehen ist, ihm auch seine unangenehme Ton-Manier, in ihrer Mischung von Zankteufelei und Biederkeit, abzulernen. – Über den »Lyriker« Lessing ist man jetzt einmüthig: über den »Dramatiker« wird man es werden.
104.
Unerwünschte Leser. – Wie quälen den Autor jene braven Leser mit den dicklichten, ungeschickten Seelen welche immer, wenn sie woran anstoßen, auch umfallen und sich jedesmal dabei wehe thun!
105.
Dichter-Gedanken. – Die wirklichen Gedanken gehen bei wirklichen Dichtern alle verschleiert einher, wie die Ägyptierinnen: nur das tiefe Auge des Gedankens blickt frei über den Schleier hinweg. – Dichter-Gedanken sind im Durchschnitt nicht so viel werth, als sie gelten: man bezahlt eben für den Schleier und die eigene Neugierde mit.
106.
Schreibt einfach und nützlich. – Übergänge, Ausführungen, Farbenspiele des Affekts, – alles Das schenken wir dem Autor, weil wir dies mitbringen und seinem Buche zu Gute kommen lassen, falls er selber uns Etwas zu Gute thut.
107.
Wieland. – Wieland hat besser als irgend Jemand deutsch geschrieben und dabei sein rechtes meisterliches Genügen und Ungenügen gehabt (seine Übersetzungen der Briefe Cicero's und des Lucian sind die besten deutschen Übersetzungen); aber seine Gedanken geben uns Nichts mehr zu denken. Wir vertragen seine heiteren Moralitäten ebenso wenig wie seine heiteren Immoralitäten: Beide gehören so gut zu einander. Die Menschen, die an ihnen ihre Freude hatten, waren doch wohl im Grunde bessere Menschen als wir, – aber auch um ein gut Theil schwerfälligere, denen ein solcher Schriftsteller eben noth that. – Goethe that den Deutschen nicht noth, daher sie auch von ihm keinen Gebrauch zu machen wissen. Man sehe sich die Besten unserer Staatsmänner und Künstler daraufhin an: sie Alle haben Goethe nicht zum Erzieher gehabt – nicht haben können.
108.
Seltene Feste. – Körnige Gedrängtheit, Ruhe und Reife – wo du diese Eigenschaften bei einem Autor findest, da mache Halt und feiere ein langes Fest mitten in der Wüste: es wird dir lange nicht wieder so wohl werden.
109.
Der Schatz der deutschen Prosa. – Wenn man von Goethe's Schriften absieht und namentlich von Goethe's Unterhaltungen mit Eckermann, dem besten deutschen Buche, das es giebt: was bleibt eigentlich von der deutschen Prosa-Litteratur übrig, das es verdiente, wieder und wieder gelesen zu werden? Lichtenberg's Aphorismen, das erste Buch von Jung-Stilling's Lebensgeschichte, Adalbert Stifter's Nachsommer und Gottfried Keller's Leute von Seldwyla, – und damit wird es einstweilen am Ende sein.
110.
Schreibstil und Sprechstil. – Die Kunst zu schreiben verlangt vor Allem Ersatzmittel für die Ausdrucksarten, welche nur der Redende hat: also für Gebärden, Accente, Töne, Blicke. Deshalb ist der Schreibstil ein ganz anderer, als der Sprechstil, und etwas viel Schwierigeres: – er will mit Wenigerem sich ebenso verständlich machen wie jener. Demosthenes hielt seine Reden anders als wir sie lesen: er hat sie zum Gelesenwerden erst überarbeitet. – Cicero's Reden sollten, zum gleichen Zwecke, erst demosthenisirt werden: jetzt ist viel mehr römisches Forum in ihnen, als der Leser vertragen kann.
111.
Vorsicht im Citiren. – Die jungen Autoren wissen nicht, daß der gute Ausdruck, der gute Gedanke sich nur unter Seinesgleichen gut ausnimmt, daß ein vorzügliches Citat ganze Seiten, ja das ganze Buch vernichten kann, indem es den Leser warnt und ihm zuzurufen scheint: »Gieb Acht, ich bin der Edelstein und rings um mich ist Blei, bleiches, schmähliches Blei!« Jedes Wort, jeder Gedanke will nur in seiner Gesellschaft leben: das ist die Moral des gewählten Stils.
112.
Wie soll man Irrthümer sagen? –Man kann streiten, ob es schädlicher sei, wenn Irrthümer schlecht gesagt werden oder so gut wie die besten Wahrheiten. Gewiß ist, daß sie im erstern Fall auf doppelte Weise dem Kopfe schaden und schwerer aus ihm zu entfernen sind; aber freilich wirken sie nicht so sicher wie im zweiten Falle: sie sind weniger ansteckend.
113.
Beschränken und vergrößern. – Homer hat den Umfang des Stoffes beschränkt, verkleinert, aber die einzelnen Scenen aus sich wachsen lassen und vergrößert – und so machen es später die Tragiker immer von Neuem: jeder nimmt den Stoff in noch kleineren Stücken als sein Vorgänger, jeder aber erzielt eine reichere Blüthenfülle innerhalb dieser abgegrenzten, umfriedeten Gartenhecken.
114.
Litteratur und Moralität sich erklärend.– Man kann an der griechischen Litteratur zeigen, durch welche Kräfte der griechische Geist sich entfaltete, wie er in verschiedene Bahnen gerieth und woran er schwach wurde. Alles Das giebt ein Bild davon ab, wie es im Grunde auch mit der griechischen Moralität zugegangen ist und wie es mit jeder Moralität zugehen wird: wie sie erst Zwang war, erst Härte zeigte, dann allmählich milder wurde, wie endlich Lust an gewissen Handlungen, an gewissen Conventionen und Formen entstand, und daraus wieder ein Hang zur alleinigen Ausübung, zum Alleinbesitz derselben: wie die Bahn sich mit Wettbewerbenden füllt und überfüllt, wie Übersättigung eintritt, neue Gegenstände des Kampfes und Ehrgeizes aufgesucht, veraltete in's Leben erweckt werden, wie das Schauspiel sich wiederholt und die Zuschauer des Zuschauens überhaupt müde werden, weil nun der ganze Kreis durchlaufen scheint – – und dann kommt ein Stillestehen, ein Ausathmen: die Bäche verlieren sich im Sande. Es ist das Ende da, wenigstens ein Ende.
115.
Welche Gegenden dauernd erfreuen. – Diese Gegend hat bedeutende Züge zu einem Gemälde, aber ich kann die Formel für sie nicht finden, als Ganzes bleibt sie mir unfaßbar. Ich bemerke, daß alle Landschaften, die mir dauernd zusagen, unter aller Mannigfaltigkeit ein einfaches geometrisches Linien-Schema haben. Ohne ein solches mathematisches Substrat wird keine Gegend etwas künstlerisch-Erfreuendes. Und vielleicht gestattet diese Regel eine gleichnißhafte Anwendung auf den Menschen.
116.
Vorlesen. – Vorlesen können setzt voraus, daß man vortragen könne: man hat überall blasse Farben anzuwenden, aber die Grade der Blässe in genauen Proportionen zu dem immer vorschwebenden und dirigirenden, voll und tief gefärbten Grundgemälde, das heißt nach dem Vortrage derselben Partie zu bestimmen. Also muß man dieses Letzteren mächtig sein.
117.
Der dramatische Sinn. – Wer die feineren vier Sinne der Kunst nicht hat, sucht Alles mit dem gröbsten, dem fünften zu verstehen: dies ist der dramatische Sinn.
118.
Herder. – Herder ist alles Das nicht, was er von sich wähnen machte (und selber zu wähnen wünschte): kein großer Denker und Erfinder, kein neuer treibender Fruchtboden mit einer urwaldfrischen unausgenutzten Kraft. Aber er besaß in höchstem Maaße den Sinn der Witterung, er sah und pflückte die Erstlinge der Jahreszeit früher als alle Anderen, welche dann glauben konnten, er habe sie wachsen lassen: sein Geist war zwischen Hellem und Dunklem, Altem und Jungem und überall dort wie ein Jäger auf der Lauer, wo es Übergänge, Senkungen, Erschütterungen, die Anzeichen inneren Quellens und Werdens gab: die Unruhe des Frühlings trieb ihn umher, aber er selber war der Frühling nicht! – Das ahnte er wohl zu Zeiten, und wollte es doch sicher selber nicht glauben, er, der ehrgeizige Priester, der so gern der Geister-Papst seiner Zeit gewesen wäre! Dies ist sein Leiden: er scheint lange als Prätendent mehrerer Königthümer, ja eines Universalreiches gelebt zu haben und hatte seinen Anhang, welcher an ihn glaubte: der junge Goethe war unter ihm. Aber überall, wo zuletzt Kronen wirklich vergeben wurden, gieng er leer aus: Kant, Goethe, sodann die wirklichen ersten deutschen Historiker und Philologen nahmen ihm weg, was er sich vorbehalten wähnte, – oft aber auch im Stillsten und Geheimsten nicht wähnte. Gerade wenn er an sich zweifelte, warf er sich gern die Würde und die Begeisterung um: dies waren bei ihm allzu oft Gewänder, die viel verbergen, ihn selber täuschen und trösten mußten. Er hatte wirklich Begeisterung und Feuer, aber sein Ehrgeiz war viel größer! Dieser blies ungeduldig in das Feuer, daß es flackerte, knisterte und rauchte – sein Stil flackert, knistert und raucht – aber er wünschte die große Flamme, und diese brach nie hervor! Er saß nicht an der Tafel der eigentlich Schaffenden: und sein Ehrgeiz ließ nicht zu, daß er sich bescheiden unter die eigentlich Genießenden setzte. So war er ein unruhiger Gast, der Vorkoster aller geistigen Gerichte, die sich die Deutschen in einem halben Jahrhundert aus allen Welt- und Zeitreichen zusammenholten. Nie wirklich satt und froh, war Herder überdies allzuhäufig krank: da setzte sich bisweilen der Neid an sein Bett, auch die Heuchelei machte ihren Besuch. Etwas Wundes und Unfreies blieb an ihm haften: und mehr als irgend einem unserer sogenannten »Classiker« geht ihm die einfältige wackere Mannhaftigkeit ab.
119.
Geruch der Worte. – Jedes Wort hat seinen Geruch: es giebt eine Harmonie und Disharmonie der Gerüche und also der Worte.
120.
Der gesuchte Stil. – Der gefundene Stil ist eine Beleidigung für den Freund des gesuchten Stils.
121.
Gelöbniß. – Ich will keinen Autor mehr lesen, dem man anmerkt, er wollte ein Buch machen: sondern nur jene, deren Gedanken unversehens ein Buch wurden.
122.
Die künstlerische Convention. – Dreiviertel Homer ist Convention; und ähnlich steht es bei allen griechischen Künstlern, die zu der modernen Originalitätswuth keinen Grund hatten. Es fehlte ihnen alle Angst vor der Convention; durch diese hiengen sie ja mit ihrem Publikum zusammen, Conventionen sind nämlich die für das Verständniß der Zuhörer eroberten Kunstmittel, die mühvoll erlernte gemeinsame Sprache, mit welcher der Künstler sich wirklich mittheilen kann. Zumal wenn er, wie der griechische Dichter und Musiker, mit jedem seiner Kunstwerke sofort siegen will – da er öffentlich mit einem oder zweien Nebenbuhlern zu ringen gewöhnt ist –, so ist die erste Bedingung, daß er sofort auch verstanden werde: was aber nur durch die Convention möglich ist. Das, was der Künstler über die Convention hinaus erfindet, das giebt er aus freien Stücken darauf und wagt dabei sich selber daran, im besten Fall mit dem Erfolge, daß er eine neue Convention schafft. Für gewöhnlich wird das Originale angestaunt, mitunter sogar angebetet, aber selten verstanden; der Convention hartnäckig ausweichen heißt: nicht verstanden werden wollen. Worauf weist also die moderne Originalitätswuth hin?
123.
Affektation der Wissenschaftlichkeit bei Künstlern. – Schiller glaubte, gleich anderen deutschen Künstlern, wenn man Geist habe, dürfe man über allerlei schwierige Gegenstände auch wohl mit der Feder improvisiren. Und nun stehen seine Prosa-Aufsätze da – in jeder Beziehung ein Muster, wie man wissenschaftliche Fragen der Aesthetik und Moral nicht angreifen dürfe – und eine Gefahr für junge Leser, welche, in ihrer Bewunderung des Dichters Schiller, nicht den Muth haben, vom Denker und Schriftsteller Schiller gering zu denken. – Die Versuchung, welche den Künstler so leicht und so begreiflicherweise befällt, auch einmal über die gerade ihm verbotene Wiese zu gehen und in der Wissenschaft ein Wort mitzusprechen – der Tüchtigste nämlich findet zeitweilig sein Handwerk und seine Werkstätte unausstehlich –, diese Versuchung bringt den Künstler so weit, aller Welt zu zeigen, was sie gar nicht zu sehen braucht, nämlich daß es in seinem Denkzimmerchen eng und unordentlich aussieht – warum auch nicht? er wohnt ja nicht darin! –, daß die Vorrathsspeicher seines Wissens theils leer, theils mit Krimskrams gefüllt sind – warum auch nicht? es steht dies sogar im Grunde dem Künstler-Kinde nicht übel an –, namentlich aber, daß selbst für die leichtesten Handgriffe der wissenschaftlichen Methode, die selbst Anfängern geläufig sind, seine Gelenke zu ungeübt und schwerfällig sind – und auch dessen braucht er sich wahrlich nicht zu schämen! – Dagegen entfaltet er oftmals keine geringe Kunst darin, alle die Fehler, Unarten und schlechten Gelehrtenhaftigkeiten, wie sie in der wissenschaftlichen Zunft vorkommen, nachzuahmen, im Glauben, dies eben gehöre, wenn nicht zur Sache, so doch zum Schein der Sache; und dies gerade ist das Lustige an solchen Künstler-Schriften, daß hier der Künstler, ohne es zu wollen, doch thut, was seines Amtes ist: die wissenschaftlichen und unkünstlerischen Naturen zu parodiren. Eine andere Stellung zur Wissenschaft als die parodische sollte er nämlich nicht haben, soweit er eben der Künstler und nur der Künstler ist.
124.
Die Faust-Idee. – Eine kleine Nähterin wird verführt und unglücklich gemacht; ein großer Gelehrter aller vier Fakultäten ist der Übelthäter. Das kann doch nicht mit rechten Dingen zugegangen sein? Nein, gewiß nicht! Ohne die Beihülfe des leibhaftigen Teufels hätte es der große Gelehrte nicht zu Stande gebracht. – Sollte dies wirklich der größte deutsche »tragische Gedanke« sein, wie man unter Deutschen sagen hört? – Für Goethe war aber auch dieser Gedanke noch zu fürchterlich; sein mildes Herz konnte nicht umhin, die kleine Nähterin, »die gute Seele, die nur einmal sich vergessen«, nach ihrem unfreiwilligen Tode in die Nähe der Heiligen zu versetzen; ja selbst den großen Gelehrten brachte er, durch einen Possen, der dem Teufel im entscheidenden Augenblick gespielt wird, noch zur rechten Zeit in den Himmel, ihn, »den guten Menschen« mit dem »dunklen Drange«: – dort im Himmel finden sich die Liebenden wieder. – Goethe sagt einmal, für das eigentlich Tragische sei seine Natur zu conciliant gewesen.
125.
Giebt es »deutsche Classiker«? – Sainte-Beuve bemerkt einmal, daß zu der Art einiger Litteraturen das Wort »Classiker« durchaus nicht klingen wolle: wer werde zum Beispiel so leicht von »deutschen Classikern« reden! – Was sagen unsre deutschen Buchhändler dazu, welche auf dem Wege sind, die fünfzig deutschen Classiker, an die wir schon glauben sollen, noch um weitere fünfzig zu vermehren? Scheint es doch fast, als ob man eben nur 30 Jahre lang todt zu sein und als erlaubte Beute öffentlich dazuliegen brauche, um unversehens plötzlich als Classiker die Trompete der Auferstehung zu hören! Und dies in einer Zeit und unter einem Volke, wo selbst von den sechs großen Stammvätern der Litteratur fünf unzweideutig veralten oder veraltet sind, – ohne daß diese Zeit und dieses Volk sich gerade dessen zu schämen hätten! Denn jene sind vor den Stärken dieser Zeit zurückgewichen – man überlege es sich nur mit aller Billigkeit! – Von Goethe, wie angedeutet, sehe ich ab, er gehört in eine höhere Gattung von Litteraturen, als »National-Litteraturen« sind: deshalb steht er auch zu seiner Nation weder im Verhältnis des Lebens, noch des Neuseins, noch des Veraltens. Nur für Wenige hat er gelebt und lebt er noch: für die Meisten ist er Nichts als eine Fanfare der Eitelkeit, welche man von Zeit zu Zeit über die deutsche Grenze hinüberbläst. Goethe, nicht nur ein guter und großer Mensch, sondern eine Cultur, Goethe ist in der Geschichte der Deutschen ein Zwischenfall ohne Folgen: wer wäre im Stande, in der deutschen Politik der letzten 70 Jahre zum Beispiel ein Stück Goethe aufzuzeigen! (während jedenfalls darin ein Stück Schiller, und vielleicht sogar ein Stückchen Lessing thätig gewesen ist). Aber jene andern Fünf! Klopstock veraltete schon bei Lebzeiten auf eine sehr ehrwürdige Weise; und so gründlich, daß das nachdenkliche Buch seiner späteren Jahre, die Gelehrten-Republik, wohl bis heutigen Tag von Niemandem ernst genommen worden ist. Herder hatte das Unglück, daß seine Schriften immer entweder neu oder veraltet waren; für die feineren und stärkeren Köpfe (wie für Lichtenberg) war zum Beispiel selbst Herder's Hauptwerk, seine Ideen zur Geschichte der Menschheit, sofort beim Erscheinen etwas Veraltetes. Wieland, der reichlich gelebt und zu leben gegeben hat, kam als ein kluger Mann dem Schwinden seines Einflusses durch den Tod zuvor, Lessing lebt vielleicht heute noch, – aber unter jungen und immer jüngeren Gelehrten! Und Schiller ist jetzt aus den Händen der Jünglinge in die der Knaben, aller deutschen Knaben gerathen! Es ist ja eine bekannte Art des Veraltens, daß ein Buch zu immer unreiferen Lebensaltern hinabsteigt. – Und was hat diese Fünf zurückgedrängt, so daß gut unterrichtete und arbeitsame Männer sie nicht mehr lesen? Der bessere Geschmack, das bessere Wissen, die bessere Achtung vor dem Wahren und Wirklichen: also lauter Tugenden, welche gerade durch jene Fünf (und durch zehn und zwanzig Andere weniger lauten Namens) erst wieder in Deutschland angepflanzt worden sind, und welche jetzt als hoher Wald über ihren Gräbern neben dem Schatten der Ehrfurcht auch etwas vom Schatten der Vergessenheit breiten. – Aber Classiker sind nicht Anpflanzer von intellektuellen und litterarischen Tugenden, sondern Vollender und höchste Lichtspitzen derselben, welche über den Völkern stehen bleiben, wenn diese selber zu Grunde gehen: denn sie sind leichter, freier, reiner als sie. Es ist ein hoher Zustand der Menschheit möglich, wo das Europa der Völker eine dunkle Vergessenheit ist, wo Europa aber noch in dreißig sehr alten, nie veralteten Büchern lebt: in den Classikern.
126.
Interessant, aber nicht schön. – Diese Gegend verbirgt ihren Sinn, aber sie hat einen, den man errathen möchte: wohin ich sehe, lese ich Worte und Winke zu Worten, aber ich weiß nicht, wo der Satz beginnt, der das Räthsel aller dieser Winke löst, und werde zum Wendehals darüber, zu untersuchen, ob von hier oder von dort aus zu lesen ist.
127.
Gegen die Sprach-Neuerer. – In der Sprache neuern oder alterthümeln, das Seltene und Fremdartige vorziehen, auf Reichthum des Wortschatzes statt auf Beschränkung trachten, ist immer ein Zeichen des ungereiften oder verderbten Geschmacks. Eine edele Armut, aber innerhalb des unscheinbaren Besitzes eine meisterliche Freiheit zeichnet die griechischen Künstler der Rede aus: sie wollen weniger haben, als das Volk hat – denn dieses ist am reichsten in Altem und Neuem – aber sie wollen dies Wenige besser haben. Man ist schnell mit dem Aufzählen ihrer Archaismen und Fremdartigkeiten fertig, aber kommt nicht zu Ende im Bewundern, wenn man für die leichte und zarte Art ihres Verkehrs mit dem Alltäglichen und scheinbar längst Verbrauchten in Worten und Wendungen ein gutes Auge hat.
128.
Die traurigen und die ernsten Autoren. – Wer zu Papier bringt, was er leidet, wird ein trauriger Autor: aber ein ernster, wenn er uns sagt, was er litt und weshalb er jetzt in der Freude ausruht.
129.
Gesundheit des Geschmacks. – Wie kommt es, daß die Gesundheiten nicht so ansteckend sind wie die Krankheiten – überhaupt, und namentlich im Geschmack? oder giebt es Epidemien der Gesundheit? –
130.
Vorsatz. – Kein Buch mehr lesen, das zu gleicher Zeit geboren und (mit Tinte) getauft wurde.
131.
Den Gedanken verbessern. – Den Stil verbessern – das heißt den Gedanken verbessern, und gar Nichts weiter! – Wer dies nicht sofort zugiebt, ist auch nie davon zu überzeugen.
132.
Classische Bücher. – Die schwächste Seite jedes classischen Buches ist die, daß es zu sehr in der Muttersprache seines Autors geschrieben ist.
133.
Schlechte Bücher. – Das Buch soll nach Feder, Tinte und Schreibtisch verlangen: aber gewöhnlich verlangen Feder, Tinte und Schreibtisch nach dem Buche. Deshalb ist es jetzt so wenig mit Büchern.
134.
Sinnesgegenwart. – Das Publikum wird, wenn es über Gemälde nachdenkt, dabei zum Dichter, und wenn es über Gedichte nachdenkt, zum Forscher. Im Augenblick, da der Künstler es anruft, fehlt es ihm immer am rechten Sinn, nicht also an der Geistes-, sondern an der Sinnesgegenwart.
135.
Gewählte Gedanken. – Der gewählte Stil einer bedeutenden Zeit wählt nicht nur die Worte, sondern auch die Gedanken aus, – und zwar Beide aus dem Üblichen und Herrschenden: die gewagten und allzufrisch riechenden Gedanken sind dem reiferen Geschmack nicht minder zuwider als die neuen tollkühnen Bilder und Ausdrücke. Später riecht Beides – der gewählte Gedanke und das gewählte Wort – leicht nach Mittelmäßigkeit, weil der Geruch des Gewählten sich schnell verflüchtigt und dann nur noch das Übliche und Alltägliche daran geschmeckt wird.
136.
Hauptgrund der Verderbniß des Stils. – Mehr Empfindung für eine Sache zeigen wollen, als man wirklich hat, verdirbt den Stil, in der Sprache und in allen Künsten. Vielmehr hat alle große Kunst die umgekehrte Neigung: sie liebt es, gleich jedem sittlich bedeutenden Menschen, das Gefühl auf seinem Wege anzuhalten und nicht ganz an's Ende laufen zu lassen. Diese Scham der halben Gefühls-Sichtbarkeit ist zum Beispiel bei Sophokles auf das Schönste zu beobachten; und es scheint die Züge der Empfindung zu verklären, wenn diese sich selber nüchterner giebt, als sie ist.
137.
Zur Entschuldigung der schwerfälligen Stilisten. – Das Leicht-Gesagte fällt selten so schwer in's Gehör, als die Sache wirklich wiegt – das liegt aber an den schlecht geschulten Ohren, welche aus der Erziehung durch Das, was man bisher Musik nannte, in die Schule der höheren Tonkunst, das heißt der Rede, übergehen müssen.
138.
Vogelperspektive. – Hier stürzen Wildwasser von mehreren Seiten einem Schlunde zu: ihre Bewegung ist so stürmisch und reißt das Auge so mit sich fort, daß die kahlen und bewaldeten Gebirgshänge ringsum nicht abzusinken, sondern wie hinabzufliehen scheinen. Man wird beim Anblick angstvoll gespannt, als ob etwas Feindseliges hinter Alledem verborgen liege, vor dem Alles flüchten müsse, und gegen das uns der Abgrund Schutz verliehe. Diese Gegend ist gar nicht zu malen, es sei denn, daß man wie ein Vogel in der freien Luft über ihr schwebe. Hier ist einmal die sogenannte Vogelperspektive nicht eine künstlerische Willkür, sondern die einzige Möglichkeit.
139.
Gewagte Vergleichungen. – Wenn die gewagten Vergleichungen nicht Beweise vom Muthwillen des Schriftstellers sind, so sind sie Beweise seiner ermüdeten Phantasie. In jedem Falle aber sind sie Beweise seines schlechten Geschmackes.
140.
In Ketten tanzen. – Bei jedem griechischen Künstler, Dichter und Schriftsteller ist zu fragen: welches ist der neue Zwang, den er sich auferlegt und den er seinen Zeitgenossen reizvoll macht (sodaß er Nachahmer findet)? Denn was man »Erfindung« (im Metrischen zum Beispiel) nennt, ist immer eine solche selbstgelegte Fessel. »In Ketten tanzen«, es sich schwer machen und dann die Täuschung der Leichtigkeit darüber breiten, – das ist das Kunststück, welches sie uns zeigen wollen. Schon bei Homer ist eine Fülle von vererbten Formeln und epischen Erzählungsgesetzen wahrzunehmen, innerhalb deren er tanzen mußte: und er selber schuf neue Conventionen für die Kommenden hinzu. Dies war die Erziehungs-Schule der griechischen Dichter: zuerst also einen vielfältigen Zwang sich auferlegen lassen, durch die früheren Dichter; sodann einen neuen Zwang hinzuerfinden, ihn sich auferlegen und ihn anmuthig besiegen: so daß Zwang und Sieg bemerkt und bewundert werden.
141.
Fülle der Autoren. – Das Letzte, was ein guter Autor bekommt, ist Fülle; wer sie mitbringt, wird nie ein guter Autor werden. Die edelsten Rennpferde sind mager, bis sie von ihren Siegen ausruhen dürfen.
142.
Keuchende Helden. – Dichter und Künstler, die an Engbrüstigkeit des Gefühls leiden, lassen ihre Helden am meisten keuchen: sie verstehen sich auf das leichte Athmen nicht.
143.
Der Halb-Blinde. – Der Halb-Blinde ist der Todfeind aller Autoren, welche sich gehen lassen. Diese sollten seinen Ingrimm kennen, mit dem er ein Buch zuschlägt, aus welchem er merkt, daß sein Verfasser fünfzig Seiten braucht, um fünf Gedanken mitzutheilen: jenen Ingrimm darüber, den Rest seiner Augen fast ohne Entgelt in Gefahr gebracht zu haben. – Ein Halb-Blinder sagte: alle Autoren haben sich gehen lassen. – »Auch der heilige Geist?« – Auch der heilige Geist. Aber der durfte es; er schrieb für die Ganz-Blinden.
144.
Der Stil der Unsterblichkeit. – Thukydides sowohl wie Tacitus – Beide haben beim Ausarbeiten ihrer Werke an eine unsterbliche Dauer derselben gedacht: dies würde, wenn man es sonst nicht wüßte, schon aus ihrem Stile zu errathen sein. Der Eine glaubte seinen Gedanken durch Einsalzen, der Andre durch Einkochen Dauerhaftigkeit zu geben; und Beide, scheint es, haben sich nicht verrechnet.
145.
Gegen Bilder und Gleichnisse. – Mit Bildern und Gleichnissen überzeugt man, aber beweist nicht. Deshalb hat man innerhalb der Wissenschaft eine solche Scheu vor Bildern und Gleichnissen; man will hier gerade das Überzeugende, das Glaublich-Machende nicht und fordert vielmehr das kälteste Mißtrauen auch schon durch die Ausdrucksweise und die kahlen Wände heraus: weil das Mißtrauen der Prüfstein für das Gold der Gewißheit ist.
146.
Vorsicht. – Wem es an gründlichem Wissen gebricht, der mag sich in Deutschland ja hüten, zu schreiben. Denn der gute Deutsche sagt da nicht: »er ist unwissend«, sondern: »er ist von zweifelhaftem Charakter«. – Dieser übereilte Schluß macht übrigens den Deutschen alle Ehre.
147.
Bemalte Gerippe. – Bemalte Gerippe: das sind jene Autoren, welche Das, was ihnen an Fleisch abgeht, durch künstliche Farben ersetzen möchten.
148.
Der großartige Stil und das Höhere. – Man lernt es schneller großartig schreiben, als leicht und schlicht schreiben. Die Gründe davon verlieren sich in's Moralische.
149.
Sebastian Bach. – Sofern man Bach's Musik nicht als vollkommener und gewitzigter Kenner des Contrapunktes und aller Arten des fugirten Stiles hört, und demgemäß des eigentlichen artistischen Genusses entrathen muß, wird es uns als Hörern seiner Musik zu Muthe sein (um uns grandios mit Goethe auszudrücken), als ob wir dabei wären, wie Gott die Welt schuf. Das heißt: wir fühlen, daß hier etwas Großes im Werden ist, aber noch nicht ist: unsere große moderne Musik. Sie hat schon die Welt überwunden, dadurch, daß sie die Kirche, die Nationalitäten und den Contrapunkt überwand. In Bach ist noch zu viel crude Christlichkeit, crudes Deutschthum, crude Scholastik; er steht an der Schwelle der europäischen (modernen) Musik, aber schaut sich von hier nach dem Mittelalter um.
150.
Händel. – Händel, im Erfinden seiner Musik kühn, neuerungssüchtig, wahrhaft, gewaltig, dem Heroischen zugewandt und verwandt, dessen ein Volk fähig ist, – wurde bei der Ausarbeitung oft befangen und kalt, ja an sich selber müde; da wendete er einige erprobte Methoden der Durchführung an, schrieb schnell und viel und war froh, wenn er fertig war, – aber nicht in der Art froh, wie es Gott und andere Schöpfer am Abende ihres Werktags gewesen sind.
151.
Haydn. – Soweit sich Genialität mit einem schlechthin guten Menschen verbinden kann, hat Haydn sie gehabt. Er geht gerade bis an die Grenze, welche die Moralität dem Intellekt zieht; er macht lauter Musik, die »keine Vergangenheit« hat.
152.
Beethoven und Mozart. – Beethoven's Musik erscheint häufig wie eine tiefbewegte Betrachtung beim unerwarteten Wiederhören eines längst verloren geglaubten Stückes »Unschuld in Tönen«: es ist Musik über Musik. Im Liede der Bettler und Kinder auf der Gasse, bei den eintönigen Weisen wandernder Italiäner, beim Tanze in der Dorfschenke oder in den Nächten des Carnevals, – da entdeckt er seine »Melodien«: er trägt sie wie eine Biene zusammen, indem er bald hier bald dort einen Laut, eine kurze Folge erhascht. Es sind ihm verklärte Erinnerungen aus der »besseren Welt«: ähnlich wie Plato es sich von den Ideen dachte. – Mozart steht ganz anders zu seinen Melodien: er findet seine Inspirationen nicht beim Hören von Musik, sondern im Schauen des Lebens, des bewegtesten südländischen Lebens: er träumte immer von Italien, wenn er nicht dort war.
153.
Recitativ. – Ehemals war das Recitativ trocken; jetzt leben wir in der Zeit des nassen Recitativs; es ist in's Wasser gefallen, und die Wellen reißen es, wohin sie wollen.
154.
»Heitere« Musik. – Hat man lange die Musik entbehrt, so geht sie nachher wie ein schwerer Südwein allzuschnell in's Blut und hinterläßt eine narkotisch betäubte, halbwache, schlaf-sehnsüchtige Seele; namentlich thut dies gerade die heitere Musik, welche zusammen Bitterkeit und Verwundung, Überdruß und Heimweh giebt und Alles wie in einem verzuckerten Giftgetränk wieder und wieder zu schlürfen nöthigt. Dabei scheint der Saal der heiter rauschenden Freude sich zu verengern, das Licht an Helle zu verlieren und bräuner zu werden: zuletzt ist es Einem zu Muthe, als ob die Musik wie in ein Gefängniß hineinklinge, wo ein armer Mensch vor Heimweh nicht schlafen kann.
155.
Franz Schubert. – Franz Schubert, ein geringerer Artist als die andern großen Musiker, hatte doch von Allen den größten Erbreichthum an Musik. Er verschwendete ihn mit voller Hand und aus gütigem Herzen: so daß die Musiker noch ein paar Jahrhunderte an seinen Gedanken und Einfällen zu zehren haben werden. In seinen Werken haben wir einen Schatz von unverbrauchten Erfindungen; Andre werden ihre Größe im Verbrauchen haben. – Dürfte man Beethoven den idealen Zuhörer eines Spielmannes nennen, so hätte Schubert darauf ein Anrecht, selber der ideale Spielmann zu heißen.
156.
Modernster Vortrag der Musik. – Der große tragisch-dramatische Vortrag in der Musik bekommt seinen Charakter durch Nachahmung der Gebärden des großen Sünders, wie ihn das Christenthum sich denkt und wünscht: des langsam Schreitenden, leidenschaftlich Grübelnden, des von Gewissensqual Hin- und Hergeworfenen, des entsetzt Fliehenden, des entzückt Haschenden, des verzweifelt Stillestehenden – und was sonst Alles die Merkmale des großen Sünderthums sind. Nur unter der Voraussetzung des Christen, daß alle Menschen große Sünder sind und gar Nichts thun, als sündigen, ließe es sich rechtfertigen, jenen Stil des Vortrags auf alle Musik anzuwenden: insofern die Musik das Abbild alles menschlichen Thun und Treibens wäre, und als solches die Gebärdensprache des großen Sünders fortwährend zu sprechen hätte. Ein Zuhörer, der nicht genug Christ wäre, um diese Logik zu verstehen, dürfte freilich bei einem solchen Vortrage erschreckt ausrufen: »Um des Himmels willen, wie ist denn die Sünde in die Musik gekommen!«
157.
Felix Mendelssohn. – Felix Mendelssohn's Musik ist die Musik des guten Geschmacks an allem Guten, was dagewesen ist: sie weist immer hinter sich. Wie könnte sie viel »Vor-sich«, viel Zukunft haben! – Aber hat er sie denn haben wollen? Er besaß eine Tugend, die unter Künstlern selten ist, die der Dankbarkeit ohne Nebengedanken: auch diese Tugend weist immer hinter sich.
158.
Eine Mutter der Künste. – In unserem skeptischen Zeitalter gehört zur eigentlichen Devotion fast ein brutaler Heroismus des Ehrgeizes; das fanatische Augenschließen und Kniebeugen genügt nicht mehr. Wäre es nicht möglich, daß der Ehrgeiz, in der Devotion der Letzte für alle Zeiten zu sein, der Vater einer letzten katholischen Kirchenmusik würde, wie er schon der Vater des letzten kirchlichen Baustils gewesen ist? (Man nennt ihn Jesuitenstil.)
159.
Freiheit in Fesseln – eine fürstliche Freiheit. – Der letzte der neueren Musiker, der die Schönheit geschaut und angebetet hat, gleich Leopardi, der Pole Chopin, der Unnachahmliche – alle vor und nach ihm Gekommenen haben auf dies Beiwort kein Anrecht – Chopin hatte dieselbe fürstliche Vornehmheit der Convention, welche Raffael im Gebrauche der herkömmlichsten einfachsten Farben zeigt, – aber nicht in Bezug auf Farben, sondern auf die melodischen und rhythmischen Herkömmlichkeiten. Diese ließ er gelten, als geboren in der Etiquette, aber wie der freieste und anmuthigste Geist in diesen Fesseln spielend und tanzend – und zwar ohne sie zu verhöhnen.
160.
Chopin's Barcarole. – Fast alle Zustände und Lebensweisen haben einen seligen Moment. Den wissen die guten Künstler herauszufischen. So hat einen solchen selbst das Leben am Strande, das so langweilige, schmutzige, ungesunde, in der Nähe des lärmendsten und habgierigsten Gesindels sich abspinnende; – diesen seligen Moment hat Chopin, in der Barcarole, so zum Ertönen gebracht, daß selbst Götter dabei gelüsten könnte, lange Sommerabende in einem Kahne zu liegen.
161.
Robert Schumann. – Der »Jüngling«, wie ihn die romantischen Liederdichter Deutschland's und Frankreich's um das erste Drittel dieses Jahrhunderts träumten, – dieser Jüngling ist vollständig in Sang und Ton übersetzt worden – durch Robert Schumann, den ewigen Jüngling, so lange er sich in voller eigner Kraft fühlte: es giebt freilich Momente, in denen seine Musik an die ewige »alte Jungfer« erinnert.
162.
Die dramatischen Sänger. – »Warum singt dieser Bettler?« – Er versteht wahrscheinlich nicht zu jammern. – »Dann thut er Recht: aber unsere dramatischen Sänger, welche jammern, weil sie nicht zu singen verstehen – thun sie auch das Rechte?«
163.
Dramatische Musik. – Für Den, welcher nicht sieht, was auf der Bühne vorgeht, ist die dramatische Musik ein Unding; so gut der fortlaufende Commentar zu einem verloren gegangenen Texte ein Unding ist. Sie verlangt ganz eigentlich, daß man auch die Ohren dort habe, wo die Augen stehen; damit ist aber an Euterpe Gewalt geübt: diese arme Muse will, daß man ihre Augen und Ohren dort stehen lasse, wo alle anderen Musen sie auch haben.
164.
Sieg und Vernünftigkeit. – Leider entscheidet auch bei den aesthetischen Kriegen, welche Künstler mit ihren Werken und deren Schutzreden erregen, zuletzt die Kraft und nicht die Vernunft. Jetzt nimmt alle Welt als historische Thatsache an, daß Gluck im Kampfe mit Piccini Recht gehabt habe: jedenfalls hat er gesiegt; die Kraft stand auf seiner Seite.
165.
Vom Principe des Vortrags in der Musik. – Glauben denn wirklich die jetzigen Künstler des musikalischen Vortrags, das höchste Gebot ihrer Kunst sei, jedem Stück so viel Hochrelief zu geben, als nur möglich ist, und es um jeden Preis eine dramatische Sprache reden zu lassen? Ist dies, zum Beispiel auf Mozart angewendet, nicht ganz eigentlich eine Sünde wider den Geist, den heiteren, sonnigen, zärtlichen, leichtsinnigen Geist Mozart's, dessen Ernst ein gütiger und nicht ein furchtbarer Ernst ist, dessen Bilder nicht aus der Wand herausspringen wollen, um die Anschauenden in Entsetzen und Flucht zu jagen. Oder meint ihr, Mozartische Musik sei gleichbedeutend mit »Musik des steinernen Gastes«? Und nicht nur Mozartische, sondern alle Musik? – Aber ihr entgegnet, die größere Wirkung spreche zu Gunsten eures Princips – und ihr hättet Recht, wofern nicht die Gegenfrage übrig bliebe, auf wen da gewirkt worden sei, und auf wen ein vornehmer Künstler überhaupt nur wirken wollen dürfe! Niemals auf das Volk! Niemals auf die Unreifen! Niemals auf die Empfindsamen! Niemals auf die Krankhaften! Vor Allem aber: niemals auf die Abgestumpften!
166.
Musik von Heute. – Diese modernste Musik, mit ihren starken Lungen und schwachen Nerven, erschrickt immer zuerst vor sich selber.
167.
Wo die Musik heimisch ist. – Die Musik erlangt ihre große Macht nur unter Menschen, welche nicht diskutiren können oder dürfen. Ihre Förderer ersten Ranges sind deshalb Fürsten, welche wollen, daß in ihrer Nähe nicht viel kritisirt, ja nicht einmal viel gedacht werde; sodann Gesellschaften, welche, unter irgend einem Drucke (einem fürstlichen oder religiösen) sich an das Schweigen gewöhnen müssen, aber um so stärkere Zaubermittel gegen die Langeweile des Gefühls suchen (gewöhnlich die ewige Verliebtheit und die ewige Musik); drittens ganze Völker, in denen es keine »Gesellschaft« giebt, aber um so mehr Einzelne mit einem Hang zur Einsamkeit, zu halbdunklen Gedanken und zur Verehrung alles Unaussprechlichen: es sind die eigentlichen Musikseelen. – Die Griechen, als ein red- und streitlustiges Volk, haben deshalb die Musik nur als Zukost zu Künsten vertragen, über welche sich wirklich streiten und reden läßt: während über die Musik sich kaum reinlich denken läßt. Die Pythagoreer, jene Ausnahme-Griechen in vielen Stücken, waren, wie verlautet, auch große Musiker: dieselben, welche das fünfjährige Schweigen, aber nicht die Dialektik erfunden haben.
168.
Sentimentalität in der Musik. – Man sei der ernsten und reichen Musik noch so gewogen, um so mehr vielleicht wird man in einzelnen Stunden von dem Gegenstück derselben überwunden, bezaubert und fast hinweggeschmolzen: ich meine: von jenen allereinfachsten italiänischen Opern-Melismen, welche, trotz aller rhythmischen Einförmigkeit und harmonischen Kinderei, uns mitunter wie die Seele der Musik selber anzusingen scheinen. Gebt es zu oder nicht, ihr Pharisäer des guten Geschmacks: es ist so, und mir liegt jetzt daran, dieses Räthsel, daß es so ist, zum Rathen aufzugeben und selber ein Wenig daran herumzurathen. – Als wir noch Kinder waren, haben wir den Honigseim vieler Dinge zum ersten Mal gekostet, niemals wieder war der Honig so gut wie damals, er verführte zum Leben, zum längsten Leben, in der Gestalt des ersten Frühlings, der ersten Blumen, der ersten Schmetterlinge, der ersten Freundschaft. Damals – es war vielleicht um das neunte Jahr unseres Lebens – hörten wir die erste Musik, und das war die, welche wir zuerst verstanden, die einfachste und kindlichste also, welche nicht viel mehr als ein Weiterspinnen des Ammenliedes und der Spielmannsweise war. (Man muß nämlich auch für die geringsten »Offenbarungen« der Kunst erst vorbereitet und eingelernt werden: es giebt durchaus keine »unmittelbare« Wirkung der Kunst, so schön auch die Philosophen davon gefabelt haben.) An jene eisten musikalischen Entzückungen – die stärksten unseres Lebens – knüpft unsere Empfindung an, wenn wir jene italiänischen Melismen hören: die Kindes-Seligkeit und der Verlust der Kindheit, das Gefühl des Unwiederbringlichsten als des köstlichsten Besitzes – das rührt dabei die Saiten unsrer Seele an, so stark wie es die reichste und ernsteste Gegenwart der Kunst allein nicht vermag. – Diese Mischung aesthetischer Freude mit einem moralischen Kummer, welche man gemeinhin jetzt »Sentimentalität« zu nennen pflegt, etwas gar zu hoffährtig, wie mir scheint – es ist die Stimmung Faustens am Schlusse der ersten Scene – diese »Sentimentalität« der Hörenden kommt der italiänischen Musik zu Gute, welche sonst die erfahrenen Feinschmecker der Kunst, die reinen »Aesthetiker«, zu ignoriren lieben. – Übrigens wirkt fast jede Musik erst von da an zauberhaft, wo wir aus ihr die Sprache der eigenen Vergangenheit reden hören: und insofern scheint dem Laien alle alte Musik immer besser zu werden, und alle eben geborene nur wenig werth zu sein: denn sie erregt noch keine »Sentimentalität«, welche, wie gesagt, das wesentlichste Glücks-Element der Musik für Jeden ist, der nicht rein als Artist sich an dieser Kunst zu freuen vermag.
169.
Als Freunde der Musik.– Zuletzt sind und bleiben wir der Musik gut, wie wir dem Mondlicht gut bleiben. Beide wollen ja nicht die Sonne verdrängen, – sie wollen nur, so gut sie es können, unsere Nächte erhellen. Aber nicht wahr? scherzen und lachen dürfen wir trotzdem über sie? Ein Wenig wenigstens? Und von Zeit zu Zeit? Über den Mann im Monde! Über das Weib in der Musik!
170.
Die Kunst in der Zeit der Arbeit. – Wir haben das Gewissen eines arbeitsamen Zeitalters: dies erlaubt uns nicht, die besten Stunden und Vormittage der Kunst zu geben, und wenn diese Kunst selber die größte und würdigste wäre. Sie gilt uns als Sache der Muße, der Erholung: wir weihen ihr die Reste unserer Zeit, unserer Kräfte. – Dies ist die allgemeinste Thatsache, durch welche die Stellung der Kunst zum Leben verändert ist: sie hat, wenn sie ihre großen Zeit- und Kraft-Ansprüche an die Kunst-Empfangenden macht, das Gewissen der Arbeitsamen und Tüchtigen gegen sich, sie ist aus die Gewissenlosen und Lässigen angewiesen, welche aber, ihrer Natur nach, gerade der großen Kunst nicht zugethan sind und ihre Ansprüche als An- Maaßungen empfinden. Es dürfte deshalb mit ihr zu Ende sein, weil ihr die Luft und der freie Athem fehlt: oder – die große Kunst versucht, in einer Art Vergröberung und Verkleidung, in jener anderen Luft heimisch zu werden (mindestens es in ihr auszuhalten), die eigentlich nur für die kleine Kunst, für die Kunst der Erholung, der ergötzlichen Zerstreuung das natürliche Element ist. Dies geschieht jetzt allerwärts; auch die Künstler der großen Kunst versprechen Erholung und Zerstreuung, auch sie wenden sich an den Ermüdeten, auch sie bitten ihn um die Abendstunden seines Arbeitstages, – ganz wie die unterhaltenden Künstler, welche zufrieden sind, gegen den schweren Ernst der Stirnen, das Versunkene der Augen einen Sieg errungen zu haben. Welches ist nun der Kunstgriff ihrer größeren Genossen? Diese haben in ihren Büchsen die gewaltsamsten Erregungsmittel, bei denen selbst der Halbtodte noch zusammenschrecken muß; sie haben Betäubungen, Berauschungen, Erschütterungen, Thränenkrämpfe: mit diesen überwältigen sie den Ermüdeten und bringen ihn in eine übernächtige Überlebendigkeit, in ein Außer-sich-sein des Entzückens und des Schreckens. Dürfte man, wegen der Gefährlichkeit ihrer Mittel, der großen Kunst, wie sie jetzt, als Oper, Tragödie und Musik, lebt, – dürfte man ihr als einer arglistigen Sünderin zürnen? Gewiß nicht: sie lebte ja selber hundertmal lieber in dem reinen Element der morgendlichen Stille und wendete sich an die erwartenden, unverbrauchten, kraftgefüllten Morgen-Seelen der Zuschauer und Zuhörer. Danken wir ihr, daß sie es vorzieht, so zu leben, als davonzufliehen: aber gestehen wir uns auch ein, daß für ein Zeitalter, welches einmal wieder freie, volle Fest« und Freudentage in das Leben einführt, unsere große Kunst unbrauchbar sein wird.
171.
Die Angestellten der Wissenschaft und die Anderen. – Die eigentlich tüchtigen und erfolgreichen Gelehrten könnte man insgesammt als »Angestellte« bezeichnen. Wenn, in jungen Jahren, ihr Scharfsinn hinreichend geübt, ihr Gedächtniß gefüllt ist, wenn Hand und Auge Sicherheit gewonnen haben, so werden sie von einem älteren Gelehrten auf eine Stelle der Wissenschaft angewiesen, wo ihre Eigenschaften Nutzen bringen können; späterhin, nachdem sie selber den Blick für die lückenhaften und schadhaften Stellen ihrer Wissenschaft erlangt haben, stellen sie sich von selber dorthin, wo sie noth thun. Diese Naturen allesammt sind um der Wissenschaft willen da: aber es giebt seltnere, selten gelingende und völlig ausreifende Naturen, »um derentwillen die Wissenschaft da ist« – wenigstens scheint es ihnen selber so –: oft unangenehme, oft eingebildete, oft querköpfige, fast immer aber bis zu einem Grade zauberhafte Menschen. Sie sind nicht Angestellte, und auch nicht Ansteller, sie bedienen sich dessen, was von Jenen erarbeitet und sichergestellt worden ist, in einer gewissen fürstenhaften Gelassenheit und mit geringem und seltenem Lobe: gleichsam als ob Jene einer niedrigern Gattung von Wesen angehörten. Und doch haben sie eben nur die gleichen Eigenschaften, wodurch diese Anderen sich auszeichnen, und diese mitunter sogar ungenügender entwickelt: obendrein ist ihnen eine Beschränktheit eigenthümlich, die Jenen fehlt, um derentwegen es unmöglich ist, sie an einen Posten zu stellen und in ihnen nützliche Werkzeuge zu sehen, – sie können nur in ihrer eigenen Luft, auf eigenem Boden leben. Diese Beschränktheit giebt ihnen ein, was Alles von einer Wissenschaft »zu ihnen gehöre«, das heißt, was sie in ihre Luft und Wohnung heimtragen können; sie wähnen immer ihr zerstreutes »Eigenthum« zu sammeln. Verhindert man sie, an ihrem eigenen Neste zu bauen, so gehen sie wie obdachlose Vögel zu Grunde; Unfreiheit ist für sie Schwindsucht. Pflegen sie einzelne Gegenden der Wissenschaft in der Art jener Anderen, so sind es doch immer nur solche, wo gerade die ihnen nöthigen Früchte und Samen gedeihen; was geht es sie an, ob die Wissenschaft, im Ganzen gesehen, unangebaute oder schlecht gepflegte Gegenden hat? Es fehlt ihnen jede unpersönliche Theilnahme an einem Problem der Erkenntniß; wie sie selber durch und durch Person sind, so wachsen auch alle ihre Einsichten und Kenntnisse wieder zu einer Person zusammen, zu einem lebendigen Vielfachen, dessen einzelne Theile von einander abhängen, in einander greifen, gemeinsam ernährt werden, das als Ganzes eine eigne Luft und einen eignen Geruch hat. – Solche Naturen bringen, mit diesen ihren personenhaften Erkenntniß-Gebilden, jene Täuschung hervor, daß eine Wissenschaft (oder gar die ganze Philosophie) fertig sei und am Ziele stehe; das Leben in ihrem Gebilde übt diesen Zauber aus: als welcher zu Zeiten sehr verhängnißvoll für die Wissenschaft und irreführend für jene vorhin beschriebenen, eigentlich tüchtigen Arbeiter des Geistes gewesen ist, zu andern Zeiten wiederum, als die Dürre und die Ermattung herrschten, wie ein Labsal und gleich dem Anhauche einer kühlen, erquicklichen Raststätte gewirkt hat. – Gewöhnlich nennt man solche Menschen Philosophen.
172.
Anerkennung des Talents. – Als ich durch das Dorf S. gieng, fieng ein Knabe aus Leibeskräften an, mit der Peitsche zu knallen, – er hatte es schon weit in dieser Kunst gebracht und wußte es. Ich warf ihm einen Blick der Anerkennung zu, – im Grunde that mir's bitter wehe. – So machen wir es bei der Anerkennung vieler Talente. Wir thun ihnen wohl, wenn sie uns wehe thun.
173.
Lachen und Lächeln. – Je freudiger und sicherer der Geist wird, umsomehr verlernt der Mensch das laute Gelächter; dagegen quillt ihm ein geistiges Lächeln fortwährend auf, ein Zeichen seines Verwunderns über die zahllosen versteckten Annehmlichkeiten des guten Daseins.
174.
Unterhaltung der Kranken. – Wie man bei seelischem Kummer sich die Haare rauft, sich vor die Stirn schlägt, die Wange zerfleischt oder gar wie Ödipus die Augen ausbohrt: so ruft man gegen heftige körperliche Schmerzen mitunter eine heftige bittere Empfindung zu Hülfe, durch Erinnerung an Verleumder und Verdächtiger, durch Verdüsterung unserer Zukunft, durch Bosheiten und Dolchstiche, welche man im Geiste gegen Abwesende schleudert. Und es ist bisweilen dabei wahr: daß ein Teufel den andern austreibt, – aber man hat dann den andern. – Darum sei den Kranken jene andere Unterhaltung anempfohlen, bei der sich die Schmerzen zu mildern scheinen: über Wohlthaten und Artigkeiten nachzudenken, welche man Freund und Feind erweisen kann.
175.
Mediokrität als Maske. – Die Mediokrität ist die glücklichste Maske, die der überlegene Geist tragen kann, weil sie die große Menge, das heißt die Mediokren, nicht an Maskirung denken läßt –: und doch nimmt er sie gerade ihretwegen vor,– um sie nicht zu reizen, ja nicht selten aus Mitleid und Güte.
176.
Die Geduldigen. – Die Pinie scheint zu horchen, die Tanne zu warten: und beide ohne Ungeduld: – sie denken nicht an den kleinen Menschen unter sich, den seine Ungeduld und seine Neugierde auffressen.
177.
Die besten Scherze. – Der Scherz ist mir am willkommensten, der an Stelle eines schweren, nicht unbedenklichen Gedankens steht, zugleich als Wink mit dem Finger und Blinzeln des Auges.
178.
Zubehör aller Verehrung. – Überall, wo die Vergangenheit verehrt wird, soll man die Säuberlichen und Säubernden nicht einlassen. Der Pietät wird ohne ein wenig Staub, Unrath und Unflath nicht wohl.
179.
Die große Gefahr der Gelehrten. – Gerade die tüchtigsten und gründlichsten Gelehrten sind in der Gefahr, ihr Lebensziel immer niedriger gesteckt zu sehen und, im Gefühle davon, in der zweiten Hälfte ihres Lebens immer mißmuthiger und unverträglicher zu werden. Zuerst schwimmen sie mit breiten Hoffnungen in ihre Wissenschaft hinein und messen sich kühnere Aufgaben zu, deren Ziele mitunter durch ihre Phantasie schon vorweggenommen werden: dann giebt es Augenblicke wie im Leben der großen entdeckenden Schiffahrer, – Wissen, Ahnung und Kraft heben einander immer höher, bis eine ferne neue Küste zum ersten Male dem Auge aufdämmert. Nun erkennt aber der strenge Mensch von Jahr zu Jahr mehr, wie viel daran gelegen ist, daß die Einzelaufgabe des Forschers so beschränkt wie möglich genommen werde, damit sie ohne Rest gelöst werden könne und jene unerträgliche Vergeudung von Kraft vermieden werde, an welcher frühere Perioden der Wissenschaft litten: alle Arbeiten wurden zehnmal gemacht, und dann hatte immer noch der Elfte das letzte und beste Wort zu sagen. Je mehr aber der Gelehrte dieses Räthsel-Lösen ohne Rest kennen lernt und übt, um so größer wird auch seine Lust daran: aber ebenso wächst auch die Strenge seiner Ansprüche in Bezug auf Das, was hier »ohne Rest« genannt ist. Er legt Alles bei Seite, was in diesem Sinne unvollständig bleiben muß, er gewinnt einen Widerwillen und eine Witterung gegen das Halb-Lösbare, – gegen Alles, was nur im Ganzen und Unbestimmteren eine Art Sicherheit ergeben kann. Seine Jugendpläne zerfallen vor seinem Blicke: kaum bleiben einige Knoten und Knötchen daraus übrig, an deren Entknüpfung jetzt der Meister seine Lust hat, seine Kraft zeigt. Und nun, mitten in dieser so nützlichen, so rastlosen Thätigkeit überfällt ihn, den Ältergewordenen, plötzlich und dann öfter wieder ein tiefer Mißmuth, eine Art Gewissens-Qual: er sieht auf sich hin, wie auf einen Verwandelten, als ob er verkleinert, erniedrigt, zum kunstfertigen Zwergen umgeschaffen wäre, er beunruhigt sich darüber, ob nicht das meisterliche Walten im Kleinen eine Bequemlichkeit sei, eine Ausflucht vor der Mahnung zur Größe des Lebens und Gestaltens. Aber er kann nicht mehr hinüber, – die Zeit ist um.
180.
Die Lehrer im Zeitalter der Bücher. – Dadurch, daß die Selbst-Erziehung und Verbrüderungs-Erziehung allgemeiner wird, muß der Lehrer in seiner jetzt gewöhnlichen Form fast entbehrlich werden. Lernbegierige Freunde, die sich zusammen ein Wissen aneignen wollen, finden in unserer Zeit der Bücher einen kürzeren und natürlicheren Weg, als »Schule« und »Lehrer« sind.
181.
Die Eitelkeit als die große Nützlichkeit. – Ursprünglich behandelt der starke Einzelne nicht nur die Natur, sondern auch die Gesellschaft und die schwächeren Einzelnen als Gegenstand des Raub-Baues: er nützt sie aus, so viel er kann, und geht dann weiter. Weil er sehr unsicher lebt, wechselnd zwischen Hunger und Überfluß, so tödtet er mehr Thiere, als er verzehren kann, und plündert und mißhandelt die Menschen mehr, als nöthig wäre. Seine Machtäußerung ist eine Racheäußerung zugleich gegen seinen pein- und angstvollen Zustand: sodann will er für mächtiger gelten, als er ist, und mißbraucht deshalb die Gelegenheiten: der Furchtzuwachs, den er erzeugt, ist sein Machtzuwachs. Er merkt zeitig, daß nicht Das, was er ist, sondern Das, was er gilt, ihn trägt oder niederwirft: hier ist der Ursprung der Eitelkeit. Der Mächtige sucht mit allen Mitteln Vermehrung des Glaubens an seine Macht. – Die Unterworfenen, die vor ihm zittern und ihm dienen, wissen wiederum, daß sie genau so viel werth sind, als sie ihm gelten: weshalb sie auf diese Geltung hinarbeiten und nicht auf ihre eigene Befriedigung an sich. Wir kennen die Eitelkeit nur in den abgeschwächtesten Formen, in ihren Sublimirungen und kleinen Dosen, weil wir in einem späten und sehr gemilderten Zustande der Gesellschaft leben: ursprünglich ist sie die große Nützlichkeit, das stärkste Mittel der Erhaltung. Und zwar wird die Eitelkeit um so größer sein, je klüger der Einzelne ist: weil die Vermehrung des Glaubens an Macht leichter ist, als die Vermehrung der Macht selber, aber nur für Den, der Geist hat – oder, wie es für Urzustände heißen muß, der listig und hinterhaltig ist.
182.
Wetterzeichen der Cultur. – Es giebt so wenig entscheidende Wetterzeichen der Cultur, daß man froh sein muß, für seinen Haus- und Gartengebrauch wenigstens Ein untrügliches in den Händen zu haben. Um zu prüfen, ob Jemand zu uns gehört oder nicht – ich meine zu den freien Geistern –, so prüfe man seine Empfindung für das Christenthum. Steht er irgendwie anders zu ihm als kritisch, so kehren wir ihm den Rücken: er bringt uns unreine Luft und schlechtes Wetter. – Unsere Aufgabe ist es nicht mehr, solche Menschen zu lehren, was ein Scirocco-Wind ist; sie haben Mosen und die Propheten des Wetters und der Aufklärung: wollen sie diese nicht hören, so –
183.
Zürnen und strafen hat seine Zeit. – Zürnen und strafen ist unser Angebinde von der Thierheit her. Der Mensch wird erst mündig, wenn er dies Wiegengeschenk den Thieren zurückgiebt. – Hier liegt einer der größten Gedanken vergraben, welche Menschen haben können, der Gedanke an einen Fortschritt aller Fortschritte. – Gehen wir einige Jahrtausende mit einander vorwärts, meine Freunde! Es ist sehr viel Freude noch den Menschen vorbehalten, wovon den Gegenwärtigen noch kein Geruch zugeweht ist! Und zwar dürfen wir uns diese Freude versprechen, ja als etwas Notwendiges verheißen und beschwören, im Fall nur die Entwicklung der menschlichen Vernunft nicht stille steht! Einstmals wird man die logische Sünde, welche im Zürnen und Strafen, einzeln oder gesellschaftsweise geübt, verborgen liegt, nicht mehr über's Herz bringen: einstmals, wenn Herz und Kopf so nah bei einander zu wohnen gelernt haben, wie sie jetzt noch einander ferne stehen. Daß sie sich nicht mehr so ferne stehen wie ursprünglich, ist beim Blick auf den ganzen Gang der Menschheit ziemlich ersichtlich; und der Einzelne, der ein Leben innerer Arbeit zu überschauen hat, wird mit stolzer Freude sich der überwundenen Entfernung, der erreichten Annäherung bewußt werden, um darauf hin noch größere Hoffnungen wagen zu dürfen.
184.
Abkunft der »Pessimisten«. – Ein Bissen guter Nahrung entscheidet oft, ob wir mit hohlem Auge oder hoffnungsreich in die Zukunft schauen: dies reicht in's Höchste und Geistigste hinauf. Die Unzufriedenheit und Welt-Schwärzerer ist dem gegenwärtigen Geschlechte von den ehemaligen Hungerleidern her vererbt. Auch unfern Künstlern und Dichtern merkt man häufig an, wenn sie selber auch noch so üppig leben, daß sie von keiner guten Herkunft sind, daß sie von unterdrückt lebenden und schlecht genährten Vorfahren Mancherlei in's Blut und Gehirn mitbekommen haben, was als Gegenstand und gewählte Farbe in ihrem Werke wieder sichtbar wird. Die Cultur der Griechen ist die der Vermögenden und zwar der Altvermögenden: sie lebten ein paar Jahrhunderte hindurch besser als wir (in jedem Sinne besser, namentlich viel einfacher in Speise und Trank): da wurden endlich die Gehirne so voll und fein zugleich, da floß das Blut so rasch hindurch, einem freudigen, hellen Weine gleich, daß das Gute und Beste bei ihnen nicht mehr düster, verzückt und gewaltsam, sondern schön und sonnenhaft heraustrat.
185.
Vom vernünftigen Tode. – Was ist vernünftiger, die Maschine stillzustellen, wenn das Werk, das man von ihr verlangte, ausgeführt ist, – oder sie laufen zu lassen, bis sie von selber stille steht, das heißt bis sie verdorben ist? Ist Letzteres nicht eine Vergeudung der Unterhaltungskosten, ein Mißbrauch mit der Kraft und Aufmerksamkeit der Bedienenden? Wird hier nicht weggeworfen, was anderswo sehr noth thäte? Wird nicht selbst eine Art Mißachtung gegen die Maschinen überhaupt verbreitet, dadurch, daß viele von ihnen so nutzlos unterhalten und bedient werden? – Ich spreche vom unfreiwilligen (natürlichen) und vom freiwilligen (vernünftigen) Tode. Der natürliche Tod ist der von aller Vernunft unabhängige, der eigentlich unvernünftige Tod, bei dem die erbärmliche Substanz der Schale darüber bestimmt, wie lange der Kern bestehen soll oder nicht: bei dem also der verkümmernde, oft kranke und stumpfsinnige Gefängnißwärter der Herr ist, der den Punkt bezeichnet, wo sein vornehmer Gefangener sterben soll. Der natürliche Tod ist der Selbstmord der Natur, das heißt die Vernichtung des vernünftigen Wesens durch das unvernünftige, welches an das Erstere gebunden ist. Nur unter der religiösen Beleuchtung kann es umgekehrt erscheinen: weil dann, wie billig, die höhere Vernunft (Gottes) ihren Befehl giebt, dem die niedere Vernunft sich zu fügen hat. Außerhalb der religiösen Denkungsart ist der natürliche Tod keiner Verherrlichung werth. – Die weisheitsvolle Anordnung und Verfügung des Todes gehört in jene jetzt ganz unfaßbar und unmoralisch klingende Moral der Zukunft, in deren Morgenröthe zu blicken ein unbeschreibliches Glück sein muß.
186.
Zurückbildend. – Alle Verbrecher zwingen die Gesellschaft auf frühere Stufen der Cultur zurück, als die ist, auf welcher sie gerade steht; sie wirken zurückbildend. Man denke an die Werkzeuge, welche die Gesellschaft der Nothwehr halber sich schaffen und unterhalten muß: an den verschmitzten Polizisten, den Gefängnißwärter, den Henker; man vergesse den öffentlichen Ankläger und den Advokaten nicht; endlich frage man sich, ob nicht der Richter selber und die Strafe und das ganze Gerichtsverfahren in ihrer Wirkung auf die Nicht-Verbrecher viel eher niederdrückende, als erhebende Erscheinungen sind: es wird aber nie gelingen, der Nothwehr und der Rache das Gewand der Unschuld umzulegen: und so oft man den Menschen als ein Mittel zum Zwecke der Gesellschaft benutzt und opfert, trauert alle höhere Menschlichkeit darüber.
187.
Krieg als Heilmittel. – Matt und erbärmlich werdenden Völkern mag der Krieg als Heilmittel anzurathen sein, falls sie nämlich durchaus noch fortleben wollen: denn es giebt für die Völker-Schwindsucht auch eine Brutalitäts-Kur. Das ewige Leben-wollen und Nicht-sterben-können ist aber selber schon ein Zeichen von Greisenhaftigkeit der Empfindung: je voller und tüchtiger man lebt, um so schneller ist man bereit, das Leben für eine einzige gute Empfindung dahin zu geben. Ein Volk, das so lebt und empfindet, hat die Kriege nicht nöthig.
188.
Geistige und leibliche Verpflanzung als Heilmittel. – Die verschiedenen Culturen sind verschiedene geistige Klimata, von denen ein jedes diesem oder jenem Organismus vornehmlich schädlich oder heilsam ist. Die Historie im Ganzen, als das Wissen um die verschiedenen Culturen, ist die Heilmittellehre, nicht aber die Wissenschaft der Heilkunst selber. Der Arzt ist erst recht noch nöthig, der sich dieser Heilmittellehre bedient, um Jeden in sein ihm gerade ersprießliches Klima zu senden – zeitweilig oder aus immer. In der Gegenwart leben, innerhalb einer einzigen Cultur, genügt nicht als allgemeines Recept, dabei würden zu viele höchst nützliche Arten von Menschen aussterben, die in ihr nicht gesund athmen können. Mit der Historie muß man ihnen Luft machen und sie zu erhalten suchen; auch die Menschen zurückgebliebener Culturen haben ihren Werth. – Dieser Kur der Geister steht zur Seite, daß die Menschheit in leiblicher Beziehung darnach streben muß, durch eine medicinische Geographie dahinterzukommen, zu welchen Entartungen und Krankheiten jede Gegend der Erde Anlaß giebt, und umgekehrt welche Heilfaktoren sie bietet: und dann müssen allmählich Völker, Familien und Einzelne so lange und so anhaltend verpflanzt werden, bis man über die angeerbten physischen Gebrechen Herr geworden ist. Die ganze Erde wird endlich eine Summe von Gesundheits-Stationen sein.
189.
Der Baum der Menschheit und die Vernunft. – Das, was ihr als Übervölkerung der Erde in greisenhafter Kurzsichtigkeit fürchtet, giebt dem Hoffnungsvolleren eben die große Aufgabe in die Hand: die Menschheit soll einmal ein Baum werden, der die ganze Erde überschattet, mit vielen Milliarden von Blüthen, die alle neben einander Früchte werden sollen, und die Erde selbst soll zur Ernährung dieses Baumes vorbereitet werden. Daß der jetzige noch kleine Ansatz dazu an Saft und Kraft zunehme, daß in unzähligen Canälen der Saft zur Ernährung des Ganzen und des Einzelnen umströme – aus diesen und ähnlichen Aufgaben ist der Maßstab zu entnehmen, ob ein jetziger Mensch nützlich oder unnütz ist. Die Aufgabe ist unsäglich groß und kühn: wir Alle wollen dazu thun, daß der Baum nicht vor der Zeit verfaule! Dem historischen Kopfe gelingt es wohl, das menschliche Wesen und Treiben sich im Ganzen der Zeit so vor die Augen zu stellen, wie uns Allen das Ameisen-Wesen mit ihren kunstvoll gethürmten Haufen vor Augen steht. Oberflächlich beurtheilt, würde auch das gesammte Menschenthum gleich dem Ameisenthum von »Instinkt« reden lassen. Bei strengerer Prüfung nehmen wir wahr, wie ganze Völker, ganze Jahrhunderte sich abmühen, neue Mittel ausfindig zu machen und auszuprobiren, womit man einem großen menschlichen Ganzen und zuletzt dem großen Gesammt-Fruchtbaume der Menschheit wohlthun könne; und was auch immer bei diesem Ausprobiren die Einzelnen, die Völker und die Zeiten für Schaden leiden, durch diesen Schaden sind jedesmal Einzelne klug geworden, und von ihnen aus strömt die Klugheit langsam auf die Maßregeln ganzer Völker, ganzer Zeiten über. Auch die Ameisen irren und vergreifen sich; die Menschheit kann recht wohl durch Thorheit der Mittel verderben und verdorren, vor der Zeit, es giebt weder für Jene, noch für Diese einen sicher führenden Instinkt. Wir müssen vielmehr der großen Aufgabe in's Gesicht sehen, die Erde für ein Gewächs der größten und freudigsten Fruchtbarkeit vorzubereiten, – einer Aufgabe der Vernunft für die Vernunft!
190.
Das Lob des Uneigennützigen – sein Ursprung. – Zwischen zwei nachbarlichen Häuptlingen war seit Jahren Hader: man verwüstete einander die Saaten, führte Heerden weg, brannte Häuser nieder, mit einem unentschiedenen Erfolge im Ganzen, weil ihre Macht ziemlich gleich war. Ein Dritter, der durch die abgeschlossene Lage seines Besitzthums von diesen Fehden sich fernhalten konnte, aber doch Grund hatte, den Tag zu fürchten, an dem einer dieser händelsüchtigen Nachbarn entscheidend zum Übergewicht kommen würde, trat endlich zwischen die Streitenden, mit Wohlwollen und Feierlichkeit: und im Geheimen legte er auf seinen Friedensvorschlag ein schweres Gewicht, indem er Jedem einzeln zu verstehen gab, fürderhin gegen Den, welcher sich wider den Frieden sträube, mit dem Andern gemeinsame Sache zu machen. Man kam vor ihm zusammen, man legte zögernd in seine Hand die Hände, welche bisher die Werkzeuge und allzu oft die Ursache des Hasses gewesen waren, – und wirklich, man versuchte es ernstlich mit dem Frieden. Jeder sah mit Erstaunen, wie plötzlich sein Wohlstand, sein Behagen wuchs, wie man jetzt am Nachbar einen kaufs- und verkaufsbereiten Händler, anstatt eines tückischen oder offen höhnenden Übelthäters, hatte, wie selbst, in unvorhergesehenen Nothfällen, man sich gegenseitig aus der Noth ziehen konnte, anstatt, wie es bisher geschehen, diese Noth des Nachbars auszunutzen und auf's Höchste zu steigern; ja es schien, als ob der Menschenschlag in beiden Gegenden sich seitdem verschönert hätte: denn die Augen hatten sich erhellt, die Stirnen sich entrunzelt, Allen war das Vertrauen zur Zukunft zu eigen geworden, – und Nichts ist den Seelen und Leibern der Menschen förderlicher, als dies Vertrauen. Man sah einander alle Jahre am Tage des Bündnisses wieder, die Häuptlinge sowohl wie deren Anhang: und zwar vor dem Angesicht des Mittlers, dessen Handlungsweise man, je größer der Nutzen war, den man ihr verdankte, immer mehr anstaunte und verehrte. Man nannte sie uneigennützig – man hatte den Blick viel zu fest auf den eigenen, seither eingeernteten Nutzen gerichtet, um von der Handlungsweise des Nachbars mehr zu sehen, als daß sein Zustand in Folge derselben sich nicht so verändert habe wie der eigene: er war vielmehr derselbe geblieben, und so schien es, daß Jener den Nutzen nicht im Auge gehabt habe. Zum ersten Male sagte man sich, daß die Uneigennützigkeit eine Tugend sei: gewiß mochten im Kleinen und Privaten sich oftmals bei ihnen ähnliche Dinge ereignet haben, aber man hatte das Augenmerk für diese Tugend erst, als sie zum ersten Male in ganz großer Schrift, lesbar für die ganze Gemeinde, an die Wand gemalt wurde. Erkannt als Tugenden, zu Namen gekommen, in Schätzung gebracht, zur Aneignung anempfohlen sind die moralischen Eigenschaften erst von dem Augenblicke an, da sie sichtbar über Glück und Verhängniß ganzer Gesellschaften entschieden haben: dann ist nämlich die Höhe der Empfindung und die Erregung der inneren schöpferischen Kräfte bei Vielen so groß, daß man dieser Eigenschaft Geschenke bringt, vom Besten, was Jeder hat: der Ernste legt ihr seinen Ernst zu Füßen, der Würdige seine Würde, die Frauen ihre Milde, die Jünglinge alles Hoffnungs- und Zukunftsreiche ihres Wesens; der Dichter leiht ihr Worte und Namen, reiht sie in den Reigentanz ähnlicher Wesen ein, giebt ihr einen Stammbaum und betet zuletzt, wie es Künstler thun, das Gebilde seiner Phantasie als neue Gottheit an – er lehrt sie anbeten. So wird eine Tugend, weil die Liebe und die Dankbarkeit Aller an ihr arbeitet, wie an einer Bildsäule, zuletzt eine Ansammlung des Guten und Verehrungswürdigen, eine Art Tempel und göttlicher Person zugleich. Sie steht fürderhin als einzelne Tugend da, als ein Wesen für sich, was sie bis dahin nicht war, und übt die Rechte und die Macht einer geheiligten Übermenschlichkeit aus. – Im späteren Griechenland standen die Städte voll von solchen vergottmenschlichten Abstractis (man verzeihe das absonderliche Wort um des absonderlichen Begriffs willen); das Volk hatte sich auf seine Art einen platonischen »Ideenhimmel« inmitten seiner Erde hergerichtet, und ich glaube nicht, daß dessen Inwohner weniger lebendig empfunden wurden, als irgend eine althemerische Gottheit.
191.
Dunkel-Zeiten. – »Dunkel-Zeiten« nennt man solche in Norwegen, da die Sonne den ganzen Tag unter dem Horizonte bleibt: die Temperatur fällt dabei fortwährend langsam. – Ein schönes Gleichniß für alle Denker, welchen die Sonne der Menschheits-Zukunft zeitweilig verschwunden ist.
192.
Der Philosoph der Üppigkeit. – Ein Gärtchen, Feigen, kleine Käse und dazu drei oder vier gute Freunde, – das war die Üppigkeit Epikur's.
193.
Die Epochen des Lebens. – Die eigentlichen Epochen im Leben sind jene kurze Zeiten des Stillstandes, mitten inne zwischen dem Aufsteigen und Absteigen eines regierenden Gedankens oder Gefühls. Hier ist wieder einmal Sattheit da: alles Andere ist Durst und Hunger – oder Überdruß.
194.
Der Traum. – Unsere Träume sind, wenn sie einmal ausnahmsweise gelingen und vollkommen werden – für gewöhnlich ist der Traum eine Pfuscher-Arbeit –, symbolische Scenen- und Bilder-Ketten an Stelle einer erzählenden Dichter-Sprache; sie umschreiben unsere Erlebnisse oder Erwartungen oder Verhältnisse mit dichterischer Kühnheit und Bestimmtheit, daß wir dann Morgens immer über uns erstaunt sind, wenn wir uns unserer Träume erinnern. Wir verbrauchen im Traume zu viel Künstlerisches – und sind deshalb am Tage oft zu arm daran.
195.
Natur und Wissenschaft. – Ganz wie in der Natur werden auch in der Wissenschaft die schlechteren unfruchtbareren Gegenden zuerst gut angebaut – weil hierfür eben die Mittel der angehenden Wissenschaft ungefähr ausreichen. Die Bearbeitung der fruchtbarsten Gegenden setzt eine sorgsam entwickelte, ungeheure Kraft von Methode, gewonnene Einzel-Resultate und eine organisirte Schaar von Arbeitern, gut geschulten Arbeitern, voraus; – dies Alles findet sich erst spät zusammen. – Die Ungeduld und der Ehrgeiz greifen oft zu früh nach diesen fruchtbarsten Gegenden; aber die Ergebnisse find dann gleich Null. In der Natur würden sich solche Verluste dadurch rächen, daß die Ansiedler verhungerten.
196.
Einfach leben. – Eine einfache Lebensweise ist jetzt schwer: dazu thut viel mehr Nachdenken und Erfindungsgabe noth, als selbst sehr gescheidte Leute haben. Der Ehrlichste von ihnen wird vielleicht noch sagen: »Ich habe nicht die Zeit, darüber so lange nachzudenken. Die einfache Lebensweise ist für mich ein zu vornehmes Ziel; ich will warten, bis Weisere, als ich bin, sie gefunden haben.«
197.
Spitzen und Spitzchen.– Die geringe Fruchtbarkeit, die häufige Ehelosigkeit und überhaupt die geschlechtliche Kühle der höchsten und cultivirtesten Geister, sowie der zu ihnen gehörenden Klassen, ist wesentlich in der Ökonomie der Menschheit: die Vernunft erkennt und macht Gebrauch davon, daß bei einem äußersten Punkte der geistigen Entwickelung die Gefahr einer nervösen Nachkommenschaft sehr groß ist: solche Menschen sind Spitzen der Menschheit – sie dürfen nicht weiter in Spitzchen auslaufen.
198.
Keine Natur macht Sprünge. – Wenn der Mensch sich noch so stark fortentwickelt und aus einem Gegensatz in den andern überzuspringen scheint: bei genaueren Beobachtungen wird man doch die Verzahnungen auffinden, wo das neue Gebäude aus dem älteren herauswächst. Dies ist die Aufgabe des Biographen: er muß nach dem Grundsatze über das Leben denken, daß keine Natur Sprünge macht.
199.
Zwar reinlich. – Wer sich mit reingewaschenen Lumpen kleidet, kleidet sich zwar reinlich, aber doch lumpenhaft.
200.
Der Einsame spricht. – Man erntet als Lohn für vielen Überdruß, Mißmuth, Langeweile – wie dies Alles eine Einsamkeit ohne Freunde, Bücher, Pflichten, Leidenschaften mit sich bringen muß – jene Viertelstunden tiefster Einkehr in sich und die Natur. Wer sich völlig gegen die Langeweile verschanzt, verschanzt sich auch gegen sich selber: den kräftigsten Labetrunk aus dem eigenen innersten Born wird er nie zu trinken bekommen.
201.
Falsche Berühmtheit. – Ich hasse jene angeblichen Naturschönheiten, welche im Grunde nur durch das Wissen, namentlich das geographische, etwas bedeuten, an sich aber dem schönheitsdurstigen Sinne dürftig bleiben: zum Beispiel die Ansicht des Montblanc von Genf aus – etwas Unbedeutendes ohne die zu Hülfe eilende Gehirnfreude des Wissens; die näheren Berge dort sind alle schöner und ausdrucksvoller – aber »lange nicht so hoch«, wie jenes absurde Wissen, zur Abschwächung, hinzufügt. Das Auge widerspricht dabei dem Wissen: wie soll es sich im Widersprechen wahrhaft freuen können!
202.
Vergnügungs-Reisende. – Sie steigen wie Thiere den Berg hinauf, dumm und schwitzend; man hatte ihnen zu sagen vergessen, daß es unterwegs schöne Aussichten gebe.
203.
Zu viel und zu wenig. – Die Menschen durchleben jetzt Alle zu viel und durchdenken zu wenig: sie haben Heißhunger und Kolik zugleich und werden deshalb immer magerer, so viel sie auch essen. – Wer jetzt sagt: »ich habe Nichts erlebt« – ist ein Dummkopf.
204.
Ende und Ziel. – Nicht jedes Ende ist das Ziel. Das Ende der Melodie ist nicht deren Ziel; aber trotzdem: hat die Melodie ihr Ende nicht erreicht, so hat sie auch ihr Ziel nicht erreicht. Ein Gleichniß.
205.
Neutralität der großen Natur. – Die Neutralität der großen Natur (in Berg, Meer, Wald und Wüste) gefällt, aber nur eine kurze Zeit: nachher werden wir ungeduldig. »Wollen denn diese Dinge gar Nichts zu uns sagen? Sind wir für sie nicht da?« Es entsteht das Gefühl eines crimen laesae majestatis humanae.
206.
Die Absichten vergessen. – Man vergißt über der Reise gemeinhin deren Ziel. Fast jeder Beruf wird als Mittel zu einem Zwecke gewählt und begonnen, aber als letzter Zweck fortgeführt. Das Vergessen der Absichten ist die häufigste Dummheit, die gemacht wird.
207.
Sonnenbahn der Idee. – Wenn eine Idee am Horizonte eben aufgeht, ist gewöhnlich die Temperatur der Seele dabei sehr kalt. Erst allmählich entwickelt die Idee ihre Wärme, und am heißesten ist diese (das heißt sie thut ihre größten Wirkungen), wenn der Glaube an die Idee schon wieder im Sinken ist.
208.
Wodurch man Alle wider sich hätte. – Wenn jetzt Jemand zu sagen wagte: »wer nicht für mich ist, der ist wider mich«, so hätte er sofort Alle wider sich. – Diese Empfindung macht unserm Zeitalter Ehre.
209.
Sich des Reichthums schämen. – Unsere Zeit verträgt nur eine einzige Gattung von Reichen, solche, welche sich ihres Reichthums schämen. Hört man von Jemandem »er ist sehr reich«, so hat man dabei sofort eine ähnliche Empfindung wie beim Anblick einer widerlich anschwellenden Krankheit, einer Fett- oder Wassersucht: man muß sich gewaltsam seiner Humanität erinnern, um mit einem solchen Reichen so verkehren zu können, daß er von unserm Ekelgefühle Nichts merkt. Sobald er aber gar sich Etwas auf seinen Reichthum zu Gute thut, so mischt sich zu unserm Gefühle die fast mitleidige Verwunderung über einen so hohen Grad der menschlichen Unvernunft: so daß man die Hände gen Himmel erheben und rufen möchte »armer Entstellter, Überbürdeter, hundertfach Gefesselter, dem jede Stunde etwas Unangenehmes bringt oder bringen kann, in dessen Gliedern jedes Ereigniß von zwanzig Völkern nachzuckt, wie magst du uns glauben machen, daß du dich in deinem Zustande wohlfühlst! Wenn du irgendwo öffentlich erscheinst, so wissen wir, daß es eine Art Spießruthenlaufens ist, unter lauter Blicken, welche für dich nur kalten Haß oder Zudringlichkeit oder schweigsamen Spott haben. Dein Erwerben mag leichter sein als das der Anderen: aber es ist ein überflüssiges Erwerben, welches wenig Freude macht, und dein Bewahren alles Erworbenen ist jedenfalls jetzt ein mühseligeres Ding als irgend ein mühseliges Erwerben. Du leidest fortwährend, denn du verlierst fortwährend. Was nützt es dir, daß man dir immer neues künstliches Blut zuführt: deshalb thun doch die Schröpfköpfe nicht weniger weh, die auf deinem Nacken sitzen, beständig sitzen! – Aber, um nicht unbillig zu werden, es ist schwer, vielleicht unmöglich für dich, nicht reich zu sein: du mußt bewahren, mußt neu erwerben, der vererbte Hang deiner Natur ist das Joch über dir – aber deshalb tausche uns nicht und schäme dich ehrlich und sichtlich des Joches, das du trägst: da du ja im Grunde deiner Seele müde und unwillig bist, es zu tragen. Diese Scham schändet nicht.«
210.
Ausschweifung in der Anmaßung. – Es giebt so anmaßende Menschen, daß sie eine Größe, welche sie öffentlich bewundern, nicht anders zu loben wissen, als indem sie dieselbe als Vorstufe und Brücke, die zu ihnen führt, darstellen.
211.
Auf dem Boden der Schmach. – Wer den Menschen eine Vorstellung nehmen will, thut sich gewöhnlich nicht genug damit, sie zu widerlegen und den unlogischen Wurm, der in ihr sitzt, herauszuziehen: vielmehr wirft er, nachdem der Wurm getödtet ist, die ganze Frucht auch noch in den Koth, um sie den Menschen unansehnlich zu machen und Ekel vor ihr einzuflößen. So glaubt er das Mittel gefunden zu haben, die bei widerlegten Vorstellungen so gewöhnliche »Wiederauferstehung am dritten Tage« unmöglich zu machen. – Er irrt sich, denn gerade auf dem Boden der Schmach, inmitten des Unflathes, treibt der Fruchtkern der Vorstellung schnell neue Keime. – Also: ja nicht verhöhnen, beschmutzen, was man endgültig beseitigen will, sondern es achtungsvoll auf Eis legen, immer und immer wieder, in Anbetracht daß Vorstellungen ein sehr zähes Leben haben. Hier muß man nach der Maxime handeln: »Eine Widerlegung ist keine Widerlegung.«
212.
Loos der Moralität. – Da die Gebundenheit der Geister abnimmt, ist sicherlich die Moralität (die vererbte, überlieferte, instinkthafte Handlungsweise nach moralischen Gefühlen) ebenfalls in Abnahme: nicht aber die einzelnen Tugenden, Mäßigkeit, Gerechtigkeit, Seelenruhe, – denn die größte Freiheit des bewußten Geistes führt einmal schon unwillkürlich zu ihnen hin und räth sie sodann auch als nützlich an.
213.
Der Fanatiker des Mißtrauens und seine Bürgschaft. – Der Alte: Du willst das Ungeheure wagen und die Menschen im Großen belehren? Wo ist deine Bürgschaft? – Pyrrhon: Hier ist sie: ich will die Menschen vor mir selber warnen, ich will alle Fehler meiner Natur öffentlich bekennen und meine Übereilungen, Widersprüche und Dummheit vor aller Augen bloßstellen. Hört nicht auf mich, will ich ihnen sagen, bis ich nicht eurem Geringsten gleich geworden bin, und noch geringer bin, als er; sträubt euch gegen die Wahrheit, so lange ihr nur könnt, aus Ekel vor Dem, der ihr Fürsprecher ist. Ich werde euer Verführer und Betrüger sein, wenn ihr noch den mindesten Glanz von Achtbarkeit und Würde an mir wahrnehmt. – Der Alte: Du versprichst zu viel, du kannst diese Last nicht tragen. – Pyrrhon: So will ich auch dies den Menschen sagen, daß ich zu schwach bin und nicht halten kann, was ich verspreche. Je größer meine Unwürdigkeit, um so mehr werden sie der Wahrheit mißtrauen, wenn sie durch meinen Mund geht. – Der Alte: Willst du denn der Lehrer des Mißtrauens gegen die Wahrheit sein? – Pyrrhon: Des Mißtrauens, wie es noch nie in der Welt war, des Mißtrauens gegen Alles und Jedes. Es ist der einzige Weg zur Wahrheit. Das rechte Auge darf dem linken nicht trauen, und Licht wird eine Zeitlang Finsternis; heißen müssen: dies ist der Weg, den ihr gehen müßt. Glaubt nicht, daß er euch zu Fruchtbäumen und schönen Weiden führe. Kleine harte Körner werdet ihr auf ihm finden, – das sind die Wahrheiten: Jahrzehente lang werdet ihr die Lügen händevoll verschlingen müssen, um nicht Hungers zu sterben, ob ihr schon wisset, daß es Lügen sind. Jene Körner aber werden gesäet und eingegraben, und vielleicht, vielleicht giebt es einmal einen Tag der Ernte: Niemand darf ihn versprechen, er sei denn ein Fanatiker. – Der Alte: Freund, Freund! Auch deine Worte sind die des Fanatikers! – Pyrrhon: Du hast Recht! ich will gegen alle Worte mißtrauisch sein. – Der Alte: Dann wirst du schweigen müssen. – Pyrrhon: Ich werde den Menschen sagen, daß ich schweigen muß und daß sie meinem Schweigen mißtrauen sollen. – Der Alte: Du trittst also von deinem Unternehmen zurück? – Pyrrhon: Vielmehr – du hast mir eben das Thor gezeigt, durch welches ich gehen muß. – Der Alte: Ich weiß nicht –: verstehen wir uns jetzt noch völlig? – Pyrrhon: Wahrscheinlich nicht. – Der Alte: Wenn du dich nur selber völlig verstehst! – Pyrrhon dreht sich um und lacht. – Der Alte: Ach Freund! Schweigen und Lachen – ist das jetzt deine ganze Philosophie? – Pyrrhon: Es wäre nicht die schlechteste. –
214.
Europäische Bücher. – Man ist beim Lesen von Montaigne, La Rochefoucauld, La Bruyère, Fontenelle (namentlich der dialogues des morts), Vauvenargues, Chamfort dem Alterthum näher als bei irgendwelcher Gruppe von sechs Autoren anderer Völker. Durch jene Sechs ist der Geist der letzten Jahrhunderte der alten Zeitrechnung wieder erstanden – sie zusammen bilden ein wichtiges Glied in der großen noch fortlaufenden Kette der Renaissance. Ihre Bücher erheben sich über den Wechsel des nationalen Geschmacks und der philosophischen Färbungen, in denen für gewöhnlich jetzt jedes Buch schillert und schillern muß, um berühmt zu werden: sie enthalten mehr wirkliche Gedanken als alle Bücher deutscher Philosophen zusammengenommen: Gedanken von der Art, welche Gedanken macht, und die – ich bin in Verlegenheit zu Ende zu definiren; genug, daß es mir Autoren zu sein scheinen, welche weder für Kinder noch für Schwärmer geschrieben haben, weder für Jungfrauen noch für Christen, weder für Deutsche noch für – ich bin wieder in Verlegenheit, meine Liste zu schließen. – Um aber ein deutliches Lob zu sagen: sie wären, griechisch geschrieben, auch von Griechen verstanden worden. Wie viel hätte dagegen selbst ein Plato von den Schriften unserer besten deutschen Denker, zum Beispiel Goethe's und Schopenhauer's, überhaupt verstehen können, von dem Widerwillen zu schweigen, welchen ihre Schreibart ihm erregt haben würde, nämlich das Dunkle, Übertriebene und gelegentlich wieder Klapperdürre, – Fehler, an denen die Genannten noch am wenigsten von den deutschen Denkern und doch noch allzuviel leiden (Goethe, als Denker, hat die Wolke lieber umarmt, als billig ist, und Schopenhauer wandelt nicht ungestraft fast fortwährend unter Gleichnissen der Dinge statt unter den Dingen selber). – Dagegen, welche Helligkeit und zierliche Bestimmtheit bei jenen Franzosen! Diese Kunst hätten auch die feinohrigsten Griechen gutheißen müssen, und Eines würden sie sogar bewundert und angebetet haben, den französischen Witz des Ausdrucks: so Etwas liebten sie sehr, ohne gerade darin besonders stark zu sein.
215.
Mode und modern. – Überall, wo noch die Unwissenheit, die Unreinlichkeit, der Aberglaube im Schwange sind, wo der Verkehr lahm, die Landwirthschaft armselig, die Priesterschaft mächtig ist, da finden sich auch noch die Nationaltrachten. Dagegen herrscht die Mode, wo die Anzeichen des Entgegengesetzten sich finden. Die Mode ist also neben den Tugenden des jetzigen Europa zu finden: sollte sie wirklich deren Schattenseite sein? – Zunächst sagt die männliche Bekleidung, welche modisch und nicht mehr national ist, von Dem, der sie trägt, aus, daß der Europäer nicht als Einzelner noch als Standes- und Volksgenosse auffallen will, daß er sich eine absichtliche Dämpfung dieser Arten von Eitelkeit zum Gesetz gemacht hat: dann daß er arbeitsam ist und nicht viel Zeit zum Ankleiden und Sich-putzen hat, auch alles Kostbare und Üppige in Stoff und Faltenwurf im Widerspruch mit seiner Arbeit findet; endlich daß er durch seine Tracht auf die gelehrteren und geistigeren Berufe als die hinweist, welchen er als europäischer Mensch am nächsten steht oder stehen möchte: während durch die noch vorhandenen Nationaltrachten der Räuber, der Hirt oder der Soldat als die wünschbarsten und tonangebenden Lebensstellungen hindurchschimmern. Innerhalb dieses Gesammt-Charakters der männlichen Mode giebt es dann jene kleinen Schwankungen, welche die Eitelkeit der jungen Männer, der Stutzer und Nichtsthuer der großen Städte hervorbringt, also Derer, welche als europäische Menschen noch nicht reif geworden sind. – Die europäischen Frauen sind dies noch viel weniger, weshalb die Schwankungen bei ihnen viel größer sind: sie wollen auch das Nationale nicht und hassen es, als Deutsche, Franzosen, Russen an der Kleidung erkannt zu werden, aber als Einzelne wollen sie sehr gern auffallen; ebenso soll Niemand schon durch ihre Bekleidung im Zweifel gelassen werden, daß sie zu einer angeseheneren Klasse der Gesellschaft (zur »guten« oder »hohen« oder »großen« Welt) gehören, und zwar wünschen sie nach dieser Seite hin gerade um so mehr voreinzunehmen, als sie nicht oder kaum zu jener Klasse gehören. Vor Allem aber will die junge Frau Nichts tragen, was die etwas ältere trägt, weil sie durch den Verdacht eines höheren Lebensalters im Preise zu fallen glaubt: die ältere wiederum möchte durch jugendlichere Tracht so lange täuschen, als es irgend angeht, – aus welchem Wettbewerb sich zeitweilig immer Moden ergeben müssen, bei denen das eigentlich Jugendliche ganz unzweideutig und unnachahmlich sichtbar wird. Hat der Erfindungsgeist der jungen Künstlerinnen in solchen Bloßstellungen der Jugend eine Zeitlang geschwelgt, oder um die ganze Wahrheit zu sagen – hat man wieder einmal den Erfindungsgeist älterer höfischer Culturen, sowie den der noch bestehenden Nationen, und überhaupt den ganzen costümirten Erdkreis zu Rathe gezogen und etwa die Spanier, die Türken und Altgriechen zur Inscenirung des schönen Fleisches zusammengekoppelt: so entdeckt man endlich immer wieder, daß man sich doch nicht zum Besten auf seinen Vortheil verstanden habe; daß, um auf die Männer Wirkung zu machen, das Versteckspielen mit dem schönen Leibe glücklicher sei, als die nackte und halbnackte Ehrlichkeit; und nun dreht sich das Rad des Geschmackes und der Eitelkeit einmal wieder in entgegengesetzter Richtung: die etwas älteren jungen Frauen finden, daß ihr Reich gekommen sei, und der Wettkampf der lieblichsten und absurdesten Geschöpfe tobt wieder von Neuem. Je mehr aber die Frauen innerlich zunehmen und nicht mehr unter sich, wie bisher, den unreifen Altersklassen den Vorrang zugestehen, um so geringer werden diese Schwankungen ihrer Tracht, um so einfacher ihr Putz: über welchen man billigerweise nicht nach antiken Mustern das Urtheil sprechen darf, also nicht nach dem Maaßstabe der Gewandung südländischer See-Anwohnerinnen, sondern in Berücksichtigung der klimatischen Bedingungen der mittleren und nördlichen Gegenden Europa's, derer nämlich, in welchen jetzt der geist- und formerfindende Genius Europa's seine liebste Heimat hat. – Im Ganzen wird also gerade nicht das Wechselnde das charakteristische Zeichen der Mode und des Modernen sein, denn gerade der Wechsel ist etwas Rückständiges und bezeichnet die noch ungereiften männlichen und weiblichen Europäer: sondern die Ablehnung der nationalen, ständischen und individuellen Eitelkeit. Dem entsprechend ist es zu loben, weil es kraft- und zeitersparend ist, wenn einzelne Städte und Gegenden Europa's für alle übrigen in Sachen der Kleidung denken und erfinden, in Anbetracht dessen, daß der Formensinn nicht Jedermann geschenkt zu sein pflegt; auch ist es wirklich kein allzu hochfliegender Ehrgeiz, wenn zum Beispiel Paris, so lange jene Schwankungen noch bestehen, es in Anspruch nimmt, der alleinige Erfinder und Neuerer in diesem Reiche zu sein. Will ein Deutscher, aus Haß gegen diese Ansprüche einer französischen Stadt, sich anders kleiden, zum Beispiel so wie Albrecht Dürer sich trug, so möge er erwägen, daß er dann ein Costüm hat, welches ehemalige Deutsche trugen, welches aber die Deutschen ebensowenig erfunden haben, – es hat nie eine Tracht gegeben, welche den Deutschen als Deutschen bezeichnete; übrigens mag er zusehen, wie er aus dieser Tracht herausschaut und ob etwa der ganz moderne Kopf nicht mit all seiner Linien- und Fältchenschrift, welche das neunzehnte Jahrhundert hineingrub, gegen eine Dürerische Bekleidung Einsprache thut. – Hier, wo die Begriffe »modern« und »europäisch« fast gleich gesetzt sind, wird unter Europa viel mehr an Länderstrecken verstanden, als das geographische Europa, die kleine Halbinsel Asien's, umfaßt: namentlich gehört Amerika hinzu, soweit es eben das Tochterland unserer Cultur ist. Andererseits fällt nicht einmal ganz Europa unter den Cultur-Begriff »Europa«; sondern nur alle jene Völker und Völkertheile, welche im Griechen-, Römer-, Juden- und Christenthum ihre gemeinsame Vergangenheit haben.
216.
Die »deutsche Tugend«. – Es ist nicht zu leugnen, daß vom Ausgange des vorigen Jahrhunderts an ein Strom moralischer Erweckung durch Europa floß. Damals erst wurde die Tugend wieder beredt; sie lernte es, die ungezwungenen Gebärden der Erhebung, der Rührung finden, sie schämte sich ihrer selber nicht mehr und ersann Philosophien und Gedichte zur eigenen Verherrlichung. Sucht man nach den Quellen dieses Stromes: so findet man einmal Rousseau, aber den mythischen Rousseau, den man sich nach dem Eindrucke seiner Schriften – fast könnte man wieder sagen: seiner mythisch ausgelegten Schriften – und nach den Fingerzeigen, die er selber gab, erdichtet hatte (– er und sein Publikum arbeiteten beständig an dieser Idealfigur). Der andere Ursprung liegt in jener Wiederauferstehung des stoisch-großen Römerthums, durch welche die Franzosen die Aufgabe der Renaissance auf das Würdigste weitergeführt haben. Sie giengen von der Nachschöpfung antiker Formen mit herrlichstem Gelingen zur Nachschöpfung antiker Charaktere über: so daß sie ein Anrecht auf die allerhöchsten Ehren immerdar behalten werden, als das Volk, welches der neueren Menschheit bisher die besten Bücher und die besten Menschen gegeben hat. Wie diese doppelte Vorbildlichkeit, die des mythischen Rousseau und die jenes wiedererweckten Römergeistes, auf die schwächeren Nachbarn wirkte, sieht man namentlich an Deutschland: welches in Folge seines neuen und ganz ungewohnten Aufschwunges zu Ernst und Größe des Wollens und Sich-Beherrschens zuletzt vor seiner eigenen neuen Tugend in Staunen gerieth und den Begriff »deutsche Tugend« in die Welt warf, wie als ob es nichts Ursprünglicheres, Erbeigneres geben könnte als diese. Die ersten großen Männer, welche jene französische Anregung zur Größe und Bewußtheit des sittlichen Wollens auf sich überleiteten, waren ehrlicher und vergaßen die Dankbarkeit nicht. Der Moralismus Kant's – woher kommt er? Er giebt es wieder und wieder zu verstehen: von Rousseau und dem wiedererweckten stoischen Rom. Der Moralismus Schiller's: gleiche Quelle, gleiche Verherrlichung der Quelle. Der Moralismus Beethoven's in Tönen: er ist das ewige Loblied Rousseau's, der antiken Franzosen und Schiller's. Erst »der deutsche Jüngling« vergaß die Dankbarkeit, inzwischen hatte man ja das Ohr nach den Predigern des Franzosenhasses hingewendet: jener deutsche Jüngling, der eine Zeitlang mit mehr Bewußtheit, als man bei andern Jünglingen für erlaubt hält, in den Vordergrund trat. Wenn er nach seiner Vaterschaft spürte, so mochte er mit Recht an die Nähe Schiller's, Fichte's und Schleiermacher's denken: aber seine Großväter hätte er in Paris, in Genf suchen müssen, und es war sehr kurzsichtig zu glauben, was er glaubte: daß die Tugend nicht älter als dreißig Jahre sei. Damals gewöhnte man sich daran, zu verlangen, daß beim Worte »deutsch« auch noch so nebenbei die Tugend mitverstanden werde: und bis auf den heutigen Tag hat man es noch nicht völlig verlernt. – Nebenbei bemerkt, jene genannte moralische Erweckung hat für die Erkenntnis; der moralischen Erscheinungen, wie sich fast errathen läßt, nur Nachtheile und rückschreitende Bewegungen zur Folge gehabt. Was ist die ganze deutsche Moralphilosophie, von Kant an gerechnet, mit allen ihren französischen, englischen und italiänischen Ausläufern und Nebenzüglern? Ein halbtheologisches Attentat gegen Helvetius, ein Abweisen der lange und mühsam erkämpften Freiblicke oder Fingerzeige des rechten Weges, welche er zuletzt gut ausgesprochen und zusammengebracht hat. Bis auf den heutigen Tag ist Helvetius in Deutschland der bestbeschimpfte aller guten Moralisten und guten Menschen.
217.
Classisch und romantisch. – Sowohl die classisch als die romantisch gesinnten Geister – wie es diese beiden Gattungen immer giebt – tragen sich mit einer Vision der Zukunft: aber die Ersteren aus einer Stärke ihrer Zeit heraus, die Letzteren aus deren Schwäche.
218.
Die Maschine als Lehrerin. – Die Maschine lehrt durch sich selber das Ineinandergreifen von Menschenhaufen, bei Aktionen, wo Jeder nur Eins zu thun hat: sie giebt das Muster der Partei-Organisation und der Kriegsführung. Sie lehrt dagegen nicht die individuelle Selbstherrlichkeit: sie macht aus Vielen eine Maschine, und aus jedem Einzelnen ein Werkzeug zu einem Zwecke. Ihre allgemeinste Wirkung ist: den Nutzen der Centralisation zu lehren.
219.
Nicht seßhaft. – Man wohnt gerne in der kleinen Stadt; aber von Zeit zu Zeit treibt gerade sie uns in die einsamste unenthüllteste Natur: dann nämlich, wenn jene uns einmal wieder zu durchsichtig geworden ist. Endlich gehen wir, um uns wieder von dieser Natur zu erholen, in die große Stadt. Einige Züge aus derselben – und wir errathen den Bodensatz ihres Bechers, – der Kreislauf, mit der kleinen Stadt am Anfange, beginnt von Neuem. – So leben die Modernen: welche in Allem etwas zu gründlich sind, um seßhaft zu sein gleich den Menschen anderer Zeiten.
220.
Reaktion gegen die Maschinen-Cultur. – Die Maschine, selber ein Erzeugniß der höchsten Denkkräfte, setzt bei den Personen, welche sie bedienen, fast nur die niederen, gedankenlosen Kräfte in Bewegung. Sie entfesselt dabei eine Unmasse Kraft überhaupt, die sonst schlafen läge, das ist wahr; aber sie giebt nicht den Antrieb zum Höhersteigen, zum Bessermachen, zum Künstlerwerden. Sie macht thätig und einförmig – das erzeugt aber auf die Dauer eine Gegenwirkung, eine verzweifelte Langeweile der Seele, welche durch sie nach wechselvollem Müßiggänge dürsten lernt.
221.
Die Gefährlichkeit der Aufklärung. – Alles das Halbverrückte, Schauspielerische, Thierisch-Grausame, Wollüstige, namentlich Sentimentale und Sich-selbst-Berauschende, was zusammen die eigentlich revolutionäre Substanz ausmacht und in Rousseau, vor der Revolution, Fleisch und Geist geworden war, – dieses ganze Wesen setzte sich mit perfider Begeisterung noch die Aufklärung auf das fanatische Haupt, welches durch diese selber wie in einer verklärenden Glorie zu leuchten begann: die Aufklärung, die im Grunde jenem Wesen so fremd ist und, für sich waltend, still wie ein Lichtglanz durch Wolken gegangen sein würde, lange Zeit zufrieden damit, nur die Einzelnen umzubilden: so daß sie nur sehr langsam auch die Sitten und Einrichtungen der Völker umgebildet hätte. Jetzt aber, an ein gewaltsames und plötzliches Wesen gebunden, wurde die Aufklärung selber gewaltsam und plötzlich. Ihre Gefährlichkeit ist dadurch fast größer geworden als die befreiende und erhellende Nützlichkeit, welche durch sie in die große Revolutions-Bewegung kam. Wer dies begreift, wird auch wissen, aus welcher Vermischung man sie herauszuziehen, von welcher Verunreinigung man sie zu läutern hat: um dann, an sich selber, das Werk der Aufklärung fortzusetzen und die Revolution nachträglich in der Geburt zu ersticken, ungeschehen zu machen.
222.
Die Leidenschaft im Mittelalter. – Das Mittelalter ist die Zeit der größten Leidenschaften. Weder das Alterthum noch unsere Zeit hat diese Ausweitung der Seele: ihre Räumlichkeit war nie größer, und nie ist mit längeren Maaßstäben gemessen worden. Nie physische Urwald-Leiblichkeit von Barbarenvölkern und die überseelenhaften, überwachen, allzuglänzenden Augen von christlichen Mysterien-Jüngern, das Kindlichste, Jüngste und ebenso das Überreifste, Altersmüdeste, die Rohheit des Raubthiers und die Verzärtelung und Ausspitzung des spätantiken Geistes – alles Dies kam damals an Einer Person nicht selten zusammen: da mußte, wenn Einer in Leidenschaft gerieth, die Stromschnelle des Gemüthes gewaltiger, der Strudel verwirrter, der Sturz tiefer sein als je. – Wir neueren Menschen dürfen mit der Einbuße zufrieden sein, welche hier gemacht worden ist.
223.
Rauben und sparen. – Alle geistigen Bewegungen gehen vorwärts, in Folge deren die Großen zu rauben, die Kleinen zu sparen hoffen können. Deshalb gieng zum Beispiel die deutsche Reformation vorwärts.
224.
Fröhliche Seelen. – Wenn auf Trunk, Trunkenheit und eine übelriechende Art von Unflätherei auch nur von ferne hingewinkt wurde, dann wurden die Seelen der älteren Deutschen fröhlich, – sonst waren sie verdrossen; aber dort hatten sie ihre Art von Verständniß-Innigkeit.
225.
Das ausschweifende Athen. – Selbst als der Fischmarkt Athen's seine Denker und Dichter bekommen hatte, besaß die griechische Ausschweifung immer noch ein idyllischeres und feineres Aussehen, als es je die römische oder die deutsche Ausschweifung hatte. Die Stimme Juvenal's hätte dort wie eine hohle Trompete geklungen: ein artiges und fast kindliches Gelächter hätte ihm geantwortet.
226.
Klugheit der Griechen. – Da das Siegen- und Hervorragen-wollen ein unüberwindlicher Zug der Natur ist, älter und ursprünglicher als alle Achtung und Freude der Gleichstellung, so hat der griechische Staat den gymnastischen und musischen Wettkampf innerhalb der Gleichen sanktionirt, also einen Tummelplatz abgegrenzt, wo jener Trieb sich entladen konnte, ohne die politische Ordnung in Gefahr zu bringen. Mit dem endlichen Verfalle des gymnastischen und musischen Wettkampfes gerieth der griechische Staat in innere Unruhe und Auflösung.
227.
» Der ewige Epikur.« – Epikur hat zu allen Zeiten gelebt und lebt noch, unbekannt Denen, welche sich Epikureer nannten und nennen, und ohne Ruf bei den Philosophen. Auch hat er selber den eigenen Namen vergessen: es war das schwerste Gepäck, welches er je abgeworfen hat.
228.
Stil der Überlegenheit. – Studentendeutsch, die Sprechweise des deutschen Studenten, hat ihren Ursprung unter den nicht-studierenden Studenten, welche eine Art von Übergewicht über ihre ernsteren Genossen dadurch zu erlangen wissen, daß sie an Bildung, Sittsamkeit, Gelehrtheit, Ordnung, Mäßigung alles Maskeradenhafte aufdecken und die Worte aus jenen Bereichen zwar fortwährend ebenso im Munde führen, wie die Besseren, Gelehrteren, aber mit einer Bosheit im Blicke und einer begleitenden Grimasse. In dieser Sprache der Überlegenheit – der einzigen, die in Deutschland original ist – reden nun unwillkürlich auch die Staatsmänner und die Zeitungs-Kritiker: es ist ein beständiges ironisches Citiren, ein unruhiges, unfriedfertiges Schielen des Auges nach Rechts und Links, ein Gänsefüßchen- und Grimassen-Deutsch.
229.
Die Vergrabenen. – Wir ziehen uns in's Verborgene zurück: aber nicht aus irgend einem persönlichen Mißmuthe, als ob uns die politischen und socialen Verhältnisse der Gegenwart nicht genugthäten, sondern weil wir durch unsere Zurückziehung Kräfte sparen und sammeln wollen, welche später einmal der Cultur ganz noth thun werden, je mehr diese Gegenwart diese Gegenwart ist und als solche ihre Aufgabe erfüllt. Wir bilden ein Kapital und suchen es sicher zu stellen: aber, wie in ganz gefährlichen Zeiten, dadurch, daß wir es vergraben.
230.
Tyrannen des Geistes. – In unserer Zeit würde man Jeden, der so streng der Ausdruck Eines moralischen Zuges wäre, wie die Personen Theophrast's und Molière's es sind, für krank halten, und von »fixer Idee« bei ihm reden. Das Athen des dritten Jahrhunderts würde uns, wenn wir dort einen Besuch machen dürften, wie von Narren bevölkert erscheinen. Jetzt herrscht die Demokratie der Begriffe in jedem Kopfe, – viele zusammen sind der Herr: Ein einzelner Begriff, der Herr sein wollte, heißt jetzt, wie gesagt, »fixe Idee«. Dies ist unsere Art, die Tyrannen zu morden, – wir winken nach dem Irrenhause hin.
231.
Gefährlichste Auswanderung. – In Rußland giebt es eine Auswanderung der Intelligenz: man geht über die Grenze, um gute Bücher zu lesen und zu schreiben. So wirkt man aber dahin, das vom Geiste verlassene Vaterland immer mehr zum vorgestreckten Rachen Asiens zu machen, der das kleine Europa verschlingen möchte.
232.
Die Staats-Narren. – Die fast religiöse Liebe zum Könige gieng bei den Griechen auf die Polis über, als es mit dem Königthum zu Ende war. Und weil ein Begriff mehr Liebe erträgt, als eine Person, und namentlich dem Liebenden nicht so oft vor den Kopf stößt, wie geliebte Menschen es thun ( – denn je mehr sie sich geliebt wissen, desto rücksichtsloser werden sie meistens, bis sie endlich der Liebe nicht mehr würdig sind, und wirklich ein Riß entsteht), so war die Polis- und Staats-Verehrung größer, als irgend je vorher die Fürsten-Verehrung. Die Griechen sind die Staats-Narren der alten Geschichte – in der neueren sind es andere Völler.
233.
Gegen die Vernachlässigung der Augen. – Ob man nicht bei den gebildeten Klassen England's, welche die Times lesen, alle zehn Jahre eine Abnahme der Sehkraft nachweisen könnte?
234.
Große Werke und großer Glaube. – Jener hatte die großen Werke, sein Genosse aber hatte den großen Glauben an diese Werke. Sie waren unzertrennlich: aber ersichtlich hieng der Erstere völlig vom Zweiten ab.
235.
Der Gesellige. – »Ich bekomme mir nicht gut« sagte Jemand, um seinen Hang zur Gesellschaft zu erklären. »Der Magen der Gesellschaft ist stärker als der meinige, er verträgt mich«.
236.
Augen-Schließen des Geistes. – Ist man geübt und gewohnt, über das Handeln nachzudenken, so muß man doch beim Handeln selber (sei dieses selbst nur Briefschreiben oder Essen und Trinken) das innere Auge schließen. Ja, im Gespräch mit Durchschnittsmenschen muß man es verstehen, mit geschlossenen Denker-Augen zu denken, – um nämlich das Durchschnitts-Denken zu erreichen und zu begreifen. Dieses Augen-Schließen ist ein fühlbarer, mit Willen vollziehbarer Akt.
237.
Die furchtbarste Rache. – Wenn man sich an einem Gegner durchaus rächen will, so soll man so lange warten, bis man die ganze Hand voll Wahrheiten und Gerechtigkeiten hat und sie gegen ihn ausspielen kann, mit Gelassenheit: so daß Rache üben mit Gerechtigkeit üben zusammenfällt. Es ist die furchtbarste Art der Rache: denn sie hat keine Instanz über sich, an die noch appellirt werden könnte. So rächte sich Voltaire an Piron, mit fünf Zeilen, die über dessen ganzes Leben, Schaffen und Wollen richten: soviel Worte, soviel Wahrheiten; so rächte sich derselbe an Friedrich dem Großen (in einem Briefe an ihn, von Ferney aus).
238.
Luxus-Steuer. – Man kauft in den Läden das Nöthige und Nächste und muß es theuer bezahlen, weil man mitbezahlt, was dort auch feil steht, aber nur selten seine Abnehmer hat: das Luxushafte und Gelüstartige. So legt der Luxus dem Einfachen, der seiner enträth, doch eine fortwährende Steuer auf.
239.
Warum die Bettler noch leben. – Wenn alle Almosen nur aus Mitleiden gegeben würden, so wären die Bettler allesammt verhungert.
240.
Warum die Bettler noch leben. – Die größte Almosenspenderin ist die Feigheit.
241.
Wie der Denker ein Gespräch benutzt. – Ohne Horcher zu sein, kann man viel hören, wenn man versteht, gut zu sehen, doch sich selber für Zeiten aus den Augen zu verlieren. Aber die Menschen wissen ein Gespräch nicht zu benutzen; sie verwenden bei Weitem zu viel Aufmerksamkeit auf Das, was sie sagen und entgegnen wollen, während der wirkliche Hörer sich oft begnügt vorläufig zu antworten und Etwas als Abschlagszahlung der Höflichkeit überhaupt zu sagen, dagegen mit seinem hinterhaltigen Gedächtnisse Alles davonträgt, was der Andere geäußert hat, nebst der Art in Ton und Gebärde, wie er es äußerte. – Im gewöhnlichen Gespräche meint Jeder der Führende zu sein, wie wenn zwei Schiffe, die neben einander fahren und sich hier und da einen kleinen Stoß geben, beiderseits im guten Glauben sind, ihr Nachbarschiff folge oder werde sogar geschleppt.
242.
Die Kunst, sich zu entschuldigen. – Wenn sich Jemand vor uns entschuldigt, so muß er es sehr gut machen: sonst kommen wir uns selber leicht als die Schuldigen vor und haben eine unangenehme Empfindung.
243.
Unmöglicher Umgang. – Das Schiff deiner Gedanken geht zu tief, als daß du mit ihm auf den Gewässern dieser freundlichen, anständigen, entgegenkommenden Personen fahren könntest. Es sind da der Untiefen und Sandbänke zu viele: du würdest dich drehen und wenden müssen und in fortwährender Verlegenheit sein, und Jene würden alsbald auch in Verlegenheit gerathen – über deine Verlegenheit, deren Ursache sie nicht errathen können.
244.
Fuchs der Füchse. – Ein rechter Fuchs nennt nicht nur die Trauben sauer, welche er nicht erreichen kann, sondern auch die, welche er erreicht und Anderen vorweggenommen hat.
245.
Im nächsten Verkehre. – Wenn Menschen auch noch so eng zusammengehören: es giebt innerhalb ihres gemeinsamen Horizontes doch noch alle vier Himmelsrichtungen, und in manchen Stunden merken sie es.
246.
Das Schweigen des Ekels. – Da macht Jemand als Denker und Mensch eine tiefe, schmerzhafte Umwandlung durch und legt dann öffentlich Zeugniß davon ab. Und die Hörer merken Nichts! glauben ihn noch ganz als den Alten! – Diese gewöhnliche Erfahrung hat manchen Schriftstellern schon Ekel gemacht: sie hatten die Intellektualität der Menschen zu hoch geachtet und gelobten sich, als sie ihren Irrthum wahrnahmen, das Schweigen an.
247.
Geschäfts-Ernst. – Die Geschäfte manches Reichen und Vornehmen sind seine Art Ausruhens von allzulangem gewohnheitsmäßigem Müßiggang: er nimmt sie deshalb so ernst und passionirt, wie andere Leute ihre seltenen Muße-Erholungen und -Liebhabereien.
248.
Doppelsinn des Auges. – Wie das Gewässer zu deinen Füßen eine plötzliche schuppenhafte Erzitterung überläuft, so giebt es auch im menschlichen Auge solche plötzliche Unsicherheiten und Zweideutigkeiten, bei denen man sich fragt: ist's ein Schaudern? ist's ein Lächeln? ist's Beides?
249.
Positiv und negativ. – Dieser Denker braucht Niemanden, der ihn widerlegt: er genügt sich dazu selber.
250.
Die Rache der leeren Netze. – Man nehme sich vor allen Personen in Acht, welche das bittre Gefühl des Fischers haben, der nach mühevollem Tagewerk am Abend mit leeren Netzen heimfährt.
251.
Sein Recht nicht geltend machen. – Macht ausüben kostet Mühe und erfordert Muth. Deshalb machen so Viele ihr gutes, allerbestes Recht nicht geltend, weil dies Recht eine Art Macht ist, sie aber zu faul oder zu feige sind, es auszuüben. Nachsicht und Geduld heißen die Deckmantel-Tugenden dieser Fehler.
252.
Lichtträger. – In der Gesellschaft wäre kein Sonnenschein, wenn ihn nicht die geborenen Schmeichelkatzen mit hineinbrächten, ich meine die sogenannten Liebenswürdigen.
253.
Am mildthätigsten. – Wenn der Mensch eben sehr geehrt worden ist und ein Wenig gegessen hat, so ist er am mildthätigsten.
254.
Zum Lichte. – Die Menschen drängen sich zum Lichte, nicht um besser zu sehen, sondern um besser zu glänzen. – Vor wem man glänzt, den läßt man gerne als Licht gelten.
255.
Die Hypochonder. – Der Hypochonder ist ein Mensch, der gerade genug Geist und Lust am Geiste besitzt, um seine Leiden, seinen Verlust, seine Fehler gründlich zu nehmen: aber sein Gebiet, auf dem er sich nährt, ist zu klein; er werdet es so ab, daß er endlich die einzelnen Hälmchen suchen muß. Dabei wird er endlich zum Neider und Geizhals – und dann erst ist er unausstehlich.
256.
Zurückerstatten.– Hesiod räth an, dem Nachbar, der uns ausgeholfen hat, mit gutem Maaße und womöglich reichlicher zurückzugeben, sobald wir es vermögen. Dabei hat nämlich der Nachbar seine Freude, denn seine einstmalige Gutmüthigkeit trägt ihm Zinsen ein; aber auch Der, welcher zurückgiebt, hat seine Freude, insofern er die kleine einstmalige Demüthigung, sich aushelfen lassen zu müssen, durch ein kleines Übergewicht, als Schenkender, zurückkauft.
257.
Feiner als nöthig. – Unser Beobachtungssinn dafür, ob Andere unsere Schwächen wahrnehmen, ist viel feiner, als unser Beobachtungssinn für die Schwächen Anderer: woraus sich also ergiebt, daß er feiner ist, als nöthig wäre.
258.
Eine lichte Art von Schatten. – Dicht neben den ganz nächtigen Menschen befindet sich fast regelmäßig, wie an sie angebunden, eine Lichtseele. Sie ist gleichsam der negative Schatten, den Jene werfen.
259.
Sich nicht rächen? – Es giebt so viele feine Arten der Rache, daß Einer, der Anlaß hätte sich zu rächen, im Grunde thun oder lassen kann, was er will: alle Welt wird doch nach einiger Zeit übereingekommen sein, daß er sich gerächt habe. Sich nicht zu rächen steht also kaum im Belieben eines Menschen: daß er es nicht wolle, darf er nicht einmal aussprechen, weil die Verachtung der Rache als eine sublime, sehr empfindliche Rache gedeutet und empfunden wird. – Woraus sich ergiebt, daß man nichts Überflüssiges thun soll – –
260.
Irrthum der Ehrenden. – Jeder glaubt einem Denker etwas Ehrendes und Angenehmes zu sagen, wenn er ihm zeigt, wie er von selber genau auf denselben Gedanken und selbst auf den gleichen Ausdruck gerathen sei; und doch wird bei solchen Mittheilungen der Denker nur selten ergötzt, aber häufig gegen seinen Gedanken und dessen Ausdruck mißtrauisch: er beschließt im Stillen, Beide einmal zu revidiren. – Man muß, wenn man Jemanden ehren will, sich vor dem Ausdruck der Übereinstimmung hüten: sie stellt auf ein gleiches Niveau. – In vielen Fällen ist es die Sache der gesellschaftlichen Schicklichkeit, eine Meinung so anzuhören, als sei sie nicht die unsrige, ja als gienge sie über unsern Horizont hinaus: zum Beispiel wenn der Alte, Alterfahrene einmal ausnahmsweise den Schrein seiner Erkenntnisse aufschließt.
261.
Brief. – Der Brief ist ein unangemeldeter Besuch, der Briefbote der Vermittler unhöflicher Überfälle. Man sollte alle acht Tage eine Stunde zum Briefempfangen haben und darnach ein Bad nehmen.
262.
Der Voreingenommene. – Jemand sagte: ich bin gegen mich voreingenommen, von Kindesbeinen an: deshalb finde ich in jedem Tadel etwas Wahrheit und in jedem Lobe etwas Dummheit. Das Lob wird von mir gewöhnlich zu gering und der Tadel zu hoch geschätzt.
263.
Weg zur Gleichheit. – Einige Stunden Bergsteigens machen aus einem Schuft und einem Heiligen zwei ziemlich gleiche Geschöpfe. Die Ermüdung ist der kürzeste Weg zur Gleichheit und Brüderlichkeit – und die Freiheit wird endlich durch den Schlaf hinzugegeben.
264.
Verleumdung. – Kommt man einer eigentlich infamen Verdächtigung auf die Spur, so suche man ihren Ursprung nie bei seinen ehrlichen und einfachen Feinden; denn diese würden, wenn sie so Etwas über uns erfänden, als Feinde keinen Glauben finden. Aber Jene, denen wir eine Zeitlang am meisten genützt haben, welche aber, aus irgend einem Grunde, im Geheimen sicher darüber sein dürfen, Nichts mehr von uns zu erlangen, – Solche sind im Stande, die Infamie in's Rollen zu bringen: sie finden Glauben, einmal weil man annimmt, daß sie Nichts erfinden würden, was ihnen selber Schaden bringen könnte; sodann weil sie uns näher kennen gelernt haben. – Zum Tröste mag sich der so schlimm Verleumdete sagen: Verleumdungen sind Krankheiten Anderer, die an deinem Leibe ausbrechen; sie beweisen, daß die Gesellschaft Ein (moralischer) Körper ist, sodaß du an dir die Kur vornehmen kannst, die den Anderen nützen soll.
265.
Das Kinder-Himmelreich. – Das Glück des Kindes ist ebenso sehr ein Mythus wie das Glück der Hyperboreer, von dem die Griechen erzählten. Wenn das Glück überhaupt auf Erden wohnt, meinten diese, dann gewiß möglichst weit von uns, etwa dort am Rande der Erde. Ebenso denken die älteren Menschen: wenn der Mensch überhaupt glücklich sein kann, dann gewiß möglichst fern von unserem Alter, an den Grenzen und Anfängen des Lebens. Für manchen Menschen ist der Anblick der Kinder, durch den Schleier dieses Mythus hindurch, das größte Glück, dessen er theilhaftig werden kann; er geht selber bis in den Vorhof des Himmelreichs, wenn er sagt »lasset die Kindlein zu mir kommen, denn ihrer ist das Himmelreich«. – Der Mythus vom Kinder-Himmelreich ist überall irgendwie thätig, wo es in der modernen Welt etwas von Sentimentalität giebt.
266.
Die Ungeduldigen. – Gerade der Werdende will das Werdende nicht: er ist zu ungeduldig dafür. Der Jüngling will nicht warten, bis, nach langen Studien, Leiden und Entbehrungen, sein Gemälde von Menschen und Dingen voll werde: so nimmt er ein anderes, das fertig dasteht und ihm angeboten wird, auf Treu und Glauben an, als müsse es ihm die Linien und Farben seines Gemäldes vorweg geben, er wirft sich einem Philosophen, einem Dichter an's Herz und muß nun eine lange Zeit Frohndienste thun und sich selber verleugnen. Vieles lernt er dabei: aber häufig vergißt ein Jüngling das Lernens- und Erkennenswertheste darüber – sich selber; er bleibt zeitlebens ein Parteigänger. Ach, es ist viel Langeweile zu überwinden, viel Schweiß nöthig, bis man seine Farben, seinen Pinsel, seine Leinewand gefunden hat! – Und dann ist man noch lange nicht Meister seiner Lebenskunst – aber wenigstens Herr in der eigenen Werkstatt.
267.
Es giebt keine Erzieher. – Nur von Selbst-Erziehung sollte man als Denker reden. Die Jugend-Erziehung durch Andere ist entweder ein Experiment, an einem noch Unerkannten, Unerkennbaren vollzogen, oder eine grundsätzliche Nivellirung, um das neue Wesen, welches es auch sei, den Gewohnheiten und Sitten, welche herrschen, gemäß zu machen: in beiden Fällen also Etwas, das des Denkers unwürdig ist, das Werk der Eltern und Lehrer, welche einer der verwegenen Ehrlichen nos ennemis naturels genannt hat. – Eines Tages, wenn man längst, nach der Meinung der Welt, erzogen ist, entdeckt man sich selber: da beginnt die Aufgabe des Denkers: jetzt ist es Zeit, ihn zu Hülfe zu rufen – nicht als einen Erzieher, sondern als einen Selbst-Erzogenen, der Erfahrung hat.
268.
Mitleiden mit der Jugend. – Es jammert uns, wenn wir hören, daß einem Jünglinge schon die Zähne ausbrechen, einem andern die Augen erblinden. Wüßten wir alles Unwiderrufliche und Hoffnungslose, das in seinem ganzen Wesen steckt, wie groß würde erst der Jammer sein! – Weshalb leiden wir hierbei eigentlich? Weil die Jugend fortführen soll, was wir unternommen haben, und jeder Ab- und Anbruch ihrer Kraft unserem Werke, das in ihre Hände fällt, zum Schaden gereichen will. Es ist der Jammer über die schlechte Garantie unserer Unsterblichkeit: oder wenn wir uns nur als Vollstrecker der Menschheits-Mission fühlen, der Jammer darüber, daß diese Mission in schwächere Hände, als die unsrigen sind, übergehen muß.
269.
Die Lebensalter. – Die Vergleichung der vier Jahreszeiten mit den vier Lebensaltern ist eine ehrwürdige Albernheit. Weder die ersten 20, noch die letzten 20 Jahre des Lebens entsprechen einer Jahreszeit: vorausgesetzt, daß man sich bei der Vergleichung nicht mit dem Weiß des Haares und Schnees und mit ähnlichen Farbenspielen begnügt. Jene ersten zwanzig Jahre sind eine Vorbereitung auf das Leben überhaupt, auf das ganze Lebensjahr, als eine Art langen Neujahrstages; und die letzten zwanzig überschauen, verinnerlichen, bringen in Fug und Zusammenklang, was nur Alles vorher erlebt wurde: so wie man es, in kleinem Maaße, an jedem Sylvestertage mit dem ganzen verflossenen Jahre thut. Zwischen inne liegt aber in der That ein Zeitraum, welcher die Vergleichung mit den Jahreszeiten nahe legt: der Zeitraum vom zwanzigsten bis zum fünfzigsten Jahre (um hier einmal in Bausch und Bogen nach Jahrzehenten zu rechnen, während es sich von selber versteht, daß Jeder nach seiner Erfahrung diese groben Ansätze für sich verfeinern muß). Jene dreimal zehn Jahre entsprechen dreien Jahreszeiten: dem Sommer, dem Frühling und dem Herbste, – einen Winter hat das menschliche Leben nicht, es sei denn, daß man die leider nicht selten eingeflochtenen harten, kalten, einsamen, hoffnungsarmen, unfruchtbaren Krankheitszeiten die Winterzeiten des Menschen nennen will. Die zwanziger Jahre: heiß, lästig, gewitterhaft, üppig treibend, müde machend, Jahre, in denen man den Tag am Abend, wenn er zu Ende ist, preist und sich dabei die Stirn abwischt: Jahre, in denen die Arbeit uns hart, aber nothwendig dünkt, – diese zwanziger Jahre sind der Sommer des Lebens. Die dreißiger dagegen sind sein Frühling: die Luft bald zu warm, bald zu kalt, immer unruhig und anreizend: quellender Saft, Blätterfülle, Blüthenduft überall: viele bezaubernde Morgen und Nächte: die Arbeit, zu der der Vogelsang uns weckt, eine rechte Herzens-Arbeit, eine Art Genuß der eigenen Rüstigkeit, verstärkt durch vorgenießende Hoffnungen. Endlich die vierziger Jahre: geheimnißvoll, wie alles Stillestehende; einer hohen, weiten Berg-Ebene gleichend, an der ein frischer Wind hinläuft; mit einem klaren, wolkenlosen Himmel darüber, welcher den Tag über und in die Nächte hinein immer mit der gleichen Sanftmuth blickt: die Zeit der Ernte und der herzlichsten Heiterkeit – es ist der Herbst des Lebens.
270.
Der Geist der Frauen in der jetzigen Gesellschaft. – Wie die Frauen jetzt über den Geist der Männer denken, erräth man daraus, daß sie bei ihrer Kunst des Schmückens an Alles eher denken, als den Geist ihrer Züge oder die geistreichen Einzelnheiten ihres Gesichts noch besonders zu unterstreichen: sie verbergen Derartiges vielmehr und wissen sich dagegen, zum Beispiel durch eine Anordnung des Haars über der Stirn, den Ausdruck einer lebendig begehrenden Sinnlichkeit und Ungeistigkeit zu geben, gerade wenn sie diese Eigenschaften nur wenig besitzen. Ihre Überzeugung, daß der Geist bei Weibern die Männer erschrecke, geht so weit, daß sie selbst die Schärfe des geistigsten Sinnes gern verleugnen und den Ruf der Kurzsichtigkeit absichtlich auf sich laden; dadurch glauben sie wohl die Männer zutraulicher zu machen: es ist, als ob sich eine einladende sanfte Dämmerung um sie verbreite.
271.
Groß und vergänglich. – Was den Betrachtenden zu Thränen rührt, das ist der schwärmerische Glückes-Blick, mit dem eine schöne junge Frau ihren Gatten ansieht. Man empfindet alle Herbst-Wehmuth dabei, über die Größe sowohl, als über die Vergänglichkeit des menschlichen Glückes.
272.
Opfer-Sinn. – Manche Frau hat den intelletto del sacrifizio und wird ihres Lebens nicht mehr froh, wenn der Gatte sie nicht opfern will: sie weiß dann mit ihrem Verstande nicht mehr wohin? und wird unversehens aus dem Opferthier der Opferpriester selber.
273.
Das Unweibliche. – »Dumm wie ein Mann« sagen die Frauen: »feige wie ein Weib« sagen die Männer. Die Dummheit ist am Weibe das Unweibliche.
274.
Männliches und weibliches Temperament und die Sterblichkeit. – Daß das männliche Geschlecht ein schlechteres Temperament hat, als das weibliche, ergiebt sich auch daraus, daß die männlichen Kinder der Sterblichkeit mehr ausgesetzt sind, als die weiblichen, offenbar weil sie leichter »aus der Haut fahren«: ihre Wildheit und Unverträglichkeit verschlimmert alle Übel leicht bis in's Tödtliche.
275.
Die Zeit der Cyklopenbauten. – Die Demokratisirung Europa's ist unaufhaltsam: wer sich dagegen stemmt, gebraucht doch eben die Mittel dazu, welche erst der demokratische Gedanke Jedermann in die Hand gab, und macht diese Mittel selber handlicher und wirksamer: und die grundsätzlichsten Gegner der Demokratie (ich meine die Umsturzgeister) scheinen nur deshalb da zu sein, um durch die Angst, welche sie erregen, die verschiedenen Parteien immer schneller auf der demokratischen Bahn vorwärts zu treiben. Nun kann es einem angesichts Derer, welche jetzt bewußt und ehrlich für diese Zukunft arbeiten, in der That bange werden: es liegt etwas Ödes und Einförmiges in ihren Gesichtern, und der graue Staub scheint auch bis in ihre Gehirne hinein geweht zu sein. Trotzdem: es ist möglich, daß die Nachwelt über dieses unser Bangen einmal lacht und an die demokratische Arbeit einer Reihe von Geschlechtern etwa so denkt, wie wir an den Bau von Steindämmen und Schutzmauern – als an eine Thätigkeit, die notwendig viel Staub auf Kleider und Gesichter breitet und unvermeidlich wohl auch die Arbeiter ein wenig blödsinnig macht; aber wer würde deswegen solches Thun ungethan wünschen! Es scheint, daß die Demokratisirung Europa's ein Glied in der Kette jener ungeheuren prophylaktischen Maaßregeln ist, welche der Gedanke der neuen Zeit sind und mit denen wir uns gegen das Mittelalter abheben. Jetzt erst ist das Zeitalter der Cyklopenbauten! Endliche Sicherheit der Fundamente, damit alle Zukunft auf ihnen ohne Gefahr bauen kann! Unmöglichkeit fürderhin, daß die Fruchtfelder der Cultur wieder über Nacht von wilden und sinnlosen Bergwässern zerstört werden! Steindämme und Schutzmauern gegen Barbaren, gegen Seuchen, gegen leibliche und geistige Verknechtung! Und dies Alles zunächst wörtlich und gröblich, aber allmählich immer höher und geistiger verstanden, so daß alle hier angedeuteten Maaßregeln die geistreiche Gesammtvorbereitung des höchsten Künstlers der Gartenkunst zu sein scheinen, der sich dann erst zu seiner eigentlichen Aufgabe wenden kann, wenn jene vollkommen ausgeführt ist! – Freilich: bei den weiten Zeitstrecken, welche hier zwischen Mittel und Zweck liegen, bei der großen, übergroßen, Kraft und Geist von Jahrhunderten anspannenden Mühsal, die schon noth thut, um nur jedes einzelne Mittel zu schaffen oder herbeizuschaffen, darf man es den Arbeitern an der Gegenwart nicht zu hart anrechnen, wenn sie laut dekretiren, die Mauer und das Spalier sei schon der Zweck und das letzte Ziel; da ja noch Niemand den Gärtner und die Fruchtpflanzen sieht, um derentwillen das Spalier da ist.
276.
Das Recht des allgemeinen Stimmrechtes.– Das Volk hat sich das allgemeine Stimmrecht nicht gegeben, es hat dasselbe, überall, wo es jetzt in Geltung ist, empfangen und vorläufig angenommen: jedenfalls hat es aber das Recht, es wieder zurückzugeben, wenn es seinen Hoffnungen nicht genugthut. Dies scheint jetzt allerorten der Fall zu sein: denn wenn bei irgend einer Gelegenheit, wo es gebraucht wird, kaum Zweidrittel, ja vielleicht nicht einmal die Majorität aller Stimmberechtigten an die Stimm-Urne kommt, so ist dies ein Votum gegen das ganze Stimmsystem überhaupt. – Man muß hier sogar noch viel strenger urtheilen. Ein Gesetz, welches bestimmt, daß die Majorität über das Wohl Aller die letzte Entscheidung habe, kann nicht auf derselben Grundlage, welche durch dasselbe erst gegeben wird, aufgebaut werden; es bedarf nothwendig einer noch breiteren: und dies ist die Einstimmigkeit Aller. Das allgemeine Stimmrecht darf nicht nur der Ausdruck eines Majoritäten-Willens sein: das ganze Land muß es wollen. Deshalb genügt schon der Widerspruch einer sehr kleinen Minorität, dasselbe als unthunlich wieder bei Seite zu stellen: und die Nichtbetheiligung an einer Abstimmung ist eben ein solcher Widerspruch, der das ganze Stimmsystem zum Falle bringt. Das »absolute Veto« des Einzelnen oder, um nicht in's Kleinlicht zu verfallen, das Veto weniger Tausende hängt über diesem System, als die Consequenz der Gerechtigkeit: bei jedem Gebrauche, den man von ihm macht, muß es, laut der Art von Betheiligung, erst beweisen, daß es noch zu Recht besteht.
277.
Das schlechte Schließen.– Wie schlecht schließt man, auf Gebieten, wo man nicht zu Hause ist, selbst wenn man als Mann der Wissenschaft noch so sehr an das gute Schließen gewöhnt ist! Es ist beschämend! Und nun ist klar, daß im großen Welttreiben, in Sachen der Politik, bei allem Plötzlichen und Drängenden, wie es fast jeder Tag herausführt, eben dieses schlechte Schließen entscheidet: denn Niemand ist völlig in dem zu Hause, was über Nacht neu gewachsen ist; alles Politisiren, auch bei den größten Staatsmännern, ist Improvisiren auf gut Glück.
278.
Prämissen des Maschinen-Zeitalters. – Die Presse, die Maschine, die Eisenbahn, der Telegraph sind Prämissen, deren tausendjährige Conclusion noch Niemand zu ziehen gewagt hat.
279.
Ein Hemmschuh der Cultur. – Wenn wir hören: dort haben die Männer nicht Zeit zu den produktiven Geschäften; Waffenübungen und Umzüge nehmen ihnen den Tag weg, und die übrige Bevölkerung muß sie ernähren und kleiden, ihre Tracht aber ist auffallend, oftmals bunt und voll Narrheiten; dort sind nur wenige unterscheidende Eigenschaften anerkannt, die Einzelnen gleichen einander mehr als anderwärts oder werden doch als Gleiche behandelt; doch verlangt und giebt man Gehorsam ohne Verständniß: man befiehlt, aber man hütet sich zu überzeugen; dort sind die Strafen wenige, diese wenigen aber sind hart und gehen schnell zum Letzten, Fürchterlichsten; dort gilt der Verrath als das größte Verbrechen, schon die Kritik der Übelstände wird nur von den Muthigsten gewagt; dort ist ein Menschenleben wohlfeil, und der Ehrgeiz nimmt häufig die Form an, daß er das Leben in Gefahr bringt, – wer dies Alles hört, wird sofort sagen: »es ist das Bild einer barbarischen, in Gefahr schwebenden Gesellschaft.« Vielleicht daß der Eine hinzufügt: »es ist die Schilderung Sparta's«; ein Anderer wird aber nachdenklich werden und vermeinen, es sei unser modernes Militärwesen beschrieben, wie es inmitten unsrer andersartigen Cultur und Societät dasteht, als ein lebendiger Anachronismus, als das Bild, wie gesagt, einer barbarischen, in Gefahr schwebenden Gesellschaft, als ein posthumes Werk der Vergangenheit, welches für die Räder der Gegenwart nur den Werth eines Hemmschuhs haben kann. – Mitunter thut aber auch ein Hemmschuh der Cultur auf das Höchste noth: wenn es nämlich zu schnell bergab oder, wie in diesem Falle vielleicht, bergauf geht.
280.
Mehr Achtung vor den Wissenden! – Bei der Concurrenz der Arbeit und der Verkäufer ist das Publikum zum Richter über das Handwerk gemacht: das hat aber keine strenge Sachkenntniß und urtheilt nach dem Scheine der Güte. Folglich wird die Kunst des Scheines (und vielleicht der Geschmack) unter der Herrschaft der Concurrenz steigen, dagegen die Qualität aller Erzeugnisse sich verschlechtern müssen. Folglich wird, wofern nur die Vernunft nicht im Werthe fällt, irgendwann jener Concurrenz ein Ende gemacht werden, und ein neues Princip den Sieg über sie davontragen. Nur der Handwerksmeister sollte über das Handwerk urtheilen, und das Publikum abhängig sein vom Glauben an die Person des Urtheilenden und an seine Ehrlichkeit. Demnach keine anonyme Arbeit! Mindestens müßte ein Sachkenner als Bürge derselben dasein und seinen Namen als Pfand einsetzen, wenn der Name des Urhebers fehlt oder klanglos ist. Die Wohlfeilheit eines Werkes ist für den Laien eine andere Art Schein und Trug, da erst die Dauerhaftigkeit entscheidet, daß und inwiefern eine Sache wohlfeil ist; jene aber ist schwer und von dem Laien gar nicht zu beurtheilen. – Also: was Effekt auf das Auge macht und wenig kostet, das bekommt jetzt das Übergewicht, – und das wird natürlich die Maschinenarbeit sein. Hinwiederum begünstigt die Maschine, das heißt die Ursache der größten Schnelligkeit und Leichtigkeit der Herstellung, auch ihrerseits die verkäuflichste Sorte: sonst ist kein erheblicher Gewinn mit ihr zu machen; sie würde zu wenig gebraucht und zu oft stille stehen. Was aber am verkäuflichsten ist, darüber entscheidet das Publikum, wie gesagt: es muß das Täuschendste sein, das heißt Das, was einmal gut scheint und sodann auch wohlfeil scheint. Also auch auf dem Gebiete der Arbeit muß unser Losungswort sein: »Mehr Achtung vor den Wissenden!«
281.
Die Gefahr der Könige. – Die Demokratie hat es in der Hand, ohne alle Gewaltmittel, nur durch einen stätig geübten gesetzmäßigen Druck, das König- und Kaiserthum hohl zu machen: bis eine Null übrig bleibt, vielleicht, wenn man will, mit der Bedeutung jeder Null, daß sie, an sich Nichts, doch an die rechte Seite gestellt, die Wirkung einer Zahl verzehnfacht. Das Kaiser- und Königthum bliebe ein prachtvoller Zierrat an der schlichten und zweckmäßigen Gewandung der Demokratie, das schöne Überflüssige, welches sie sich gönnt, der Rest alles historisch ehrwürdigen Urväterzierrates, ja das Symbol der Historie selber – und in dieser Einzigkeit etwas höchst Wirksames, wenn es, wie gesagt, nicht für sich allein steht, sondern richtig gestellt wird. – Um der Gefahr jener Aushöhlung vorzubeugen, halten die Könige jetzt mit den Zähnen an ihrer Würde als Kriegsfürsten fest: dazu brauchen sie Kriege, das heißt Ausnahmezustände, in denen jener langsame, gesetzmäßige Druck der demokratischen Gewalten pausirt.
282.
Der Lehrer ein nothwendiges Übel. – So wenig wie möglich Personen zwischen den produktiven Geistern und den hungernden und empfangenden Geistern! Denn die Mittlerwesen fälschen fast unwillkürlich die Nahrung, die sie vermitteln: sodann wollen sie zur Belohnung für ihr Vermitteln zu viel für sich, was also den originalen, produktiven Geistern entzogen wird: nämlich Interesse, Bewunderung, Zeit, Geld und Anderes. – Also: man sehe immerhin den Lehrer als ein nothwendiges Übel an, ganz wie den Handelsmann: als ein Übel, das man so klein wie möglich machen muß! – Wenn vielleicht die Noth der deutschen Zustände jetzt ihren Hauptgrund darin hat, daß viel zu Viele vom Handel leben und gut leben wollen (also dem Erzeugenden die Preise möglichst zu verringern und dem Verzehrenden die Preise möglichst zu erhöhen suchen, um am möglichst großen Schaden Beider den Vortheil zu haben): so kann man gewiß einen Hauptgrund der geistigen Nothstände in der Überfülle von Lehrern sehen: ihretwegen wird so wenig und so schlecht gelernt.
283.
Die Achtungssteuer. – Den uns Bekannten, von uns Geehrten, sei es ein Arzt, Künstler, Handwerker, der Etwas für uns thut und arbeitet, bezahlen wir gern so hoch als wir können, oft sogar über unser Vermögen: dagegen bezahlt man den Unbekannten so niedrig es nur angehen will; hier ist ein Kampf, in welchem Jeder um den Fußbreit Landes kämpft und mit sich kämpfen macht. Bei der Arbeit des Bekannten für uns ist etwas Unbezahlbares, die in seine Arbeit unsertwegen hineingelegte Empfindung und Erfindung: wir glauben das Gefühl hiervon nicht anders als durch eine Art Aufopferung unsererseits ausdrücken zu können. – Die stärkste Steuer ist die Achtungssteuer. Je mehr die Concurrenz herrscht und man von Unbekannten kauft, für Unbekannte arbeitet, desto niedriger wird diese Steuer, während sie gerade der Maaßstab für die Höhe des menschlichen Seelen- Verkehres ist.
284.
Das Mittel zum wirklichen Frieden. – Keine Regierung giebt jetzt zu, daß sie das Heer unterhalte, um gelegentliche Eroberungsgelüste zu befriedigen; sondern der Verteidigung soll es dienen. Jene Moral, welche die Nothwehr billigt, wird als ihre Fürsprecherin angerufen. Das heißt aber: sich die Moralität und dem Nachbar die Immoralität vorbehalten, weil er angriffs- und eroberungslustig gedacht werden muß, wenn unser Staat nothwendig an die Mittel der Nothwehr denken soll; überdies erklärt man ihn, der genau ebenso wie unser Staat die Angriffslust leugnet und auch seinerseits das Heer vorgeblich nur aus Nothwehrgründen unterhält, durch unsere Erklärung, weshalb wir ein Heer brauchen, für einen Heuchler und listigen Verbrecher, welcher gar zu gern ein harmloses und ungeschicktes Opfer ohne allen Kampf überfallen möchte. So stehen nun alle Staaten jetzt gegen einander: sie setzen die schlechte Gesinnung des Nachbars und die gute Gesinnung bei sich voraus. Diese Voraussetzung ist aber eine Inhumanität, so schlimm und schlimmer als der Krieg: ja, im Grunde ist sie schon die Aufforderung und Ursache zu Kriegen, weil sie, wie gesagt, dem Nachbar die Immoralität unterschiebt und dadurch die feindselige Gesinnung und That zu provociren scheint. Der Lehre von dem Heer als einem Mittel der Nothwehr muß man ebenso gründlich abschwören als den Eroberungsgelüsten. Und es kommt vielleicht ein großer Tag, an welchem ein Volk, durch Kriege und Siege, durch die höchste Ausbildung der militärischen Ordnung und Intelligenz ausgezeichnet und gewöhnt, diesen Dingen die schwersten Opfer zu bringen, freiwillig ausruft: » wir zerbrechen das Schwert« – und sein gesammtes Heerwesen bis in seine letzten Fundamente zertrümmert. Sich wehrlos machen, während man der Wehrhafteste war, aus einer Höhe der Empfindung heraus, – das ist das Mittel zum wirklichen Frieden, welcher immer auf einem Frieden der Gesinnung ruhen muß: während der sogenannte bewaffnete Friede, wie er jetzt in allen Ländern einhergeht, der Unfriede der Gesinnung ist, der sich und dem Nachbar nicht traut und halb aus Haß, halb aus Furcht die Waffen nicht ablegt. Lieber zu Grunde gehn als hassen und fürchten, und zweimal lieber zu Grunde gehn als sich hassen und fürchten machen, – dies muß einmal auch die oberste Maxime jeder einzelnen staatlichen Gesellschaft werden! – Unsern liberalen Volksvertretern fehlt es, wie bekannt, an Zeit zum Nachdenken über die Natur des Menschen: sonst würden sie wissen, daß sie umsonst arbeiten, wenn sie für eine »allmähliche Herabminderung der Militärlast« arbeiten. Vielmehr: erst wenn diese Art Noth am größten ist, wird auch die Art Gott am nächsten sein, die hier allein helfen kann. Der Kriegsglorien-Baum kann nur mit Einem Male, durch einen Blitzschlag zerstört werden: der Blitz aber kommt, ihr wißt es ja, aus der Wolke und aus der Höhe. –
285.
Ob der Besitz mit der Gerechtigkeit ausgeglichen werden kann. – Wird die Ungerechtigkeit des Besitzes stark empfunden – der Zeiger der großen Uhr ist einmal wieder an dieser Stelle –, so nennt man zwei Mittel, derselben abzuhelfen: einmal eine gleiche Vertheilung und sodann die Aufhebung des Eigenthums und den Zurückfall des Besitzes an die Gemeinschaft. Letzteres Mittel ist namentlich nach dem Herzen unserer Socialisten, welche jenem alterthümlichen Juden darüber gram sind, daß er sagte: du sollst nicht stehlen. Nach ihnen soll das siebente Gebot vielmehr lauten: du sollst nicht besitzen. – Die Versuche nach dem ersten Recepte sind im Alterthum oft gemacht worden, zwar immer nur in kleinem Maaßstabe, aber doch mit einem Mißerfolg, der auch uns noch Lehrer sein kann. »Gleiche Ackerloose« ist leicht gesagt! aber wie viel Bitterkeit erzeugt sich durch die dabei nöthig werdende Trennung und Scheidung, durch den Verlust von altverehrtem Besitz, wie viel Pietät wird verletzt und geopfert! Man gräbt die Moralität um, wenn man die Grenzsteine umgräbt. Und wieder, wie viel neue Bitterkeit unter den neuen Besitzern, wie viel Eifersucht und Scheelsehen, da es zwei wirklich gleiche Ackerloose nie gegeben hat, und wenn es solche gäbe, der menschliche Neid auf den Nachbar nicht an deren Gleichheit glauben würde. Und wie lange dauerte diese schon in der Wurzel vergiftete und ungesunde Gleichheit! In wenigen Geschlechtern war durch Erbschaft hier das eine Loos auf fünf Köpfe, dort waren fünf Loose auf einen Kopf gekommen: und im Falle man durch harte Erbschafts-Gesetze solchen Mißständen vorbeugte, gab es zwar noch die gleichen Ackerloose, aber dazwischen Dürftige und Unzufriedene, welche Nichts besaßen, außer der Mißgunst auf die Anverwandten und Nachbarn und dem Verlangen nach dem Umsturz aller Dinge. – Will man aber, nach dem zweiten Recepte, das Eigenthum der Gemeinde zurückgeben und den Einzelnen nur zum zeitweiligen Pächter machen, so zerstört man das Ackerland. Denn der Mensch ist gegen Alles, was er nur vorübergehend besitzt, ohne Vorsorge und Aufopferung, er verfährt damit ausbeuterisch, als Räuber oder als lüderlicher Verschwender. Wenn Plato meint, die Selbstsucht werde mit der Aufhebung des Besitzes aufgehoben, so ist ihm zu antworten, daß, nach Abzug der Selbstsucht, vom Menschen jedenfalls nicht die vier Cardinaltugenden übrig bleiben werden, – wie man sagen muß: die ärgste Pest könnte der Menschheit nicht so schaden, als wenn eines Tages die Eitelkeit aus ihr entschwände. Ohne Eitelkeit und Selbstsucht – was sind denn die menschlichen Tugenden? Womit nicht von ferne gesagt sein soll, daß es nur Namen und Masken von Jenen seien. Plato's utopistische Grundmelodie, die jetzt noch von den Socialisten fortgesungen wird, beruht auf einer mangelhaften Kenntniß des Menschen: ihm fehlte die Historie der moralischen Empfindungen, die Einsicht in den Ursprung der guten nützlichen Eigenschaften der menschlichen Seele. Er glaubte, wie das ganze Alterthum, an Gut und Böse, wie an Weiß und Schwarz: also an eine radikale Verschiedenheit der guten und der bösen Menschen, der guten und der schlechten Eigenschaften. – Damit der Besitz fürderhin mehr Vertrauen einflöße und moralischer werde, halte man alle Arbeitswege zum kleinen Vermögen offen, aber verhindere die mühelose, die plötzliche Bereicherung; man ziehe alle Zweige des Transports und Handels, welche der Anhäufung großer Vermögen günstig sind, also namentlich den Geldhandel, aus den Händen der Privaten und Privatgesellschaften – und betrachte ebenso die Zuviel- wie die Nichts-Besitzer als gemeingefährliche Wesen.
286.
Der Werth der Arbeit. – Wollte man den Werth der Arbeit darnach bestimmen, wie viel Zeit, Fleiß, guter oder schlechter Wille, Zwang, Erfindsamkeit oder Faulheit, Ehrlichkeit oder Schein darauf verwendet ist, so kann der Werth niemals gerecht sein; denn die ganze Person müßte auf die Wagschale gesetzt werden können, was unmöglich ist. Hier heißt es »richtet nicht!« Aber der Ruf nach Gerechtigkeit ist es ja, den wir jetzt von Denen hören, welche mit der Abschätzung der Arbeit unzufrieden sind. Denkt man weiter, so findet man jede Persönlichkeit unverantwortlich für ihr Produkt, die Arbeit: ein Verdienst ist also niemals daraus abzuleiten, jede Arbeit ist so gut oder schlecht, wie sie bei der und der notwendigen Constellation von Kräften und Schwächen, Kenntnissen und Begehrungen sein muß. Es steht nicht im Belieben des Arbeiters, ob er arbeitet: auch nicht, wie er arbeitet. Nur die Gesichtspunkte des Nutzens, engere und weitere, haben Werthschätzung der Arbeit geschaffen. Das, was wir jetzt Gerechtigkeit nennen, ist auf diesem Felde sehr wohl am Platz als eine höchst verfeinerte Nützlichkeit, welche nicht auf den Moment nur Rücksicht nimmt und die Gelegenheit ausbeutet, sondern auf Dauerhaftigkeit aller Zustände sinnt und deshalb auch das Wohl des Arbeiters, seine leibliche und seelische Zufriedenheit in's Auge faßt, – damit er und seine Nachkommen gut auch für unsere Nachkommen arbeiten und noch auf längere Zeiträume, als das menschliche Einzelleben ist, hinaus zuverlässig werden. Die Ausbeutung des Arbeiters war, wie man jetzt begreift, eine Dummheit, ein Raub-Bau auf Kosten der Zukunft, eine Gefährdung der Gesellschaft. Jetzt hat man fast schon den Krieg: und jedenfalls weiden die Kosten, um den Frieden zu erhalten, um Verträge zu schließen und Vertrauen zu erlangen, nunmehr sehr groß sein, weil die Thorheit der Ausbeutenden sehr groß und langdauernd war.
287.
Vom Studium des Gesellschafts-Körpers. – Das Übelste für Den, welcher jetzt in Europa, namentlich in Deutschland, Ökonomik und Politik studieren will, liegt darin, daß die thatsächlichen Zustände, anstatt die Regeln zu exemplificiren, die Ausnahme oder die Übergangs- und Ausgangsstadien exemplificiren. Man muß deshalb über das thatsächlich Bestehende erst hinwegsehen lernen und zum Beispiel den Blick fernhin auf Nordamerika richten, – wo man die anfänglichen und normalen Bewegungen des gesellschaftlichen Körpers noch mit Augen sehen und aufsuchen kann, wenn man nur will,– während in Deutschland dazu schwierige historische Studien oder, wie gesagt, ein Fernglas nöthig sind.
288.
Inwiefern die Maschine demüthigt. – Die Maschine ist unpersönlich, sie entzieht dem Stück Arbeit seinen Stolz, sein individuell Gutes und Fehlerhaftes, was an jeder Nicht-Maschinenarbeit klebt, – also sein Bißchen Humanität. Früher war alles Kaufen von Handwerkern ein Auszeichnen von Personen, mit deren Abzeichen man sich umgab: der Hausrath und die Kleidung wurde dergestalt zur Symbolik gegenseitiger Wertschätzung und persönlicher Zusammengehörigkeit, während wir jetzt nur inmitten anonymen und unpersönlichen Sklaventhums zu leben scheinen. – Man muß die Erleichterung der Arbeit nicht zu theuer kaufen.
289.
Hundertjährige Quarantäne. – Die demokratischen Einrichtungen sind Quarantäne-Anstalten gegen die alte Pest tyrannenhafter Gelüste: als solche sehr nützlich und sehr langweilig.
290.
Der gefährlichste Anhänger. – Der gefährlichste Anhänger ist Der, dessen Abfall die ganze Partei vernichten würde: also der beste Anhänger.
291.
Das Schicksal und der Magen. – Ein Butterbrod mehr oder weniger im Leibe des Jockey's entscheidet gelegentlich über Wettrennen und Wetten, also über Glück und Unglück von Tausenden. – So lange das Schicksal der Völker noch von den Diplomaten abhängt, werden die Mägen der Diplomaten immer der Gegenstand patriotischer Beklemmung sein. Quousque tandem –
292.
Sieg der Demokratie. – Es versuchen jetzt alle politischen Mächte, die Angst vor dem Socialismus auszubeuten, um sich zu stärken. Aber auf die Dauer hat doch allein die Demokratie den Vortheil davon: denn alle Parteien sind jetzt genöthigt, dem »Volke« zu schmeicheln und ihm Erleichterungen und Freiheiten aller Art zu geben, wodurch es endlich omnipotent wird. Das Volk ist vom Socialismus, als einer Lehre von der Veränderung des Eigenthumerwerbes, am entferntesten: und wenn es erst einmal die Steuerschraube in den Händen hat, durch die großen Majoritäten seiner Parlamente, dann wird es mit der Progressivsteuer dem Kapitalisten-, Kaufmanns- und Börsenfürstenthum an den Leib gehen und in der That langsam einen Mittelstand schaffen, der den Socialismus wie eine überstandene Krankheit vergessen darf. – Das praktische Ergebniß dieser um sich greifenden Demokratisirung wird zunächst ein europäischer Völkerbund sein, in welchem jedes einzelne Volk, nach geographischen Zweckmäßigkeiten abgegrenzt, die Stellung eines Cantons und dessen Sonderrechte innehat: mit den historischen Erinnerungen der bisherigen Völker wird dabei wenig noch gerechnet werden, weil der pietätvolle Sinn für dieselben unter der neuerungssüchtigen und versuchslüsternen Herrschaft des demokratischen Princips allmählich von Grund aus entwurzelt wird. Die Correkturen der Grenzen, welche dabei sich nöthig zeigen, werden so ausgeführt, daß sie dem Nutzen der großen Cantone und zugleich dem des Gesammtverbandes dienen, nicht aber dem Gedächtnisse irgendwelcher vergrauten Vergangenheit. Die Gesichtspunkte für diese Correkturen zu finden wird die Aufgabe der zukünftigen Diplomaten sein, die zugleich Culturforscher, Landwirthe, Verkehrskenner sein müssen und keine Heere, sondern Gründe und Nützlichkeiten hinter sich haben. Dann erst ist die äußere Politik mit der inneren unzertrennbar verknüpft: während jetzt immer noch die Letztere ihrer stolzen Gebieterin nachläuft und im erbärmlichen Körbchen die Stoppelähren sammelt, die bei der Ernte der Ersteren übrig bleiben.
293.
Ziel und Mittel der Demokratie. – Die Demokratie will möglichst Vielen Unabhängigkeit schaffen und verbürgen, Unabhängigkeit der Meinungen, der Lebensart und des Erwerbs. Dazu hat sie nöthig, sowohl den Besitzlosen als den eigentlich Reichen das politische Stimmrecht abzusprechen: als den zwei unerlaubten Menschenklassen, an deren Beseitigung sie stätig arbeiten muß, weil Diese ihre Aufgabe immer wieder in Frage stellen. Ebenso muß sie Alles verhindern, was auf die Organisation von Parteien abzuzielen scheint. Denn die drei großen Feinde der Unabhängigkeit in jenem dreifachen Sinne sind die Habenichtse, die Reichen und die Parteien. – Ich rede von der Demokratie als von etwas Kommendem. Das, was schon jetzt so heißt, unterscheidet sich von den älteren Regierungsformen allein dadurch, daß es mit neuen Pferden fährt: die Straßen sind noch die alten, und die Räder sind auch noch die alten. – Ist die Gefahr bei diesen Fuhrwerken des Völkerwohls wirklich geringer geworden?
294.
Die Besonnenheit und der Erfolg. – Jene große Eigenschaft der Besonnenheit, welche im Grunde die Tugend der Tugenden, ihre Urgroßmutter und Königin ist, hat im gewöhnlichen Leben keineswegs immer den Erfolg auf ihrer Seite: und der Freier würde sich getäuscht finden, der nur des Erfolgs wegen sich um jene Tugend beworben hätte. Sie gilt nämlich unter den praktischen Leuten für verdächtig und wird mit der Hinterhaltigkeit und heuchlerischen Schlauheit verwechselt: wem dagegen ersichtlich die Besonnenheit abgeht, – der Mann, der rasch zugreift und auch einmal danebengreift, hat das Vorurtheil für sich, ein biederer, zuverlässiger Geselle zu sein. Die praktischen Leute mögen also den Besonnenen nicht, er ist für sie, wie sie meinen, eine Gefahr. Andererseits nimmt man den Besonnenen leicht als ängstlich, befangen, pedantisch – die unpraktischen und genießenden Leute gerade finden ihn unbequem, weil er nicht leichthin lebt wie sie, ohne an das Handeln und die Pflichten zu denken: er erscheint unter ihnen wie ihr leibhaftes Gewissen, und der helle Tag wird bei seinem Anblick ihrem Auge bleich. Wenn ihm also der Erfolg und die Beliebtheit fehlen, so mag er sich immer zum Troste sagen: »so hoch sind eben die Steuern, welche du für den Besitz des köstlichsten Gutes unter Menschen zahlen mußt, – er ist es werth!«
295.
Et in Arcadia ego . – Ich sah hinunter, über Hügel-Wellen, gegen einen milchgrünen See hin, durch Tannen und altersernste Fichten hindurch: Felsbrocken aller Art um mich, der Boden bunt von Blumen und Gräsern. Eine Heerde bewegte, streckte und dehnte sich vor mir; einzelne Kühe und Gruppen ferner, im schärfsten Abendlichte, neben dem Nadelgehölz; andere näher, dunkler; Alles in Ruhe und Abendsättigung. Die Uhr zeigte gegen halb Sechs. Der Stier der Heerde war in den weißen, schäumenden Bach getreten und gieng langsam widerstrebend und nachgebend seinem stürzenden Laufe nach: so hatte er wohl seine Art von grimmigem Behagen. Zwei dunkelbraune Geschöpfe, bergamasker Herkunft, waren die Hirten: das Mädchen fast als Knabe gekleidet. Links Felsenhänge und Schneefelder über breiten Waldgürteln, rechts zwei ungeheure beeiste Zacken, hoch über mir, im Schleier des Sonnenduftes schwimmend – Alles groß, still und hell. Die gesammte Schönheit wirkte zum Schaudern und zur stummen Anbetung des Augenblicks ihrer Offenbarung; unwillkürlich, wie als ob es nichts Natürlicheres gäbe, stellte man sich in diese reine scharfe Lichtwelt (die gar nichts Sehnendes, Erwartendes, Vor- und Zurückblickendes hatte) griechische Heroen hinein; man mußte wie Poussin und sein Schüler empfinden: heroisch zugleich und idyllisch. – Und so haben einzelne Menschen auch gelebt, so sich dauernd in der Welt und die Welt in sich gefühlt, und unter ihnen einer der größten Menschen, der Erfinder einer heroisch-idyllischen Art zu philosophiren: Epikur.
296.
Rechnen und messen. – Viele Dinge sehen, mit einander erwägen, gegen einander abrechnen und aus ihnen einen schnellen Schluß, eine ziemlich sichere Summe bilden, – das macht den großen Politiker, Feldherrn, Kaufmann: also die Geschwindigkeit in einer Art von Kopfrechnen. Eine Sache sehen, in ihr das einzige Motiv zum Handeln, die Richterin alles übrigen Handelns finden, macht den Helden, auch den Fanatiker – also eine Fertigkeit im Messen mit Einem Maaßstabe.
297.
Nicht unzeitig sehen wollen. – So lange man Etwas erlebt, muß man dem Erlebniß sich hingeben und die Augen schließen, also nicht darin schon den Beobachter machen. Das nämlich würde die gute Verdauung des Erlebnisses stören: anstatt einer Weisheit trüge man eine Indigestion davon.
298.
Aus der Praxis des Weisen. – Um weise zu werden, muß man gewisse Erlebnisse erleben wollen, also ihnen in den Rachen laufen. Sehr gefährlich ist dies freilich; mancher »Weise« wurde dabei aufgefressen.
299.
Die Ermüdung des Geistes. – Unsere gelegentliche Gleichgültigkeit und Kälte gegen Menschen, welche uns als Härte und Charaktermangel ausgelegt wird, ist häufig nur eine Ermüdung des Geistes: bei dieser sind uns die Anderen, wie wir uns selber, gleichgültig oder lästig.
300.
» Eins ist noth.« – Wenn man klug ist, ist Einem allein darum zu thun, daß man Freude im Herzen habe. – Ach, setzte Jemand hinzu, wenn man klug ist, thut man am Besten, weise zu sein.
301.
Ein Zeugniß der Liebe. – Jemand sagte: »Über zwei Personen habe ich nie gründlich nachgedachte es ist das Zeugniß meiner Liebe zu ihnen.«
302.
Wie man schlechte Argumente zu verbessern sucht. – Mancher wirft seinen schlechten Argumenten noch ein Stück seiner Persönlichkeit hinten nach, wie als ob jene dadurch richtiger ihre Bahn laufen würden und sich in gerade und gute Argumente verwandeln ließen; ganz wie die Kegelschieber auch nach dem Wurfe noch mit Gebärden und Schwenkungen der Kugel die Richtung zu geben suchen.
303.
Die Rechtlichkeit. – Es ist noch wenig, wenn man in Bezug auf Rechte und Eigenthum ein Muster-Mensch ist; wenn man zum Beispiel als Knabe nie Obst in fremden Gärten nimmt, als Mann nicht über ungemähte Wiesen läuft, – um kleine Dinge zu nennen, welche wie bekannt, den Beweis für diese Art von Musterhaftigkeit besser geben als große. Es ist noch wenig: man ist dann immer erst eine »juristische Person«, mit jenem Grad von Moralität, deren sogar eine »Gesellschaft«, ein Menschen-Klumpen fähig ist.
304.
Mensch! – Was ist die Eitelkeit des eitelsten Menschen gegen die Eitelkeit, welche der Bescheidenste besitzt, in Hinsicht darauf, daß er sich in der Natur und Welt als »Mensch« fühlt!
305.
Nöthigste Gymnastik. – Durch den Mangel an kleiner Selbstbeherrschung bröckelt die Fähigkeit zur großen an. Jeder Tag ist schlecht benutzt und eine Gefahr für den nächsten, an dem man nicht wenigstens einmal sich Etwas im Kleinen versagt hat: diese Gymnastik ist unentbehrlich, wenn man sich die Freude, sein eigener Herr zu sein, erhalten will.
306.
Sich selber verlieren. – Wenn man erst sich selber gefunden hat, muß man verstehen, sich von Zeit zu Zeit zu verlieren – und dann wieder zu finden: vorausgesetzt daß man ein Denker ist. Diesem ist es nämlich nachtheilig, immerdar an Eine Person gebunden zu sein.
307.
Wann Abschied nehmen noth thut. – Von Dem, was du erkennen und messen willst, mußt du Abschied nehmen, wenigstens auf eine Zeit. Erst wenn du die Stadt verlassen hast, siehst du, wie hoch sich ihre Thürme über die Häuser erheben.
308.
Am Mittag. – Wem ein thätiger und stürmereicher Morgen des Lebens beschieden war, dessen Seele überfällt um den Mittag des Lebens eine seltsame Ruhesucht, die Monden und Jahre lang dauern kann. Es wird still um ihn, die Stimmen klingen fern und ferner; die Sonne scheint steil auf ihn herab. Auf einer verborgenen Waldwiese sieht er den großen Pan schlafend, alle Dinge der Natur sind mit ihm eingeschlafen, einen Ausdruck von Ewigkeit im Gesichte – so dünkt es ihm. Er will Nichts, er sorgt sich um Nichts, sein Herz steht still, nur sein Auge lebt, – es ist ein Tod mit wachen Augen. Vieles sieht da der Mensch, was er nie sah, und soweit er sieht, ist Alles in ein Lichtnetz eingesponnen und gleichsam darin begraben. Er fühlt sich glücklich dabei, aber es ist ein schweres, schweres Glück. – Da endlich erhebt sich der Wind in den Bäumen, Mittag ist vorbei, das Leben reißt ihn wieder an sich, das Leben mit blinden Augen, hinter dem sein Gefolge herstürmt: Wunsch, Trug, Vergessen, Genießen, Vernichten, Vergänglichkeit. Und so kommt der Abend herauf, stürmereicher und thatenvoller, als selbst der Morgen war. – Den eigentlich thätigen Menschen erscheinen die länger währenden Zustände des Erkennens fast unheimlich und krankhaft, aber nicht unangenehm.
309.
Sich vor seinem Maler hüten. – Ein großer Maler, der in einem Porträt den vollsten Ausdruck und Augenblick, dessen ein Mensch fähig ist, enthüllt und niedergelegt hat, wird von diesem Menschen, wenn er ihn später im wirklichen Leben wiedersieht, fast immer nur eine Caricatur zu sehen glauben.
310.
Die zwei Grundsätze des neuen Lebens. – Erster Grundsatz: man soll das Leben auf das Sicherste, Beweisbarste hin einrichten: nicht wie bisher auf das Entfernteste, Unbestimmteste, Horizont-Wolkenhafteste hin. Zweiter Grundsatz: man soll sich die Reihenfolge des Nächsten und Nahen, des Sicheren und weniger Sicheren feststellen, bevor man sein Leben einrichtet und in eine endgültige Richtung bringt.
311.
Gefährliche Reizbarkeit. – Begabte Menschen, die aber träge sind, werden immer etwas gereizt erscheinen, wenn einer ihrer Freunde mit einer tüchtigen Arbeit fertig geworden ist. Ihre Eifersucht ist rege, sie schämen sich ihrer Faulheit – oder vielmehr, sie befürchten, der Thätige verachte sie gegenwärtig noch mehr, als sonst. In dieser Stimmung kritisiren sie das neue Werk – und ihre Kritik wird zur Rache, zum höchsten Befremden des Urhebers.
312.
Zerstören der Illusionen. – Die Illusionen sind gewiß kostspielige Vergnügungen: aber das Zerstören der Illusionen ist noch kostspieliger – als Vergnügen betrachtet, was es unleugbar für manchen Menschen ist.
313.
Das Eintönige des Weisen. – Die Kühe haben mitunter den Ausdruck der Verwunderung, die auf dem Wege zur Frage stehen bleibt. Dagegen liegt im Auge der höheren Intelligenz das nil admirari ausgebreitet wie die Eintönigkeit des wolkenlosen Himmels.
314.
Nicht zu lange krank sein. – Man hüte sich, zu lange trank zu sein: denn bald werden die Zuschauer durch die übliche Verpflichtung, Mitleiden zu bezeigen, ungeduldig, weil es ihnen zu viel Mühe macht, diesen Zustand lange bei sich aufrecht zu erhalten – und dann gehen sie unmittelbar zur Verdächtigung eures Charakters über, mit dem Schlusse: »ihr verdient es krank zu sein, und wir brauchen uns nicht mehr mit Mitleiden anzustrengen.«
315.
Wink für Enthusiasten. – Wer gern hingerissen werden will und sich leicht nach Oben tragen lassen möchte, soll zusehen, daß er nicht zu schwer werde, das heißt zum Beispiel, daß er nicht viel lerne und namentlich von der Wissenschaft sich nicht erfüllen lasse. Diese macht schwerfällig! – nehmt euch in Acht, ihr Enthusiasten!
316.
Sich zu überraschen wissen. – Wer sich selber sehen will, so wie er ist, muß es verstehen, sich selber zu überraschen, mit der Fackel in der Hand. Denn es steht mit dem Geistigen so, wie es mit dem Körperlichen steht: wer gewohnt ist, sich im Spiegel zu schauen, vergißt immer seine Häßlichkeit: erst durch den Maler bekommt er den Eindruck derselben wieder. Aber er gewöhnt sich auch an das Gemälde und vergißt seine Häßlichkeit zum zweiten Male. – Dies nach dem allgemeinen Gesetze, daß der Mensch das Unveränderlich– Häßliche nicht erträgt: es sei denn auf einen Augenblick; er vergißt es oder leugnet es in allen Fällen. – Die Moralisten müssen auf jenen »Augenblick« rechnen, um ihre Wahrheiten vorbringen zu dürfen.
317.
Meinungen und Fische. – Man ist Besitzer seiner Meinungen, wie man Besitzer von Fischen ist, – insofern man nämlich Besitzer eines Fischteiches ist. Man muß fischen gehen und Glück haben, – dann hat man seine Fische, seine Meinungen. Ich rede hier von lebendigen Meinungen, von lebendigen Fischen. Andere sind zufrieden, wenn sie ein Fossilien-Cabinet besitzen – und, in ihrem Kopfe, »Überzeugungen«.
318.
Anzeichen von Freiheit und Unfreiheit. – Seine nothwendigen Bedürfnisse so viel wie möglich selber befriedigen, wenn auch unvollkommen, das ist die Richtung auf Freiheit von Geist und Person. Viele, auch überflüssige Bedürfnisse sich befriedigen lassen, und so vollkommen als möglich, – erzieht zur Unfreiheit. Der Sophist Hippias, der Alles was er trug, innen und außen, selbst erworben, selber gemacht hatte, entspricht eben damit der Richtung auf höchste Freiheit des Geistes und der Person. Nicht darauf kommt es an, daß Alles gleich gut und vollkommen gearbeitet ist; der Stolz flickt schon die schadhaften Stellen aus.
319.
Sich selber glauben. – In unserer Zeit mißtraut man Jedem, der an sich selber glaubt; ehemals genügte es, um an sich glauben zu machen. Das Recept, um jetzt Glauben zu finden, heißt: »Schone dich selber nicht! Willst du deine Meinung in ein glaubwürdiges Licht setzen, so zünde zuerst die eigene Hütte an!
320.
Reicher und ärmer zugleich. – Ich kenne einen Menschen, der als Kind schon sich gewöhnt hatte, gut von der Intellektualität der Menschen zu denken, also von ihrer wahren Hingebung in Bezug auf geistige Dinge, ihrer uneigennützigen Bevorzugung des als wahr Erkannten und dergleichen, dagegen von seinem eigenen Kopfe (Urtheil, Gedächtniß, Geistesgegenwart, Phantasie) bescheidene, ja niedrige Begriffe zu haben. Er machte sich Nichts aus sich, wenn er sich mit Anderen verglich. Nun wurde er im Laufe der Jahre erst einmal und dann hundertfach gezwungen, in diesem Punkte umzulernen, – man sollte denken zu seiner großen Freude und Genugthuung. Es gab auch in der That Etwas davon; aber »doch ist, wie er einmal sagte, eine Bitterkeit der bittersten Art beigemischt, welche ich im früheren Leben nicht kannte: denn seit ich die Menschen und mich selber gerechter schätze, scheint mir mein Geist weniger nütze; ich glaube damit kaum noch etwas Gutes erweisen zu können, weil der Geist der Anderen es nicht anzunehmen versteht: ich sehe jetzt die schreckliche Kluft zwischen dem Hülfreichen und dem Hülfebedürftigen immer vor mir. Und so quält mich die Noth, meinen Geist für mich haben und allein genießen zu müssen, so weit er genießbar ist. Aber geben ist seliger als haben: und was ist der Reichste in der Einsamkeit einer Wüste!«
321.
Wie man angreifen soll. – Die Gründe, um derentwillen man an Etwas glaubt oder nicht glaubt, sind bei den allerseltensten Menschen überhaupt so stark, als sie sein können. Für gewöhnlich hat man, um den Glauben an Etwas zu erschüttern, durchaus nicht nöthig, ohne Weiteres das schwerste Geschütz des Angriffs vorzufahren; bei Vielen führt es schon zum Ziele, wenn man den Angriff mit etwas Lärm macht: so daß oft Knallerbsen genügen. Gegen sehr eitle Personen reicht die Miene des allerschwersten Angriffs aus: sie sehen sich sehr ernst genommen – und geben gern nach.
322.
Tod. – Durch die sichere Aussicht auf den Tod könnte jedem Leben ein köstlicher, wohlriechender Tropfen von Leichtsinn beigemischt sein – und nun habt ihr wunderlichen Apotheker-Seelen aus ihm einen übelschmeckenden Gift-Tropfen gemacht, durch den das ganze Leben widerlich wird!
323.
Reue. – Niemals der Reue Raum geben, sondern sich sofort sagen: dies hieße ja der ersten Dummheit eine zweite zugesellen. – Hat man Schaden gestiftet, so sinne man darauf, Gutes zu stiften. Wird man wegen seiner Handlungen gestraft, dann ertrage man die Strafe mit der Empfindung, damit schon etwas Gutes zu stiften: man schreckt die Anderen ab, in die gleiche Thorheit zu verfallen. Jeder gestrafte Übelthäter darf sich als Wohlthäter der Menschheit fühlen.
324.
Zum Denker werden. – Wie kann Jemand zum Denker werden, wenn er nicht mindestens den dritten Theil jeden Tages ohne Leidenschaften, Menschen und Bücher verbringt?
325.
Das beste Heilmittel. – Etwas Gesundheit ab und zu ist das beste Heilmittel des Kranken.
326.
Nicht anrühren! – Es giebt schreckliche Menschen, welche ein Problem, anstatt es zu lösen, für Alle, welche sich mit ihm abgeben wollen, verfitzen und schwerer lösbar machen. Wer es nicht versteht, den Nagel auf den Kopf zu treffen, soll ja gebeten sein, ihn gar nicht zu treffen.
327.
Die vergessene Natur. – Wir sprechen von Natur und vergessen uns dabei: wir selber sind Natur, quand même –. Folglich ist Natur etwas ganz Anderes als Das, was wir beim Nennen ihres Namens empfinden.
328.
Tiefe und Langweiligkeit. – Bei tiefen Menschen wie bei tiefen Brunnen dauert es lange, bis Etwas, das in sie fällt, ihren Grund erreicht. Die Zuschauer, welche gewöhnlich nicht lange genug warten, halten solche Menschen leicht für unbeweglich und hart – oder auch für langweilig.
329.
Wann es Zeit ist, sich Treue zu geloben. – Man verläuft sich mitunter in eine geistige Richtung, welcher unsre Begabung widerspricht; eine Zeitlang kämpft man heroisch wider die Fluth und den Wind an, im Grunde gegen sich selbst: man wird müde, keucht; was man vollbringt, macht Einem keine rechte Freude, man meint zu viel bei diesen Erfolgen eingebüßt zu haben. Ja, man verzweifelt an seiner Fruchtbarkeit, an seiner Zukunft, mitten im Siege vielleicht. Endlich, endlich kehrt man um – und jetzt weht der Wind in unser Segel und treibt uns in unser Fahrwasser. Welches Glück! Wie siegesgewiß fühlen wir uns! Jetzt erst wissen wir, was wir sind und was wir wollen, jetzt geloben wir uns Treue und dürfen es – als Wissende.
330.
Wetterpropheten. – Wie die Wolken uns verrathen, wohin hoch über uns die Winde laufen, so sind die leichtesten und freiesten Geister in ihren Richtungen vorausverkündend für das Wetter, das kommen wird. Der Wind im Thale und die Meinungen des Marktes von Heute bedeuten Nichts für Das, was kommt, sondern nur für Das, was war.
331.
Stätige Beschleunigung. – Jene Personen, welche langsam beginnen und schwer in einer Sache heimisch werden, haben nachher mitunter die Eigenschaft der stätigen Beschleunigung, – sodaß zuletzt Niemand weiß, wohin der Strom sie noch reißen kann.
332.
Die guten Drei. – Größe, Ruhe, Sonnenlicht – diese Drei umfassen Alles, was ein Denker wünscht und auch von sich fordert: seine Hoffnungen und Pflichten, seine Ansprüche im Intellektuellen und Moralischen, sogar in der täglichen Lebensweise und selbst im Landschaftlichen seines Wohnsitzes. Ihnen entsprechen einmal erhebende Gedanken, sodann beruhigende, drittens aufhellende – viertens aber Gedanken, welche an allen drei Eigenschaften Antheil haben, in denen alles Irdische zur Verklärung kommt: es ist das Reich, wo die große Dreifaltigkeit der Freude herrscht.
333.
Für die »Wahrheit« sterben. – Wir würden uns für unsere Meinungen nicht verbrennen lassen: wir sind ihrer nicht so sicher. Aber vielleicht dafür, daß wir unsere Meinungen haben dürfen und ändern dürfen.
334.
Seine Taxe haben. – Wenn man gerade so viel gelten will, als man ist, muß man Etwas sein, das seine Taxe hat. Aber nur das Gewöhnliche hat seine Taxe. Somit ist jenes Verlangen entweder die Folge einsichtiger Bescheidenheit – oder dummer Unbescheidenheit.
335.
Moral für Häuserbauer. – Man muß die Gerüste wegnehmen, wenn das Haus gebaut ist.
336.
Sophokleismus.– Wer hat mehr Wasser in den Wein gegossen als die Griechen! Nüchternheit und Grazie verbunden – das war das Adels-Vorrecht des Atheners zur Zeit des Sophokles und nach ihm. Mache es nach, wer da kann! Im Leben und Schaffen!
337.
Das Heroische. – Das Heroische besteht darin, daß man Großes thut (oder etwas in großer Weise nicht thut), ohne sich im Wettkampfe mit Anderen, vor Anderen zu fühlen. Der Heros trägt die Einöde und den heiligen unbetretbaren Grenzbezirk immer mit sich, wohin er auch gehe.
338.
Doppelgängerei der Natur. – In mancher Natur-Gegend entdecken wir uns selber wieder, mit angenehmem Grausen; es ist die schönste Doppelgängerei. – Wie glücklich muß Der sein können, welcher jene Empfindung gerade hier hat, in dieser beständigen sonnigen Oktoberluft, in diesem schalkhaft glücklichen Spielen des Windzuges von Früh bis Abend, in dieser reinsten Helle und mäßigsten Kühle, in dem gesummten anmuthig ernsten Hügel-, Seen- und Wald-Charakter dieser Hochebene, welche sich ohne Furcht neben die Schrecknisse des ewigen Schnees hingelagert hat, hier, wo Italien und Finnland zum Bunde zusammengekommen sind und die Heimat aller silbernen Farbentöne der Natur zu sein scheint: – wie glücklich Der, welcher sagen kann: »es giebt gewiß viel Größeres und Schöneres in der Natur, dies aber ist mir innig und vertraut, blutsverwandt, ja noch mehr.«
339.
Leutseligkeit des Weisen. – Der Weise wird unwillkürlich mit den andern Menschen leutselig umgehen wie ein Fürst und sie, trotz aller Verschiedenheit der Begabung, des Standes und der Gesittung, leicht als gleichartig behandeln: was man, sobald es bemerkt wird, ihm sehr übel nimmt.
340.
Gold. – Alles, was Gold ist, glänzt nicht. Die sanfte Strahlung ist dem edelsten Metalle zu eigen.
341.
Rad und Hemmschuh. – Das Rad und der Hemmschuh haben verschiedene Pflichten, aber auch eine gleiche: einander wehe zu thun.
342.
Störungen des Denkers. – Auf Alles, was den Denker in seinen Gedanken unterbricht (stört, wie man sagt), muß er friedfertig hinschauen, wie auf ein neues Modell, das zur Thür hereintritt, um sich dem Künstler anzubieten. Die Unterbrechungen sind die Raben, welche dem Einsamen Speise bringen.
343.
Viel Geist haben. – Viel Geist haben erhält jung: aber man muß es ertragen, damit gerade für älter zu gelten, als man ist. Denn die Menschen lesen die Schriftzüge des Geistes ab als Spuren der Lebenserfahrung, das heißt des Viel- und Schlimm gelebt-habens, des Leidens, Irrens, Bereuens. Also: man gilt ihnen für älter sowohl als für schlechter, als man ist, wenn man viel Geist hat und zeigt.
344.
Wie man siegen muß. – Man soll nicht siegen wollen, wenn man nur die Aussicht hat, um eines Haares Breite seinen Gegner zu überholen. Der gute Sieg muß den Besiegten freudig stimmen, er muß etwas Göttliches haben, welches die Beschämung erspart.
345.
Wahn der überlegenen Geister. – Die überlegenen Geister haben Mühe, sich von einem Wahne frei zu machen: sie bilden sich nämlich ein, daß sie bei den Mittelmäßigen Neid erregen und als Ausnahme empfunden werden. Thatsächlich aber werden sie als Das empfunden, was überflüssig ist und was man, wenn es fehlte, nicht entbehren würde.
346.
Forderung der Reinlichkeit.– Daß man seine Meinungen wechselt, ist für die einen Naturen ebenso eine Forderung der Reinlichkeit, wie die, daß man seine Kleider wechselt: für andere Naturen aber nur eine Forderung ihrer Eitelkeit.
347.
Auch eines Heros würdig. – Hier ist ein Heros, der Nichts gethan hat als den Baum geschüttelt, sobald die Früchte reif waren. Dünkt euch dies zu wenig? So seht euch den Baum erst an, den er schüttelte.
348.
Woran die Weisheit zu messen ist. – Der Zuwachs an Weisheit läßt sich genau nach der Abnahme an Galle bemessen.
349.
Den Irrthum unangenehm sagen. – Es ist nicht nach Jedermanns Geschmack, daß die Wahrheit angenehm gesagt werde. Möge aber wenigstens Niemand glauben, daß der Irrthum zur Wahrheit werde, wenn man ihn unangenehm sage.
350.
Die goldene Losung. – Dem Menschen sind viele Ketten angelegt worden, damit er es verlerne, sich wie ein Thier zu gebärden: und wirklich, er ist milder, geistiger, freudiger, besonnener geworden, als alle Thiere sind. Nun aber leidet er noch daran, daß er so lange seine Ketten trug, daß es ihm so lange an reiner Luft und freier Bewegung fehlte: – diese Ketten aber sind, ich wiederhole es immer und immer wieder, jene schweren und sinnvollen Irrthümer der moralischen, der religiösen, der metaphysischen Vorstellungen. Erst wenn auch die Ketten-Krankheit überwunden ist, ist das erste große Ziel ganz erreicht: die Abtrennung des Menschen von den Thieren. – Nun stehen wir mitten in unserer Arbeit, die Ketten abzunehmen, und haben dabei die höchste Vorsicht nöthig. Nur dem veredelten Menschen darf die Freiheit des Geistes gegeben werden; ihm allein naht die Erleichterung des Lebens und salbt seine Wunden aus; er zuerst darf sagen, daß er um der Freudigkeit willen lebe und um keines weiteren Zieles willen; und in jedem anderen Munde wäre sein Wahlspruch gefährlich: Frieden um mich und ein Wohlgefallen an allen nächsten Dingen. – Bei diesem Wahlspruch für Einzelne gedenkt er eines alten großen und rührenden Wortes, welches Allen galt, und das über der gesammten Menschheit stehen geblieben ist, als ein Wahlspruch und Wahrzeichen, an dem Jeder zu Grunde gehen soll, der damit zu zeitig sein Banner schmückt, – an dem das Christenthum zu Grunde gieng. Noch immer, so scheint es, ist es nicht Zeit, daß es allen Menschen jenen Hirten gleich ergehen dürfe, die den Himmel über sich erhellt sahen und jenes Wort hörten: »Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen an einander.« – Immer noch ist es die Zeit der Einzelnen.
*
Der Schatten: Von Allem, was du vorgebracht hast, hat mir Nichts mehr gefallen als eine Verheißung: ihr wollt wieder gute Nachbarn der nächsten Dinge werden. Dies wird auch uns armen Schatten zu Gute kommen. Denn, gesteht es nur ein, ihr habt bisher uns allzugern verleumdet.
Der Wanderer: Verleumdet? Aber warum habt ihr euch nie vertheidigt? Ihr hattet ja unsere Ohren in der Nähe.
Der Schatten: Es schien uns, als ob wir euch eben zu nahe wären, um von uns selber reden zu dürfen.
Der Wanderer: Delikat! Sehr delikat! Ach, ihr Schatten seid »bessere Menschen« als wir, das merke ich.
Der Schatten: Und doch nanntet ihr uns »zudringlich« – uns, die wir mindestens Eines gut verstehen: zu schweigen und zu warten – kein Engländer versteht es besser. Es ist wahr, man findet uns sehr, sehr oft in dem Gefolge des Menschen, aber doch nicht in seiner Knechtschaft. Wenn der Mensch das Licht scheut, scheuen wir den Menschen: so weit geht doch unsere Freiheit.
Der Wanderer: Ach, das Licht scheut noch viel öfter den Menschen, und dann verlaßt ihr ihn auch.
Der Schatten: Ich habe dich oft mit Schmerz verlassen: es ist mir, der ich wißbegierig bin, an dem Menschen Vieles dunkel geblieben, weil ich nicht immer um ihn sein kann. Um den Preis der vollen Menschen-Erkenntniß möchte ich auch wohl dein Sklave sein.
Der Wanderer: Weißt du denn, weiß ich denn, ob du damit nicht unversehens aus dem Sklaven zum Herrn würdest? Oder zwar Sklave bliebest, aber als Verächter deines Herrn ein Leben der Erniedrigung, des Ekels führtest? Seien wir Beide mit der Freiheit zufrieden, so wie sie dir geblieben ist – dir und mir! Denn der Anblick eines Unfreien würde mir meine größten Freuden vergällen; das Beste wäre mir zuwider, wenn es Jemand mit mir theilen müßte, – ich will keine Sklaven um mich wissen. Deshalb mag ich auch den Hund nicht, den faulen, schweifwedelnden Schmarotzer, der erst als Knecht des Menschen »hündisch« geworden ist und von dem sie gar noch zu rühmen pflegen, daß er dem Herrn treu sei und ihm folge wie sein –
Der Schatten: Wie sein Schatten, so sagen sie. Vielleicht folgte ich dir heute auch schon zu lange? Es war der längste Tag, aber wir sind an seinem Ende, habe eine kleine Weile noch Geduld! Der Rasen ist feucht, mich fröstelt.
Der Wanderer: Oh, ist es schon Zeit zu scheiden? Und ich mußte dir zuletzt noch wehe thun; ich sah es, du wurdest dunkler dabei.
Der Schatten: Ich erröthete, in der Farbe, in welcher ich es vermag. Mir fiel ein, daß ich dir oft zu Füßen gelegen habe wie ein Hund, und daß du dann –
Der Wanderer: Und könnte ich dir nicht in aller Geschwindigkeit noch Etwas zu Liebe thun? Hast du keinen Wunsch?
Der Schatten: Keinen, außer etwa den Wunsch, welchen der philosophische »Hund« vor dem großen Alexander hatte: gehe mir ein wenig aus der Sonne, es ist mir zu kalt.
Der Wanderer: Was soll ich thun?
Der Schatten: Tritt unter diese Fichten und schaue dich nach den Bergen um; die Sonne sinkt.
Der Wanderer: – Wo bist du? Wo bist du?