Max Nordau
Auf Abbruch ...
Max Nordau

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In den folgenden Tagen erlebte die Familie Sieffert eins jener Märchen, worin ein Glücklicher in den Besitz einer Wünschelrute gelangt. Sie verließ die beiden Erdgeschoßstuben am Hausflur, die zwanzig Jahre lang ihr enges Los immer zwängender umhegt hatten, und sah sich in eine eben leerstehende Wohnung zwei Treppen hoch emporgetragen. Sie schien Eltern und Kindern ungeheuer, denn sie bestand aus vier Zimmern, wovon zwei auf die Straße gingen, einer Küche und einer fensterlosen Kammer. Sie war nach landläufigen Begriffen sehr schlicht, fast dürftig eingerichtet, aber die Siefferts glaubten sich in einen Feenpalast versetzt und wagten zuerst kaum voll aufzutreten. Denn es standen in allen Räumen richtige Möbel, ein Auszugtisch aus Nußholz, eine Kredenz, Stühle mit Stoff überzogen, sogar ein Kanapee und zwei Lehnstühle und ein volles Dutzend Betten, beinahe eins für jedes Kind! Vater Sieffert stand nicht mehr vor Tags auf und entsagte dem Brauch, mit der Schiebkarre zur Markthalle zu ziehen. Der Tisch deckte sich zweimal täglich wie von selbst und bei jeder Mahlzeit gab es Fleisch. Mutter Sieffert wusch nicht mehr für Fremde und waltete nur noch in der Hülle und Fülle ihrer Wirtschaft. Die ganze Kinderschar war neu eingekleidet und herrlich beschuht und in zwei breiten Schränken bogen sich die Fachborde unter der Last der Leib- und Hauswäsche. Vater Sieffert verbannte die Jägerjoppe und den Zwilchkittel in die Kammer und trug nur noch den Bratenrock, denn der Herr Geheimrat hatte seine Zusage wahr gemacht und ihn zum Kassenboten der Kirchengemeinde ernennen lassen. Lene ging nicht mehr zur Nähfrau, es kamen vielmehr eine Schneiderin und Nähmädchen zu ihr und nahmen ihr das Maß zu Kleidern von wunderbaren Stoffen und zu einer Ausstattung aus feinem Leinen mit Stickerei und Spitzen. Im Frühling war man auch, die Sonne lachte durch weiße Vorhänge in die Stuben und die Gesichter von Alt und Jung lachten ihr wieder, das Glück rauschte mit hörbarem Flügelschlag durch die Räume, kicherte aus den Ecken und schimmerte aus Kisten und Kasten, Lene lebte wie in einem Rausch dahin, es wirbelte alles um sie und in ihr und auf ihrem Wesen lag ein Widerschein von der hellen Freude, die ihre Geschwister ausstrahlten. Alle anderen um sie her waren so glücklich, daß das gutherzige, leichtblütige Mädchen sich mehrmals am Tage, wenngleich nicht beim Erwachen und Einschlafen, einredete, sie sei es auch.

Ihr greiser Bräutigam machte ihr diese fromme Selbsttäuschung nicht zu schwer. Er übte zartfühlende Zurückhaltung gegen sie. Er kam nicht einmal jeden Tag zu Besuche. Die zwei Treppen widersetzten sich offenbar seinem Verlangen, sie häufiger zu sehen. Überwand er diese Schwierigkeit und trat keuchend bei Siefferts ein, so nickte er schweigend nach allen Seiten einen Gruß, setzte sich in die Ecke, bis er wieder zu Atem kam, küßte die errötende Lene, die sich ihm befangen näherte, ehrerbietig auf die Stirn, plauderte mit der Mutter über das neue Amt ihres Mannes, über ihre Kinder, über den Fortgang der Arbeiten für Lenes Aussteuer, und ging nach einem Viertelstündchen mit Händedrücken für Alt und Jung.

Am Sonntag Jubilate, dem dritten nach Ostern, platzte die Bombe. In der Pfarrkirche fand das erste Aufgebot statt. Die Gemeinde traute ihren Ohren nicht, als die Namen von der Kanzel verkündet wurden. Nach dem Gottesdienste traten Gruppen zusammen und man versicherte sich zunächst durch wechselseitige Erkundigung, ob man auch richtig gehört hatte. Jawohl: Herr Geheimer Kommerzienrat und Kirchenältester, Witwer Karl Emil Behr, mit der Jungfrau Helene Sieffert, ältesten Tochter des Gemeindekassenboten Andreas Sieffert und seiner Ehefrau Marie geborenen Kullak! Dann ging ein Schwatzen und Klatschen los, das kein Ende nehmen wollte. Man war begierig, Näheres zu erfahren, forschte eifrig nach den Umständen, und da niemand etwas wußte, erfand jeder, je nach Gemütsart und Gesinnung, frisch von der Leber weg Günstiges und Abgünstiges, was die Neugierde mehr reizte als befriedigte. Nachmittags strömten nähere und selbst entferntere Bekannte scharenweise zu den Siefferts, angeblich um zu beglückwünschen, doch hauptsächlich, um der Klatschsucht zu fröhnen. Sie überzeugten sich von der eingetretenen Änderung der äußeren Verhältnisse und das mußte ihnen genügen, denn Frau Sieffert und Lene waren vom Geheimrat zu einer gemeinsamen Ausfahrt abgeholt worden und Vater Sieffert, der die Besucher empfing, war sehr wortkarg und gab zu verstehen, daß er mit seinen Kindern den schönen Maisonntag auf einem Spaziergange zu genießen wünsche.

Montag mittag war Vater Sieffert eben heimgekommen und schickte sich an, zu Tische zu gehen, als in der immer offenstehenden Küche hastige Schritte gehört wurden und ein Mann ohne anzuklopfen in die erste Stube drang, die auch als Eßzimmer diente. Sieffert stand überrascht auf. Er erkannte den ältesten Sohn des Geheimrats, den Dampfmühldirektor Behr, einen bereits angegrauten Vierziger.

»Sieffert, ich habe mit Ihnen zu sprechen,« stieß der Eintretende mit rotem Gesichte und Erregung in der Stimme hervor.

»Es ist zwar Eßstunde, doch wenn es sein muß –« erwiderte Sieffert, schickte mit einem Winke Frau und Kinder in das nächste Zimmer und bedeutete dem Besucher mit einer Handbewegung, Platz zu nehmen, während er sich wieder setzte.

Jener blieb stehen. Er folgte mit den Augen der etwas zögernd abziehenden Schar und wartete kaum ab, daß das hinterste die Tür geschlossen hatte. »Was soll das alles heißen?« rief er, »Mensch, was haben Sie mit meinem Alten angefangen?«

Sieffert blickte ihm gerade ins Gesicht. »Herr Direktor, den Hut könnten Sie vielleicht doch abnehmen. Wenn man auch arm ist, so hat man darum doch seine Ehre.«

Direktor Behr langte etwas hastig nach seinem Hut und murmelte etwas Unverständliches zwischen den Zähnen. Da Sieffert schwieg, fuhr er deutlich und grimmig fort: »Ich hab's nicht glauben wollen, trotz des Aufgebots. Aber mein Vater sagt, es stimmt.«

»Es stimmt auch wirklich.«

»Unmöglich. Das kann und darf nicht sein. Mein Vater weiß nicht mehr, was er tut. Es ist himmelschreiend! Hinter unserm Rücken! Daß wir nichts davon wußten, ehe der Skandal öffentlich wurde –«

»Skandal? Entschuldigen Sie –«

»Was! Das soll kein Skandal sein? Wenn mein Vater diese – diese Dummheit begeht, werden seine Enkel erheblich älter sein als ihre Großmutter.«

»Das ist freilich komisch,« meinte Sieffert gelassen und verzog den Mund zu einem breiten Lächeln.

»Komisch finden Sie das? Ich finde es empörend. Sie hätten doch merken müssen, daß der alte Mann kindisch geworden ist. Sie hätten mich oder eins meiner Geschwister verständigen müssen, damit wir unsern Vater unter Aufsicht stellten –«

»Entschuldigen Sie, Herr Direktor, Ihr Herr Vater ist so klar im Kopf wie Sie und ich. Sie sollten mit mehr Respekt von ihm reden. Das alte vierte Gebot ist immer noch –«

»Lassen Sie diese gleißnerischen Redensarten!« brach Behr wütend los. »Sie treten jetzt keinen Blasbalg in der Kirche. Schämen Sie sich, Ihr eigen Fleisch und Blut für Geld zu verkuppeln.«

Nun sprang auch Sieffert auf. »Herr Direktor,« kreischte er mit einer Stimme, die sich fast überschlug, »verlassen Sie augenblicklich meine Wohnung, oder ich werde mein Hausrecht gebrauchen.«

Behr stülpte den Hut auf den Kopf. »Ihr sollt von mir hören, elendes Pack,« knirschte er und ging mit großen Schritten davon.

Die Siefferts hörten auch von ihm, und zwar mannigfaltig. Der Geheimrat, bei dem Sieffert sich bitter über seinen ältesten Sohn beschwerte, erzählte stockend und mit Tränen in den Augen, der ungeratene Junge sei gekommen und habe sich erlaubt, ihm einen Auftritt zu machen. Er habe ihm die Tür weisen müssen. Nun hetze er ihm die übrigen Kinder an den Hals. Sie hätten ihm sogar mit gerichtlicher Entmündigung gedroht. Er fürchte freilich nichts, denn er wisse, daß er geistig nie gesunder gewesen sei als jetzt; aber solche Lieblosigkeit, solcher Undank sei herzbrechend; von Kindern, denen er immer ein treuer, sorgender Vater gewesen. Sie wollten mit ihm brechen, wenn er dabei bleibe, Lene zu heiraten. Sei es darum. Er bleibe dabei. Die Kinder finde er mit dem Pflichtteil ab. Dann hätten sie von ihm nichts mehr zu fordern, denn das Muttererbe hätten sie ohnehin schon. Lene aber sei ihm nie so notwendig gewesen wie jetzt. Sie müsse ihm die ganze Familie ersetzen, die er verloren habe.

Ein Rechtsanwalt kam zu Sieffert und bot ihm im Namen der Familie Behr einen für ihn ansehnlichen Betrag an, wenn er die Verlobung rückgängig machen wolle. Vater Sieffert ließ sich die Sache schriftlich geben und beeilte sich, das Papier dem Geheimrat auszuliefern. Dieser zerriß es wortlos und brachte am nächsten Tage für jedes der Sieffertschen Kinder ein Sparkassenbuch mit einer Einlage, welche insgesamt das von der Familie angebotene Abstandsgeld erheblich überschritt.

Nichts erschütterte die Vorsätze des Geheimrats und der Siefferts. An den Sonntagen Cantate und Rogate erfolgte das zweite und das dritte Aufgebot und Sonnabend vor Pfingsten fand die Trauung statt. Die Kirche war gesteckt voll. Von der Familie Behr war niemand da. Auch die gute Gesellschaft hielt sich streng fern. Nur das gewöhnlichste Volk drängte sich herzu. Die Stimmung dieser Menge war geteilt. Die älteren Frauen hatten meist gute Lust zu einem Haberfeldtreiben und sie enthielten sich nur darum lauter Kundgebung ihres Unwillens, weil einerseits der Geheimrat Behr denn doch eine geachtete, bis dahin vorwurfsfreie Persönlichkeit war, andererseits die Armut der Siefferts stadtbekannt war und man sie als mildernden Umstand gelten ließ. Die jungen Frauen und Mädchen hatten Mitleid mit Lene Sieffert. Sie zweifelten nicht, daß das schöne Mädchen sich für die Seinigen geopfert hatte und dem alten Mann seine frische Jugend als barmherzige Schwester darbringen wollte. Das war unter allen Umständen verdienstlich und ließ sie rührend und liebenswert erscheinen. Und warum sie auch beklagen? Sie war nun reich, zu langweilen brauchte sie sich auch nicht, wenn sie nicht auf den Kopf gefallen war, und bald versammelte sie wohl ihre Mitbürger in derselben Kirche zu einer schönen Leichenfeier ...

Es ging ein lautes Gemurmel durch die Menge, als Lene im Brautkleid mit Kranz und Schleier am Arm ihres beinahe herausfordernd blickenden Vaters in neuem Sonntagsrock, dem ersten seit seiner Verheiratung, durch den Mittelgang zum Altar schritt. Sie war denn doch bleich und bang. Sie schlug die Augen nieder, um den sie anstarrenden Hunderten von Augenpaaren nicht zu begegnen. Sie hatte trotzdem nahe am Eingang im Vorüberschreiten den Brunner Niklas bemerkt, der an einem Pfeiler lehnte und ihr mit gepreßten Lippen und düster zusammengezogenen Brauen nachschaute. Das hatte ihr einen Stich ins Herz versetzt und sie war unwillkürlich rascher gegangen, um ihm aus den Augen zu kommen. Es schien ihr, sie sollte Kranz und Schleier abnehmen und umkehren. Aber für heftige Handlungen war sie nicht geschaffen. Sie war sanft und ergeben. Nur konnte sie nicht verhindern, daß ihr Tränen in die heute schwermütigen blauen Augen quollen.

Der Pastor (Primarius) hatte Unwohlsein vorgeschützt. Ein Hilfsgeistlicher nahm die Trauung vor. Die ganz kurze Predigt bestand aus einigen verlegenen Redensarten über die Verdienste des Bräutigams, über seine bekannte Wohltätigkeit und Gottesfurcht, die ihm ein Anrecht auf spätes Glück gäben; sie schloß mit dem Wunsche, daß dies Glück seinen Lebensabend lange verklären möge.

Der Geheimrat vermied es, jung und stramm zu tun, den selbstgefällig prahlerischen Hahn zu spielen, als er nach der Trauung seine achtzehnjährige Frau in die Sakristei führte. Er hatte vielmehr gegen sie die Haltung eines väterlichen Freundes, der zärtlich über ihre Schritte wachte und ihr junges Haupt beschützte. Das hielt eine alte Fraubase nicht ab, hinter ihm her das Zeichen von Hörnern über der Stirn zu machen. Eine Nachbarin riß ihr die Hände herunter. Andere lachten. Der Neuvermählte merkte nichts von der niedrigen Verhöhnung.


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