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Fünftes Kapitel

Fakahau hatte recht gehabt, als er zu größter Eile mahnte. Zwar glaubte er nicht an eine augenblickliche Gefahr, aber er wollte, daß Terangi Manukura verließe, ehe der Gouverneur zurückkehrte. Dieser Wunsch erwies sich jedoch als undurchführbar. Schon am folgenden Morgen kam die Katopua in Sicht.

Das Eintreffen Kapitän Nagles und seines Schoners war das große Ereignis im Leben der Inselbewohner. Sogar ich pflegte von der allgemeinen Erregung angesteckt zu werden. Mindestens eine Woche, ehe die Katopua erwartet wurde, hielt jeder Junge auf der Insel Ausschau nach ihr. Die gesamte Dorfjugend kletterte auf die höchsten Kokospalmen längs des äußeren Strandes und blieb stundenlang oben. Jeder setzte seinen Stolz darein, als erster zu schreien: » Te pahi! Te pahi!« Dann pflanzte sich der Ruf von Mund zu Mund fort, bis er auch die letzte Hütte der Ansiedlung erreicht hatte. An diesem Tage war an Arbeit irgendwelcher Art nicht zu denken. Die Frauen legten ihre schönsten Gewänder an und behängten sich mit Schmuck, während die Männer sich in ihre Sonntagsanzüge aus weißem Drillich warfen. Und lange bevor der Schoner in der Durchfahrt auftauchte, war das ganze Dorf am Landungsplatz versammelt. Das Schiff brachte Postsäcke von fernen Verwandten und Bekannten, und die Parau-api – die gesprochene Zeitung. Die Mitglieder der Mannschaft, vom Kapitän bis hinab zum Schiffsjungen, wußten sehr gut, was man von ihnen erwartete. Sie sammelten sorgsam alle Nachrichten über das, was sich in der Inselwelt zugetragen hatte, mochten sie auch noch so geringfügig erscheinen; selbst die kleinsten Einzelheiten vergaßen sie nicht. Und wie sie es verstanden, mit der Erzählung ihrer Neuigkeiten Wirkung zu erzielen!

Die Ereignisse in der größeren Welt weit draußen fanden in Manukura nur wenig Interesse. Man wollte Geschichten von Leuten vernehmen, die man persönlich oder vom Hörensagen kannte: von Paki auf Fakavara, der auf seine alten Tage noch ein munteres junges Mädchen geheiratet hatte; von dem Mann in Hikueru, dem man für eine einzige Perle, die er gefunden hatte, viele tausend Franken gezahlt hatte; von der Frau in Marokau, der von einem Haifisch ein Arm abgebissen worden war; und ganz besonders von Terangis jüngstem Fluchtversuch!

Diese Neuigkeiten, bis in die kleinsten Einzelheiten ausgewalzt und entsprechend ausgeschmückt, mußten sechs Monate lang – bis der Schoner das nächste Mal kam – als Gesprächsstoff dienen!

Die Katopua brachte die gesamte Kopraernte der Insel zu den Märkten der Welt, und alles, was auf Manukura verzehrt oder sonst verbraucht wurde – mit Ausnahme von Kokosnüssen und Fischen –, schleppte sie in ihrem geräumigen Bauch herbei. Nahrungsmittel, Kleidungsstücke, Baumaterial, Werkzeuge und Geräte jeder Art, ja sogar die Füllung der Matratzen, auf denen die Leute schliefen, alles kam aus Tahiti.

Die Bewohner von Manukura hätten zur Not ohne all diese Dinge leben können – und sie hatten auch jahrhundertelang ohne sie gelebt –, aber die Kopra machte sie reich, und was sie erwarben, gaben sie auch gleich wieder aus. Manchen älteren Leuten fiel es gar nicht leicht, den Kredit, den sie in Tavis Laden hatten, richtig auszunützen; sie kamen bald in Verlegenheit, was sie nun noch einkaufen könnten. Die jungen Männer und Frauen hingegen kannten keine solchen Schwierigkeiten. Am Tag, nachdem der Schoner angekommen war, waren die Regale des Händlers mit neuen, buntgemusterten Baumwollstoffen, mit Konservenbüchsen voll Rindfleisch und Lachs und Früchten beladen; hinter dem Ladentisch standen Fässer voll Mehl, Kisten voll Tee, Kaffee, Tabak und Reis, und in den großen Schaukästen gab es nützliche Dinge in solcher Auswahl, daß man gar nicht wußte, wo man mit dem Kaufen beginnen sollte: Messer, Scheren, Taschenlampen, Broschen, Ringe, Ohrgehänge ... manche sogar aus neunkarätigem Gold!

Wenn der Schoner das nächste Mal kam, sah es meistens im Laden schon recht leer und öde aus, aber wenn Tavi ganz ausverkauft war, was nicht selten vorkam, dann kehrten seine Kunden wieder zu dem einfachen und bedürfnislosen Leben ihrer Vorfahren zurück, und zwar so leichten Herzens, daß klar zu erkennen war, wie wenig ihnen im Grunde genommen an all dem Luxus aus der großen Welt da draußen lag ...

Die Rückkehr des Gouverneurs machte die Ankunft der Katopua, von der ich Ihnen erzähle, zu einem Ereignis von ganz besonderer Bedeutung. Fakahau stand ganz vorne in der Menschenmenge, die das Schiff erwartete. Über die Brust trug er die dreifarbige Schärpe, die unter französischer Herrschaft seinen Rang als Häuptling bestätigte. Neben ihm stand sein Bruder, der Ladenbesitzer Tavi, und zu seiner Rechten Frau de Laage. De Laage war drei Monate abwesend gewesen, und als das Schiff sich zwischen den Klippen hindurchwand, konnten wir ihn auf Deck stehen und mit dem Feldstecher seine Frau suchen sehen. Sobald der Schoner den Landungsplatz erreicht hatte, betrat der Gouverneur das Ufer und begrüßte sie auf seine gewohnte Art mit einem höflichen Lächeln.

Herr de Laage war ein Mann, der viel auf Form hielt, ob es sich nun um die Erfüllung seiner dienstlichen Pflichten oder um sein Privatleben handelte. Gefühle öffentlich zu zeigen, war nicht seine Sache. Nachdem er einige Worte mit Frau de Laage gewechselt hatte, wandte er sich dem Häuptling zu. Immerhin konnte ich an seiner Miene erkennen, daß er erstaunt darüber war, Vater Paul nicht am Landungsplatz anzutreffen. Ebenso wie auf de Laages Schreibtisch jedes Stück an seinem bestimmten Platz sein mußte, so liebte er es auch, wenn sich im äußeren Leben der Insel alles nach Brauch und Vorschrift abspielte.

In der Tat war die Abwesenheit des Priesters am »Schonertag« eine ungewöhnliche Sache; solange der Gouverneur zurückdenken konnte, hatte sich so etwas nicht ereignet!

Indessen ging der Empfang im übrigen auf gewohnte Art vonstatten; de Laage schüttelte Fakahau, Tavi und mir die Hand und unterhielt sich mit jedem von uns einige Augenblicke. Dann nahm er neben Frau de Laage Aufstellung, während alle Männer und Frauen der Insel der Reihe nach vortraten und ihm den landesüblichen Willkommengruß darboten. Nachdem diese Zeremonie beendet war, zog er sich in sein Haus zurück.

Es ist wohl an der Zeit, Ihnen die de Laages ein wenig genauer zu beschreiben. Der Gouverneur war ein hochgewachsener, hagerer Mann mit hervorstehenden blauen Augen, einer von einem Haarkranz umgebenen Glatze und einem hellblonden Schnurrbart. In seinen Adern floß flämisches Blut. Seinem Wesen nach vertrat er eher den Typ des englischen als den des französischen Kolonialbeamten. Er glaubte an die Mission civilisatrice, an die Erziehung der Eingeborenen nach europäischem Muster und an die Notwendigkeit, vor allem das Ansehen des weißen Mannes hochzuhalten. Er war ein frommer Katholik, überzeugter Royalist und betrachtete die Wissenschaft und fast alle neuen Ideen als einigermaßen verdächtig und die Politik als eine Beschäftigung für den Pöbel. Ehrgeizig konnte man ihn nicht nennen. Schon allein die Tatsache, daß er seit achtzehn Jahren den Posten eines Gouverneurs dieser Inselgruppe bekleidete – einen Posten, der ihm verhaßt war –, läßt zur Genüge erkennen, daß er keine Strebernatur war. Die Behörden in der Heimat waren übrigens ohne Zweifel froh, daß ein so verläßlicher Mann diese Stellung einnahm. Nicht der Wunsch, vorwärtszukommen, war der Gedanke, der ihn leitete und jede einzelne Handlung seines Lebens bestimmte, sondern ein unerbittlich strenges, unbeugsames Pflichtgefühl. Was seine persönliche Ehrenhaftigkeit und unbedingte Rechtlichkeit anbetraf, so hatte niemals ein Mensch, ob weiß oder farbig, auch nur eine Sekunde lang daran gezweifelt.

Seine Lektüre beschränkte sich fast ausschließlich auf die Action Française, deren einziger Bezieher in dieser Weltgegend er war. Riesige Stöße dieser nicht eben bedeutenden, königstreuen Tageszeitung erreichten ihn zweimal jährlich, wenn der Schoner eintraf. Die einzelnen Nummern pflegte er in zeitlicher Reihenfolge zu ordnen, und jeden Morgen, wenn er sich zum Frühstück setzte, genoß er neben Kaffee, Eiern und Obst die »heutige« Zeitung, die stets sechs bis acht Monate alt war. Das Bücherbrett in seinem Büro enthielt seine ganze Bibliothek: einige Bände Gesetzessammlungen, den amtlichen Leitfaden für Kolonialbeamte und ein schon äußerlich bedrohlich trocken aussehendes Werk mit dem Titel »Die Wissenschaft der Verwaltung«, das eine Art Bibel für ihn bedeutete.

In einem Gebiet wie hier besteht die Kunst erfolgreicher Verwaltung darin – Sie entschuldigen, daß ich mir da ein Urteil über Ihr Fach anmaße, Herr Vernier –, Schwierigkeiten im Keim zu ersticken, ehe sie noch recht begonnen haben. Ein Beamter muß hier vor allem immer wissen, was vorgeht. Er ist ja unter anderem der Richter des Landes, und da Streitigkeiten über den Besitz von Grund und Boden – der auf dem Familien- und Abstammungsrecht beruht – an der Tagesordnung sind, so ist es unumgänglich notwendig, daß der Mann, der diese Zwistigkeiten zu schlichten hat, sich schon im voraus einen gewissen Einblick in die Voraussetzungen der einzelnen Fälle verschafft. Sodann muß ein guter Richter hierzulande auch ein guter Zuhörer sein, und die Eingeborenen vertreten ihre Sache – selbst in den seltenen Fällen, wo sie ein wenig Französisch verstehen – stets in ihrer Muttersprache. Ist man darauf angewiesen, sich der Hilfe eines Dolmetschers zu bedienen, so erfährt man eben nur das, was einen der Dolmetscher wissen lassen will. Nun hat aber de Laage während seiner achtzehnjährigen Tätigkeit in dieser Inselgruppe nicht einmal achtzehn Wörter der Eingeborenensprache erlernt – wenigstens hat man ihn nie auch nur diese achtzehn Wörter sprechen hören. Die Wahrheit ist, daß er der geborene Chef de bureau war, aber nicht mehr; ohne seine Frau hätte er sein Amt niemals erfolgreich ausfüllen können.

Als de Laage im Jahre 1914 nach Europa reiste, um den Krieg mitzumachen, blieb seine Frau auf Manukura. Offiziell gab es während dieser Zeit keinen Gouverneur; in Wirklichkeit aber füllte Frau de Laage das Amt ihres Gatten mit solcher Tüchtigkeit aus, daß die Inseln niemals besser verwaltet waren. Nur ganz wenige Weiße haben die Sprache der Tuamotus wirklich beherrschen gelernt: eine uralte, sehr schöne und reiche Sprache, die den Absichten des Sprechenden bis in die feinsten Schattierungen Ausdruck zu geben vermag. Frau de Laage sprach sie fließend, ohne jede fremde Betonung, und das war noch erstaunlicher, wenn man sich die Sprecherin dabei ansah.

Frau de Laage war so klein und zierlich, daß man unwillkürlich an eine Puppe denken mußte, und sie hatte ein solches Talent, sich hübsch anzuziehen, daß sie selbst auf einer Reise im Kutter frisch und reizend aussah.

Man hätte sie für ein Mädchen nicht viel über zwanzig halten können, solange man ihr Gesicht nicht betrachtete. Aber selbst dann hätte man sie noch für zehn Jahre jünger gehalten, als sie in Wirklichkeit war. Die Tropensonne schien ihrem Teint nichts anhaben zu können; sie bewahrte ihre frische Gesichtsfarbe all die Jahre hindurch. Aber das Eindrucksvollste an ihr waren doch ihre Augen. Die waren dunkel, beinahe schwarz, und blitzten vor Klugheit und Anteilnahme an allem Lebendigen.

Die meisten Frauen in ihrer Lage wären vor Einsamkeit und Langeweile umgekommen, ihr Leben aber, dessen bin ich gewiß, war wahrhaftig glücklich. Ich glaube, sie hat sich in ihrer eigenen Gesellschaft nicht einen Augenblick gelangweilt; dazu war sie innerlich viel zu reich. Sie war äußerst musikalisch und niemals wurde sie ihres Klaviers müde, das sie selbst zu stimmen pflegte. Im Gegensatz zu ihrem Mann las sie sehr viel; alle Bücher in der Bibliothek der de Laages gehörten ihr. Ihre Schwester in Paris versorgte sie mit den neuesten Erscheinungen des Büchermarktes, mit Romanen, Theaterstücken und Biographien; aber damit waren ihre geistigen Interessen noch nicht erschöpft. Sie besaß eine wertvolle Sammlung von Büchern über Polynesien, von Werken aus dem achtzehnten Jahrhundert über die Erforschungsgeschichte bis zu den neuesten Erscheinungen über Volkskunde, über Botanik, über die Fische, die sie in den Lagunen sah, und über die Muscheln, die sie am Strande einsammelte.

Dem Charakter nach waren Mann und Frau so verschieden, wie die Bücher, die sie lasen. In seiner ordentlichen, geradlinigen Art blickte de Laage zu seinen Vorgesetzten auf und auf jene hinab, die er für Untergeordnete hielt, Frau de Laage hingegen schaute weder nach oben noch nach unten; sie betrachtete alle Männer und Frauen einfach als Mitmenschen, die ihrer Aufmerksamkeit und ihrer Achtung würdig waren.

Sie konnte in jedes beliebige Haus auf Manukura gehen und einen angenehmen Abend mit den eingeborenen Frauen verbringen; sie nahm teil an ihren Pflichten und beteiligte sich an den Erörterungen über das tägliche Leben im Dorfe, als sei sie auf der Insel geboren. Mit jeder von ihnen konnte sie es im Weben von Kopfbedeckungen oder Pandanusmatten aufnehmen, und im Entwerfen und Nähen der landesüblichen, aus kleinen Stoffstückchen zusammengesetzten Decken war sie geradezu eine Meisterin. Niemals wurde sie müde, den Geist und die Seele der polynesischen Frau zu erforschen, und die Verschiedenheit der Standpunkte, die für gewöhnlich ein Hindernis für das gegenseitige Verständnis verschiedener Rassen ist, empfand sie gar nicht. Ich bin überzeugt davon, daß sie geradezu mit Angst dem Tag entgegensah, an dem ihr Mann einen anderen Wirkungskreis erhalten oder sich nach Frankreich in den Ruhestand zurückziehen würde.

Sie war dem Gouverneur in vieler Hinsicht überlegen, das kann ihr auch nicht verborgen geblieben sein. Aber niemals ließ sie es ihn spüren. Ich glaube, daß sie ihn wirklich gern hatte, vielleicht weil sie fühlte, wie sehr er ihrer bedurfte. Gewiß aber war an de Laages Liebe zu seiner Frau nicht zu zweifeln. Er war ein innerlich einsamer, unendlich zurückhaltender Mensch; alle Wärme, die er seiner Natur abringen konnte, strahlte auf seine Frau aus. Wenn er von ihr entfernt war, stand er wahre Qualen der Angst um sie aus. Ich habe Seereisen mit ihm gemacht, auf denen ich ihn um dieser Empfindungen willen geradezu liebgewann. Nicht etwa, daß er seine Sorge zur Schau gestellt hätte; aber ich, der ich ihn so gut kannte, wußte genau, wie ganz und gar verloren und unglücklich er sich fühlte, wenn er von ihr getrennt war.

Es bestand der Brauch, daß am Tag, an dem der Schoner kam, Vater Paul, Kapitän Nagle und ich beim Gouverneur zu Abend speisten. An jenem Abend ging ich mit dem Kapitän früher als gewöhnlich hin. Frau de Laage erschien auf der Schwelle, um uns zu empfangen, und gleich darauf trat ihr Gatte auf die Veranda hinaus, im Smoking, den er zum Abendessen stets anlegte. Er teilte uns mit, daß Vater Paul geschrieben habe, man möge ihn entschuldigen.

»Höchst seltsam«, fügte er hinzu. »Ich kann mich nicht erinnern, daß er in all den Jahren, die wir hier sind, jemals eines dieser Abendessen am Schonertag versäumt hätte. Er war auch heute morgen nicht am Landungsplatz. Haben Sie ihn gesehen, Doktor? Ist er krank?«

Ich antwortete wahrheitsgemäß, daß ich ihn am frühen Nachmittag in seinem Garten arbeiten gesehen hätte.

»Ich bin unendlich froh darüber, daß er heute abend nicht kommt«, sagte Frau de Laage bewegt, »Eugène, hast du den beiden Herren die Neuigkeit schon mitgeteilt?«

Der Gouverneur seufzte. »Ich wollte gar nicht daran denken«, sagte er. »Ich habe dem Kapitän noch nichts davon gesagt und wollte heute abend auch Doktor Kersaint mit einer Nachricht verschonen, die Sie ohne Zweifel betrüben wird. Aber da Sie es ja doch früher oder später erfahren müssen, so kann ich es Ihnen gerade so gut jetzt sagen. Es handelt sich um folgendes: In der Post, die Sie mir aus Tahiti brachten, Kapitän, fand ich einen Brief vom Bischof. Er hat mir eine Aufgabe gestellt ... eine Aufgabe, die er, wie er mir offen gesteht, für sich selbst zu schwer findet. Mit einem Wort, Vater Pauls Orden hat seine Rückberufung nach Frankreich verfügt.«

Frau de Laage wandte sich an mich. »Bedenken Sie nur, was das bedeutet, Doktor Kersaint! Welche Torheit! Welche Ungerechtigkeit, Vater Paul von dieser Insel abzuberufen, die ihm in all diesen Jahren zur wirklichen Heimat geworden ist! Er wird es nicht überleben ... ich weiß es! Wie konnte Monseigneur nur seine Zustimmung zu solchem Unsinn geben!«

»Die Entscheidung darüber lag nicht beim Bischof«, wandte de Laage ein. »Er begreift genau so gut wie wir, was das für Vater Paul bedeutet. Du weißt wahrscheinlich nicht, meine Liebe, wie die religiösen Orden verwaltet werden. Die Disziplin ist beinahe militärisch; Befehle des Ordensvorstandes müssen ohne Widerspruch befolgt werden. Der Bischof sagte mir, daß er Vater Paul einen vier Seiten langen Brief geschrieben hatte, in dem er versuchte, den schweren Schlag abzuschwächen, und daß er ihn dann wieder zerriß. Er hat mir die Pflicht übertragen, ihm den strengen Befehl zu übergeben und ihn so gut zu trösten, wie ich vermag.«

Kapitän Nagle war über die Nachricht ebenso bestürzt wie ich selber. Und Frau de Laage konnte kaum die Tränen zurückhalten, als wir davon sprachen. Sie begriff die ganze Grausamkeit dieser Maßnahme viel klarer als ihr Mann. Seit über fünfzig Jahren waren Manukura und das halbe Dutzend Inseln ringsumher Vater Pauls Welt gewesen. Während dieser ganzen Zeit hatte er sie nicht ein einziges Mal verlassen; nicht einmal in Tahiti war er gewesen! Kein Mensch konnte ein glücklicheres Leben geführt haben. Nun sollte er seiner Kirche und seines Gartens beraubt werden, seiner Arbeit, an der er mit jeder Faser seines Herzens hing, und der letzten Freude, der er mit heiterer Erwartung entgegenblickte: von seinen Kindern, wie er sie nannte, in dem Korallensand der Insel, die er liebte, zur letzten Ruhe gebettet zu werden ...!

»Wozu mag man ihn nur in Paris brauchen?« fragte Frau de Laage. »Er darf nicht wegfahren! Wir lassen ihn gar nicht fort! Teile es ihm überhaupt nicht mit, Eugène! Es muß Mittel und Wege geben, um die Erfüllung eines so unbilligen Verlangens hintanzuhalten.«

»Immerhin muß man in Paris triftige Gründe haben, seine Rückkehr zu verlangen«, entgegnete ihr Gatte. »Es gibt für mich keine wie immer geartete Möglichkeit, Vater Paul die Weisungen seines Ordens zu verheimlichen. Er wäre mir nicht einmal dankbar für eine solche unbefugte Einmischung in seine Angelegenheiten. Nein! So schwer es ihm auch fallen wird, Manukura zu verlassen, so ist er doch ein Soldat der Kirche. Es ist seine Pflicht, zu gehorchen!«

Frau de Laage schwieg einen Augenblick. »Du hast recht«, sagte sie bedrückt. »Man wird es ihm sagen müssen, aber warte noch ein wenig damit. Kapitän Nagle, haben Sie die Absicht, Manukura nochmals anzulaufen, ehe Sie nach Tahiti zurückkehren?«

»Jawohl, gnädige Frau«, antwortete Nagle, »ich fahre diesmal nach Mangareva. Auf der Rückreise, ungefähr in einem Monat, werde ich wieder in Manukura sein.«

»Dann warte, Eugène, bis die Katopua zurückkommt, ehe du mit Vater Paul sprichst! Auf diese Art bleibt ihm noch ein Monat des Glücks.«

»Es ist nichts damit gewonnen, unangenehme Pflichten hinauszuschieben, meine Liebe«, antwortete der Gouverneur. »Der Bischof ersuchte mich, Vater Paul bei der ersten Gelegenheit von seiner Abberufung Mitteilung zu machen.«

»Tu es mir zuliebe, ich bitte dich darum«, drang Frau de Laage in ihn. »Der kleine Aufschub ist ohne jede Bedeutung, da er ja auf keinen Fall abreisen kann, ehe der Schoner zurückkehrt.«

Sie bat ihn so innig, daß er schließlich einwilligte, aber es war deutlich zu sehen, daß er sich schwere Vorwürfe deswegen machte.

Bald darauf kam Arai, um anzukündigen, daß angerichtet sei. Arai war ein sechzehnjähriges Mädchen, eine jüngere Tochter Fakahaus, die eine in Polynesien nicht seltene Stellung im Hause einnahm; sie war halb Dienerin, halb Gesellschafterin und Freundin Madame de Laages. Trotz allen Familienstolzes sind die Polynesier das demokratischste Volk, das man sich vorstellen kann. Keinerlei Verrichtungen gelten als entehrend, und diese Tochter eines Häuptlings konnte am Tisch des Gouverneurs bedienen, ohne an Würde oder Ansehen zu verlieren. Ich erfuhr erst viel später, daß Arai von der Rückkehr Terangis wußte; aber nichts in ihrem Benehmen an diesem Abend ließ erkennen, daß sie Mitwisserin eines so wichtigen Geheimnisses war.

Es war ganz natürlich, daß das Gespräch während der Mahlzeit auch auf Terangis neuesten Ausbruch aus dem Gefängnis kam. Die ganze Insel erörterte dieses Ereignis mit leidenschaftlicher Anteilnahme; den ganzen Tag über hatte ich kaum von etwas anderem sprechen gehört. Der Gouverneur teilte uns mit, daß er seitens seines Kollegen in Tahiti eine amtliche Benachrichtigung darüber erhalten habe.

»Terangi hat sich dort als wahrer Teufel erwiesen«, verkündete er mit strenger Miene. »Er ist ein überaus gefährliches Individuum geworden, und die Behörden sind fest entschlossen, ihn, koste es, was es wolle, wieder einzufangen. Ich weiß, Kapitän Nagle, daß Sie den Burschen einmal gern gehabt haben. Deshalb ist meine Frage vielleicht auch ein wenig taktlos; trotzdem kann ich sie Ihnen nicht ersparen. Glauben Sie – besteht eine Möglichkeit, daß er sich hierher gewendet hat?«

Ich zweifle nicht daran, daß Nagle innerlich der Ansicht war, diese Möglichkeit sei sogar sehr groß, aber er ließ sich nicht überrumpeln.

»Sie glauben doch nicht am Ende, Herr de Laage, daß er sich auf meinem Schiff versteckt hat?« fragte er lächelnd. »Niemals würde er mir Unannehmlichkeiten machen!«

»Nein, niemals!« warf Frau de Laage voll Wärme ein. »Ich kenne ihn zu gut, um das für möglich zu halten.«

»Daß Sie niemals Ihre Zustimmung dazu geben würden, Kapitän, weiß ich selbstverständlich«, beeilte sich de Laage hinzuzufügen, »aber euren Glauben an die vornehme Denkungsart dieses Burschen kann ich ganz und gar nicht teilen. Ihre Matrosen sind alle aus Manukura. Sie würden ihn gerne an Bord verstecken, wenn sie es ohne Ihr Wissen tun könnten.«

»Die Polizei von Tahiti teilt Ihre Meinung«, bemerkte Nagle trocken. »Sie hat mein Schiff gründlich untersucht, ehe wir Papeete verließen. Übrigens nicht zum erstenmal. Sie durchstöberten sogar meinen Kleiderschrank und die Schublade unter meinem Lager.«

»Bitte, glauben Sie nur ja nicht, daß ich Sie im geringsten verdächtige, an einer solchen Sache beteiligt zu sein, Kapitän Nagle! Sie würden mir wirklich Unrecht tun, wenn Sie das vermuteten. Ich habe die Eingeborenen in Verdacht. Sie würden dem Flüchtling bestimmt gerne auf jeder Insel in der Gruppe Unterschlupf gewähren. Selbst zugegeben, daß er sich nicht auf der Katopua verstecken kann, so besteht doch die Möglichkeit, daß er sich auf Kuttern oder Segelbooten allmählich von einer Insel zur anderen durchschlägt. Wenn dafür überhaupt eine Möglichkeit bestünde, so würde der Bursche, wie ich ihn kenne, es sicherlich versuchen.«

Kapitän Nagle schüttelte den Kopf.

»Er müßte schon längst hier sein, wenn er eine solche Möglichkeit gefunden hätte«, meinte er.

Es entging mir nicht, daß Arai, die gerade den Fisch auftrug, mit gespannter Aufmerksamkeit zuhörte. Frau de Laage warf ihrem Gatten einen Blick zu. Er verstand ihn aber offenbar nicht, denn er fuhr fort: »Jedenfalls bat mich der Gouverneur von Tahiti, scharf aufzupassen. Es ist den dortigen Behörden unverständlich, auf welche Art dieser Terangi verschwunden sein kann. Vor über drei Monaten ist er geflohen, und ganz Tahiti ist von einem bis zum anderen Ende durchsucht worden, aber völlig ergebnislos. Doch nicht nur Tahiti, sondern auch alle anderen Inseln des Gesellschaftsarchipels hat man abgesucht, aber nirgends wurde eine Spur von dem Flüchtling gefunden. Die Polizei glaubt, daß es ihm irgendwie gelungen ist, den Archipel zu verlassen. Sie ist der Ansicht, daß er sich schon auf den Tuamotu-Inseln aufhält und daß Manukura sein endgültiges Ziel ist. Die Beamten dort haben mehr als genug von diesem unverbesserlichen Verbrecher, der sich so unverschämt über Gesetz und Ordnung lustig macht. Und ich gebe ihnen vollkommen recht. So etwas kann nicht länger geduldet werden! Cayenne ist der einzige Ort für solche Burschen. Der Gouverneur teilte mir mit, daß er dorthin verschickt werden wird, sobald man seiner habhaft geworden ist.«

Mit einem Male trat ein verlegenes Schweigen ein. De Laage erkannte plötzlich, daß er im Eifer mehr gesagt hatte, als in Kapitän Nagles Gegenwart am Platze war. Er benutzte die Pause, um die Gläser aufs neue zu füllen, und bald wendete sich die Unterhaltung anderen Gegenständen zu.


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