Georges Ohnet
Die lichtscheue Dame – Zweiter Band
Georges Ohnet

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Zehntes Kapitel.

In der grünen Dämmerung des Wohnzimmers im Schweizerhause saßen Marcel und Frau von Vignola am offenen Fenster plaudernd dicht beisammen. Es war zehn Uhr vormittags. An dem lichtblauen Himmel stand die Sonne schon hoch, aber ihr heißer Strahl konnte, von den tief herabhängenden Zweigen vor dem Fenster gedämpft, nur lind und schmeichelnd bis zu den beiden Liebenden dringen.

»Also selbst in diesem weltfernen Winkel,« sagte Frau von Vignola mit ihrer tiefen, ernsten Stimme, »so fern der Stadt, so von Wäldern umschlossen, keine Ruhe, kein Frieden!«

»Sie haben es gerade heuer unglücklich getroffen, sonst sind die Bewohner von Ars ein harmloses, friedliches Völkchen, das noch nie Hang zu solchen Ausschreitungen gezeigt hat,« erwiderte Marcel. »Wenn unsere Leute bisher Anforderungen stellten, geschah es immer in aller Zucht und Ordnung, konnten sie ja doch der Gewährung berechtigter Wünsche im voraus sicher sein. Man kann sich gar nicht erklären, was für ein böser Geist plötzlich in die Leute gefahren ist.«

Frau von Vignola lächelte leise.

»Vermutlich haben sie schlechtem Rat Gehör geschenkt. Aber was kümmert mich das jetzt! Das Wesentliche ist für mich nur, daß Sie sich dem tollen Haufen nicht aussetzen . . . als ich gestern abend ihr Geschrei hörte, ihre Drohungen gegen ihre Brotherren, bin ich in tiefster Seele erschrocken.«

»Sie nehmen also ein wenig Anteil an mir?«

»Wie können Sie nur fragen?«

Er griff leidenschaftlich nach ihrer Hand, die ihm nicht entzogen wurde.

»Ach, Anetta! Ich begreife nicht mehr, wie ich nur die geringste Freude am Leben haben konnte, ehe ich Sie kannte . . . mir ist's, als hätte ich erst vor drei Wochen zu leben angefangen!«

Sie drohte ihm schelmisch mit dem Finger.

»Und dabei hat der junge Herr schon recht viele Abenteuer gehabt! Bilden Sie sich nur nicht ein, mich täuschen zu können, wie alle anderen, denen Sie von Ihrer Liebe sprachen!«

»Von Liebe? Ich habe nie geliebt, das weiß ich jetzt.«

»Marcel, haben Sie die Barmherzigkeit, ehrlich zu sein und mich nicht zu belügen. Ich habe viel gelitten bis hierher, aber gelitten, weil ich ein leeres, gleichgültiges Herz hatte . . . jetzt bangt mir vor dem, was ich leiden soll, weil ich lieben werde . . .«

»O, haben Sie doch nur Vertrauen zu mir! Sie werden durch mich vergessen, was Sie gelitten haben . . . Sie sind so jung und die Zukunft kann so schön sein. . . . Ich will Sie ganz für mich haben. Ihre Trauer wird ja auch zu Ende gehen, dann werden Sie wieder Herrin Ihres Schicksals  . . . Anetta, geben Sie mir das Recht, mit Ihrem Bruder zu sprechen?«

»Mit Cesare?« lief die junge Frau sichtlich erschrocken. »Sie wollen ihm sagen . . . o nein, nein, hüten Sie sich davor! Sie kennen ihn nicht! Von dem Augenblick an wäre er Ihr Todfeind!«

»Und weshalb?«

»Ach, das ist traurig . . . traurig zu wissen, noch trauriger zu sagen. Cesare ist mittellos, ich aber bin durch das Erbe von meinem Mann reich . . . wenn ich mich von ihm trennte, wenn ich nicht mehr frei sein würde, wären seine Einnahmen versiegt . . . ein bescheidenes Leben, Einschränkungen, das wäre ihm rein unerträglich! Er leidet ja so darunter, seiner Geburt nicht Ehre machen zu können. Wir sind aus fürstlichem Geschlecht; die Briviesca waren die Herren von Mantua, ein Agostini Tyrann von Parma, aber dann kam der Niedergang, und Graf Cesare ist auf seine Gage als Rittmeister angewiesen, was für einen Mann, wie er, bittere Armut bedeutet! Seit ich Witwe bin, hat er die Verwaltung meines Vermögens in die Hand genommen . . . wie ich glaube, zu seinem Vorteil . . . ich habe nichts dagegen, ja es freut mich für ihn, denn er ist gut und ich habe ihn sehr lieb . . .«

»Wenn dem so ist, geben Sie ihm doch, was Sie besitzen. Habe ich denn Ihr Vermögen nötig? Ich will von Ihnen nichts, als eben Sie; lassen Sie dem Grafen, was Sie haben, geben Sie mir, was Sie sind! Ich werde ja auch reich werden, ja, wenn ich wollte, könnte ich Ihnen morgen mehr ersetzen, als was Sie mir geopfert haben würden . . .«

Dieses Wort schien ihr wunderlich vorzukommen.

»Und bitte, sagen Sie mir, wie das zuginge?« fragte sie mit lachenden Augen, halb ungläubig, halb belustigt.

Marcel sah diese Augen, sah den süßen fragenden Mund und war aufs neue bezaubert; kein Mißtrauen regte sich in ihm.

»Ich bin im Besitz eines Fabrikationsgeheimnisses, dessen Ausbeutung die finanzielle Lage des Bergbaus vollständig umgestalten kann. Der sichere Ertrag wird nicht ausschließlich, aber doch zu einem Teil mir zufallen, und dieser Teil schon bedeutet ungeheuren Reichtum. Ohne mich kann nichts geschehen, man braucht mich, denn ich allein bin im stande, die Herstellung zu leiten . . . Eine Aktiengesellschaft wird das Patent dieser Erfindung erwerben und ausnützen, und das bedeutet, hören Sie wohl, Anetta, nichts anderes als baldigen, ungeheuren, ja unerhörten Reichtum.«

»O, erzählen Sie mir das! Erklären Sie mir's, lieber Freund . . .«

»Sie sind der erste und einzige Mensch, dem ich auch nur so viel darüber gesagt habe, aber kann ich Ihnen denn etwas vorenthalten? Und wenn Sie mir meine Ehre abverlangten, ich würde sie Ihnen geben . . . was hätte ich auch zu fürchten von Ihnen, der reinen, arglosen, selbstlosen Frau? Ja, in meiner Hand liegt ein Geheimnis, das Ruhm und Macht verleiht. Der Ruhm gebührt dem Erfinder und ich schätze mich glücklich, ihn auf seinen Namen zu häufen, die Macht, eine unberechenbar große finanzielle Macht wird denen zufallen, die seine Gedanken in That umsetzen, verwerten . . .«

»Aber wenn Ihnen nun irgend etwas zustieße, mein Freund« fiel ihm Frau von Vignola erregt ins Wort, »wenn Sie von der Welt verschwänden, wenn jene Rasenden, die Sie anfeinden, Ihnen ein Leid anthäten, was würde dann aus Ihrem Werk? Sie Unbesonnener! Gewiß haben Sie ebensowenig daran gedacht, Ihr kostbares Geheimnis zu schützen, als wie Ihr teures Leben!«

Mit diesen Worten schmiegte sie sich wie in qualvoller Angst an Marcel: ihr Hauch versengte ihn, wie ihre Blicke ihn berauschten; die Hände, die sie auf seine Schultern gestützt hatte, berührten ihn mit heißer Liebkosung.

»So unbesonnen bin ich denn doch nicht,« erwiderte er. »Beruhigen Sie sich! Heute früh habe ich vorsichtshalber die Formeln dieser wunderbaren Entdeckung, das Rezept dazu, niedergeschrieben, genau festgestellt . . .«

»Und das tragen Sie bei sich?« fragte sie, als ob sie über dieser Möglichkeit erschrecke.

»Nein, Geliebte, keine Sorge! Es liegt wohlverwahrt in meinem Laboratorium. Die Erfindung kann jetzt von niemand mehr zerstört werden. Wenn mir ein Unglück zustieße, wüßte mein Onkel Graff genau, wo das Blatt zu finden ist und wie er sich in seinen Besitz setzen kann, aber wie sollte mir Unheil drohen, jetzt, da ich Sie liebe? Sieg, Triumph ist mir gewiß, wenn Sie mich lieben!«

»Zweifeln Sie noch daran, nach allem, was ich Ihnen gesagt habe?« rief sie in freudiger Hingebung. »Und wie sollte ich's denn angreifen, Sie nicht zu lieben, solch einen Schwärmer, wie Sie sind – Ihre junge Thorheit hat mir's angethan! Sie sind so anders, als die Menschen, mit denen ich früher gelebt habe. Bedenken Sie nur, wie mein Leben bisher verlaufen ist! Zuerst zwischen strengen, ernsthaften alten Eltern in einem düsteren, frostigen Palast Mailands. Dann mein Gatte . . . so gut er war, so vieles er mir zuliebe thun wollte, er konnte doch meine zwanzig Jahre nicht mit seiner kühlen Altersweisheit verschmelzen. Ich habe im Leben nur Trauer und Langeweile kennengelernt, heute erst erwache ich und werde lebendig. Mir ist's, als ob ich bisher geschlafen hätte wie Dornröschen im Märchen . . . Sie kamen zu mir und haben meine Augen aufgethan für die Schönheit des Lichts, Sie haben mein Ohr erschlossen für süße Liebesworte, mit unaussprechlichem Entzücken lebe, atme ich dem Glück entgegen . . .«

Die größte Künstlerin der Welt hätte diese lockenden, in Marcels Arm geflüsterten Worte nicht weicher und feiner abzutönen vermocht. Die junge Frau hielt das Gesicht dabei abgewendet, als hätte sie die Röte der Scham zu verbergen, ihr schlanker Leib aber schien vor Liebeswonne zu beben. Trunken von diesem Geständnis, in glühendem Verlangen, das die furchtbare Verführerin so klug zu schüren wußte, preßte Marcel den Kopf gegen Anettas Schulter. Ein betäubend starker, wollüstiger Duft, der von dem zarten und doch so kräftigen Körper ausströmte, brachte ihn vollends um die Besinnung.

»Ich bete dich an,« stammelte er fassungslos.

Jetzt wandte sie ihr Gesicht, wohl um ihn anzusehen, vielleicht um ihm zu antworten, ihre Lippen begegneten und fanden sich in einem verzehrenden Kuß. Rings um sie her herrschte tiefe Stille, das Zimmer war von grünem Dämmerlicht matt durchflutet, die Zeit zog dahin, ohne daß sie eines anderen Gedankens fähig gewesen wären, als der Gewißheit ihrer Liebe, des Dankes, den jedes dem anderen dafür wußte. Daß über das Meer von jungem Grün, das ihr verstecktes Liebesnest umgab, seltsame Laute hinschwebten, mehr und mehr anschwellend, daß der Klang der Sturmglocke von Ars weit hinausdrang über Feld und Wald, kam Marcel nur verworren, undeutlich zum Bewußtsein, ohne daß er die Kraft gehabt hätte, den Zauberbann abzuschütteln, der seine trunkenen Sinne umfing. Anetta war es, die zuerst, aus seinem Arm auffahrend, die Frage aussprach: »Was ist das?«

Nun kehrte auch ihm die Besinnung zurück und er sagte, hinauslauschend: »Es kommt aus der Richtung der Stadt . . . es klingt wie Geschrei, Rufen . . .«

Er beugte sich zum Fenster hinaus und jetzt packte ihn die Angst.

»Das ist ja die Sturmglocke! Sollte ein Brand ausgebrochen sein . . . mein Gott! Was geht vor? Wie konnte ich alles, alles vergessen . . .«

»Bereust du es?« sagte Anetta mit schmachtendem Blick.

»Als ob ich diese Stunde nicht freudig mit meinem Leben bezahlen würde!« sagte er, sie wieder in die Arme schließend. »Aber du weißt ja, welche Gefahren uns in Ars bedrohen, und jetzt fürchte ich, daß in meiner Abwesenheit Ereignisse eingetreten sein könnten . . .«

Frau von Vignola eilte zur Thüre und rief nach Milo. Ohne ihre Frage abzuwarten, begann die rasch herbeigeeilte Dienerin: »Gnädige Frau, in Ars geht etwas vor. Man hört Rufen und Geschrei, die Glocken läuten und über dem Wald steigt schwarzer Rauch auf . . . vielleicht, daß man vom Dach aus . . .«

»Ich gehe hinauf!« rief Marcel.

»Milo, begleite ihn . . . ich komme nach . . .«

Aber statt nachzukommen, trat die junge Frau an ihren Schreibtisch und warf hastig ein paar Zeilen auf ein Blatt Papier. Schon ertönten Schritte auf der Treppe, mit verstörter Miene kam Marcel zurück.

»Das Feuer muß in der Fabrik sein . . . o Anetta, ich habe alles, alles vergessen um dich . . . jetzt muß ich fort . . .«

»Marcel, bedenke, daß dein Leben mir gehört . . .«

Sie hatte die Arme um ihn geschlungen und wollte ihn festhalten.

»Liebste, ich muß fort . . . was würde man von mir denken? Du siehst mich heute abend wieder, jetzt laß mich gehen, es muß sein . . .«

»Es sei . . . aber Milona muß dir aus der Ferne folgen, um mir Nachricht von dir zu bringen! Gib mir dein Wort, daß du vorsichtig sein willst . . . mir zuliebe!«

Ein letzter Kuß und schon eilte Marcel durch den Garten. Anetta drehte sich um und gab Milona den Zettel, den sie vorhin geschrieben hatte.

»Laufe in die Stadt . . . du wirst Hans als Bauer verkleidet in einem Fischerboot auf dem Fluß finden, gib ihm das, Milo, und komm gleich zurück . . . Geh schnell, Milo, . . . dieses Mal wird es gelingen!«

»Und der junge Mann, Herrin? Was machen Sie mit ihm?«

»Noch weiß ich's nicht,« versetzte Anetta mit einem Ausdruck von Trauer auf dem schönen Gesicht. »Milo, ich glaube, ich liebe ihn!«

»Der arme Junge!« sagte die Dienerin mit einem matten Lächeln. »Er ist gut.«

Damit trennten sich die beiden.

Marcel stürmte der Stadt zu; bei der ersten Biegung der Straße konnte er Ars und die einzelnen Gebäude überblicken. Aus den Magazinen der Fabrik stieg qualmender Rauch auf, schon züngelten Flammen aus dem Dachstuhl.

»Die Elenden!« schrie er auf, »Sie haben Feuer gelegt. Und der Onkel? Wenn er verunglückt wäre . . .«

Er flog in rasendem Lauf weiter, Jugend und Kraft, von Angst und Zorn gespornt, leisteten das Höchste. Von Schutzleuten zurückgedrängt, stauten sich die Schaulustigen in der Straße. Marcel bahnte sich mit den Fäusten eine Gasse, gelangte ans Thor, stieß den Wache haltenden Feuerwehrmann beiseite und gelangte atemlos, schweißtriefend in den Hof. Die Arbeiter bildeten eine Kette, um der städtischen Feuerspritze das Wasser in Eimern zuzureichen, während die eigene Spritze der Fabrik aus dem Wasserbecken für die Dampfmaschinen gespeist wurde. Als sie den Sohn des Hauses heranstürmen sahen, riefen sie ihm entgegen: »Ach, Herr Marcel! Endlich sind Sie da!«

»Wie ist das Feuer entstanden?« fragte er keuchend.

Tiefes Schweigen. Schrecklich anzusehen, fuhr Marcel auf die Arbeiter los, er, der einzelne, und ihrer waren es zweihundert.

»Ihr seid's, Elende, ihr habt das Feuer gelegt! Ihr wollt das Haus, das euch ernährt hat, in Schutt und Asche legen!«

»Nein, Herr Marcel!« schrie es durcheinander. »Nicht wir! Wir haben's nicht gewollt! Wenn man auch Forderungen stellt, ist man doch noch kein Lump! Wir sind keine Verbrecher! Es sind Fremde hier . . . wir waren's nicht!«

Er wurde ruhiger angesichts dieser abbittenden Haltung der Leute.

»Wo ist mein Onkel Graff?«

Ein Werkführer trat mit betroffener Miene vor.

»Ach, Herr Marcel, wir können nichts dafür . . . er ließ sich nicht abhalten . . .«

»Wo ist er?«

»Im Comptoir mit Herrn Cardez und Ihrem Diener. Sie wollten die Bücher holen und die Kasse . . .«

»Aber das Haus brennt ja lichterloh!« schrie Marcel verzweifelt auf. »Wenn ihr sie nicht abhalten konntet, weshalb ist keiner mitgegangen?«

Ein Donnergetöse in dem brennenden Gebäude schnitt ihm das Wort ab. Ein Funkenregen sprühte aus der Glut und schwarzer Rauch verhüllte den Himmel; ein Teil des Dachstuhls war eingestürzt.

»Ja. wie soll man jetzt noch hineindringen?« fragte der Werkführer beklommen, »Das Comptoir liegt im Mittelbau, eingeklemmt zwischen der Weberei und den Magazinen, alles flammt . . .«

»Uebers Dach der Werkstatt?«

»Wer wird's wagen?« sagte der Arbeiter, mutlos den Kopf schüttelnd.

»Ich«

»Aber es ist der sichere Tod!«

»Gut, also auf die Gefahr hin.«

»Wir lassen Sie nicht gehen. Was würde Ihr Herr Vater uns sagen?«

»Und was würde er sagen, wenn ich nicht ginge?«

Marcel griff nach einer Axt und stürzte sich in das Fabrikgebäude. Sengende Hitze und Brandgeruch schnürten ihm die Kehle zu, aber er drang weiter vor und stieg die Treppe hinauf, die zum Comptoir führte. Eine Wand von Flammen schnitt ihm den Weg ab. Rasch ging er zurück, kletterte aufs Dach des niedereren Flügels und gelangte, der Dachrinne folgend, wenn auch dem Ersticken nahe, bis auf den über den Comptoirräumen gelegenen Teil des Daches, den das Feuer noch nicht erreicht hatte. Hier blieb er stehen. Wenn Cardez und sein Onkel noch im Kassenzimmer waren, so hatten die Flammen sie jetzt vollkommen eingeschlossen, ein Entkommen war nur noch nach oben oder unten möglich. Ohne Zögern begann er mit mächtigen Axthieben den Fußboden zu zerschmettern. Vom Dach her hörte er Zurufe, und ohne mit der Arbeit inne zu halten, antwortete er: »Hierher! Im Speicher!«

Es waren der Werkführer und drei wackere Arbeiter, die ihm mit Beilen und Brechstangen nachgekommen waren. Sie machten sich sofort ans Werk. Marcel allein schien Kraft für zehne zu haben, die Planken brachen unter seinen Axthieben wie dünnes Rohr, die Vergipsung zersplitterte, die Backsteine wichen und fielen polternd zu Boden. Jetzt war ein ansehnliches Loch im Fußboden entstanden, worauf Marcel sich platt auf den Bauch legte und mit Aufwand all seiner Kraft hinunterrief: »Onkel Graff, Cardez, Baudoin, seid ihr da?«

Eine erstickte Stimme drang schwer verständlich herauf.

»Du bist's. Kind? . . . Ja. wir sind da . . . Eile thut not . . . wir können nicht mehr . . . der Rauch erstickt uns . . .«

»Nehmt euch in acht!«

Vermittels der Brechstange erweiterte Marcel das Loch im Fußboden und alsbald quoll der Rauch herauf, wie durch einen Kamin. Als er sich ein wenig verzogen hatte, sah Marcel die drei Männer, die, ohne ihre Bücher und Mappen loszulassen, ergebungsvoll dem Tod oder der Befreiung entgegensahen. Die Rettung nahte, ein Strick kam durch das Loch herunter.

»Baudoin! Meinen Onkel unter den Armen fest anbinden!« befahl Marcel. »Haben Sie's? Fertig?«

»Ja!«

»Anziehen!«

Die vier Männer auf dem Speicher zogen gleichmäßig an, die Last wurde gehoben, und von Ruß geschwärzt, mit weißem Gips bestaubt, wurde der halb erstickte, an allen Gliedern zitternde Graff heraufgewunden und von Marcels starken Armen umfangen. Keiner sprach, aber Onkel und Neffe hielten sich schluchzend umfangen. Cardez wurde auf dieselbe Weise heraufbefördert, Baudoin aber schlang sich selbst das Seil um und arbeitete sich daran empor.

»Habt ihr alles bei euch, was im Bureau zu retten war?« fragte Marcel. »Ich kann mich hinunterlassen, wenn es nötig ist.«

»Nein!« rief Onkel Graff, die Sprache wiederfindend. »Wir haben die Bücher und Berechnungen, das genügt. Die Gebäude sind versichert, laßt sie brennen!«

»Dann treten wir den Rückzug an . . . die Luft wird hier auch dicker.«

Schon rollte schwerer, schwarzer Rauch herein und hie und da züngelte eine Flamme auf. Marcel umfaßte den Onkel und stützte ihn auf dem Weg übers Dach. Als man die beiden Männer vom Hofflur erblickte, erschallte ein Jubelruf, der das Krachen und Heulen des Feuers übertönte. Die Spritzen wurden derart gerichtet, daß ihr Rückweg gesichert war, und Retter wie Gerettete gelangten über die eine noch unversehrte Treppe in den Hof, wo Graff indes einer Ohnmacht nahe auf einem Wollsack zusammenbrach.

»Ein Glas Wasser!« rief Marcel.

Im Nu hatte er eine Karaffe in der Hand; was er auch verlangt haben würde, man hätte das Unmögliche möglich gemacht, um ihm zu gehorchen. Man umdrängte ihn mit Ehrfurcht, sah ihn mit stolzer Zärtlichkeit an: die nämlichen Leute, die gestern abend gebrüllt hatten: »Nieder mit den Fabrikanten!« riefen jetzt aus Herzensgrund: »Hoch unser junger Herr!« Weil er vollbracht hatte, was sie sich nicht zugetraut haben würden, weil sie beschämt anerkennen mußten, daß er tapferer war, besser als sie, beugten sie sich ihm.

»Cardez, nehmen Sie all die Bücher und Papiere zu sich in Ihre Wohnung,« sagte Marcel, »und du, Onkel, kommst mit mir in mein Laboratorium, daß du dich erholst.«

»Nein, nein, ist nicht nötig . . . ich kann jetzt wieder atmen . . . es geht mir schon ganz gut. Aber zu rechter Zeit bist du gekommen, mein guter Junge! Eine Viertelstunde später, und du hättest keinen von uns dreien mehr am Leben getroffen . . .«

»Ach Onkel! Unglück genug, daß ich nicht von Anfang an dabei war!«

»Wenn du dabei gewesen wärest, wären wir alle miteinander zu Grund gegangen . . . gerade deine Abwesenheit war die Rettung! So nur hast du uns retten können, du allein . . .«

»Aber sag mir nur, wie alles gekommen ist.«

»Wir sind ja selbst ganz im Unklaren darüber! Schon eine Stunde lang war ich bei Cardez mit dem Arbeiterausschuß zusammen, und zwar hatten wir uns eingeschlossen. Die Anträge wurden Punkt für Punkt besprochen und ich muß sagen, daß ein friedliches Übereinkommen mit den verhetzten, übelwollenden Leuten mir sehr zweifelhaft erschien, als wir plötzlich durch den Ruf: »Feuer!« unterbrochen wurden. Die Arbeiter, die, im Hof stehend, auf ihre Vertrauensmänner warteten, hatten zuerst den dicken Rauch bemerkt, der aus dem Wollmagazin hervorbrach. Daß die Leute feindselig gestimmt waren, ist sicher. Als ich vorher mit Cardez an ihnen vorüber ins Verwaltungszimmer gegangen war, hatte uns ein hämisches Schweigen begrüßt: nicht einer hatte die Mütze gelüpft; wir hatten uns auf eigenem Grund und Boden in Feindesland fühlen müssen. Jetzt kam der Brand und im Nu waren die Arbeiter wie ausgetauscht. Als sie die Fabrik in Flammen stehen sahen, erfaßte sie die reinste Verzweiflung, denn sie sind ja im Grund gutmütig und anhänglich. Nach allen Seiten stoben sie auseinander mit dem Ruf: »An die Spritzen!«, dann holten sie die Eimer herbei und reihten sich mit Eifer in die Kette, und als ich mit Cardez heraustrat, rief man uns zu: »Herr Graff, wir sind's nicht! So wahr uns unsere Weiber und Kinder lieb sind, wir haben's nicht gethan!« Als man einen Luxemburger, Namens Verstraet, einen von den Fremden, die seit acht Tagen hier sind, in der Nähe des brennenden Flügels antraf, wurde er von unseren Leuten stürmisch der Brandstiftung bezichtigt, und wären wir nicht eingeschritten, sie hätten ihn totgeschlagen.«

Marcel hörte diesen Bericht mit finsterer Miene an. Für ihn war ein Zusammenhang vorhanden zwischen dem Brand und der wunderlichen Angst um das Laboratorium, die Baudoin wiederholt an den Tag gelegt hatte.

»Solange wir die schlimmen Gesellen hier haben,« hörte er seinen Getreuen sagen, und die Arbeiter riefen ja auch: »Diese Fremden!« Ein geheimnisvoller Nebel lag über all diesen Vorgängen und Marcel fühlte sich von einem Dorngestrüpp von Haß und Drohungen umgeben. War es denn wirklich so, daß die Erfindung des Generals jedem, der daran teil hatte, verhängnisvoll werden sollte? Sein Blick suchte Baudoin, doch dieser war nicht mehr zu sehen, vermutlich war er im Laboratorium, wohin Marcel sich auch wandte. Das Feuer ließ jetzt nach. Man hatte Ströme von Wasser ins Magazin gepumpt und es war gelungen, das Feuer unter Wollballen zu ersticken. Das eigentliche Fabrikgebäude schien nicht einmal schwer beschädigt zu sein, nachdem der Verlust sich nun einigermaßen überblicken ließ. Der Hauptmann der freiwilligen Feuerwehr von Ars, seines Zeichens ein Klempner, kam auf einen Augenblick mit rotem Kopf, den Helm in der Hand, zu den Herren her.

»Es läuft besser ab, als wir geglaubt hatten, meine Herren,« sagte er. »Die Fabrik ist jetzt zu mehr als zwei Dritteilen gesichert und man kann sich ein wenig verschnaufen, aber in der ersten Stunde ging's heiß her!«

»Ja, ohne Herrn Marcel würden wir nicht hier stehen und mit Ihnen sprechen, Herr Prévost,« bemerkte Cardez.

»Großartig, ganz großartig, was der junge Herr geleistet hat,« gab der Hauptmann zu. »Weder ich, noch meine Leute, niemand ist auf den Gedanken gekommen. Am Mut hätte es nicht gefehlt, nur daß eben niemand drauf kam, die Decke durchzuschlagen. Er allein hat den Kopf nicht verloren und darauf kommt's an!«

In diesem Augenblick ertönte ein angstvoller Ruf und Marcel erschien bleich und verstört vor dem Laboratorium.

»Onkel Graff! . . . Komm rasch!«

»Was gibt es denn?« fragte Cardez.

»Bleiben Sie!« rief ihm Marcel zu. »Mein Onkel allein soll kommen!«

So rasch ihn die Füße trugen, eilte Graff auf den Neffen zu. Auf der Schwelle des Laboratoriums hielt Baudoin Wache, um jeden Unberufenen zurückzuweisen.

»Komm herein, mein Gott, . . . komm nur!« rief Marcel, Graff vor sich herschiebend. »Baudoin schließen Sie die Thüre von innen ab . . . mit dem Schlüssel . . .«

»Mein Gott, du machst mir solche Angst,« stöhnte Graff. »Was kann denn noch geschehen sein?«

»Sieh her!«

Von Entsetzen gefesselt standen die drei Männer an der Thüre des inneren Zimmers. Die Spuren eines wilden Kampfes boten sich ihren Blicken dar; der große Lederstuhl lag umgestürzt am Boden, von der gebrochenen Vorhangstange flatterte ein zerrissener Fetzen über dem offen stehenden Fenster nach dem Fluß. Glasflaschen, Retorten, Glasröhren lagen zerschmettert, zertreten am Boden, auf dem Tisch war eine Blutlache, als ob ein Sterbender dort hingestürzt gewesen wäre, alle Papiere, die im Zimmer zerstreut lagen, waren mit Blut bespritzt, die Schublade des Schreibtisches hing heraus.

»Was ist nur vorgefallen?« fragte Graff leise, als ob ihm Angst die Kehle zuschnürte.

»Greife in die Schublade, Onkel . . . suche das Rezept, das ich vor deinen Augen hineingelegt habe!«

»Ja, und . . .

»Es ist fort! Geraubt! Sieh dich nach der Flasche um, worin ich die Schießpulverprobe verwahrt hatte und die dort auf dem Tisch stand! Verschwunden!«

»Gestohlen? Von wem?«

»Wer hat die Fabrik in Brand gesteckt? Wessen ist das Blut, das Tisch und Fußboden rötet? Welche verbrecherische Hand hat es vergossen? Onkel Graff, wir haben furchtbaren Haß auf uns geladen, du siehst, was sich an Trémonts Entdeckungen knüpft . . . eine ganze Verbrecherbande ist seit Monaten am Werk, um das Geheimnis an sich zu reißen, koste es, was es wolle; nichts schreckt sie, nichts hält sie auf. Wie richtig hat mein Vater gefühlt, als er's nicht dulden wollte, daß ich mich mit der Entdeckung beschäftige, und auch Baudoin wußte, was er that, als er im Laboratorium Wache halten wollte. Nur die Feuersbrunst hat ihn veranlaßt, seinen Posten zu verlassen; wäre er hier geblieben, sein Blut färbte jetzt den Boden, aber wer, wer hat das seinige hier vergossen?«

»Ich bitte dich, Kind, werde ruhiger,« mahnte Graff, von Marcels furchtbarer Aufregung erschreckt. »Baudoin, sprechen Sie, erklären Sie uns, was Sie wissen . . .«

»Herr Graff, ich weiß, wer hier erschlagen wurde, und weiß, wer den betreffenden erschlagen hat. Das Opfer ist ein Mann, der unserer Sache mit Hingebung gedient hat, der einzige, der von der ersten Stunde an die Schuldigen gewittert hatte. Und doch hat er den Diebstahl nicht verhindern können! Um ihn zu verhindern, den Dieb zu fassen, wurde er gemordet.«

»Und der Mörder?«

»O der,« sagte der alte Soldat finster, »der versteht sein Handwerk. Ein Bandit, der vor nichts zurückschreckt. Alle Unruhen, die diese Gegend durchstürmen, sind sein Werk. Er hat den Brand gelegt in der Fabrik, er hat den General von Trémont erschlagen, es ist mit einem Wort der Mann von Vanves – Hans.«

»Und woher wissen Sie das?«

»Weil ich ihn gesehen habe, Laforêt, der Agent vom Kriegsministerium, den ich hierher berufen hatte, um mir verdächtige Leute zu überwachen, und der ohne Zweifel seinen Diensteifer mit dem Leben bezahlt hat, führte mich gestern abend an einen Ort, wo ich ihn sehen und beobachten konnte. Wir haben seiner Beratung mit den Anführern des Streiks im ›Goldenen Löwen‹ zum Teil beigewohnt, wir haben mit angehört, wie er den Leuten Anweisungen, Befehle erteilte. Ihm haben die unglücklichen, durch die Phrasen ihrer Anführer irregeleiteten Arbeiter Gehorsam geleistet, freilich ohne es zu wissen. Er, dieser Straßenräuber, hat von sicherem Versteck aus den Aufruhr, die Brandstiftung und Plünderung geleitet.«

»Aber wie konnte er wissen, daß die erst heute früh angefertigte Reinschrift des Rezepts in dieser Schublade lag? Wie konnte er hier hereinkommen?«

»Hereingekommen ist er, weil ich beim Feuerlärm von meinem Posten wich, und was das übrige betrifft . . . er hat eben sehr genaue, sehr zuverlässige Winke erhalten . . .«

Baudoin brach mit einem angstvoll fragenden Blick auf seinen jungen Herrn ab.

»Ach, Herr Marcel, soll ich's Ihnen sagen? Werden Sie mir je verzeihen . . .«

Marcel wurde leichenblaß, aber er sagte in festem Tone: »Reden Sie! Ich befehle es!«

»Der Mann hat seit acht Tagen in der Villa am Wald, im Schweizerhaus gewohnt . . .«

»Unmöglich!« schrie Marcel auf. »Hans! Der Bandit?«

»Herr Marcel,« sagte Baudoin mit völliger Sicherheit, aber in unsäglich schmerzlichem Ton, »ich selbst habe ihn dort gesehen, und Laforêt hat ihn eine ganze Woche beobachtet. Er bewohnte eine Giebelstube und ging nur bei Nacht aus.«

»Und ich habe nichts gemerkt, nichts geahnt!« rief der junge Mann in schmerzlicher Betroffenheit. »Und was ist's mit der Frau, die sich seit drei Wochen dort aufhält? Welch furchtbares Spiel müßte sie mit mir getrieben haben?«

»Ach!« sagte der Onkel Graff leise vor sich hin. »Eine Frau, abermals! Unverbesserliches Kind!«

Marcel war auf eine Fußbank neben dem Tisch gesunken und suchte, den Kopf in die Hände gestützt, seine Gedanken zu sammeln. Aus dem wonnigsten Traum seines Lebens war er jäh versetzt in eine Wirklichkeit von Blut, Verbrechen und Schande.

»Aber es kann ja nicht sein,« sagte Marcel mit bebender Stimme wie im Selbstgespräch. »Wie . . . warum . . . sollte sie mich so grausam, so herzlos getäuscht haben? War es denn nötig, mich toll zu machen vor Leidenschaft? Aber ich kann sie nicht für schuldig halten! Nicht eines von ihren Worten war je unwahr, wie offen und ehrlich ihr Blick! Nein, nein, Baudoin, Sie täuschen sich! Und selbst wenn die äußeren Umstände sich so verhalten, selbst wenn sie den Schurken beherbergt hat, braucht sie deshalb seine Mitschuldige zu sein, kann sie nicht ebenso sein Opfer sein, wie wir? Wenn man versucht hat, mir Übles anzuthun, kann sie sich dem nicht widersetzt haben, ohnmächtig gewesen sein, es zu verhindern . . . wenn sie es weiß, so weint sie vielleicht in diesem Augenblick mit mir.«

Ein Schluchzen erstickte diesen verzweifelten Versuch, sich Trost einzusprechen, und Marcel legte bitterlich weinend den Kopf auf die blutgetränkte Tischplatte. Sein Schmerz forderte Achtung, und Graff zog Baudoin in die Fensternische, um dort leise weiterzuberaten mit ihm.

»Wie denken Sie sich die Vorgänge im Laboratorium während Ihrer Abwesenheit?«

»Laforêt, der unseren Mann nie aus den Augen ließ, ist ihm offenbar bis hierher gefolgt. Hans wird unterm Schutz der allgemeinen Verwirrung durch den Brand in den Hof eingedrungen sein und von dort aus in diesen Pavillon. Laforêt mag ihn beim Durchsuchen der Schublade ertappt haben und dann muß ein furchtbarer Kampf entstanden sein, denn Hans ist ein Riese und Laforêt war sehr kräftig und gelenkig. Ohne Zweifel hat sich Hans einer Waffe bedient . . . betäubt oder erschlagen wird Laforêt auf den Tisch gestürzt sein, Hans wird ihn gepackt und ans Fenster geschleppt haben, wo Laforêt sich noch an die Vorhangstange geklammert hat das Gewicht muß schwer gewesen sein, sie ist mitten entzwei . . .«

»Und dann?« fragte Graff beklommen.

»Dann hat Hans ohne allen Zweifel den unglücklichen Laforêt zum Fenster hinausgestürzt. Der Fluß hat wie immer im Frühjahr viel Wasser, die Strömung trug ihn fort . . . möglich, daß man den Körper an der Schleuse der Mühle von Sainte-Savine auffinden wird.«

»Und jene Frau, Baudoin?« fragte Graff mit einem zur Vorsicht mahnenden Blick auf Marcel.

»Ach, diese Frau, Herr Graff! Ob es dieselbe ist, die in Vanves mitgespielt hat, wie soll ich das wissen? Die Stimme ist anders und das Parfüm auch, aber Stimmen kann man verstellen, Wohlgerüche wechseln, was sich gleich bleibt, ist die Abgefeimtheit und Geschicklichkeit, und diese hat alle Eigenschaften, um einen Mann verrückt zu machen, Schönheit, vornehmes Wesen, Anmut . . . sehen Sie ihn doch nur weinen! Nicht das Verbrechen, nicht seine Anstrengungen von vorhin versetzen ihn in diesen Zustand, nur der Schmerz, an seiner Angebeteten zweifeln zu müssen, die Angst, sie nicht mehr lieben zu können, machen ihn so unglücklich.«

»Armer Junge! Er hat solche Bitternis nicht verdient! Wie tapfer er sich gehalten hat . . . ohne ihn stünden wir beide nicht mehr hier, Baudoin!«

»Ja, aber ohne sie wäre die ganze Sache nicht geschehen! Die weiß, was sie thut, und an wen sie sich halten kann! Gewiß wäre ihr nicht eingefallen, Sie verführen und verderben zu wollen, denn das hätte sie gleich gesehen, daß bei Ihrem klaren Verstand nichts auszurichten ist, aber bei meinem General und bei Herrn Marcel . . . Männer, die dem Weibe anhängen, Herr Graff . . . o, die vergreift sich nicht! Wenn sie sich Zeit gelassen oder recht gewollt hätte, der Alte wie der Junge würden ihr freiwillig das Geheimnis ausgeliefert haben.«

Graff sah den Burschen mit Interesse an; so viel psychologischer Scharfblick war bei einem Manne seines Standes merkwürdig.

»Sie wundern sich wohl, daß ich so rede, Herr Graff?« fragte Baudoin. »Ich hab's auch nicht aus mir, was ich Ihnen da sage, mein General selbst hat mir in seinen vernünftigen Zeiten derlei Dinge gesagt. Ach, er wußte wohl, daß ihn die Weiber am Gängelband führen konnten, und hat sich nachher geschämt und sich die größten Vorwürfe gemacht. ›Ach, Baudoin,‹ konnte er sagen, ›ich weiß es ja, der Fahne und der Schürze bin ich meiner Lebtage blindlings nachgelaufen!‹«

»Und zwar bis in den Tod! Preisen wir uns glücklich, daß unser Marcel wenigstens nicht so hart dran glauben mußte. Wohl ist er jetzt sehr unglücklich und leidet schwer, aber er ist fünfundzwanzig Jahre alt, und da überwindet man noch alles, während . . . ach! wenn uns die Bande ihn getötet hatte! Gott, Gott! Sein Vater schien ordentlich ein Vorgefühl zu haben von der Gefahr, worin sich der Kleine befand, und doch glaubte er ihn am sichersten in Ars, inmitten unserer Arbeiter, und nun mußte es so kommen.«

»Ja diese Jagdhündin hat die Fährte bald herausgeschnuppert gehabt, und natürlich war ihre Macht gerade in der Einsamkeit und Langeweile nur um so größer.«

»Was sie wohl jetzt thun wird?«

»Verschwinden, mitsamt ihrem Anhang.«

»Sind es denn mehrere?«

»Ein sogenannter Bruder, ein hübscher Mensch, die Jungfer, die heute früh hereinkam, um Herrn Marcel zu holen, und dann dieser Hans . . . natürlich können ihrer ja noch viele sein, von denen wir nichts wissen, denn eine ganze Gaunerbande ist's, darauf können Sie sich verlassen, Herr Graff! Und im ganzen Land geschieht keine Schlechtigkeit, kein Verrat, ohne daß dieses Gesindel die Hand im Spiel hätte. Ich weiß es von Laforêt. ›Frankreich‹, hat er mir gesagt, ›wird von Fremden ausgebeutet. Die Regierung erweist Unbekannten Gefälligkeiten, die sie jedem Landeskind abschlagen würde. Wenn einer nur das Französische radebrecht und ein vielfarbiges Bändchen im Knopfloch hat, springen alle Geheimfächer und Aktenschränke vor ihm auf!‹ Schafsköpfe sind wir und halten uns doch für so gescheit!«.

Marcel war aufgestanden und trat zu den beiden. In den wenigen Minuten hatten sich Schmerzenslinien in sein Gesicht gegraben, rote Tupfen fleckten seine Wangen und aus den Augen sprach ein namenloses Weh.

»Onkel Graff,« sagte er, »es ist jetzt nicht an der Zeit, sich Gefühlen hinzugeben, wir müssen handeln. Vielleicht, daß es noch gelingt, den verwegenen Schurken einzuholen, der hier eindrang, um zu rauben und zu morden. Man sollte auf den Bahnhöfen sein Signalement abgeben, die Polizei in Bewegung setzen . . . ich, ich gehe jetzt in die Villa, um Klarheit zu erhalten.«

»Mein Sohn,« versetzte Graff, traurig den Kopf schüttelnd, »wenn du annimmst, sie hätten auch nur eine Sekunde unbenutzt gelassen, um sich in Sicherheit zu bringen, kennst du die Leute schlecht, mit denen wir's zu thun haben.«

»Wie können sie ahnen, daß man Verdacht auf sie hat?«

»Ach! Die That ist vollbracht, da macht man sich aus dem Staub.«

Marcel wollte etwas entgegnen, aber der Onkel fuhr milde fort: »Jawohl, du sagst dir, weshalb sollte sie abgereist sein? Würde sie mich ohne Abschied verlassen? Armer Junge, du gibst dich immer noch Täuschungen hin! Du begreifst nicht, daß alle Gefühle, die man dir gezeigt hat, wohl berechnet waren, daß du geködert, eingefangen wurdest . . . und da meinst du noch, deine Schöne warte auf dich! Nun denn, mein Sohn, gehe hin, aber wir beide werden dich begleiten. Dann wird sich herausstellen, was die Beteuerungen wert waren, woran du geglaubt hast. Darin hast du recht, wir müssen die Behörden anrufen, aber, glaube mir, es ist richtiger, von dem Pulver zu schweigen und nur den Mord zur Anzeige zu bringen. Wenn der Mann gefaßt werden kann, woran ich stark zweifle, wird er's ebensogut als Mörder, und wir geben unser Geheimnis nicht preis. Ach, den Leuten, mit denen wir's hier zu thun haben, sind wir nicht gewachsen! Mach dir deshalb nur keine Vorwürfe; das war zu fein ausgeklügelt, so oder anders mußtest du in ihre Schlinge geraten, und, Gott sei Dank, ist wenigstens dein Leben gerettet!«

»Ich danke dir, Onkel . . . du willst mich trösten, aber wenn sich alles verhält, wie du denkst, werde ich mir's nie verzeihen. Komm jetzt mit mir.«

Sie traten in den Hof hinaus. Das Feuer war bewältigt, die Kette aufgelöst, weil die städtische Spritze keiner Wasserzufuhr mehr bedurfte. Die eigene Spritze der Werkstatt genügte, um den glostenden Schutt zu begießen. Als Graff und Marcel näher kamen, entstand eine tiefe Stille unter den Leuten, alle Häupter entblößten sich. Das Unglück hatte die Anhänglichkeit an den Brotherrn neu belebt, Marcels Heldenthat hatte Achtung eingeflößt.

»Herr Graff,« sagte Cardez, den Herren entgegenkommend, »die Arbeiter bitten um ein Wort aus Ihrem Mund. Sie möchten nicht länger einen Verdacht auf sich ruhen fühlen . . .«

»Meine Freunde,« sprach Graff, ernst und schlicht unter die Leute tretend, »ich kenne euch zu gut, um euch das Verbrechen zuzutrauen, das hier begangen wurde. Ich weiß, daß ihr wohl Hitzköpfe seid, aber dabei anständige Menschen, überdies hätte dies thörichte Zerstörungswerk ja nur dazu dienen können, euch um euer Brot zu bringen! In dem Augenblick, als das Feuer ausbrach, waren eure Vertrauensmänner und wir nahe daran, uns zu verständigen. Nachdem ihr euren guten Willen und eure ehrliche Gesinnung durch freiwillige Hilfe beim Löschen gezeigt habt, halte ich nur noch einen Ausgang unseres Kampfes für möglich und zwar den für euch günstigsten. Ich sage euch Gewährung eurer Forderungen zu . . .«

Ein Freudenschrei der Dankbarkeit und Erleichterung vereint, ertönte aus fünfhundert Kehlen, die Mützen sausten nur so durch die Luft. Graff hob die Hand auf, um Stillschweigen zu gebieten, das auch sofort eintrat.

»Ich bitte, zu glauben und nie zu vergessen, daß ihr dieses Zugeständnis ebenso gut eurem Direktor, als mir verdankt. Wenn er streng auf Ordnung hält, so geschieht das einzig und allein zum Heil der Arbeit, die ohne sie nicht gedeiht, aber niemand sorgt treuer für euer Wohlergehen, als dieser vortreffliche Mann . . .«

»Herr Cardez lebe hoch! Hoch! Hoch!«

Graff lächelte wehmütig.

»Ihr seid doch rechte Kinder! Gestern wolltet ihr ihn aufhängen, mich übrigens auch, und heute bringt ihr ein Hoch auf ihn aus! Eure heutige Meinung ist aber die richtige und ich bitte euch, der heutigen Erlebnisse eingedenk zu bleiben! Wenn ihr irgend etwas von uns verlangen wollt, so bedrohet uns nicht vorher mit Tod und Galgen! Jetzt geht ruhig nach Hause und morgen früh – an die Arbeit.«

Unter achtungsvollem Schweigen verlief sich die Menge, mit gewohnter Unbeständigkeit den segnend, den sie gestern verflucht hatte. Rein ihren Instinkten gehorchend, die gut und großmütig waren, wenn man sie sich frei entwickeln ließ, priesen sich die Leute glücklich, daß alles »so gut abgelaufen« sei, und waren seelenvergnügt, die Arbeit wieder aufnehmen zu dürfen, die sie gestern als »menschenunwürdig« geschmäht hatten.



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