Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
In das Häuschen, wo Maubrun sich mit zuversichtlichen, zärtlichen Worten von Hortense verabschiedet hatte, war er nun als Leiche gebracht worden. Seine beiden Freunde, Maxime von Berlier und Moritz Didelod, hielten die Totenwache. Die Angehörigen des Ermordeten, die man benachrichtigt hatte, waren noch nicht eingetroffen. In der Stadt hatte die sich rasch verbreitende Nachricht von dem Morde die größte Bestürzung hervorgerufen. Sämtliche Truppen waren in die Kasernen konsigniert worden, und auch den Offizieren hatte man das Ausgehen in Uniform verboten. Die Behörden befürchteten einen Zusammenstoß zwischen dem Militär und den Ausständigen, denn die Soldaten waren über den Steinhagel, den sie am Tage zuvor über sich hatten ergehen lassen müssen, ohne ihn erwidern zu dürfen, derart erbittert, daß das geringste Schmähwort ohne Zweifel mit dem Säbel beantwortet worden wäre. Deshalb mußte ein Zusammentreffen, dessen Folgen unübersehbar gewesen wären, um jeden Preis vermieden werden. Schweigend würgte der General seinen Zorn hinunter.
Die Antimilitaristen triumphierten, und der Lehrer Grangel erging sich öffentlich in leidenschaftlichen, tönenden Phrasen, die zur Folge hatten, daß er auf die Unterpräfektur gerufen wurde. Der Unterpräfekt Crânet, ein Anhänger von Didelod und dessen Politik, überwachte die Umtriebe des Lehrers aufs genaueste. Da Grangel indes bisher stets ehrerbietig gegen den Vertreter der Regierung gewesen war und diesem bei allen öffentlichen Feierlichkeiten sogar Zeichen höchster Hochachtung entgegengebracht hatte, so glaubte er, den Lehrer bewegen zu können, seine Propaganda sofort einzustellen. Um ihm jedoch den Abstand klar zu machen, der zwischen einem Schulmeister und dem Vertreter der Zivilbehörde besteht, ließ er ihn eine ganze Weile warten. Endlich empfing er ihn stehend, ans Kamin seiner Kanzlei gelehnt, und auf einen Stuhl neben dem Schreibtisch deutend, sagte er mit gerunzelter Stirne: »Herr Grangel, ich bin sehr unzufrieden mit Ihnen.«
Der Lehrer warf über seine Brille hinweg einen höhnischen Blick auf den Unterpräfekten und fragte mit seiner kreischenden Stimme: »Wodurch habe ich das Unglück gehabt, Ihr Mißfallen zu erregen?«
»Sie reden zu viel und bringen mich dadurch in Mißhelligkeiten mit der Militärbehörde. Herr Didelod beschwert sich, daß Sie die Leute zum Streik aufreizen. Dies alles aber ist nicht Ihres Amtes, das lediglich darin besteht, die Jugend zu unterrichten.«
»Verzeihen Sie, Herr Präfekt,« unterbrach ihn Grangel, »ich bin nicht nur Lehrer, sondern auch Bürger und habe das Recht, außerhalb der Schule eine eigene Meinung zu haben und sie auch auszusprechen.«
»Es wäre aber besser, Sie blieben neutral, denn Sie büßen von Ihrer Autorität ein, wenn Sie die Ansichten eines Teiles der Bevölkerung bekämpfen. Was bezwecken Sie überhaupt damit?«
»Der guten Sache zum Siege zu verhelfen.«
»Die gute Sache, Herr Grangel, ist für einen Beamten immer die, auf deren Seite die Regierung steht, von der er abhängt. Ich wüßte aber nicht, daß die Regierung unpatriotisch wäre.«
»Ich bin es auch nicht.«
»Und doch greifen Sie das Militär an.«
»Was hat das Militär mit dem Vaterlande zu schaffen?«
»Es ist zu dessen Verteidigung da.«
Ein solch respektswidriger Pfiff entschlüpfte bei diesen Worten den Lippen des Lehrers, daß Crânet das Blut ins Gesicht stieg. Er suchte nach einem scharfen Ausdruck, um den Frechling zu zermalmen, doch Grangel ließ ihm nicht Zeit, einen solchen zu finden, sondern fuhr fort: »Herr Präfekt, ich werde Ihnen die Kränkung nicht antun, zu glauben, daß Sie so denken, wie Sie reden. Sie sind ein viel zu aufgeklärter Mann, als daß Sie nicht auch den notwendigen Unterschied machten zwischen einem wirklich demokratischen Heere, wie wir es brauchen, und dem kapitalistischen Heere, wie wir es haben. Es würde mir leid tun, wenn ich konstatieren müßte, daß Sie einer antiproletarischen Politik huldigen, die bereit ist, rohe Prätorianer gegen edle Arbeiter loszulassen.«
Der Unterpräfekt versuchte, dem Pathos Grangels durch einen Scherz zu begegnen.
»Ich bitte aber doch zu bedenken, daß Ihre edlen Arbeiter nicht arbeiten, da sie ja im Ausstand sind.«
»Sie sind im Ausstand, weil die Arbeitgeber sie durch schlechte Behandlung zum Äußersten getrieben haben.«
»Was? Herr Neumans? Und vollends gar Herr Didelod? Die beschuldigen Sie, die Arbeiter schlecht behandelt zu haben? Das sollen keine guten Arbeitgeber sein?«
»Es gibt überhaupt keine guten Arbeitgeber,« erklärte Grangel finster, »sondern nur Arbeitgeber.«
»Wollen Sie die denn abschaffen? Hören Sie mal, Sie wissen recht gut, daß das unmöglich ist. Jeder Mensch hat doch irgend einen Chef über sich. Ihrer ist der Unterrichtsminister, meiner der Minister des Innern.«
»Sie, Herr Präfekt, mögen vielleicht ein Sklave sein. Ich bin ein freier Mann, der nur eine Autorität anerkennt, die der Vernunft.«
»Nun, Herr Grangel,« entgegnete Crânet, allmählich ärgerlich werdend, »ich möchte Ihnen doch raten, die Autorität Ihres Schulinspektors zu respektieren, denn ein Bericht von ihm würde genügen, Ihnen viel Verdruß zu bereiten.«
»Er soll es doch wagen,« entgegnete der Lehrer. »Ich übernehme es, ihn nach meiner Pfeife tanzen zu lassen, und außer ihm noch viele andre, die sich auf die Wichtigtuer spielen.«
»Was soll das heißen?«
»Das soll heißen, daß ich nicht in meinem Namen allein spreche. Verstehen Sie mich, Bürger Crânet? Ich stehe hier vor Ihnen in einer ganz andern Eigenschaft, als der eines armen Provinzialschulmeisters.«
Zu seiner höchsten Bestürzung sah der »Bürger« Crânet einen ganz neuen, drohenden und spöttischen Grangel vor sich erstehen, der auffallend einem Logenbruder glich. Er sollte nicht lange darüber im Zweifel sein. Der Lehrer fuhr fort: »Bis jetzt hatte ich mir eine günstige Meinung über Sie gebildet. Abgesehen von Ihrer Hingebung für Didelod – allein man muß der menschlichen Schwäche ja stets etwas zu gute halten – schienen Sie mir ein Mann zu sein, auf den man zählen kann. Wollen Sie dieses Vertrauen durch die im höchsten Grade reaktionäre Sprache, die Sie mit mir führen, vernichten? Das gestrige Eingreifen der Truppen in den Streik von Lehrange war höchst bedauerlich. Ohne die Besonnenheit der Arbeiter wären schwere Zwischenfälle unvermeidlich gewesen. Zum Glück haben wir bei den jüngsten Ereignissen einen Zeugen gehabt. Unser Freund Pierre Bouillaud, der Abgeordnete von Mirandol, war nämlich auf der Durchreise bei Didelod, während die Fabrik von den Dragonern überfallen wurde. Und als die Demonstranten dann nach Badonviller kamen, um dort wegen der Gewalttaten der Soldateska eine Kundgebung zu veranstalten, befand er sich in Badonviller. Er hat gestern abend unsrer Komiteesitzung angewohnt und alle unsre Entschlüsse gebilligt. Bouillaud, der mit dem Nachtzuge nach Paris zurückgekehrt ist, weilt zu dieser Stunde auf der Place Beauveau bei dem Manne, den Sie, Bürger Crânet, als Ihren Chef bezeichnen. Er setzt ihm die Lage auseinander, bittet um die Unterstützung der Regierung gegen die freiheitsmörderischen Absichten des Chefs der Lehranger Werke und rüstet sich, uns mit seiner ganzen Macht beizustehen.«
Vor dem bestürzten Unterpräfekten ließ Grangel sich jetzt mit drohender, geringschätziger Miene auf einen Stuhl nieder.
»Meinetwegen können Sie dem Schulinspektor alle diese Dinge erzählen, da Sie sie ja jetzt in ihrem wahren Lichte kennen.«
»Aber,« stammelte Crânet, »jener arme Leutnant, der erschossen worden ist, die verwundeten Dragoner . . .«
»Wenn sie in ihrer Kaserne geblieben wären, hätte ihnen das nicht passieren können.«
»Und die Arbeitsfreiheit . . .«
»Die darf nur für die Arbeiter bestehen, denn die Chefs haben genug andre Hilfsmittel. Wenn der Streik einmal erklärt ist, so haben sämtliche Arbeiter die Verpflichtung, sich ihm anzuschließen. Jede Abtrünnigkeit ist ein Verrat, dem, wenn nötig, mit Gewalt gesteuert werden muß. Es handelt sich hier nicht um eine Spielerei, Bürger Crânet. Der Kampf zwischen den Besitzenden und dem Proletariat ist entbrannt. Die einen müssen die andern umbringen. Umbringen aber kann man jemand nur, wenn man Gewalt anwendet. Zwischen den Arbeitgebern und uns steht hindernd nur die Armee. Sie muß verschwinden.«
»Zum Henker noch einmal, und was soll aus dem Vaterland, aus Frankreich werden, ohne Soldaten, dem in Waffen starrenden Deutschland gegenüber?« rief der Unterpräfekt entrüstet.
»Blumen in den Händen und Friedenshymnen singend, wird Frankreich Deutschland entgegengehen, und die Waffen werden den Händen unsrer fremden Brüder entsinken.«
»Herr Grangel, ich bedaure, Ihnen sagen zu müssen, daß Sie total verrückt sind. Die Deutschen werden euch mit Schnellfeuer empfangen und sich der Champagne und der Bourgogne bemächtigen. Hierauf werden sie Ihre Brüder, die Arbeiter und Sie selbst dazu zwingen, wie Sklaven zu arbeiten, damit ihr, ihr ganz allein, die Steuern für Deutschland aufbringt. Und wenn ihr euch sträubt, dann bekommt ihr Stockprügel! Glauben Sie mir, Herr Grangel, die französische Tyrannei, gegen die Sie sich auflehnen, ist ein milder, liebevoller Zwang im Vergleich zu dem fremden Joch. Hüten Sie sich, die Armee zu vernichten, denn sie ist unsre einzige Schutzwehr!«
»Sie sind von Nationalismus durchseucht, Bürger Crânet.«
»Und Sie sind ein bedauernswürdiger Internationalist, Herr Grangel.«
Stumm schauten die beiden einander einen Augenblick an, dann machte der Unterpräfekt eine verabschiedende Geste und fügte hinzu: »Ich habe Ihnen gesagt, was Sie zu wissen brauchen. Befolgen Sie meine Ratschläge. Ich selbst habe Amtspflichten, die ich unter allen Umständen erfüllen werde.«
»Ich habe Ihre Kriegserklärung zu Protokoll genommen. Leben Sie wohl, Bürger Crânet.«
»Ihr Diener, Herr Grangel.«
Kaum war der Lehrer fort, so meldete der Amtsdiener den Polizeikommissär. Der Unterpräfekt hatte sich von seiner Verblüffung über Grangels Gebahren noch nicht erholt, als der Kommissär eintrat.
»Sie sind wohl dem Lehrer Grangel begegnet?« fragte der Unterpräfekt.
»Ja, und er hat meinen Gruß kaum erwidert. Das wundert mich übrigens nicht, denn er ist ein Mann, der im Begriff ist, die Brücken hinter sich abzubrechen. Bis jetzt hatte er heuchlerischerweise wenigstens noch den Schein gewahrt, jetzt aber reißt sein Fanatismus ihn mit fort, und bald wird er sich wie ein Rasender in die Arme der revolutionären Partei stürzen . . .«
»Das ist bereits geschehen! Er hat mir soeben mit seinen Donnerkeilen gedroht.«
»Ehe vierundzwanzig Stunden verflossen sind, werden Sie die Mittel in der Hand haben, ihn seiner Stelle zu entheben.«
»Was hat er denn vor?«
»All die Tollheiten, die ein armes Schulmeisterhirn wie das seinige auszubrüten vermag, wenn es sich in die albernen Tiraden der großen Herren der Revolution vertieft. Er ist ein Mann, der Guesdes Theorieen, Jaurès' Großsprechereien und Hervés Phantastereien ernst nimmt. Er ist imstande, mit großer Ruhe zu versichern, man müsse die Klasse der Besitzenden vernichten . . .«
»Das hat er mir soeben auseinandergesetzt.«
»Na, sehen Sie wohl?«
»Aber er hat mir auch zu verstehen gegeben, daß er es auf sich nehmen werde, mich nach seiner Pfeife tanzen zu lassen. Wie kommt er nur zu einer solchen Frechheit?«
»Er ist Meister vom Stuhl der Loge zur ›ernsten Freundschaft‹ und als solcher höherstehend als Herr Didelod. Ich bin überzeugt, daß er es war, der dem Großorient die geheimen Personalnotizen über die Offiziere der Garnison verschafft und dem Minister des Innern ungünstige Berichte über Sie zugetragen hat . . .«
»Ah, der Hund! Den muß man über die Klinge springen lassen! Ich werde Herrn Didelod darüber aufklären.«
»Nein, tun Sie das ja nicht! Grangel soll sich nur in seinen eigenen Schlingen fangen. Ich nehme ihn auf mich. Binnen kurzem wird er sich uns gegenüber schon eine Blöße geben . . . Die Arbeiterzusammenrottungen werden immer drohender . . . und er macht gemeinschaftliche Sache mit den Kerls. Der Delegierte Tournemarie steht vollständig unter seinem Einfluß . . .«
»Hat dieser Tournemarie nicht einen Mordversuch auf einen Offizier der Garnison gemacht?«
»Auf den Leutnant Maubrun. Gewiß. Aus den Berichten meiner Agenten geht sogar hervor, daß er, nachdem sein erstes Attentat auf Leutnant Maubrun vor dessen Haus mißlungen war, gestern beim Krawall von Lehrange den tödlichen Revolverschuß auf ihn abgefeuert hat.«
»Ist er in Haft?«
»Vorgestern ist er vom Polizeidiener in mein Bureau gebracht worden, aber seine Genossen haben ihn wieder befreit, während ich nach der Dragonerkaserne gelaufen war, um dort die Zusammenrottung zu zerstreuen. So befindet er sich jetzt noch in Freiheit, denn eine Schlacht müßte man liefern, um ihn festzunehmen. Er gehört zu den ärgsten Heißspornen und Schreihälsen unter den Ausständigen, aber ich werde ihn schon zu fassen kriegen.«
»Und was befürchten Sie für den heutigen Tag?«
»Ich fürchte, daß die Versammlung der Arbeiter von Neumans und Didelod, die demnächst im Festsaal stattfinden soll, ernste Unruhen zur Folge haben wird. Stylb ist hier, und wie Sie wissen, ist er ein professioneller Streikagitator, und zwar ein um so gefährlicherer, als er ebenso skeptisch ist, wie Grangel leidenschaftlich. Dieser Stylb, Sie können sich darauf verlassen, das ist ein schlauer Patron, der im richtigen Moment umsatteln und eines schönen Tages in einem bequemen und einträglichen Ämtchen sitzen wird. So sind diese infamen Kerls, sie beuten schamlos die demagogischen Wünsche aus und betören die Arbeiter mit hochtrabenden Phrasen, die diese armen Teufel bewundernd offenen Mundes anhören. Will man sie aufklären und sagt man von ihrem Lieblingsredner: ›Er führt euch am Narrenseil herum, er beutet euch aus und eure Interessen sind ihm ebenso gleichgültig, wie die Zigarette, die er soeben geraucht hat,‹ so antworten sie mit verzückten Mienen: ›Aber er spricht so schön!‹ Das ist für sie die Hauptsache, die Entschuldigung für alles. Sie sind wirklich die echten Nachkommen jener Gallier, die einen Reisenden auf der Straße nur überfielen, um ihn zu zwingen, ihnen hübsche Geschichten zu erzählen. Er spricht so schön! Schönrednerei, das ist der Köder, womit man das Proletariat anlockt. Durch schöne Worte kann man diese großen Kinder zur Revolution, zum Verbrechen, ja zum Tode führen.«
»Herr Kommissar,« sagte Crânet nach kurzer Pause, »schließlich ist es aber immer noch besser, diese Leute reden, denn wenn sie ihre Kräfte nicht in Worten verpufften, so würden sie handeln, und das wäre noch viel schlimmer.«
»Herr Unterpräfekt, ich glaube trotz allem nicht, daß die Gesellschaft durch einige Schreier, die die öffentliche Aufmerksamkeit an sich reißen, in Gefahr ist, sondern bin im Gegenteil überzeugt, daß man diese Kerls mit etwas Energie leicht im Zaume halten könnte. Ihre Frechheit ist nur eine Folge der Schwäche unsrer Regierung . . .«
»Pst!« machte der Unterpräfekt lächelnd. »Nicht weiter. Wir wollen an unsern Vorgesetzten lieber nicht herumnörgeln.«
»Ja, Sie haben recht. Tun wir auch in dieser Sache unsre Pflicht; das genügt.«
»Ich werde ans Ministerium telephonieren und um Instruktionen bitten.«
»Man wird Ihnen wie immer antworten: Vorsicht und nur keinen Radau! Aber leider Gottes wird es eben nicht von uns abhängen, ob es Radau gibt, denn wir haben ja gerade gegen Gegner anzukämpfen, die alles kurz und klein schlagen wollen, weil es in ihrem Interesse liegt, den Umsturz herbeizuführen.«
»Sobald ich selbst weiß, was geschehen soll,« sagte Crânet, »werde ich Ihnen Verhaltungsmaßregeln zukommen lassen.«
Der Polizeikommissär war im Begriff, sich zu verabschieden, als der Diener Herrn Didelod in Begleitung seines getreuen Gaudin hereinführte.
»Nun, lieber Präfekt, ich komme, um mit Ihnen über das Leichenbegängnis des armen Offiziers zu sprechen . . . Freut mich sehr, daß ich den Herrn Kommissär bei Ihnen treffe. Als Bürgermeister bin ich für das verantwortlich, was bei einer solchen Feier vor sich gehen könnte. Wir müssen alles tun, um einen Krawall zu vermeiden.«
»Und was für Mittel schlagen Sie vor, um das zu erreichen?« fragte der Unterpräfekt.
»Das militärische Zeremoniell muß so viel als möglich eingeschränkt werden. Keine Truppenentfaltung, keine Leichenparade durch die Stadt . . .«
»Aber Sie können die Kameraden dieses jungen Mannes doch unmöglich hindern, ihm die letzte Ehre zu erweisen . . .«
»Ich habe soeben die Familie gebeten, die Leiche nach Paris bringen zu lassen, damit die Beerdigung dort stattfinde.«
»Und Sie glauben, daß sie darauf eingeht?«
»Der Vater, Alexander Maubrun, ist Departementalrentmeister. Sein Minister hat ihn jedenfalls zu sich kommen lassen, um wegen des Begräbnisses einen Druck auf ihn auszuüben. Einem klug angebrachten Vorschlag wird er sich sicherlich nicht widersetzen. Sie begreifen, daß wir uns hier in einer höchst schwierigen Lage befinden. Und dem armen Vater kann es schließlich doch einerlei sein, ob seinem Sohne in seiner Garnison die militärischen Ehren erwiesen worden sind oder nicht.«
»Aber der General, der Oberst! Was werden die dazu sagen? Ihren Kameraden, der ein Opfer seines Berufs geworden ist, nicht einmal auf seinem letzten Gange begleiten zu dürfen . . .«
»Genug solcher Opfer!« rief Didelod, erregt auf und ab gehend. »Ich bin auch ein Opfer. Übrigens wird man den General und den Oberst gar nicht fragen. Soll deshalb Blut in den Straßen unsrer Stadt fließen, weil die Offiziere gerne ihre Eigenliebe befriedigen möchten? Was haben sie davon, wenn man ihnen noch ein paar Mann weiter niederschießt! Nein! Nein! Es darf kein feierlicher Trauerzug in Lehrange stattfinden. Wir haben ohnehin genug hier zu tun. Sprechen wir von etwas anderm. Es ist unerhört, Herr Kommissär, daß die Stadtfeuerwehr nicht erschienen ist, als es gestern in meiner Fabrik brannte. Wie kommt das? Ich habe den Kommandanten heute früh tüchtig vorgenommen, aber er hat mir versichert, er habe keine Feuermeldung erhalten und nichts von dem Brande gewußt . . .«
»Das ist richtig, Herr Bürgermeister. Die telephonischen Feuermelder sind zerstört worden. Die Klingeln haben nicht funktioniert.«
»Wenn es sich darum gehandelt hätte, die Kavallerie auf das Volk zu hetzen, dann hätte es jedenfalls kein Hindernis gegeben!«
»Aber Herr Bürgermeister, von Ihrem Hause ist ein reitender Bote gekommen und hat um militärischen Beistand gebeten . . . Wenn er die Feuerwehr verlangt hätte . . .«
»Hat er das denn nicht getan?«
»Nein, Herr Bürgermeister,« warf Gaudin dazwischen. »Ich selbst habe den Stallknecht, der von Badonviller gekommen war, gesprochen. Es war nur vom Militär die Rede.«
Didelod warf einen Blick höchster Mißbilligung auf Gaudin.
»Und Sie, der Sie doch meine Ansichten kennen, Sie sind auf die Präfektur gelaufen und haben verlangt, daß mir Kavallerie geschickt werde!«
»Aber, Herr Bürgermeister,« rief Gaudin außer sich, »wer weiß, was für Gefahren Ihnen selbst gedroht hätten, wenn die Dragoner nicht gekommen wären; von der Fabrik gar nicht zu reden, die vielleicht ganz niedergebrannt worden wäre! Ihr Personal, Sie selbst – daran war mir vor allem gelegen. Und wenn ich Ihnen irgendwie hätte von Nutzen sein können, wäre ich selbst auch in die Fabrik geeilt!«
»Gut, Gaudin, Sie sind eine treue Seele, das weiß ich wohl. Aber es war ein schlechter Dienst, gegen meine so oft vor Ihnen geäußerten Ansichten zu handeln. Der Freiheit zuliebe muß man auch etwas ertragen können. Man muß seine Gegner anhören, auch wenn man von ihnen bedroht wird. Nichts wird mich in meiner Bürgerpflicht wankend machen. Ich habe gestern den Demonstranten die Stirn geboten und beabsichtige, der Versammlung anzuwohnen, die heute abend stattfindet.«
»Wie?« rief der Unterpräfekt, »Sie wollen diesen Rasenden Trotz bieten?«
»Ja, mein lieber Crânet. Die Leute sollen sehen, wie ein echter, gesinnungstreuer Demokrat handelt. Ich werde mit ihnen diskutieren . . .«
»Man wird Sie nicht anhören.«
»Ich bin an tumultuarische Versammlungen gewöhnt.«
»Diese Kerls sind imstande, sich an Ihnen zu vergreifen.«
»In Lehrange? In meiner Stadt? Das würden sie niemals wagen.«
»Auf diese Weise ist Guise, der ›Benarbte‹, ums Leben gekommen,« entgegnete Crânet mit einem Lächeln.
»Ich bin aber Gott sei Dank nicht der Herzog von Guise! Und Stylb ist vorläufig noch nicht König von Frankreich! Ich werde diese Narren über ihre Rechte und ihre Pflichten aufklären. Und wenn ich mein Leben dabei aufs Spiel setze, so werde ich trotzdem nicht zaudern.«
»Ach, Herr Didelod,« rief Gaudin mit Inbrunst, »wenn doch jene armen Teufel Sie jetzt hören könnten, dann würden sie einsehen, daß Sie der rechte Führer sind, dem sie folgen müssen, und nicht Leute vom Schlage Stylbs . . .«
»Oder Grangels!« warf der Kommissär ein.
»Ah, sehen Sie wohl, Gaudin. Ich habe es Ihnen oft genug gesagt, Ihr Grangel sei ein Schurke. Mit den Volksaufwieglern steckt er unter einer Decke.«
»Herr Didelod, ich bin außer mir darüber. Ein Lehrer, und ein solches Beispiel geben! Aber er meint es wenigstens aufrichtig. Er ist durchdrungen von dem, was er sagt.«
»Und dadurch nur um so gefährlicher. Er träufelt das Gift in die Herzen der Kinder, die die Familienväter ihm anvertrauen müssen, da wir ja die Kongregationsschulen geschlossen haben. Wissen Sie, meine Herren, wenn ich sehe, zu was für einem Resultat unser Kampf um die Verweltlichung der Schulen führt, so frage ich mich, ob wir auch recht daran getan haben, die Unterrichtsfreiheit abzuschaffen.«
»Ja, Herr Didelod, ja!« rief Gaudin. »Das was Sie getan haben, mußte geschehen, aber die Regierung hätte man nicht den Sozialisten ausliefern sollen.«
»Pst, Gaudin! Das sind lauter Freunde von mir!«
»Ach was, Undankbare sind es, denen Sie zum Opfer gefallen sind. Wenn diese Leute Oberwasser bekommen haben, so verdanken sie das nur Ihnen. Was waren diese Leute denn vorher? Die reinen Nullen. Kleine Advokaten aus der Provinz, Landärzte, abgebrannte Journalisten. Sie haben diese Leute unterstützt, sie vorwärts gebracht, ihnen Einkünfte verschafft, und anstatt sich dessen dankbar zu erinnern, werfen diese Kerls sich in die Arme Ihrer schlimmsten Feinde. Nicht die Einrichtungen sind schlecht, sondern die Menschen, die sie respektieren sollten und die statt dessen sie verdrehen.«
»Beruhigen Sie sich, Herr Gaudin,« sagte der Unterpräfekt, »Ihre Hingebung für Herrn Didelod führt Sie zu weit. Wir sind hier, um der Regierung zu gehorchen, nicht, um sie zu kritisieren.«
Es klingelte am Telephon. Crânet, der den Empfänger zur Hand genommen hatte, horchte und gab in ehrerbietigem Tone kurze Antworten. Dann sagte er: »Herr Minister, Herr Didelod befindet sich gerade jetzt in meinem Bureau. Wünschen Sie ihn vielleicht zu sprechen? . . . Herr Bürgermeister, der Ministerpräsident ist am Telephon.«
Er händigte den Empfänger Didelod ein, der sofort die Offensive ergriff: »Didelod hier. Ich hoffe, lieber Freund, Sie geben Befehl, daß diese Dragonaden sich nicht wiederholen! . . . Sind Sie noch da? . . . Wenn Sie Stylb gerne ins Loch stecken möchten, dann nur zu! Er hat meine Arbeiter aufgewiegelt . . . Aber eines Tages, da werden Sie ihn in Paris auf dem Halse haben . . . Sind Sie noch da? . . . Wie? . . . Es wird also keine militärische Leichenfeier in Lehrange stattfinden? . . . Gut. Der Vater hat sich ins Unabänderliche gefügt . . . ein Biedermann! . . . Crânet hält sich brillant in dieser ganzen Sache . . . ich freue mich sehr darüber!«
»Ah, Herr Didelod!« warf der Unterpräfekt hochbeglückt ein.
»Sind Sie noch da? . . . Was den Ausstand betrifft,« fuhr Didelod fort, »so hoffe ich, ohne fremde Hilfe damit fertig zu werden. Wie? . . . Sie glauben, ich täusche mich? . . . Sie werden schon sehen! Jedenfalls darf nicht geschossen werden. Alles lieber als das! . . . Ich werde Sie auf dem laufenden erhalten. Guten Abend.«
Der Abgeordnete hing den Empfänger wieder auf, klingelte ab, und zum Kamin zurückkehrend, wo er sich mit entschlossener Miene niedersetzte, sagte er: »Die Sache ist also abgemacht. Das Militär bleibt in den Kasernen konsigniert. Das Leichenbegängnis des Leutnant Maubrun wird in Paris stattfinden. Der Bruder des Verstorbenen ist heute früh nach Lehrange abgereist und muß bereits im Trauerhaus eingetroffen sein. Ich werde jetzt auf der Stelle zu ihm gehen, um mich mit ihm zu verständigen. Kommen Sie, Gaudin. Mein lieber Unterpräfekt, Herr Kommissär, auf Wiedersehen heute abend.«
Wenn Didelod in der Stadt zu tun hatte, gefiel er sich darin, zu Fuß durch die Straßen zu gehen. Er kannte jedermann, hielt sich hier und dort auf, um mit den unter den Türen stehenden Frauen ein paar Worte zu wechseln und Zweisousstücke unter die Kinder zu verteilen. Seine Popularität war außerordentlich groß, und mit Wonne schwelgte er darin. Sich geliebt zu wissen, war für diesen rechtschaffenen Mann ein Bedürfnis. Als er jedoch an diesem Tage durch die Vorstadt ging, um sich nach der Rue du Potager zu begeben, konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, als hätten sich die Gefühle, die die Bewohner ihm sonst entgegenzubringen pflegten, geändert. Er wurde zwar ebenso häufig, aber kühler gegrüßt. Es war, als laste eine gewisse Unruhe oder ein Bedauern auf den Gemütern. Er redete verschiedene von den Kaufleuten an, fragte sie nach dem Gang ihrer Geschäfte und streichelte die Kinder, die ihre Sousstückchen in die Tasche steckten. Allein unter all den Männern, Frauen und Kindern äußerte niemand die gewohnte herzliche Freude. Sich an Gaudin wendend, machte Didelod eine Bemerkung darüber.
»Sehen Sie nur, die Leute sind mir gegenüber bereits zurückhaltend, und nichts andres ist daran schuld, als jener abscheuliche militärische Eingriff. O, ich muß unbedingt meine Angelegenheiten ohne fremde Einmischung abwickeln können. Mit diesen guten Leuten, die mich seit dreißig Jahren kennen und achten, werde ich am besten allein fertig.«
»Ach, Herr Didelod, die Leute in unsrer Gegend haben sich seit einigen Monaten ganz verwandelt, und die Gemüter sind zur Stunde höchst erregt. Der Ausstand bei Neumans, der anfangs von geringer Bedeutung schien, war in Wirklichkeit nur der erste Vorbote eines sehr ernsten Zustandes, dessen volle Entwicklung wir nun erleben.«
»Wie, Gaudin! Sind Sie jetzt auch unter die Schwarzseher gegangen?«
»Herr Didelod, ich höre Leute reden, deren Stimmen nicht bis zu Ihnen dringen, ich belausche das Geschwätz der Kinder, die häufig das wiederholen, was sie zu Hause hören . . . es ist entsetzlich! Niemand will sich mehr unterordnen. Das Respektsgefühl ist verschwunden. Der Egoismus triumphiert zügellos. Jeder sorgt nur für sich selbst, ohne Rücksicht auf die Schwachen. Alle edlen Gefühle, wie Brüderlichkeit und Großmut, gehen unter. Immerzu wird von sozialer Solidarität geschwatzt, aber jeder beansprucht sie nur für sich selbst, niemand will sich ihr zum Wohle des Nächsten unterordnen. Es herrscht wirklich eine Art moralischen Zerfalls.«
»Sie sehen entschieden gar zu düster.«
»Diese Zustände machen mir den schwersten Kummer, das dürfen Sie glauben, Herr Didelod. Ich erröte über mein Vaterland und habe innigstes Mitleid mit meinen Landsleuten.«
»Woher glauben Sie denn aber, daß diese Gewissenlosigkeit kommt?«
»Es gibt eine Menge Ursachen. Mit an erster Stelle aber möchte ich den Syndikalismus nennen.«
»Sie sind wohl nicht recht bei Sinnen, Gaudin? Die Berufsgenossenschaften? Die bedeutendste Schöpfung der Demokratie!«
»Ja, so bedeutend, daß die Demokratie noch von ihr verschlungen werden wird. Indem sie die leitende Macht in die Hände mehrerer legt, schafft sie eine Oligarchie, die bald unerträglich sein wird. An zweiter Stelle aber kommt der Antiklerikalismus, der die Religion abzuschaffen strebt . . .«
»Donnerwetter, Gaudin! Der Antiklerikalismus ist ja der erste Artikel des radikalistischen Programms.«
»Mag sein. Wozu dann aber der Ausübung des Gottesdienstes Hindernisse in den Weg legen? Der Materialismus schließt jede Moral aus. Die Vorstellung vom Vorhandensein eines Schöpfers gibt dem Geiste eine sichere Basis und läßt sich durch keinen unklaren Humanitätsdusel ersetzen, der höchstens Wohlfahrtsämter zu errichten versteht.«
»Na, Gaudin, was haben Sie sonst noch auszusetzen?« fragte Didelod.
»An dritter Stelle kommt der Antimilitarismus, der eine der gefährlichsten, hirnverbranntesten Ideen ist, die je den menschlichen Geist getrübt haben. Anstatt mit den Leuten, die diese Lehre predigen, so viel Federlesens zu machen, sollte man sie wie gemeingefährliche Übeltäter behandeln und sie nach Guyana schicken, damit sie dort antimilitaristische Propaganda machen. Herr Didelod, rekapitulieren Sie einmal die von mir angeführten Ursachen der allgemeinen Verwirrung, die unser armes Volk dem Verfall und Ruin zuführen, und die, wie mir scheint, leider lauter demokratische Schöpfungen sind. Fügen Sie dann noch den Alkoholismus hinzu, und die Kulturbrühe ist vollständig, mit der Frankreich sich vergiftet, und an der es zu Grunde geht.«
»Reden Sie nur weiter, Gaudin. Es interessiert mich, Sie zu Ende zu hören, denn Sie sind doch ohne Zweifel zu einer Schlußfolgerung gelangt.«
»Ja, Herr Didelod, und sie ist das Ergebnis ernsten Nachdenkens. Schon lange bedrücken mich schwere Sorgen. Der Gang der Dinge befriedigte mich durchaus nicht. Zweifel an der Vortrefflichkeit der demokratischen Reformen stiegen in mir auf. Es heißt, man solle den Baum nach seinen Früchten beurteilen. Seit zehn Jahren schon werde ich den Eindruck nicht los, als seien die Ergebnisse des jetzigen Regimes verhängnisvoll, und die jüngsten Ereignisse haben mir die Augen vollends geöffnet. Frankreich geht seinem Untergang entgegen. Aber nicht die Demokraten sind es, die es einer Katastrophe zutreiben – das eben war mein Irrtum – sondern die Demagogen. Und der Syndikalismus ist die schönste Form der Demagogie, die man bis jetzt kennt. Alle Mängel des Systems sind demagogischer Art. Die Wahlumtriebe, die das Land ruinieren und in Verruf bringen, sind eine der Folgen davon. Die Demagogie muß man also angreifen, und es ist höchste Zeit, endlich damit anzufangen.«
Didelod hatte Gaudin weder mit einem Zeichen des Widerspruchs noch der Billigung angehört. Schweigend, mit gesenktem Kopf, wie niedergedrückt von der Schwere seiner Gedanken, ging er noch immer auf und ab. Dann schlug er plötzlich die Hände zusammen und sagte, wie mit sich selbst redend: »Schon Gambetta hat die Entwicklung der Demagogie vorausgesehen. Vielleicht wäre er, wenn er lange gelebt hätte, der Mann gewesen, ihr Einhalt zu tun. Sollten am Ende die Plebisziten recht haben mit ihrer Verfassung nach Art der Amerikaner? Doch nein, nein. Die Diktatur und wahrscheinlich der Cäsarismus wäre die Folge. Und doch läßt es sich nicht mehr leugnen, vorausgesetzt, daß man kein Blinder, kein Narr und kein Schurke ist – wir gehen dem Abgrund zu. Die schroffe Vertreibung der Ordensschwestern und Ordensbrüder war eine Albernheit, die Trennung von Kirche und Staat ohne Mitwirkung des Papsttums ein politischer Fehler, dessen Folgen unberechenbar sind. Eine Abrüstung Frankreichs würde uns über kurz oder lang den Deutschen oder den Kollektivisten ausliefern. Und die Regierung, von der man wahrhaftig glauben könnte, sie sei wahnsinnig geworden, hat dies alles selbst ins Werk gesetzt. Ohne Zweifel mißbilligt weitaus die Majorität der Bürger diese Handlungen, findet sie sogar abscheulich, aber aus Schlappheit läßt man der Sache ihren Lauf. Eine Minderheit trägt also die Verantwortung für die sich vorbereitenden schweren Mißgeschicke. Das, was eine Handvoll Agitatoren im Begriff ist, in meiner Fabrik gegen mich zu unternehmen, das unternimmt eine Bande Fanatiker gegen das ganze Frankreich. Und diese Bande Fanatiker zählt mich noch in dieser Stunde zu ihren treuesten Anhängern! Wird man denn erst durch die Flammen des eigenen Hauses erleuchtet und begreift man die Gefahr, die dem Vaterland droht, erst dann, wenn man durch eine persönliche Gefahr darauf aufmerksam gemacht wird?«
»Herr Didelod,« warf Gaudin ein, den das, was er vernahm und noch mehr die heftige Erregung, die das Gesicht seines Vorgesetzten in diesem Augenblick ausdrückte, erschreckte, »Herr Didelod, ziehen Sie keine zu schroffen Schlüsse aus dem, was ich zu sagen die Kühnheit hatte. Ich übertreibe vielleicht, oder täusche mich sogar.«
»Nein, mein lieber Gaudin, Sie täuschen sich nicht. Mit Ihrem klaren und durchaus ehrlichen Urteil haben Sie das Rechte erkannt und sich dann nicht gescheut, offen mit mir zu reden, auf die Gefahr hin, mein Mißfallen zu erregen. Das weiß ich vor allem zu schätzen. Aber lassen wir dieses Thema jetzt ruhen. Ich will gründlich darüber nachdenken. Die Lage ist ernst, und ich werde nicht zögern, sie mit all ihren Konsequenzen anzufassen.«
Mittlerweile waren die beiden vor dem Hause in der Rue du Potager angelangt. Sie gingen in den Garten und betraten den Flur, wo sie mit dem Leutnant von Berlier und Moritz Didelod zusammentrafen.
»Ah, Papa, du kommst zu dem armen Jungen, der bei unsrer Verteidigung den Tod gefunden hat!«
Didelod errötete, als er hörte, daß sein Sohn diesen Besuch, zu dem ihn doch nur eine recht bedauernswürdige Berechnung veranlaßt hatte, einer Regung der Dankbarkeit zuschrieb. Er reichte Maxime von Berlier, der bescheiden im Hintergrund geblieben war, die Hand.
»Seien Sie versichert,« sagte der junge Mann, »daß wir alle an den vielen Widerwärtigkeiten, die Sie gehabt, den wärmsten Anteil genommen haben.«
Wohlwollend schaute der Abgeordnete den jungen Offizier an.
»Ich danke dir, Maxime; du bist ein guter Junge, das weiß ich . . . Keinem von uns bleiben schwere Stunden erspart . . . Ist schon jemand von der Familie angekommen?«
»Nein. Aber Maubruns Bruder hat eine Depesche geschickt. Er wird heute abend in Lehrange eintreffen.«
»Kann man ins Sterbezimmer gehen?«
»Ja, lieber Vater.«
Moritz öffnete eine Türe, und auf einem Feldbett sah Didelod den Leutnant Maubrun in seinem letzten Schlafe liegen. Zu Füßen des Bettes stand sein Bursche Chauvin, und daneben saß mit gesenktem Kopfe, wie in Gebet versunken, ein schwarzgekleidetes, junges weibliches Wesen, das sich bei Didelods Erscheinen rasch erhob. Der Bürgermeister trat näher und betrachtete sinnend den schönen jungen Mann, auf dessen starrem Gesicht ein friedlicher Ernst lag. Er neigte den Kopf, und bewegter, als er es sich anmerken lassen wollte, verließ er das Zimmer. Im Flur fragte er seinen Sohn: »Wer ist denn das Mädchen, das bei unserm Kommen aufstand?«
»Die Freundin des armen Maubrun, ein junges Ding, das ihn sehr geliebt hat, und deren Schmerz einem ins Herz schneidet. Sie hat uns gebeten, bis zur Ankunft der Verwandten hier bleiben zu dürfen, und wir haben ihr das gerne erlaubt. Sie betet und weint.«
»Wohl eine Arbeiterin aus der Stadt?«
»Ja. Unter uns gesagt, und weil es vielleicht von Nutzen ist, wenn du es weißt – es ist Tournemaries älteste Tochter.«
»Donnerwetter!« rief Didelod. »Dieser Tournemarie hat ja schon einmal einen Mordversuch gegen den Leutnant Maubrun gemacht, und . . .«
»Und du meinst, es sei nicht ausgeschlossen, daß er es war, der den armen Jungen gestern erschossen hat? Hortense Tournemarie hegt diesen Verdacht auch, und er verdoppelt ihren Schmerz.«
»Das arme Kind! Bitte sie doch, einen Augenblick herauszukommen. Ich möchte gerne ein paar Worte mit ihr reden.«
Maxime von Berlier öffnete noch einmal die Türe und winkte Hortense, die sofort aufstand und herauskam.
»Liebes Fräulein,« sagte Didelod zu ihr, »mein Sohn hat mir soeben von Ihrem großen Kummer erzählt. Seien Sie versichert, es würde mich beglücken, wenn ich etwas zu dessen Linderung beitragen könnte. Haben Sie irgend ein Anliegen, so wenden Sie sich ohne Scheu an mich. Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung.«
»Es ist sehr freundlich von Ihnen, Herr Didelod, und Ihre Güte rührt mich tief. Aber ich habe keinen Wunsch mehr, da ich den Mann verloren habe, der mein alles gewesen ist. Und doch, wenn Sie mich vor den Nachforschungen meines Vaters schützen könnten, so wäre das eine große Wohltat für mich.«
»Sind Sie noch minderjährig?«
»Ja.«
»Teufel! Das ist eine heikle Sache, die Sie da von mir verlangen, denn Ihr Vater hat unumschränkte Macht über Sie und kann Sie zwingen, zu ihm zurückzukehren, besonders, wenn Ihre Anwesenheit hier festgestellt wird. Ich will ja ganz gewiß nicht den Sittenprediger machen, aber es ist kein Zweifel, daß Ihr Platz nicht in diesem Hause ist, obwohl ein mitfühlendes Herz das ganz natürlich findet . . . Wahrscheinlich liegt Ihnen aber vor allem daran, gerade jetzt mit Ihrem Vater nicht in Berührung zu kommen.«
»Jetzt und immer. Ich hoffe, ihn niemals wiederzusehen. Lieber sterben möchte ich, als mit ihm zusammentreffen.«
»Na, na, liebes Kind, Sie müssen ein bißchen vernünftig sein und Maß halten. Ihr Vater hat allen Grund, sich über Sie zu beklagen . . . aber ich begreife, daß Sie ihn jetzt nicht sehen wollen. Nun also. Kommen Sie heute abend zu mir nach Badonviller. Ich werde Sie so lange in meinem Hause beherbergen, bis Sie einen Entschluß gefaßt haben. Den Leuten sagt man, Sie arbeiteten für Frau Didelod. Gegen dieses Auskunftsmittel wird wohl niemand etwas einzuwenden haben. Später werden wir weiter sehen. Sind Sie damit einverstanden?«
»Ja, Herr Didelod, und ich danke Ihnen herzlich . . . Aber solange mein armer Eduard hier ist, bleibe ich bei ihm.«
»Wahrscheinlich wird er morgen früh von seinem Bruder nach Paris gebracht werden.«
»Wie! Das Leichenbegängnis findet nicht in Lehrange statt?« fragte Moritz erregt.
»Nein. Bei der Gemütsverfassung, in der die Bevölkerung sich jetzt befindet, wünscht die Familie, daß ein solch aufsehenerregender Vorgang unterbleibe.«
»So dürfen wir also ihm, der es so sehr verdient hat, nicht einmal die letzten Ehren erweisen?« rief Maxime von Berlier.
»In Paris so viel ihr wollt, lieber Freund, aber hier in Lehrange wollen wir das Feuer nicht schüren. Es ist genug an einem Opfer. Sorgen wir dafür, daß es bei diesem einen bleibt.«
»Dann werde ich die Familie um die Erlaubnis bitten, ihn nach Paris zu begleiten,« sagte das junge Mädchen leise. »Es werden wenig Tränen an seinem Grabe fließen, wie ich jetzt sehe, da soll er wenigstens nicht um die meinigen kommen.«
Damit ging sie ins Sterbezimmer zurück, während Didelod tief bewegt in den Garten hinaustrat, wohin ihm die beiden jungen Leute schweigend folgten. Dort trafen sie Gaudin, der geduldig auf seinen Herrn gewartet hatte. Moritz beiseite nehmend, sagte der Lehrer: »Herr Didelod, ich meine, Sie sollten Ihren Herrn Vater nach Badonviller begleiten, denn er ist furchtbar angegriffen, viel mehr, als er es sich anmerken läßt. Heute abend will er, wie er mir sagte, der Streikversammlung anwohnen, und ich möchte nicht gern, daß er allein hingeht.«
»Ich werde ihn begleiten, Gaudin, Sie dürfen sich darauf verlassen.«
»Ach, Herr Moritz, wir machen traurige Zeiten durch!« sagte der Lehrer. »Ihr Herr Vater hat es wahrhaftig nicht verdient, so abscheulich behandelt zu werden.«
»Wenn die Anarchie in einem Lande herrscht, Gaudin, dann darf man keine Gerechtigkeit mehr erwarten. Für meinen Vater ist diese Erfahrung, so schmerzlich sie auch sein mag, ganz heilsam. Nun wird er seine Augen wieder dem Lichte öffnen und erkennen, wo die Wahrheit ist.«
»Ach, Herr Moritz,« rief der Lehrer, »Sie sind doch ein arger Reaktionär!«
»Na, jedenfalls schwärme ich für Zucht und Ordnung. Ich kann es nicht billigen, daß Ignoranten am Ruder sind und daß Schurken herrschen. Würden Sie es richtig finden, wenn die kleinen Bengel in Ihrer Schule sich anmaßen wollten, Sie zu belehren? Genau so geht es meinem Vater bei seinen Arbeitern. Mit ihm verglichen sind die Arbeiter dumme Jungen, und doch wollen sie ihn schulmeistern, weil sie in der Überzahl sind. Na, und mein Vater ist drauf und dran, das ganz natürlich zu finden. Deshalb muß er ernstlich mit diesen Leuten zusammenprallen, seine gesunde Vernunft muß sich infolge der Abgeschmacktheit ihrer Forderungen auflehnen, damit er nicht wie bisher nur mit dem Herzen, sondern auch mit dem Verstand wieder einer der Unsrigen wird. Ich habe es, weiß Gott, satt, Gaudin, in Unfrieden mit meinem Vater zu leben, an dem ich doch so sehr hänge und den ich hoch verehre.«
»Herr Moritz, diese Art Unfrieden herrscht ja leider in allen Familien. Die Söhne denken nicht mehr wie die Väter . . . und daran geht Frankreich noch zu Grunde.«
»Frankreich kann nicht zu Grunde gehen, weil es die wahre Heimat des menschlichen Geistes ist. Wir werden es trotz allem von den Marktschreiern befreien, die es hintergehen, und von den Schmarotzern, die es ausbeuten. Danach wird es dem Fortschritt von neuem zustreben.«
»Wenn Sie doch recht hätten!«
»Aber wissen Sie, Gaudin, ganz von selbst geht das schwerlich. Wahrscheinlich wird es tüchtige Püffe absetzen, und es ist, bei Gott, hohe Zeit, daß nicht immer die gleichen Leute sie bekommen.«
Didelod, der dem Leutnant von Berlier zum Abschied die Hand drückte, unterbrach nun das Gespräch, indem er auf seinen Sohn zukam und sagte: »Begleitest du mich nach dem Rathaus? Dort wartet nämlich mein Wagen; wir könnten dann zusammen nach Hause fahren.«
»Gewiß, Papa. In einer Viertelstunde werde ich dort sein. Ich habe noch einige Kleinigkeiten hier mit Maxime zu erledigen. Gehe, bitte, mit Herrn Gaudin voraus und warte auf mich. Bitte, verlassen Sie Papa nicht, Gaudin.«
»Was sollte mir wohl hier in Lehrange zustoßen?«
»Wahrscheinlich nichts. Aber es ist mir doch lieber, dich nicht allein zu wissen.«
»Dann also auf Wiedersehen!«
Didelod entfernte sich mit Gaudin, und als sie sich draußen auf der Straße befanden, sagte der erstere etwas bewegt: »Ein guter Junge, dieser Moritz! Wenn er nur endlich mehr Ernst zeigen wollte! Sowohl in geschäftlicher als auch in politischer Hinsicht könnte er sich eine wunderschöne Zukunft schaffen!« Allein den Kopf schüttelnd, fügte er hinzu: »Allerdings, wenn es so fortgeht mit der Politik, dann werden auch die Geschäfte bald darniederliegen!«