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Mit Boissise waren seit jenem Tage, wo die Großmutter sich dort angesiedelt hatte, um dem Enkel während seiner militärischen Laufbahn nahe zu bleiben, große Veränderungen vorgegangen. Um das von Pierre Hérault mit ungeheurem Luxus restaurierte Schloß breitete sich ein etwa tausend Hektar umfassender Park aus. Ein inmitten von Wiesen künstlich angelegter See erstreckte sich bis zu den ersten Bäumen des Waldes, auf der höchsten Spitze eines Vorgebirges, das in den See hineinragte, erhob sich, von Grün umkränzt, die weiße Säulenreihe eines kleinen Tempels. Die Alleen des Parkes bildeten lauschige grüne Gewölbe, welche des Abends von Gaskandelabern erleuchtet waren, die aus den in den Wirtschaftsgebäuden liegenden Gasometern gespeist wurden. Ueberall war die Kunst der Natur zu Hilfe gekommen. Vor der Hauptfront lag ein in französischem Stil gehaltener Garten; in der Mitte jedes Vierecks lag ein Blumenbeet, in Form eines üppigen Blumenkorbes, dessen Henkel ein aus Eisendraht gebildeter, mit Kletterrosen dicht umrankter Bogen bildete. An jeder Ecke stand eine vier Meter hohe Pyramide, die geschickt aus zweitausend übereinander gestellten blühenden Geranien gebildet war. In den übrigen Beeten standen seltene Azaleen, deren Verschiedenfarbigkeit ein wahrer Triumph der Gärtnerei war. Die neuerbauten Ställe konnten zwanzig Pferde für die Parforcejagden aufnehmen, und in der Fasanerie wurde das Wild für die Herbstjagden herangezogen.
Dieses prachtvolle Besitztum war nach dem Tode Pierre Héraults kaum bewohnt worden. Dennoch hatte man das Personal nicht vermindert und jedes Frühjahr brachten die Gärtner den Park wieder in Ordnung, schmückten die Beete mit Blumen, schnitten und begossen den Rasen ganze Tage lang mittels kunstreicher Bewässerungsvorrichtungen. Jedes Jahr setzten die Wächter und Züchter für die Jagd so und so viel Rebhühner, Wachteln und Fasanen in Freiheit. Kurz, alles war für die Aufnahme der Herrschaft bereit, die sich aber in Boissise nicht sehen ließ. Höchstens kam Louis beim Beginn der Jagdsaison auf acht Tage mit Freunden dorthin, um einige hundert Stück Wild zu schießen; bald darauf verschwand er wieder, und man sah ihn das ganze Jahr nicht mehr.
Der Aufenthalt in diesem großen Schlosse allein mit der guten Frau Hérault wäre ihm höchst unerquicklich gewesen. Auch konnte ihn die Nachbarschaft Lereboulleys, der zwei Monate im Sommer auf seinem Landgute zubrachte, nicht reizen. Er hatte nicht wie der Senator ein politisches Interesse für das Eure-Departement, welches diesen dort während ganzer Wochen beschäftigen und zurückhalten konnte.
Sobald er aber Fräulein von Graville dort erblickte, erschien ihm Boissise wie verwandelt, er entdeckte plötzlich am Landleben Reize, die er bis dahin nicht geahnt; was er sonst öde und einsam gefunden, wußte er nun mit lieblichen Zukunftsbildern und Träumen zu erfüllen, und von jener qualvollen Langeweile war überhaupt gar nicht mehr die Rede. In Gesellschaft des jungen Mädchens besuchte er die Blumen- und Gemüsegärten sowie die Vorwerke und hatte für alles, was ihn bis dahin vollständig gleichgültig gelassen hatte, warmes Interesse. Helenes vielseitiges Wissen setzte ihn in Erstaunen; bis zum sechzehnten Jahre auf dem Lande erzogen, kannte sie alle Geheimnisse der Viehzucht und des Landbaues. In den Augen dieses Parisers, der ein Weizenfeld kaum von einem Haferfeld zu unterscheiden vermochte, war sie ein wahres Wunder. Ganz begeistert sagte er zu Frau Hérault: »Fräulein von Graville weiß wirklich alles!« Und die alte Dame stellte diesen kühnen Satz keineswegs in Abrede, war sie doch ebenfalls nahe daran, in dem jungen Mädchen den Inbegriff aller Vollkommenheit zu sehen. Durch die Begeisterung ihres Enkels mit fortgerissen, schloß sie sich gern den jungen Leuten an und führte sie in ihren Treibhäusern herum. Nun geschah es aber, daß Louis an den Erklärungen der Großmutter ganz und gar keinen Geschmack fand; er kam zur Einsicht, daß Gartenbau und höhere Blumenkultur an und für sich keine sonderlich interessanten Gegenstände seien, es aber werden können, sobald sie von gewissen Lippen gelehrt werden. Hatte er doch gestern ein ganz ungemeines Vergnügen daran gefunden, einfache Levkoyen hinter dem Wirtschaftsgebäude in Augenschein zu nehmen, während er sich heute angesichts der herrlichsten Orchideen, von denen ein Exemplar seine zweitausend Franken wert war, vor Gähnen beinahe die Kinnlade ausrenkte. Der Schluß, daß seine ganze Freude daran nur auf dem traulichen Verkehr mit Helene beruhe, und daß Spaziergänge wahrhaft angenehm nur dann seien, wenn man sie zu zweien mache, lag nahe. Wenn auch die Großmutter nicht gerade genierte, so beging sie doch das unverzeihliche Unrecht, Helene eine gewisse Zurückhaltung aufzuerlegen und sie daran zu verhindern, sich in ihrem ganzen Reiz und ihrer ganzen Natürlichkeit zu zeigen.
Seit sie wieder die frische Waldluft atmete, in der sie ihre ganze Kindheit verlebt, war Fräulein von Graville äußerlich und innerlich vollständig verwandelt. Die Blässe, welche die rastlose Arbeit in der dumpfen Zimmerluft hervorgerufen, war gewichen, Rosen färbten ihre Wangen und ihre Augen glänzten heller. Die strenge Falte um den schön geschnittenen Mund wich einem sonnigen Kinderlächeln und ihre kühle Zurückhaltung hatte sich in mitteilende Fröhlichkeit gelöst, sie war glückselig und durch ihr strahlendes Glück nur noch anziehender. Erstaunt und entzückt beobachteten Frau Hérault und Louis das Sich-Erschließen dieser jungen Menschenblüte, und der alten Großmutter gewährte es eine wahrhaft mütterliche Befriedigung, ihre Gestalt sich zu immer größerer Grazie und Eleganz entwickeln zu sehen.
Nach einigen Tagen machte Emilie Lereboulley von Evreux aus ihren Besuch in Boissise, und von nun an strich man gemeinsam durch Feld und Wald; die jungen Leute frühstückten bei den Ruinen von St. Wulfrand und tummelten sich wie losgelassene Schüler in den stillen grünen Waldeshallen. An einem Grabenrand, am Fuß einer großen Eiche, durch deren Zweige das Sonnengold drang, konnte Louis ganze Stunden lang sitzen, in Helenes Anblick versunken. Er fühlte dann eine Lust, sich ihr zu Füßen zu werfen und ihr zu sagen: »Ich bete dich an, sei mein! Unser Leben soll der Inbegriff alles Glückes und aller Liebe sein!« Aber er fürchtete sich, zu sprechen; teils war es die Unentschlossenheit seiner Natur, teils eine geheime Besorgnis, die Harmonie dieses glücklichen Zustandes zu stören, was ihn immer wieder von diesem Geständnis zurückhielt. Er sagte sich: Wozu? Ich habe ja noch immer Zeit; könnte ich denn glücklicher sein, wenn sie meine Frau wäre? Welch größeres Glück könnte sie mir denn überhaupt noch bereiten? Zum erstenmal, seitdem er sein Herz schlagen fühlte, war seine Liebe frei von Begehrlichkeit.
Fräulein von Graville behandelte Louis mit schwesterlicher Unbefangenheit, in der sich vielleicht eine gewisse freiwillige Unterordnung fühlbar machte, hervorgehend aus der Dankbarkeit dieser feinfühligen Seele für den Enkel der Frau, die sie aller Sorgen enthoben hatte. In ihrer Empfindung für ihn waren jene herrlichen Träumereien von ehedem und die Wirklichkeit merkwürdig verschmolzen, er war ihr immer noch der blasse, schmächtige Jüngling, den sie mit tiefem Mitgefühl von ihrem Fenster aus beobachtet hatte, und der Eindruck, den sie damals von seinem Wesen empfangen, hatte sich nur bestätigt. Er war eine durch und durch schwache Natur, die sich leicht beherrschen ließ, die aber jeder Energieäußerung fähig war, sobald sie sich unterstützt fühlte. Obgleich er ein Mann geworden, war er ein Kind geblieben, das eines Führers für sein Leben bedurfte, um nicht eine Beute der Schlauen und Bösen zu werden.
Sie hatte allmählich durch vielfache Gespräche Kenntnis davon erhalten, welch eine bedeutende industrielle Macht in diese schwachen Hände gelegt war, und mit Unmut sah sie, welch ungenügender Gebrauch davon gemacht wurde. O, wenn sie Mann gewesen wäre und über ein solches Werk zu wachen gehabt hätte, mit welcher Hingebung würde sie nicht ihre Geisteskräfte in den Dienst desselben gestellt haben! Sie äußerte das zuweilen in Louis' Gegenwart, doch mit einer gewissen Schonung, um ihn nicht zu verletzen; sie versuchte, ihn anzustacheln, ihn zu treiben, um zu sehen, ob er nicht doch in einem enthusiastischen Anfluge sich zur That aufraffen könnte. Sie sagte ihm: »Die erste Tugend eines Mannes ist die Arbeit! Was ist ein Mann, der nichts leistet?«
Und er antwortete darauf lächelnd: »Ein Mann, der nichts leistet, ist ein solcher, der sein Leben genießt, der durch die Wälder streift, in ihrem Schatten ruht, und der den ganzen Abend mit Ihnen verplaudert, Fräulein Helene, kurz er ist ein glücklicher Mann!«
»Aber ist er auch ein nützlicher Mann?«
»Für sich selbst, außerordentlich!«
»Und genügt das?«
»Je nachdem man es auffaßt – ja.«
»Aber, wenn Sie nun arm wären, Herr Hérault?«
»So würde ich es machen, wie die andern, und mein möglichstes thun, es nicht mehr zu sein. Glücklicherweise aber sind mein Großvater und Vater mir zuvorgekommen.«
»Und Sie . . . vernachlässigen Ihr großes Erbe? . . . ›Jedes Vermögen, welches sich nicht vermehrt, vermindert sich,‹ sagte neulich sehr richtig Herr Lereboulley! . . . Wollen Sie sich denn schließlich zu Grunde richten?«
»O, für mich wird's immer noch ausreichen, meine Lebenszeit wenigstens wird es vorhalten. Ja, wenn ich Erben hätte, wenn ich meinerseits eine Familie gründen wollte, würde ich die Sache vielleicht anders ansehen . . . Für wen soll ich mir den Kopf zerbrechen? Die Arbeit lieben um der Arbeit willen, das ist nun einmal nicht meine Art. Sich für ein teures Wesen, für eine Frau, ein Kind abmühen, das verstehe ich; aber nur um sich Unruhe zu machen, im Wunsch nach Gewinn, nein, dazu habe ich keine Neigung.«
Emilie schloß die Unterredung, ironisch lächelnd, mit den Worten: »Kleiner Hérault, du bist nur ein schwacher Abkömmling deiner großen Vorfahren, und du wirst notwendigerweise auf dem Stroh enden, mein lieber Freund, wenn nicht eine starke Hand dich stützt. Im Grunde genommen ist es ja auch eine sittliche Notwendigkeit, daß der große Haufen Goldes, den du besitzest und den du nicht selbst erworben hast, zu denen zurückkehre, die sich in täglicher Arbeit quälen und abmühen. Werde nicht zornig und schreie nicht über meinen Sozialismus. Es ist nachgewiesen, daß in der Zeit, in der wir leben, die Vermögen nicht länger dauern als drei Generationen. Der Vater gewinnt es, der Sohn erhält es und der Enkel verzehrt es. Du bist der Enkel, Louis Hérault-Gandon, und hast gute Zähne, was du schon damit bewiesen, daß du die Hinterlassenschaft deiner Mutter bereits aufgegessen hast. Der Rest wird denselben Weg gehen, wenn man dir nicht einen besondern Maulkorb anlegt.«
»Danke sehr, was kostet die Lektion?«
»Sie ist gratis, mein Sohn. Profitiere davon, wenn du kannst, was aber nicht wahrscheinlich ist.«
Zuweilen, wenn Louis durch die Redereien der beiden Damen aufs Aeußerste getrieben war, nahm er eine ernste Miene an und sagte: »Gut, ich will euch den Willen thun. Ich gehe morgen nach Paris und in die Fabrik.«
Worauf dann Emilie antwortete: »Thue das lieber nicht, es wird dir dort zu heiß sein, du gehst dann abends in den Klub, verlierst zwanzigtausend Franken im Baccarat und bist morgen doch zum Essen wieder hier. Wozu also die Eisenbahn bereichern.«
Louis lachte und man ging spazieren. Helene war es durchaus nicht recht, daß Emilie Hérault nicht ernst nehmen wollte. Diese Art, ihn immer wie ein großes unselbständiges Kind zu behandeln, verletzte sie. Sie empfand diesen Zweifel an den Fähigkeiten des Enkels ihrer Wohlthäterin als persönliche Beleidigung und sprach sich auch in diesem Sinne bei Frau Hérault darüber aus, wo sie natürlich volle Zustimmung fand, wünschte doch auch die Großmutter nichts so sehnlich, als daß der Erbe des Namens sich endlich zu männlicher That aufraffen und beweisen möchte, daß in seinen Adern das starke Blut seines Geschlechts rolle.
Sie hatte immer gehofft, daß Louis, nachdem er seine Jugend in vollen Zügen genossen, vernünftig werden würde. Die plötzliche Metamorphose der letzten Wochen schien ihr der Beginn einer dauernden Wandlung, aber es wäre gefährlich gewesen, allzuviel auf einmal zu verlangen.
»Liebe Tochter,« pflegte wohl Frau Hérault zu sagen, »siehst du, hier haben wir ihn in der Hand: in Paris bedarf es nur irgend einer schlechten Anregung, und er macht wieder Dummheiten. Nein, wir wollen ihn nicht nach Paris schicken, wo er Freunde hat, die ihm im Klub sein Geld abnehmen, um von andern schlechten Bekanntschaften nicht zu reden. Hier bei uns ist er noch am besten aufgehoben.«
Die alte Frau Hérault sah dann das junge Mädchen bedeutsam an und seufzte, wagte aber nicht, ihren Gedanken Ausdruck zu geben. Im stillen aber hatte sie keinen sehnlicheren Wunsch, als den, daß ihr Enkel sich entschließen möchte, Helene zu heiraten. Was lag daran, daß sie kein Vermögen hatte, ihr klarer Verstand und ihr immer größer werdender Einfluß auf Louis waren mehr wert als jede Mitgift. Es waren das unveräußerliche Güter, deren Zinsen Sicherheit und Glück bedeuteten. Und dann war es doch nur die Tilgung einer vor sechzig Jahren kontrahierten Schuld der Dankbarkeit für ihre Wohlthäter, wenn Helene ein Teil des Héraultschen Vermögens zufiel. Dieser Gedanke ließ die alte Dame gar nicht mehr los; sie schwieg aber gegen ihre beiden Kinder, einerseits um bei Louis seine guten Anläufe ja nicht durch etwaige Erweckung seines Widerspruchsgeistes zu stören, andrerseits um bei Helene nicht eine mädchenhafte Scheu hervorzurufen, und rechnete darauf, daß das enge Beisammenleben auf dem Lande ihren Plänen förderlich sein werde. Um übrigens aus Boissise keine Einsiedelei zu machen, gab man verschiedene Gesellschaften, und mit Hilfe Lereboulleys ging es sogar sehr lustig dabei zu. Die Bewohner der Nachbarschlösser kamen, und die Garnison von Evreux schickte ihre brillantesten Offiziere. Jede Woche kam man mindestens einmal zusammen, und es war von nichts als Gartenfesten, Taubenschießen, Lawn-Tennis und Tanz die Rede.
So kam der Monat August heran und Louis beschloß, an Frau Héraults Geburtstag ein großes Fest zu geben. Auch nach Paris wurden Einladungen geschickt, und die Fremdenzimmer im Schlosse füllten sich zum erstenmal seit Pierre Héraults Zeiten wieder bis zum letzten. Das Programm für den Tag und den Abend war von Louis und Emilie gemeinsam aufgestellt worden: Feuerwerk, zu dem das Gerüst schon am Abend vorher aufgeschlagen wurde, und bal champêtre, in einem Zelt, welches das ganze Rondel des Parkes einnahm. Mit venetianischen Laternen geschmückte Boote sollten das Orchester aufnehmen, dessen Klänge dann vom See her bis zu dem großen Gartensaal herüberdringen sollten, in dem ein Diner die Festlichkeit beschließen würde. Um fünf Uhr, als alles im besten Zuge war, erschien plötzlich Lereboulley, in grauem Beinkleid, weißer Weste und blauem Frack, ein Anzug, der ihm nach dem Ausdruck Emilies unter all den roten Fracks der jungen Leute etwas Lustiges und gleichzeitig Würdiges gab. Nach den ersten unerläßlichen Begrüßungen schritt er über die Wiese, auf der gerade ein Ballspiel im Gange war, auf die Hauptgruppe zu, in der sich Frau Hérault und Helene befanden, und sagte ihnen: »Vielleicht ist es unbescheiden, wenn ich Ihnen einen Gast mitgebracht, auf den Sie nicht gerechnet haben. Falls beim Diner kein Platz für ihn ist, kann man ihn ja mit Emilie an den Katzentisch setzen . . .«
»Wer ist es denn?« fragte die Großmutter, ein wenig erstaunt darüber, daß man mit dem »großen Unbekannten« so kurzen Prozeß machen könne.
»Thauziat,« erwiderte der Senator.
Ein peinliches Schweigen trat ein. Jedes las im Auge des andern seine Empfindungen, und wenn Emilie, Helene und Louis sich seit zwei Monaten täglich über das ausgesprochen hätten, was in ihrem Herzen vorging, so hätte das Einverständnis in diesem Augenblick kein vollkommeneres sein können. Die unerwartete Ankunft Clements war für jedes einzelne ein Gegenstand der Sorge: Louis zitterte bei dem Gedanken, daß sein Freund Helenes wegen zurückkomme; Emilie sagte sich mit bittrem Schmerz, daß Thauziat einen letzten Versuch unternehme, um das Herz Fräulein von Gravilles zu gewinnen, und Helene sah in dem Wiedererscheinen dieses finsteren Gesichtes eine Gefahr für Louis und für ihr eignes Glück. Lereboulley fuhr in seiner Erklärung fort: »Er ist soeben mit dem Expreßzuge angekommen, hat in Evreux einen Mietswagen genommen und trat in mein Kabinett, als ich im Begriff stand, zu euch zu fahren. Ich habe ihn sofort mitbringen wollen, aber er wollte nicht. Er meinte, es sei allzu kühn . . . Als ob er nicht hier gerade ebensogut Kind im Hause wäre, wie bei mir . . . Kurz, ich bin mit dem konventionellen Gesellen dahin übereingekommen, daß, wenn man ihn hier will, ich ihm meinen Wagen schicken werde; wenn nicht, wird er allein essen und sich erst heute abend hier einfinden.«
»Schicken Sie ihm nur schnell Ihren Wagen!« sagte Frau Hérault, »wir rücken die Gedecke ein wenig zusammen, er muß dabei sein.«
Eine leichte Blässe überzog Louis' Gesicht, und sein Blick ruhte mit heißem Flehen auf Helene. Niemals hatte er so ohne alle Zurückhaltung gezeigt, daß er sie liebe, und eine selige Freude erfüllte das Herz des jungen Mädchens. Stolz erhobenen Hauptes, festen Blickes wagte sie ihm zuzulächeln, als ob sie ihm sagen wollte: »Fürchte nichts, ich bin dein, dein allein, und alle kühnen Abenteurer der Welt können mich dir nicht rauben.« Traurig senkte er den Kopf, er kannte Clement und er hatte Furcht, Helene, die Mitleid mit seiner Angst hatte, wendete sich rasch an Emilie.
»Kommst du nicht mit uns nach dem Tanzsaal? Wir wollen uns doch einmal überzeugen, ob die Dekoration so ausgeführt, wie du es angeordnet hast.« Sie nahm den Arm Louis', ohne abzuwarten, daß er ihn ihr anbot, und alle drei durchschritten schweigend die allen so lieb gewordenen, schattigen Alleen und suchten aus der Erinnerung an die verlebten kostbaren, wolkenlosen Tage Kraft zu schöpfen, um dem herannahenden Sturme zu trotzen. Sie wanderten nicht einmal bis zu dem Ballzelt. Jedes von ihnen wußte, daß der Vorschlag Helenes nur ein Vorwand gewesen war, und sie kehrten endlich langsam zurück, weil sie fühlten, daß sie sich dem Feste nicht länger entziehen durften. Der Abend war hereingebrochen und die Salons wurden erleuchtet; sie schritten über die Freitreppe hinauf, traten ein, und der erste Mensch, den sie erblickten, war Thauziat, der im Gespräch mit Frau Hérault vor dem Kamin stand. Er war magerer geworden, was ihn noch größer als sonst erscheinen ließ; seine Wangen waren eingefallen und in seinem dunkeln Haar zeigten sich einzelne Silberfäden. Als er seines Freundes und der jungen Mädchen ansichtig wurde, leuchtete es hell auf in seinen Augen; mit großer Herzlichkeit schritt er auf Louis zu, und sein Händedruck war so warm und brüderlich, daß kein Zweifel an seiner Ehrlichkeit denkbar erschien.
Möglich, daß er gekommen war, um Helene zu erobern, dann aber war er jedenfalls entschlossen, mit offnem Visier um den Preis zu kämpfen, und von seiner Stirn strahlte die Gewißheit des Sieges. Niemals hatte ihn Helene so gesehen, von ihrer ersten Begegnung an war er ihr stets gedrückt und von nervöser Unruhe gequält erschienen. Der Thauziat, der vor ihr stand, war der Held, der überall zu triumphieren gewohnt war, der Mann, bei dem sich ein fürstlicher Anstand, ein glänzender Geist und eine unerreichbare Liebenswürdigkeit vereinten, ihn unwiderstehlich zu machen.
»Ich finde Sie ein wenig verändert,« sagte Emilie, indem sie ihn traurig ansah, »sind Sie vielleicht während Ihrer Abwesenheit krank gewesen?«
»Ja, ich habe schwere Sorgen und ernsten Kummer gehabt,« erwiderte er, »aber das ist jetzt vorbei . . . ich habe jetzt meinen Entschluß gefaßt.«
Sie sahen sich an. Wollte er damit sagen, daß er, nachdem er Helene angebetet, nunmehr entschlossen sei, auf sie zu verzichten? Oder entfaltete er in stolzer Offenheit sein Banner und erklärte in Gegenwart Aller, daß er zum Kampfe bereit? Er hatte sich weder an Helene gewandt, noch hatte er irgend ein Wort gesprochen, das die Situation aufzuklären geeignet gewesen wäre. Er erzählte von seinen Jagden in Kärnten, beschrieb die gewaltigen, Jahrhunderte alten Tannenwälder, schilderte einen Frühanstand auf den Auerhahn, die Verfolgung der Gemsen von Fels zu Fels und gestand, daß er, der verwöhnte Pariser, dem kein Luxus der Großstadt genügt hatte, sich nie so wohl gefühlt, wie während der zwei vollen Wochen, die er in einer aus Zweigen erbauten Hütte auf dem Arlberg zugebracht, wo er zu Gefährten nur zwei Bauern gehabt, die ihm als Treiber dienten, und zur Nahrung nur das Wild, welches er selbst erlegte. Im einsamen Walde und unter den hochragenden, fast unzugänglichen Felsen hatte er fast das Gefühl seiner Individualität verloren, war zur Natur zurückgekehrt, und alle seine Qual war geendet. Phantasie und Sprache eines Dichters standen ihm zu Gebot, als er seine Eindrücke wiedergab, und willenlos gab sich der immer größer gewordene Kreis der Zuhörer dem Zauber dieser Persönlichkeit hin.
Eine Stunde mochte so verflossen sein, in der auch nicht ein Mann sich des Neides auf ihn entschlagen konnte, auch nicht eine Frau ihm den Tribut ihrer Bewunderung versagte. Er war, was er sein wollte: ein Herrscher. Er gab ihr, um derentwillen er allen Glanz seines Geistes entfaltete, den unwiderleglichen Beweis seiner Macht; in dem glühenden Verlangen, geliebt zu werden, zeigte er, daß er dessen würdig war. Bedarf es dazu solcher Prachtentfaltung? Findet eine Frau nicht in ihrem Herzen unerwartete Beweisgründe, die über alle Vernunft obsiegen?
»Mein lieber Clement, Sie sind wirklich einzig!« sagte Frau Hérault entzückt, ohne zu ahnen, daß sie mit diesem Lobe auf ihre eignen Truppen schoß.
Sie überhäufte ihn mit Verbindlichkeiten und Komplimenten bis zu dem Augenblick, wo der Haushofmeister meldete, daß angerichtet sei. Das Diner war unerfreulich und langweilig; der große Tisch erschwerte die Unterhaltung. Zur Rechten Louis' saß die Frau des Präfekten und zur Linken eine alte Dame aus der Umgegend, er gab sich alle Mühe, seine Nachbarinnen zu unterhalten, aber seine Aufmerksamkeit war zwischen Helene, die an der Seite Lereboulleys saß, und Thauziat, der Emilie zur Nachbarin hatte, geteilt. Da die Streitkräfte so zerstreut waren, war ein Gefecht unmöglich. Der Augenblick, wo man vom Tische aufstand, war eine Erlösung für alle. Die Hitze in den Zimmern war unerträglich, während es auf der Terrasse schön kühl war. In wenigen Minuten waren die Salons leer, und alles strömte ins Freie. Einstweilen trafen die nur für den Abend gebetenen Gäste ein, und Louis, der an der Seite seiner Großmutter dieselben empfangen mußte, litt Höllenqualen.
Er sagte sich, daß in der Dämmerung, welche Terrasse, Garten und Park umfing, an diesem köstlichen, blumenduftenden Sommerabend Thauziat freies Spiel habe, und daß Emilies Gegenwart nicht ausreiche, ihn von irgend etwas abzuhalten, was sein abenteuerlustiger Sinn beschlossen. Daß er über die Frauen eine dämonische Macht besaß, hatte er mehr als einmal im Leben erfahren, und so spähte er mit bleichen, verstörten Zügen in die Dunkelheit hinaus. Er lauschte gespannt auf jedes Geräusch, sah aber nichts, als den von der Illumination geröteten Himmel, und hörte nichts, als das Schmettern der Fanfaren und das fröhliche Lachen der Menge. Wo waren sie, was thaten sie, was sagten sie sich? Nach einer Stunde konnte er den Zwang nicht länger ertragen, und Frau Hérault mit sich fortziehend, eilte er in den Park hinab.
Die ersten Raketen zogen ihre Feuerbahnen am Nachthimmel; von Zeit zu Zeit durchblitzten Leuchtkugeln die Finsternis und einzelne Gruppen wurden plötzlich in grellem Lichtschein sichtbar. Mit einem Blick überflog Louis die ganze Terrasse, aber er konnte weder Helene, noch Emilie, noch Thauziat entdecken. Das Herz krampfte sich ihm zusammen, er stand unbeweglich, wagte nicht sie zu suchen, und doch war's ihm, als ob sich in diesen schrecklich martervollen Augenblicken sein Schicksal für alle Zeiten entscheide. Da legte sich eine Hand auf seine Schulter und entriß ihn seiner Erstarrung, Er drehte sich um, Emilie stand vor ihm, bleich und ernst. Ehe er aber seiner Qual mit dem Angstschrei: »Wo sind sie?« Luft machen konnte, hatte sie, seinen Seelenzustand ahnend, mit der Hand nach der Richtung des Parkteiches gezeigt und leise gesagt: »Dort sind sie!«
Er unterschied unter den vielen Gestalten, die sich schattenhaft in dem wechselnden Licht bewegten, bald den alle überragenden Clement und an seiner Seite das weiße Kleid Helenes. Sie hatten sich an das Steingeländer gelehnt.
»Warum bist du nicht bei ihnen geblieben?« fragte Louis.
»Weil ich sie gestört haben würde, wie du sie stören würdest. Sie plaudern, lassen wir sie plaudern!«
Ein brennender Schmerz durchzuckte die Brust Louis'. Thränen stürzten ihm aus den Augen, und er sank auf eine Marmorbank nieder.
»Muß ich denn auf alle Hoffnung verzichten?« murmelte er, »und soll ich sie wirklich verlieren?«
»Wer kann sich rühmen, das Herz einer Frau zu kennen,« sagte Emilie, sich neben ihn setzend. »Helene gehört zu den Frauen, die von ihren Empfindungen nie mehr verraten, als sie für richtig halten, und nur ihrem eignen, freien Entschluß gehorchen. Das Verhängnis will, daß Thauziat sie liebt, sie ist eine der seinen gleichgestimmte Natur. Wenn er sie heiratet, so hat der Zufall in einer Weise, wie es vielleicht nie geschehen ist, noch geschehen wird, zwei Hälften zu einer Einheit gefügt, die man die Ehe nennt.«
Louis ballte die Fäuste und warf den Kopf zornig zurück.
»Du bringst mich außer mir mit deiner Philosophie. Am liebsten möchte ich hinstürzen und Clement beschimpfen, ihn anpacken, schlagen . . .«
»Mit welchem Recht? Kannst du dir anmaßen, verhindern zu wollen, daß Helene ihn liebt?«
»Ich maße mir an, ihn zu töten, wenn sie ihn mir vorzieht.«
»Wenn jedesmal Blut vergossen werden müßte, so oft das Herz eine Täuschung erfährt,« sagte Emilie sanft, »so hätten durch mich schon Ströme desselben fließen müssen, durch mich, die ich immer nur ein Gegenstand des Spottes oder der Geringschätzung gewesen bin!«
»Aber was soll ich thun?«
»Nichts. Du gehörst nicht zu denen, die ihr Schicksal selbst gestalten, sondern zu denen, die sich ihm unterwerfen. Seit einem Monat hast du täglich, stündlich Gelegenheit gehabt, Helene zu sagen, daß du sie liebst. Du hast in den Tag hineingelebt, dich deiner Liebe und ihrer Nähe gefreut, und das hat dir genügt. Ein Nebenbuhler mußte erscheinen, um dir die Gefahr solchen Gleichmutes zu zeigen, und jetzt schreist du, drohst du. Warum? Fräulein von Graville ist frei, sie kann wählen, und du bist doch nicht thöricht genug, zu glauben, daß das wenige, was sie euch dankt, ihr Verpflichtungen auflegt? Durch ihre Anwesenheit in eurem Hause hat sie mehr für euch gethan, als ihr je für sie gethan habt, als ihr sie ihrer Armut entrißt. Mit welchem Recht wirfst du dich zwischen sie und Thauziat? Bist du ihr Bruder oder ihr Verlobter?«
»Du hast gut reden,« sagte Louis zornig, . . . »wenn du liebtest . . .«
»Ich!« rief Emilie, und wie ein Blitz zuckte es in ihren Augen auf, »ich!«
Sie brach in ihr herbes Lachen aus: »Du hast recht, ich liebe nicht. Ich bin verurteilt, nur Freundschaft zu kennen, niemals Liebe. Darum aber empfinde ich um so mehr für meine Freunde, und soweit ich kann, stehe ich ihnen auch mit meinem bißchen Klugheit bei – augenblicklich dir, indem ich dich hier an meiner Seite festhalte . . . Willst du jetzt einen guten Rat? So mische dich in nichts, was auch vorgehen möge. Du könntest nichts dabei gewinnen, laß andre für dich handeln, bleibe ruhig . . . Es gibt Augenblicke im Leben, wo der Weisheit höchstes Maß darin besteht, nichts zu thun . . . Und das liegt in deiner Natur, wenn Helene Clement liebt, wirst du dich trösten.«
»Niemals!«
»Deine Niemals und deine Immer, lieber Freund, dauern gerade eine Woche. Nein, protestiere nicht. Die Leute sind glücklich, die vergessen, elend sind nur die, deren Gedächtnis allzu treu.«
Louis hörte nicht mehr. Er war aufgesprungen und stürzte Helene entgegen, Emilie folgte ihm. Sie hatten gesehen, daß die Unterredung zwischen dem jungen Mädchen und Thauziat zu Ende war; Fräulein von Graville hatte ihm zugenickt, und war dann langsamen Schrittes zu der Terrasse zurückgekehrt. Clement begleitete sie achtungsvoll. Als sie sich Emilie und Louis näherten, bemerkten diese, daß er lächelte, während Helene sehr ernsthaft war.
»Es ist lange her, daß Sie Fräulein von Graville nicht gesehen haben,« sagte Emilie zu Clement, »Sie haben ihr jedenfalls viel zu erzählen gehabt – Ihre Plauderei hat eine gute Stunde gedauert –«
»Eine Stunde?« wiederholte er und sah Helene an, »das hätte ich nicht geglaubt.«
»Es scheint, daß Sie sich interessante Dinge zu sagen hatten,« unterbrach Louis und erbleichte unter dem schmerzlichen Zwange, den er sich auferlegen mußte.
»Sehr interessant,« sagte Helene mit einer Ruhe, die Hérault erschreckte, denn er glaubte darin das Todesurteil seiner Liebe zu erblicken. »Herr von Thauziat erzählte mir von der Heimat, von einigen Personen, die ich früher gekannt habe, und ersuchte mich um eine Auskunft, die ich ihm, wie ich hoffe, werde geben können.«
»Morgen schon,« warf Clement ein.
»Morgen schon,« versicherte Fräulein von Graville.
Sie tauschten einen Blick aus, der das Blut Louis' heiß aufwallen machte. Er hatte die feste Überzeugung, daß man ihn täuschte, und daß die in seiner Gegenwart gewechselten Worte einen Doppelsinn hatten. Es kostete ihn eine übermenschliche Anstrengung, an sich zu halten, seine Schläfen pochten, seine Lippen waren trocken; jeden Augenblick hoffte er, daß ein Wort fallen möchte, das ihm Gelegenheit geben würde, loszuplatzen, seine Wut wie einen Strom zu ergießen. Das Wort wurde nicht gesprochen. Jetzt näherte sich Lereboulley mit Frau Hérault; man hatte verabredet, einen Besuch in dem Zelte zu machen, in dem der »bal champêtre« gefeiert wurde. Die Großmutter nahm den Arm Helenes, auf den sie sich am liebsten stützte, die andern folgten nach Belieben.
Die große Allee von der Terrasse nach dem Rundell war durch Gasbogen taghell beleuchtet. Aufgeschreckt von dem blendenden Licht flatterten die Vögel ängstlich von Zweig zu Zweig, und an der Oberfläche des Wassers folgten gewaltige Karpfen, die glauben mochten, daß der Tag angebrochen, den lichtschimmernden Barken. In dem für das Publikum geöffneten Teile des Parkes bewegten sich Stadt- und Landleute, unter welche sich die aus der Garnison in Urlaub herübergekommenen Soldaten mengten, die mit ihren bunten Uniformen das Ganze zu einem farbenfrohen Bilde gestalteten. In dem Zelte wurde getanzt. Etwa zweihundert Personen drehten sich auf dem geebneten Boden der Waldlichtung, aber es waren nicht mehr die alten, ländlichen Tänze, sondern Polkas und Walzer, wie in der Stadt. Es ging laut und fröhlich her, und doch hatte man das Gefühl, daß der Wunsch, sich irgendwie hervorzuthun und ausgezeichnet zu werden, die guten Leute beherrschte und ihnen alle Unbefangenheit raubte. Der Tischler von Boissise hatte sich emanzipieren wollen, seinen Rock ausgezogen, weil es ihm zu heiß war, und benahm sich ein wenig ungeschlacht. Sofort wurde er von dem Schloßwächter gepackt, und man hörte ihn noch in der Ferne sich mit lauter Stimme verteidigen. Die jungen Mädchen in hellen Kleidern gingen ein wenig geziert und schüchtern gruppenweise umher; das ganze Vergnügen hatte etwas Steifes und nichts von der harmlosen Fröhlichkeit früherer Zeiten. Als Frau Hérault mit ihren Freunden erschien, wurde sie mit lautem Jubel begrüßt, Lereboulley, der nicht zehn Personen in seinem Departement zusammen sehen konnte, ohne eine Rede zu halten, ergriff das Wort und feierte die Familie Hérault. Dann ging er zu einer bescheidenen Lobeserhebung auf die Regierung über, zu deren Hauptstützen bekanntlich er selbst zählte, und wußte es so einzurichten, daß seine Rede mit dem Worte Republik endete. Das Orchester blies Tusch, spielte aber nicht die Marseillaise; denn der Schloßwärter Frau Héraults, ein alter Sergeant der Armee von Metz, hatte den Kapellmeister schon vorher benachrichtigt, daß, wenn er einen Versuch machen wollte, die Musik zum Ausdruck politischer Ansichten zu machen, er ihm unfehlbar die Pauke auf dem Kopfe entzweischlagen würde. Frau Hérault sah ein Weilchen dem Treiben derer zu, für die sie diese Vergnügungen veranstaltet – und kehrte dann etwas müde ins Schloß zurück. In dem großen Salon hatte man ebenfalls zu tanzen angefangen, aber auch hier machte sich ein gewisser Mangel an Freudigkeit und wirklicher Tanzlust geltend, wozu der Umstand, daß die jungen Gastgeber selbst keineswegs in der richtigen Stimmung waren, viel beitragen mochte. Helene walzte zwei- oder dreimal, wie um eine Pflicht zu erfüllen, aber weder mit Thauziat noch mit Louis. Beide hielten sich fern von ihr und forderten sie nicht auf. Trotz der Herrschaft, die sie über sich hatte, war sie sichtbar erregt; sie wich nicht von Emilies Seite, und diese ging mit gewohnter Feinfühligkeit auf sie ein, sprach äußerst wenig und nur von gleichgültigen Dingen.
Es war gegen ein Uhr morgens, als die beiden Mädchen auf die Terrasse vor dem Speisesaal traten. Die Nacht war wunderbar schön, an dem tiefblauen Himmel erglänzten die Sterne, und der hoch stehende Mond versilberte mit seinem bleichen Lichte die Baumgipfel des Parkes. Die Säle waren still und einsam geworden. Nur gedämpft drang noch der Klang der Tanzmusik von dem Zelt herüber, tiefer Friede lag über allem, und das feierliche Schweigen der Natur berührte die beiden Mädchen um so eigentümlicher, als es mit ihrer inneren Erregung in so lebhaftem Gegensatz stand. Helene und Emilie standen eine Weile unbeweglich auf das Eisengeländer gelehnt, blickten hinaus in die Nacht und schwiegen. Dann seufzte Fräulein von Graville tief, und als Emilie sie bleich und bewegt sah, ergriff sie ihre Hand und sagte mit sanfter Stimme: »Hat dir Herr von Thauziat etwas gesagt, was auf deiner Seele lastet?«
»Ja,« erwiderte sie einfach.
»So hat er dir gesagt, daß er dich liebt?«
»Er hat mich gefragt, ob ich seine Frau werden wolle.«
Wiederum trat Schweigen ein. Emilies Herz pochte so furchtbar, daß es ihr war, als müßte es ihre Brust zersprengen. So war er also nun da, der Augenblick, wo alles, was sie an Tapferkeit und Güte besaß, von ihr gefordert wurde. Sie war vollkommen Herr ihrer selbst, konnte klar denken und fand die Qual weniger unerträglich, als sie gefürchtet. Es kam etwas von dem begeisterten Mut einer Märtyrerin über sie, eine brennende Sehnsucht, ihr eignes Selbst ganz hinzugeben und zu opfern, ergriff sie und machte es ihr möglich, ruhig mit anzuhören, daß der, dem ihre ganze Seele zu eigen war, eine andre liebe . . . es zu hören aus dem Munde dieser andern. Ihr Fleisch wollte sich auflehnen, ihr Geist aber schwebte, losgelöst vom Irdischen, rein und hoch über aller Erdenqual, und ein Gefühl seligen Stolzes, sich selbst so groß und edel zu finden, durchbebte ihre Seele, die in dieser Stunde den erhabensten Triumph feierte, über alles Leid, das das Schicksal ihr durch ihre Mißgestalt zugefügt.
»Auch Louis liebt dich,« erwiderte sie. »Er hat es dir nie gesagt, aber du mußt es wissen.«
»Ich weiß es.«
»Und ist es das, was dich ängstigt und in inneren Zwiespalt versetzt?«
»Es ist das erste Mal, daß ich in meinem doch gewiß an schmerzlichen Erfahrungen reichen Leben vor einem so ernsten Entschluß stehe. Gegen Mutlosigkeit und Verzweiflung habe ich mich gewehrt, gegen Armut und Verführungen habe ich gekämpft und bin immer voll Zuversicht und Entschlossenheit gewesen. Aber all diese Fragen haben mich allein und ausschließlich berührt, mein Entschluß ist nie für die Zukunft und das Glück andrer entscheidend gewesen. Solange man nur für sich selbst zu handeln, für sich selbst einzustehen hat, fühlt man sich stark; sobald aber eine Verantwortlichkeit auf uns lastet, sieht man den Weg nicht mehr so klar und sicher vor sich, hat man nicht mehr das kühne Selbstvertrauen. Herr von Thauziat hat mir heute eine Stunde lang von seiner Liebe gesprochen, seit zwei Monaten schenkt Louis Hérault mir Aufmerksamkeit, ohne daß ich ihn je dazu ermutigt hätte. Ich kann mir nicht verhehlen, daß die meisten Frauen es als den höchsten Triumph betrachten würden, von zwei solchen Männern geliebt zu werden; mich ergreift tiefer Schmerz. Die Antwort, die ich geben werde, wird den einen oder den andern mit Bitterkeit und Leid erfüllen, und ich frage mich, ob es nicht besser wäre, das Haus zu verlassen, in das ich nur Unfrieden gebracht.«
»Was würde sich durch dein Fortgehen ändern? Glaubst du, daß Thauziat und Louis dich nicht zu finden wissen würden? Willst du überhaupt nicht heiraten? Dann sind wir gleich im reinen und statt eines Unglücklichen haben wir deren zwei. Wenn du aber kein Gelübde der Ehelosigkeit abgelegt hast, so kannst du nur Thauziats Antrag annehmen, oder Louis zu einer Erklärung ermutigen. Es handelt sich darum, Thauziat zu erhören, der um dich wirbt, oder die Erklärung Louis' abzuwarten.«
Emilie hatte diese Worte schnell hervorgestoßen, als ob sie ihr auf den Lippen brennten. Sie strich mit der Hand über die Stirn und meinte dann spöttisch: »Hast du wirklich Lust, alte Jungfer zu werden?«
»In den Verhältnissen, in denen ich mich bis vor kurzem befunden habe, lag mir der Gedanke an eine Verheiratung sehr fern, aber jetzt liegt nichts vor, was mich von diesem Schritte abhalten würde.«
»Nun dann . . .«
»Emilie, daß ich dir das alles gesagt, war nicht von ungefähr – ich weiß, und habe es soeben aufs neue erfahren, daß Herr Hérault dir vollständig vertraut, und Herrn von Thauziat, der mit deinem Vater eng befreundet ist, kennst du sehr genau. Ich weiß, daß du Anteil an mir nimmst, und glaube, daß du mich ein wenig lieb hast; drum bitte ich dich von Herzen, hilf mir in dieser schwierigen Lage, gib mir einen Rat!«
»Das erwartest du von mir?« sagte Emilie sarkastisch. »Ich soll dir sagen, welchem der beiden Schäfer du den Apfel reichen sollst? Das umgekehrte Urteil des Paris! Und ich, nicht wahr, ich bin die Venus? Ein köstlicher Einfall, das muß ich sagen! Louis oder Thauziat? Thauziat oder Louis? Warum sich lange den Kopf zerbrechen – spielen wir einfach Kopf oder Schrift!« Ihr Lachen, das ziemlich krampfhaft geklungen hatte, ging plötzlich in Schluchzen über.
»Mein Gott, was ist dir?« fragte Fräulein von Graville, erschrocken ihren Arm um Emilie schlingend, die einer Ohnmacht nahe zu sein schien.
»Nichts, mach dir keine Sorgen!« erwiderte das junge Mädchen, alle Hilfe abwehrend. »Ich bin ein närrisches Ding, laß mich einen Augenblick ganz in Ruhe, es wird rasch vorübergehen.«
Mit diesen Worten verbarg sie das Gesicht in ihrem Taschentuch, damit Helene, die starr und erschrocken vor ihr stand, ihre Thränen nicht fließen sehe. Sie weinte bitterlich und hielt sich an dem Eisengeländer fest, um nicht zusammenzubrechen. Nach einigen Minuten hatte sie sich gefaßt, trocknete sich die Augen und wandte das bleiche, aber ruhige Gesicht ihrer Freundin zu.
»Du hast wohl gethan, dich an mich zu wenden, niemand hätte dir ehrlicher und selbstloser raten können. Du kennst Louis, mit dem du nun seit Wochen unter einem Dache lebst, genau, und es gehört auch wahrhaftig keine besondre Menschenkenntnis dazu, ihn zu ergründen – sein Charakter läßt sich so ziemlich vom Blatt lesen. Er ist gut, aber schwach; unfähig, wissentlich jemand weh zu thun, kann er doch durch diese Schwäche eine Frau sehr unglücklich machen. Wird ein günstiger Einfluß auf ihn ausgeübt, so kann er ein guter Mensch werden, einmal auf schlechtem Wege, wird es ihm an moralischer Kraft zur Umkehr fehlen. Er ist und bleibt ein Kind, das der Leitung bedarf und sich vielleicht doch gegen dieselbe auflehnt. Der andre, den du weniger kennst, und dessen Charakter weit weniger leicht zu ergründen ist, bildet in allen Stücken den vollsten Gegensatz zu Louis. An seiner Hand wird eine Frau ohne Gefahr und Kummer durchs Leben gehen können, er wird seine moralische und physische Kraft aufbieten, um der, die er erwählt, ein glückliches und glänzendes Geschick zu bereiten. Hat er einmal gesagt: ›Ich liebe Sie‹ und ihr seine Treue und seinen Namen verpfändet, so wird er ihr treu und ergeben sein bis zum Tode. Er ist ein ganzer Mann und wird so hoch steigen, als er will; für einen Geist wie den seinen gibt es in unsrer entnervten und schwächlichen Gesellschaft keine unübersteigbaren Schranken. Bis heute hat er jedes Ziel, welches er sich gesteckt, erreicht; ich glaube, er vermag alles, außer vielleicht, dich zu zwingen, daß du ihn liebst. Aber höre auf mich, du hast die Wahl zwischen Thauziat und Louis; zaudere keinen Augenblick; nein, begehe nicht die Thorheit, zu zögern! Blindlings, mit geschlossenen Augen, und nur, weil ich es dir sage, reiche Thauziat deine Hand. An seiner Seite wird sich dein Geschick beneidenswert gestalten, er liebt dich, sei nicht so unverständig, ihn zurückzuweisen. Die Liebe eines solchen Mannes ist der höchste Traum jedes Frauenherzens – dir ist sie zu teil geworden, du darfst nur die Hand ausstrecken, und er ist dein, laß ihn deines Lebens Seligkeit sein!«
Mehr und mehr hatte sich Emilies Erregung gesteigert; eine tiefe Röte brannte auf ihren Wangen und ihre Augen leuchteten. Helene hatte ihr unbeweglich zugehört, jedes ihrer Worte erwogen, und als Emilie ihr Louis schwach und wehrlos wie ein Kind geschildert, hatte ein wehmütiges Lächeln ihre Lippen umspielt, während sie bei dem stolzen Bilde, das sie ihr in großen Zügen von Thauziat entworfen, finster das Haupt neigte.
»Ich danke dir,« sagte sie, »ich werde niemals vergessen, welchen Beweis von Freundschaft du mir in dieser Stunde gegeben hast.«
Emilie nickte, ohne ein Wort weiter zu sagen, mit dem Kopfe, kehrte in den Salon zurück, verabschiedete sich von Frau Hérault, drückte Louis die Hand, nahm den Arm ihres Vaters und ging.
Vor einer Stunde schon hatte Thauziat sich entfernt. Nachdem Herr und Fräulein Lereboulley Boissise verlassen, neigte sich das Fest seinem Ende zu, und die Gäste empfahlen sich fast gleichzeitig. Während Louis noch bei der Abfahrt derselben zugegen war, blieb die Großmutter mit Helene im Salon allein.
»Nun, mein Kind,« sagte sie fröhlich, »das war ein schönes Fest. Alles ist prachtvoll gelungen, und es ist mir wirklich nichts zu wünschen übrig geblieben, dank deiner Hilfe.«
»Gar keinen Wunsch hätte unser Großmütterchen mehr?« fragte Helene.
»Keinen, mein liebes Kind, als daß es immer so bliebe wie jetzt. Ich bin sehr alt, und habe vom Leben nicht mehr viel zu erwarten, keine Zukunft mehr vor mir, mit der ich rechnen könnte, und so kann ich all mein Wünschen darin zusammenfassen, daß wir fortleben wie jetzt, daß ich nicht allzu langweilig und lästig für euch werde, und daß schließlich du und Louis mir nahe sein möget, um mir die Augen zu schließen.«
»Warum diesen schönen Tag mit traurigen Gedanken enden?« sagte Helene.
»Es hängt ganz von dir ab, diese Gedanken zu recht frohen zu machen, du kennst meine Herzenswünsche, erfülle sie,« erwiderte die Großmutter. »Seit du bei mir bist, sind alle Sorgen verschwunden, und ist Glück und Frohsinn bei mir eingekehrt. Daß ich dies zum größten Teil dir danke, weiß ich wohl, und es ist ein köstlich Ding, wenn man alt sein kann mit Frieden im Herzen und Ruhe im Geist . . . Versprich mir, daß du bei mir ausharren und mich nicht verlassen willst, wie wenn du wirklich mein Enkelkind wärest.«
Sie hatte das junge Mädchen an sich gezogen und schloß sie in ihre Arme. Helene sah, wie die Thränen über die runzligen Wangen der alten Frau rannen, und das Herz wurde ihr sehr schwer. Frau Héraults erster Besuch in ihrem Dachstüblein und alle seither empfangenen Liebesbeweise standen lebhaft vor ihrer Seele, sie sank auf die Kniee und sagte ernst: »Sie sollen an mir eine Tochter haben, das gelobe ich Ihnen.«
Dann fühlte sie, wie die Lippen der Großmutter sich leise und innig auf ihre Stirn drückten, hörte, wie sie flüsterte: »Ach, wenn das liebe, kleine Ding wollte . . .«
Sie erhob sich rasch, als wollte sie die alte Frau abhalten, ihr Herz noch weiter zu erschließen, und als Louis wieder eintrat, schien sie ihm ruhig und gleichmütig dazustehen.
»Ist alles fort?« fragte sie.
»Alles.«
»Dann wollen wir schlafen gehen. Frau Hérault muß sehr müde sein.«
Sie beschleunigte das Gutenachtsagen, um sich den Fragen Louis' zu entziehen, dessen verzehrende Neugierde sie erriet, und verließ mit der Großmutter den Salon. Der junge Mann folgte Frau Hérault in ihr Zimmer, aber vergeblich hoffte er das Aufbleiben zu verlängern, um eine Gelegenheit zu finden, sein Herz auszuschütten. Fräulein von Graville wußte mit außerordentlicher Geschicklichkeit jedes verfängliche Gesprächsthema zu vermeiden, und schließlich mußte Louis wohl oder übel einsehen, daß er heute keine Klarheit mehr erlangen konnte. Unter stillen Verwünschungen der Frauen, die so grausam und hart sein konnten – denn Helene mußte ja fühlen, was in ihm vorging – und heftigen Selbstanklagen wegen seiner Dummheit und Thatenlosigkeit zog er sich in seine Zimmer zurück, wo er, von fieberhafter Unruhe verzehrt, eine schlaflose Nacht zubrachte.
Fräulein von Graville fand ebensowenig Ruhe. Anstatt, wie sie jeden Abend that, friedlich einzuschlafen, starrte sie offnen Auges in die finstere Nacht und ließ die Ereignisse des Tages an sich vorüberziehen. Müde und abgespannt sehnte sie den Schlaf herbei, aber der Sturm ihrer Gedanken war entfesselt, in ihrem Kopfe wogte es auf und ab.
Immer stand Clement vor ihr, wie er sich ihr heute gezeigt und ihr von seiner Liebe gesprochen, sie sah das düstere Antlitz sich aufhellen, sie sah es stolz und strahlend vor sich. Das war nicht mehr jener gleichgültige, die Welt von oben herab betrachtende Thauziat, den sie einst gekannt, sondern ein Mann von hinreißendem Zauber und einer wunderbaren Weichheit. Mit welchen Farben hatte er ihr auszumalen gewußt, was er bei seiner, ach, so vergeblichen Flucht vor der Liebe gelitten. Er hatte gehofft, in der Trennung, in der Einsamkeit das Mädchen vergessen zu können, das ihn wider Willen bezwungen, aber wo er den Schritt hingewendet, auf dem steilen Bergesgipfel, an dem rauschenden Strom, im Waldesdunkel, überall war sie ihm erschienen, überall hatte er Helene wiedergefunden, bis er endlich erkannt, daß er vor der nicht fliehen konnte, deren Bild er im tiefsten Herzensgrunde trug und ewig tragen würde. Er hatte einsehen gelernt, daß sie zu lieben sein Schicksal war, und kampfesmüde war er zurückgekehrt, um als Besiegter seine Kniee vor ihr zu beugen.
Bei diesen Worten hatte er sich tief zu ihr heruntergeneigt, und wenn eine Feuergarbe, ein bengalisches Licht von drüben auf Sekunden die Dunkelheit erhellt hätte, in der sie, an die steinerne Ballustrade gelehnt, nebeneinander gestanden, hätte sie gesehen, wie die Leidenschaft auf seinen edlen Zügen leuchtete. Ja, es war ihm ernst, sein Stolz war gebrochen, er liebte und er war selig über diese Liebe, die ihn zum Sklaven gemacht. Sie aber war stumm und wortlos geblieben. Da hatte er sie mit hinreißender Beredsamkeit in all seine Pläne und Aussichten, all seine Träume von Glück und befriedigtem Ehrgeiz eingeweiht, daß sie sich schwindelnd aus Adlersfittigen emporgehoben und fortgetragen gefühlt. Für diesen kühnen Geist gab es keine Schranken, nichts erschien ihm unerreichbar, er mußte überall und auf jedem Gebiet den Gipfel ersteigen, von wo er die Welt zu seinen Füßen sah. Er war jetzt auf Lereboulleys Drängen entschlossen, sich an der politischen Arbeit seines Landes zu beteiligen und als Wahlbewerber aufzutreten: daß er erreichen würde, wonach er strebte, war gewiß, und binnen kurzem würde er auch hier eine erste Rolle spielen, und zu seiner großartigen Stellung in der Gesellschaft würden sich politischer Einfluß und Macht gesellen. Wer wollte ihm Widerstand leisten? Auf seiner Stirne stand das Zeichen des Sieges, und wen er nicht durch den Zauber seiner Persönlichkeit fesseln konnte, den wußte er zu beherrschen und zu unterwerfen. Und sie, war sie denn nicht auch im Begriff zu unterliegen und ihm den Sieg zu gönnen, den er heißer ersehnte als jeden andern?
Die Vorurteile, die sie gegen ihn gehegt, waren verschwunden, in nichts zerronnen: was ihr an seiner Art zu denken und zu handeln befremdend erschienen war, schrieb sie jetzt seiner Originalität, seiner Ueberlegenheit über alle andern zu. Sein übermütiger, wegwerfender Ton, seine herausfordernde, hochmütige Haltung war der Kleinheit seiner ganzen Umgebung gegenüber wohl erklärlich und machte sein demütiges Sichbeugen vor ihr um so köstlicher. Es war eine glänzende Genugthuung für ihr Selbstbewußtsein, diesen Rebellen Abbitte thun zu sehen und sich als Herrin zu fühlen über diesen selbstherrlichen, unbeugsamen Geist.
Da plötzlich tauchte Louis' blasses Gesicht vor ihr auf, und ihr Herz wurde schwer und bang. In ihrer Siegestrunkenheit hatte sie für den schwachen, unzuverlässigen Jüngling nicht einen Gedanken gehabt, wie wenn er selbst fühlte, daß er diesem Gegner nie und nimmermehr gewachsen, war sein Bild ihrer Erinnerung entschwunden, seit Clements Gegenwart sie beherrschte. War er denn nicht verdammt, überall neben ihm nur die Rolle eines Gefolgsmanns zu spielen? Mußte er nicht neben diesem glänzenden Gestirn doppelt unbedeutend und armselig erscheinen? Clement strotzte von Kraft, Louis war ganz Schwachheit, bei dem einen war alles größer, mächtiger, gottähnlicher als bei gewöhnlichen Sterblichen, bei dem andern mahnte alles an die Schwachheit und Nichtigkeit menschlicher Natur. Der Gegensatz war ein ungeheurer und schreckenerregender für die, welche zwischen Beiden zu wählen hatte – Emilie hatte ihn genannt: ein Mann und ein Kind.
Unablässig wiederholte sie sich alles und jedes, was jene über die beiden Männer gesagt, immer wieder tönten die Worte der Freundin in ihrem Ohr, die ihr so herzlich geraten hatte, Thauziats Antrag anzunehmen. Ach, aber in ihrem eignen Herzen sprach nichts dafür, und immer wieder stieg ein unsägliches, inniges Mitleid in ihr auf, wenn sie an Louis mit all seiner Schwachheit dachte. Ueber dem Enkel aber stand ihr die Großmutter, und sie fragte sich, ob sie die beiden in einem Augenblick verlassen dürfe, wo sie so rückhaltslos auf ihre Liebe und ihre Dankbarkeit zählten.
Er liebte sie ja auch, so gut wie Thauziat, und wenn es auch kein Triumph war, seine Liebe errungen zu haben, so war es vielleicht doch ein beglückenderes Gefühl. Er hatte nie ein Wort gesagt, er hatte sich daran genügen lassen, zu lieben, aber seine bittenden Blicke waren voller Beredsamkeit. Wie mit einem Zauberschlage hatte sich die Lebensweise Louis' geändert, seitdem sie ihren Fuß in das Héraultsche Haus gesetzt. Er hatte seine Großmutter nicht mehr verlassen, seitdem sie ihre Gesellschafterin war. Und immer in ihrer Nähe, mit seinen Blicken stets an ihr hängend, schien er nur für sie zu leben. War es nicht auch ein Triumph, diesen irregeleiteten Menschen wieder auf den rechten Weg gebracht zu haben, die Veranlassung dazu gewesen zu sein, daß er vernünftig geworden? Er hatte nicht gekämpft wie Thauziat, er hatte sich sofort unter das Joch gebeugt, hatte keinen Augenblick gezaudert, hatte vom ersten Tage, von der ersten Minute an geliebt, an nichts andres gedacht, als zu lieben. Unwillkürlich fragte sie sich, ob eine schmerzliche Enttäuschung in seiner Liebe ihn nicht dazu führen würde, sein voriges Leben wieder zu beginnen; diese schwere Verantwortung legte sich wie ein Alp auf ihr Herz und erpreßte ihr heiße Thränen.
Und dann mußte sie wieder an Emilies Worte denken: »Wenn du glücklich sein willst, so reiche Thauziat deine Hand! Louis ist schwach. Wenn der Einfluß, der auf ihn ausgeübt wird, ein schlimmer ist, so muß man von ihm der gefährlichsten Handlungen für sich und andre gewärtig sein . . .« Aber im Grunde ihres Herzens antwortete eine Stimme: »Der Einfluß wird kein schlimmer sein, denn es ist der deinige, du wirst ihn auf dem Wege des Guten zum Glück führen. Wenn du nur willst, wird alles gut gehen.« Und plötzlich stand ihr alter Wahlspruch wieder vor ihren Augen, und laut und gebieterisch tönte es in ihr, wie schon so oft, wenn sie einen großen Entschluß zu fassen gehabt: »Ich will, ich will.«
Von dem Augenblick an fühlte sie Ruhe über sich kommen, und als der junge Tag durch ihre Fenster drang, schlief sie fest. Von der langen Nachtwache ermüdet, war sie spät aufgestanden und trat erst um zehn Uhr in das Zimmer Frau Héraults. Die Großmutter war schon fix und fertig angezogen und in gewohnter Weise thätig.
»Sehr vernünftig von dir, daß du ausgeschlafen hast,« sagte sie, »obwohl du immer noch bleich und übernächtig aussiehst. Ich weiß nicht, was Louis hat. Er ist heute in aller Frühe zu Fuß in den Wald gegangen.«
Helene antwortete nicht, kannte sie doch die Ursache der Aufregung des jungen Mannes. Sie ging mit Frau Hérault ins Treibhaus und hörte, ohne ihre Aufmerksamkeit darauf lenken zu können, die Auseinandersetzungen der alten Frau über die Eigenschaften gewisser Pflanzen und über die Art, sie zu kultivieren, an. Dann frühstückten sie allein: es war das erste Mal, seitdem sie Boissise bewohnten, daß Louis nicht erschien. Frau Hérault war unruhig und ließ nach ihm sehen; er war noch nicht zurück. Die Großmutter warf Helene einen fragenden Blick zu, aber das junge Mädchen erwiderte ruhig: »Er ist vielleicht weiter gegangen, als er im Sinn gehabt, und hat, von der vorgerückten Stunde überrascht, sein Frühstück in der Fasanerie oder im Pachthofe eingenommen.«
»Das ist möglich,« sagte Frau Hérault, ohne überzeugt zu sein. »Seit zwei Tagen ist er so aufgeregt, hoffentlich hat er keine Dummheit begangen.«
»O nein, liebste Frau Hérault, seien Sie ruhig, es wird ihm nichts Böses zugestoßen sein. Es wird sich alles sehr einfach aufklären.«
Die beiden Frauen saßen im kleinen Salon und arbeiteten, als gegen vier Uhr ein Wagen in den Schloßhof fuhr und vor der Rampe hielt. Emilie kutschierte und Thauziat saß neben ihr; das junge Mädchen warf die Zügel dem Diener zu, der auf dem Rücksitz saß, nahm die von Clement dargebotene Hand und sprang herunter. Helene ging ihnen entgegen. Die beiden Freundinnen begrüßten sich herzlich; Thauziat dagegen reichte Fräulein von Graville nicht die Hand, sondern begnügte sich mit einer ehrfurchtsvollen Verbeugung und stieg langsam die Treppe hinauf.
»Du hast ihm gesagt: Auf morgen!« flüsterte Emilie leise, einen verstohlenen Blick auf Clement werfend. »Er hat nicht einmal bis heute abend warten wollen, und da steht er nun vor dir, erregt und zitternd. Ich bin sicher, daß zum erstenmal ein derartiges Gefühl an ihn herantritt. Bist du nicht stolz, eine solche Liebe eingeflößt zu haben?«
Helene schüttelte traurig den Kopf, ohne zu antworten, und alle drei traten in den Salon. Nach kurzer Zeit wußte Emilie sich mit Frau Hérault zu entfernen, und Fräulein von Graville und Thauziat waren allein. Einen Augenblick standen sie sich verlegen gegenüber, dann aber faßte Clement Mut und sagte lächelnd: »Ich bin ein ungeduldiger Gläubiger, nicht wahr? Aber Sie selbst sind verantwortlich für mein allzu rasches Drängen. Ich hätte mir den Zwang, länger zu warten, Ihnen mehr Frist zum Nachdenken zu gewahren, wohl auferlegen können, aber weil ich Ihnen gegenüber wahr und offen sein will, habe ich den Mut, Ihnen meine Schwachheit ganz zu zeigen . . .«
Als Fräulein von Graville den Mund öffnete, um ihm zu antworten, unterbrach er sie erregt: »O nein, sprechen Sie noch nicht, ich bitte Sie . . . Als ich kam, drängte es mich, Ihren Entschluß kennen zu lernen, und jetzt, wo ich vor Ihnen stehe, möchte ich die Entscheidung hinausschieben. Mir ist es, als wäre ich nicht beredt genug für meinen Herzenswunsch bei Ihnen eingetreten, und ich bin versucht, Ihnen noch einmal zu wiederholen, wie sehr ich Sie liebe, damit Sie ganz zu ermessen vermögen, welchen Schmerz Sie mir bereiten, wenn Sie mir sagen, daß Sie mich nicht lieben können.«
»Ich weiß alles, was ich wissen muß,« erwiderte Helene, »und es ist unnütz, auch nur ein Wort hinzuzufügen. Ich denke ernst und hoch genug, um die Gefühle eines Mannes wie Sie in ihrem vollen Werte würdigen zu können, und wenn ich es zuvor nicht gethan hätte, so müßten mir die Augen aufgehen, wenn ich sehe, wie hoch all Ihre Freunde Sie stellen. Allein es bedurfte keines fremden Urteils, mir Ihren Wert zu zeigen, und was ich Ihnen jetzt sage, sind keine leeren Worte – ich bin offen gegen Sie, wie Sie es gegen mich gewesen, und Sie sollen wissen, daß das Bewußtsein, von Ihnen geliebt, von Ihnen gewählt zu werden, mein Herz mit nie gekanntem Stolz erfüllt hat, und daß, wenn ich diesem Stolz nachgeben, ihn befriedigen wollte, ich vielleicht versucht wäre – Ihnen meine Hand zu reichen,«
»Helene,« stieß Clement, bleich wie der Tod, hervor, »Helene, auf welche Antwort wollen Sie mich vorbereiten?«
»Auf eine Antwort, die ich bei der Achtung, die ich vor Ihrem Charakter habe, bei dem Vertrauen, welches ich in Ihren Edelmut setze, Ihnen persönlich zu geben wünsche. Sie haben eine Bitte an mich gerichtet, lassen Sie mich jetzt eine solche an Sie stellen. Versprechen Sie mir, daß, was ich auch von Ihnen verlangen mag, Sie es mir gewähren wollen.«
»Alles,« rief Clement heftig, »alles, nur nicht, daß ich aufhören soll, Sie zu lieben.«
Fräulein von Graville schlug die schönen Augen bittend zu ihm empor und streckte ihm beide Hände entgegen, die zu ergreifen er aber nicht wagte.
»Sie werden mich lieben, wie man eine zuverlässige, erprobte Freundin liebt . . . Diese Liebe, die Sie heute für mich empfinden, und die vielleicht schnell, wie eine allzu lebhafte Flamme erloschen wäre, wird sich mit der Zeit in eine Zuneigung verwandeln, die weniger stürmisch, aber innig und dauernd sein soll. O, wenn Sie ahnen könnten, wie glücklich ich wäre, wenn Sie mein Bitten erhörten, und mit welchem Dankgefühl eine solche Seelengröße mich erfüllen würde . . . Sie sind der einzige, von dem ich eine solche Selbstverleugnung zu erbitten wage, weil Sie der einzige sind, den ich einer solchen für fähig halte. Lassen Sie uns erhobenen Hauptes aus diesem schmerzlichen Kampfe hervorgehen, Sie mit dem Bewußtsein, Großmut geübt zu haben, ich mit einem Herzen voll Dank und Freundschaft, die ich Ihnen mein lebenlang bewahren werde.«
Er schwieg und starrte vor sich nieder.
»Sie antworten nicht?« fragte Helene angstvoll. »Woran denken Sie?« fügte sie sanft hinzu.
»An schöne Träume, die ich geträumt,« sagte Clement, »und die nun in einem Augenblick für immer entfliehen . . . Aber ist es denn möglich, daß ich Ihnen gleichgültig bin, daß Ihre Liebe für mich unerreichbar ist? Habe ich keine Hoffnung mehr? Kennen Sie Ihr eigen Herz so genau? Ist das, was Sie mir jetzt sagen, unumstößlich wahr? Lieben Sie einen andern?«
Dieses Mal war sie es, die keine Antwort fand. Den glühenden Blick fest und forschend auf sie geheftet, hoch aufgerichtet, düster und kummervoll, erschien er ihr plötzlich wieder, wie in jenen Tagen, da sie Louis' bösen Geist in ihm gesehen; alle ihre ersten Eindrücke kehrten mit erneuter Gewalt zurück; drohend und schrecklich stand seine Gestalt vor ihr, fähig alles Edlen, aber ebenso fähig alles Bösen. In diesem Augenblick siegte das Böse; Milde und Weichheit waren verschwunden, wie ein leichtes Gewölk, das der Sturm vom schroffen Felsenkamme verscheucht hat.
»Ich habe,« unterbrach Helene endlich das Schweigen, »Frau Hérault versprochen, sie nicht zu verlassen. Sie wissen, daß ich damit eine Schuld der Dankbarkeit abtrage . . . Sie ist unsäglich gut gegen mich gewesen, und ich werde glücklich sein, bis zu ihrer letzten Stunde bei ihr zu bleiben.«
»Nein, seien Sie offen,« unterbrach sie Thauziat, »haben Sie doch den Mut, die Wahrheit zu sagen! Nicht Frau Héraults, sondern ihres Enkels wegen bleiben Sie in diesem Hause . . . Sie lieben ihn, er ist's, den Sie mir vorziehen . . . Sie wagen nicht es mir zu gestehen, daß Sie ihn lieben.«
Diese Herausforderung empörte Fräulein von Graville, und Thauziats Blick fest aushaltend, entgegnete sie: »Sie wollen es hören? Gut! Das soll Ihnen werden. Ja, ich liebe ihn.«
»Und wodurch hat er dies verdient?« erwiderte Clement bitter.
»Er ist schwach und bedarf der Stütze.«
»Sagen Sie: er ist feig und lasterhaft.«
»Nun gut, dann werde ich seine Tapferkeit und seine Tugend sein.«
»Sobald ihm zum Bewußtsein kommt, daß Sie über ihm stehen, wird er Sie hassen.«
»Im Bewußtsein, das Beste gewollt zu haben, werde ich dulden, ohne zu klagen.«
»Glauben Sie, daß ich ruhig mit ansehen werde, wie Sie sich opfern?«
»Mit welchem Recht greifen Sie in mein Leben ein!« fuhr Helene zornig heraus. »Ich finde, daß Sie sich allzu viele Freiheiten nehmen. Ich habe Sie offen und ohne Zwang zu mir sprechen lassen, wenn Sie diese Gunst aber mißbrauchen, um mir zu drohen, so verzichte ich darauf, Sie weiter anzuhören.«
»Verzeihen Sie,« bat Clement, die Hände wie flehend ausstreckend. »Ich leide so schwer, daß ich mich vergessen und Sie beleidigt habe. Gott allein weiß, welch tiefsinnige Verehrung ich für Sie in meinem Herzen hege. Ich wollte Sie warnen, sich unbesonnen in eine so ungeheure Gefahr zu stürzen, und Sie wollen mich nicht verstehen. Wenn ich Ihnen Louis schildere, wie ich ihn kenne, so werden Sie mich der Falschheit und des Mangels an Loyalität zeihen, und dennoch vermag ich es nicht über mich zu gewinnen, Sie Ihr ganzes Leben zerstören zu lassen. Die Welt, in die Sie einzutreten berufen sind und die Sie nicht kennen, ist voller Fallstricke und Gefahren, voll Lug und Trug. Wenn Sie niemand haben, der Sie verteidigt, wird man Ihnen grausame Wunden schlagen . . . Und Louis, Louis! . . . Ein Mensch, der selbst so sehr des Schutzes bedarf, ihm wollen Sie sich anvertrauen?«
Helene versuchte zu lächeln und legte die Hand auf Thauziats Arm.
»Nun, wenn er so sehr des Schutzes bedarf, so wird ihm ja der meine und, wenn es nötig ist, auch der Ihre zu teil werden.«
Clement fuhr wild zurück.
»Niemals! Ich könnte Sie als die Seine nicht sehen, ohne ihn tödlich zu hassen.«
»Das gerade dürfen Sie mir nicht zuleid thun,« sagte Fräulein von Graville fest. »Sie müssen mir Ihr Ehrenwort geben, daß an dem Tage, wo ich Louis heirate, alles vergessen ist, was Sie mir jetzt gesagt haben, und daß Louis und ich in Ihnen einen Freund finden werden.«
Er schüttelte den Kopf. Sie neigte sich zu ihm und sah ihm mit unnachahmlicher Liebenswürdigkeit ins Auge.
»Schwören Sie, und ich will Sie von Herzen gern haben.«
Er schüttelte wiederum den Kopf und stöhnte mühsam hervor: »Ich gäbe alles in der Welt, um Ihnen angenehm zu sein, aber ich bin nur ein Mensch, göttliche Tugenden muß man von mir nicht verlangen. Nein, es wird mir nicht möglich sein, ihm all das Leid zu verzeihen, welches ich seinetwegen zu ertragen haben werde. Ich weiß es ja, daß es nicht seine Schuld ist, daß ich ungerecht bin, aber wie wollen Sie es hindern, daß ich unter seinem Glück leide? Sie, ja Sie haben von mir nichts als Treue und Hingabe zu erwarten. Ich werde Sie bis zum letzten Atemzuge lieben, lieben mit jener nicht erlöschenden Hoffnung, daß eines Tages, wo Sie die Erbärmlichkeit dessen erkannt haben, dem Sie heute Ihre Liebe schenken, Sie sich mir zuwenden werden. Ich werde immer bereit sein, im Staube von Ihnen jene Liebe entgegenzunehmen, die ich jetzt von Ihnen erflehe, und die Sie mir nicht gewähren wollen. Ein Mann wie ich ändert sich nicht mehr. Wie ich Sie heute liebe, werde ich Sie bis zum letzten Atemzuge lieben – maßlos und endlos.«
»Und ich,« sagte Helene ernst, »bin ein Mädchen, das sein Herz nicht zweimal verschenkt. So wie ich heute denke, werde ich in zehn Jahren und immer denken.«
Er trat einen Schritt auf sie zu, als wollte er sie noch einmal anflehen; plötzlich jedoch überkam ihn die Gewißheit, daß es vergebens sei, und mit einer tiefen Verbeugung verließ er das Zimmer, ohne sich noch einmal nach ihr umzuwenden. Frau Hérault und Emilie traten auf der Terrasse zu ihm heran und unterhielten sich eine Weile mit ihm, ehe er seinen Wagen bestieg. Helene war froh, ihren Freunden ausweichen zu können, und eilte gesenkten Hauptes, den Blick wie nach innen gekehrt, mit einem unendlichen Bedürfnis nach Ruhe und Einsamkeit den dunklen Parkalleen zu.
Dort an dem äußersten Ende des Sees ließ sie sich auf eine Rasenbank nieder und hing ihren Gedanken nach. So hatte denn Clement ebenso wie Emilie sie vor ihrer eignen Neigung gewarnt und aus einer Verbindung mit Louis ihr ernste Gefahren vorausgesagt. Bei ihm konnte sie ja, trotzdem sie das Gefühl hatte, daß er ehrlich und aufrichtig gesprochen, Eifersucht voraussetzen – er liebte sie, und da war es ja kein Wunder, daß ihm der Nebenbuhler mißfiel, aber auch Emilie, die Freundin und Kindheitsgespielin Louis' hatte ihr gesagt: Er kann eine Frau sehr unglücklich machen. Es war Helene, als ob sie sich über einen Abgrund beugte; unabsehbar dehnte sich der schwarze Schlund und nur ganz tief unten meinte sie einen hellen Lichtstrahl verlockend blitzen zu sehen. War das nicht die Hoffnung? Konnte sie denn hoffen, aus dieser schauerlichen Tiefe einmal wieder ans Tageslicht zu kommen? Und weshalb denn hinabsteigen, weshalb noch einen Schritt vorwärts thun? Sie war frei, sie brauchte sich ja keiner Gefahr auszusetzen. Wer konnte sie zwingen? Ein Wort genügte, und alles war zu Ende. Und warum sollte sie zögern, dieses Wort zu sprechen? Hatte sie, nachdem sie sich an den Luxus gewöhnt, jetzt Furcht vor der Armut? O nein, sie konnte sich ruhig wieder an ihre Arbeit begeben und ohne Klage wieder ihr dürftiges, einsames Leben von früher aufnehmen. Aber die Großmutter, der sie versprochen, ein treues Kind zu sein, sollte sie dann wieder einsam und ohne Liebe und Pflege weiter leben, nachdem sie sich mit solchem Behagen von ihr hatte verwöhnen lassen? Und sollte Louis, der seit zwei Tagen so traurig und mutlos war, von neuem sich selbst überlassen sein?
Ein tiefes Weh erfüllte ihr Herz. Sie sagte sich, daß sie Kummer und Sorgen entgegenging, wenn sie die Ratschläge Emilies und Clements unbeachtet ließ, andrerseits aber sprach die Stimme in ihrem Herzen immer wieder: »Sei mutig und kühn. Trotze den Gefahren, und du wirst durch die Kraft deines Willens siegen.« Und sie sah das kleine Licht in dem schwarzen Abgrunde, der vor ihr gähnte und sie verschlingen zu wollen schien, größer und immer großer werden, zu ihr emporsteigen und die dunkle Gruft hell und heller machen, bis sie in die Unendlichkeit des Himmels zu blicken wähnte. Damit kam plötzlich ihr alter Mut wieder über sie, und ihr Entschluß stand unwandelbar fest. Sie hatte die Ueberzeugung, daß sie alle Schwierigkeiten besiegen werde und daß sie im Kampfe um ihr eignes Glück auch das der andern erringen werde. Erleichtert atmete sie auf, sie fühlte sich ruhig und getröstet und gab sich dem Genuß des tiefen Friedens hin, der in ihr und um sie war.
Plötzlich erregte ein leichtes Geräusch ihre Aufmerksamkeit, und aufblickend, sah sie Louis mitten in der Allee. Er war sehr bleich, und dennoch perlte ihm der Schweiß auf der Stirn; an seinen Kleidern hing Moos, als ob er im Walde auf der Erde gelegen. Er trat näher und sprach mit vor Erregung zitternder Stimme: »Ich hatte keine Ahnung, daß ich Ihnen hier begegnen würde, und will mich sofort entfernen, ich bin Ihnen doch wohl ungelegen.«
»Weshalb setzen Sie das voraus?« fragte Helene.
»Seit gestern weichen Sie mir aus,« erwiderte er bitter. »Wahrscheinlich ist Ihnen meine Anwesenheit peinlich oder Sie ziehen wenigstens die eines andern vor . . .«
»Ich verstehe Sie nicht . . .«
»Ich sah soeben einen Wagen mit Emilie und Herrn von Thauziat fortfahren.«
»So, Herr Thauziat ist's, der Ihnen Sorge macht,« sagte das junge Mädchen lächelnd . . . »Nun, ich glaube nicht, daß er wiederkommt . . .«
Louis machte eine Bewegung freudiger Ueberraschung und ging dann, unfähig sich länger zu halten, auf Helene zu: »So lieben Sie ihn also nicht?«
»Muß man ihn denn unfehlbar lieben?«
Louis wurde noch bleicher als vorher, wo er von Eifersucht geplagt war, setzte sich neben das junge Mädchen und reichte ihr seine kalte, zitternde Hand.
»O, mein Gott,« sagte er, »wie habe ich Ihretwegen gelitten! Aber was hat er Sie denn gestern gefragt? Daß Sie mir nicht die Wahrheit sagten, weiß ich«
»Gestern,« erwiderte Helene sanft, »hat er mich gefragt, ob ich seine Frau werden wolle . . . Und heute . . .«
Sie hielt inne und beobachtete einen Augenblick mit stillem Entzücken den jungen Mann, der an ihren Lippen hing, als ob ihr Ausspruch Sein oder Nichtsein für ihn einschlösse.
»Und heute?« wiederholte er.
Es war ein Blick voll Engelsgüte, mit dem Fräulein von Graville ihm sagte: »Heute habe ich geantwortet, daß ich niemals das Haus Ihrer Großmutter verlassen werde.«
»Helene!« rief Louis, und die Augen gingen ihm über.
Sie saß an seiner Seite, glücklich über seine unsagbare Seligkeit und mild lächelnd über seine Thränen. Leidenschaftlich umfaßte er sie und hielt sie fest an sich gedrückt, als ob er immer noch Furcht hätte, daß man sie ihm rauben möchte.
»O, wie hab' ich dich lieb – wie bin ich glücklich!« flüsterte er.
Nach einer Weile machte sie sich sanft von ihm los, trocknete ihm die Thränen, erhob sich, nahm seinen Arm, und langsam kehrten sie, fest aneinander geschmiegt, zum Schlosse zurück.
Ende des ersten Bandes.