Marie von Olfers
Jungfer Modeste
Marie von Olfers

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Man schreibt Weltgeschichte – aber die eigentliche Geschichte der Menschen, die intime Geschichte der Seelen liegt wie verhüllt; Einer suchte sie dem Andern zu verbergen und dann wundern sie sich, wenn sie fremd und kalt nebeneinander hergehen – fremd und kalt, als gingen sie sich nichts an. Hie und da lüftet sich der Schleier, dann schauen wir wie gebannt hin, als wär's unsere eigene Geschichte, die dort spielte; als wär's uns aus dem Herzen geschrieben und wir merken, was wir nie vergessen sollten: daß wir Brüder und Schwestern sind, blutsverwandt, seelenverwandt, in Leiden und Freuden uns nah.

Fast immer werden wir Den liebgewinnen, der sich uns zeigt, wie er sich Gott zeigt – wie sich die Kinder Einem zeigen, und darum bring' ich dies Bruchstück, das ich heut' fand und das sonst ebensogut in dem alten Schrank hätte vermodern können.

Ich kenne sie nicht, die es schrieb; sie ging wol vorüber wie der Tropfen im Meer. Aber auch der Tropfen erquickt vielleicht Einen oder den Andern, es gibt viel Dürstende in der Welt. »Jungfer Modeste« stand in goldenen Lettern auf dem verblichenen Büchelchen. Sie blitzen nur 224 so verstohlen, als wollten sie sagen: zu dem Namen paßt es nicht recht; aber da wir echtes Gold sind, müssen wir glänzen.

Hier fängt es an. –

Man nannte mich die alte Kindermuhme; ob ich je jung gewesen, ich weiß es nicht – so viel besinn' ich mich nur, daß ich immer noch ein Jüngeres im Arm gehabt. Weiß auch der liebe Himmel, wo sie Alle herkamen und warum mich gerade das Geschick dazu ausersehen hatte, so viel kleine Menschenkinder zu wiegen, zu warten, zu wickeln, zu pflegen, da mir von Rechtswegen keins zukam.

Erst sorgte meine liebe selige Mutter dafür, sie konnte für nichts Anderes sorgen, denn sie war immer krank, alle Jahr ein Kind.

Als die Eltern starben, hatte ich eine große Familie. Schon ganz früh, ein kleines Ding, lief ich mit einem Stück Holz im Arm herum; küßte es, deckte es warm zu, hatte wirklich Mutterfreuden daran. Die Leute lachten mich aus; aber es war wol ein Vorgefühl, denn bald, kaum daß ich's tragen konnte, lag statt des Stückes Holz eins nach dem andern, Schwesterchen oder Bruder mir am Herzen.

Ich war glückselig; für mich gab's nichts Reizenderes, als solch' ein rosiges, lächelndes, kleines Leben, voll Uebermuth, voll Unschuld. Wie es strampelt in den weißen Linnen, als könnt's mich bezwingen; wie es sich anschmiegt, als wüßt' es keinen liebern Platz zwischen Himmel und Erde – ihr glaubt es ihm, und denkt, die Seligkeit hat kein Ende; aber Alles hat ein Ende und das Kleine ringt 225 sich los vom Schooß und fängt an allein zu gehen und läuft weg und wie es hier zu Anfang geht, geht es später, der Platz wird leer, wo ihr sonst seine liebe Gegenwart fühltet, und ihr bleibt allein.

Lange Zeit war immer wieder eins da, die Stelle zu füllen. Ich machte auch keinen großen Unterschied, hatte Eins so lieb wie das Andere; wer meiner am meisten bedurfte, der hatte mich.

So lebte ich wie eine Königin in meinem Reich; was darüber hinaus passirte, davon wußte ich wenig, ich merkte kaum, daß die Zeit hinging. Erst als die kleinen Dinger hochaufschossen, in frischer Jugend neben mir standen, lauter junge Tannen, merkt' ich, daß ich darüber zum alten Baum geworden. Es ist etwas Eignes um das Alter, gespenstisch umschleicht's Manchen bald nach den ersten Schritten im Leben. »Du bist alt«, heißt es, »denn Du bist fünf, das Schwesterchen erst zwei.« – Sorge und Verantwortlichkeit zieht es nach sich – dann wieder absolut ist's nie da, so lange noch ein Aelterer neben Einem steht; für Den bleibt man immer jung.

So schwankt man hin und her zwischen Alter und Jugend, bis das eigene Herz einmal sagt: »Du bist alt – Du bist ja wie aus einer andern Generation, wie aus einer andern Welt, kommst manchmal mit Deinen Ansichten hervor wie der Bräutigam, der hundert Jahre im Berg geschlafen hat; Keiner versteht Dich, was Du jung nennst, ist vergangen.«

So war ich alt und meine Vögel alle flügge geworden, eins nach dem andern verließ das Nest – erst nur bis 226 zum nächsten Zweig, dann aber weiter und weiter. – Manche kamen ab und zu wieder, wenn sie Etwas brauchten. Einige hab' ich nie wieder gesehen.

Es ist so der Lauf der Welt, sagen die meisten Leute; wer es aber erfährt, wie vergänglich Alles ist, wie zersetzend die Zeit wirkt, selbst in diesen Verhältnissen – dem wird schwindlig vor den Augen, als verlör' er den einzigen Halt.

Die Mädchen heiratheten, die Burschen gingen ihrem Beruf nach. Grad mein zärtlichstes Nesthäkchen, von dem ich geglaubt, es könne nicht zwei Schritt von mir, ging mit fremdem Mann, sie kannte ihn kaum acht Tage, über's Meer; er war Missionar.

Eh' ich recht zur Besinnung kam, sah ich mein Reich zerstört, mein Scepter mir aus der Hand gefallen, meine Krone, meine Freude dahin.

Die Mädchen schrieben wol, aber das eigene Haus wuchs ihnen über den Kopf und in das Herz. Liebe ist kein Luxusartikel; wird sie nicht täglich in die Hand genommen, verstaubt sie. Helfen konnt' ich nicht. Bei der Einen wollt' es der Mann nicht, eifersüchtig auf seine Macht; bei der Andern war kein Raum für mich. Die Burschen schrieben nicht einmal, ganz versunken in ihr eigenes Leben. Selten denkt ein Knabe als Jüngling daran, welche Hand ihn gewartet; noch dazu wenn es nicht die Mutter war, und selbst Mütter werden vergessen.

Schäme dich, Jungfer Modeste – willst du deinen Lohn dahin haben? Nur Geduld, einst bekommst Du sie alle wieder; jetzt nur sind die Herzen so zerstreut, so abgezogen 227 und wissen überhaupt nicht, wem sie angehören. Später wirst Du eine große Familie haben – und ich konnte mich an dem Gedanken selig freuen, wenn sie dort oben wieder auf mich zugestürzt kämen, wie sie als Kinder gethan; mich erkennend, mich und meine Lieben sich zu mir drängend, mir sagend, daß sie mein wären. Dein! – Jungfer Modeste! – Als ob dir irgend Jemand angehörte – Du bist allein, hast ein Recht an Niemand, ein leerer Stiel ohne Blatt und Blüthe, die keine Frucht gebracht. Umsonst hast Du gelebt, unnütz für die Welt. Sollte das wirklich so sein? sollte dort oben nichts gelten, als das irdische Band, oft so locker gewoben, daß es kaum den Sturm des Unglücks bedarf, um es zu zerreißen, manches Mal nur zum Putz, zum Schmuck umgeschlungen . . . .? Nun, Gott weiß.

Also ich war mutterseelenallein. – Ich saß in meinem Stübchen am Fenster Tage und Tage und lebte die Zeit zurück. Das ist aber nichts, so lange sie noch vorwärts geht; man muß mit und es findet sich auch immer ein Weg. Meiner war ganz in der Näh'. Unter mir wohnte ein junges Frauchen, blaß wie ein Winterhauch. – Sie war schon in der Wittwenhaube, und hatte noch ein Kindergesicht. Wie ein armer Nestling sah's aus, das aus dem warmen Nest gefallen.

Kaum die ersten Schritte im Leben, dacht' ich, und gleich den schwersten Gang! Der Mann war durch einen Sturz mit dem Pferd verunglückt, er war Verwalter gewesen; mit ihm verlor sie Alles – Stellung – Ernährer – den Geliebten. Eins doch hatte er ihr hinterlassen, ein Kindchen, ein strahlendes, blühendes Kindchen, das ihr im Schooß lag. Ich 228 fand sie oft zusammen, wenn ich ihr etwas Kräftiges brachte. Mir war sie wie ein Räthsel; als gäb' es ihr einen Stich in das Herz, wandte sie sich ab, wenn das Kind jauchzte, oder mit eifrigen Händchen nach ihren Lippen fuhr, daß sie ihm den alten Spaß wiederhole, wie früher.

Ich schalt sie oft aus, wenn sie das arme kleine Ding mit ihren Thränen benetzte – Thränen, die es auch zum Weinen brachten.

»Betrübe Dein Kind nicht vor der Zeit,« warnte ich; »wer weiß, welchen eigenen herben Kummer es einst zu tragen hat, freu' Dich vielmehr, daß es den Deinen noch nicht theilen kann. Lächle ihm zu wie Deinem Glück; es ist ja doch Glück, großes Glück – ein Kind, wie ein Frühlingstag.«

»Glück!« wiederholte sie; »ich glaube an kein Glück mehr; es ist Alles Betrug, Alles Schein – ich glaube nur noch an den Schmerz. Nimm das Kind fort, ich kann Niemand mehr lachen hören.«

Sie war krank, darum verzieh ich die Rede, nahm das arme Würmchen mit und dachte: »Welch' ein Schatz und warum Dem bescheert, unter dessen Hand sein Gold zu Spreu wird?«

Weder des Kindes Schreien, noch sein Jauchzen konnte sie ertragen – losch aus wie ein Licht, frug nach nichts mehr, als wie bald sie wieder mit ihm vereint sein würde. In dunkler Stube lag sie, mochte kein Frühjahr die Knospen erschließen sehen; Alles dunkel um sie her, bis die Erde sich endlich ihrer Sehnsucht öffnete und man sie neben ihn bettete in's Grab. Wär' ich nicht dagewesen, man hätte ihr das Kleine nur gleich mit in den Sarg legen können.

229 Als ich so dabei stand, das verlassene Stückchen Leben auf dem Arm, das aus dem Tode hervorsah wie's Schneeglöckchen aus gefrornem Boden, fand mich die Wirthin.

»Jungfer Modeste!« rief sie, »nun hätten Sie ja wieder eins; ohne Last geht's ja doch nicht bei Ihnen ab.«

»Last?« wiederholte ich erstaunt; »Ihr nennt das auch eine Last und habt selbst Kinderchen?«

»Grad deshalb«, antwortete sie; »sechs, daran schleppt man schon, ich möchte manchmal hundert Arme haben.«

»Seht Ihr, wie reich Ihr seid; Ihr könnt es kaum fassen.«

»Nun ja«, gab sie lächelnd zu;»alle Hände voll hab' ich schon, ich will auch nicht klagen, ich möchte keins missen und bin Gott sei Dank stark genug, die Last zu tragen; – anders als das arme Frauchen, das wir eben zur Ruh' gebracht, der war das Eine schon zu viel.«

»Sie wollte nicht, sie hat es gar nicht versucht!«

»Sie wollte nicht, sie konnte nicht – das ist oft Dasselbe.«

Ich enthüllte den rosigen Schatz in meinem Arm, der lächelnd ein paar blaue Augen öffnete, als wär's der Himmel. Die Mutter that mir so erschrecklich leid, die selbst bei diesem Anblick an ihrem Kind nicht mehr glücklich werden konnte.

»Solch' Herz«, dacht' ich, »ist doch ein unbescheiden Ding, wie es sich dehnt im Besitz; Dein's muß recht klein sein, denn selbst vom fremden Kind ist's schon überfüllt, als sollt' es vor Wonne zerspringen«, und ich drückte mein Dortchen fest an mich in voller Seligkeit. Mein war das 230 Kind – ganz mein; Niemand wird es mir streitig machen. Mir war, als wär' es grad für mich verwaist in die Welt geworfen; »für mich«, sagt' ich mit einem Dankgebet, für mein Herz, das so durstig war wie eins nach Besitz, nach ausschließlichem Besitz. Keinen Augenblick ließ ich's von mir; eine Mutter konnte nicht eifersüchtiger darüber wachen, ich fühlte mit Freude, wie das tägliche Leben uns eng aneinander drängte, bis wir Eins wurden, als wären wir demselben Blute entstammt.

Wenig Menschen sind wirklich menschenfreundlich; Kinder aber suchen sich, finden sich, freu'n sich ohne Unterschied aneinander, freilich auch nur so lange sie klein sind.

Drüben im Nachbarhaus gab es ein Knäbchen.

Ließ ich mein Dortchen am Fenster tanzen, lag es dort gegen die Scheiben gedrückt und starrte hinüber.

Dortchen jauchzte ihm zu und der Kleine nickte zurück. Ein armer Schelm war's; so zu sagen gut versorgt und doch verwahrlost. Bezahlte Leute bekommen es bald weg, ob Jemand Interesse für ihren Pflegling hat; ist das nicht der Fall, warum sollten sie es haben?

Oft schrie das Bübchen stundenlang; Keiner hörte danach – nur ich, und mich ging's nichts an.

Seine Eltern hatten grad Mittel genug, um nach großem Vermögen zu ringen. Des Jungen wegen, hieß es; für den muß man sorgen. Sie schifften sich ein nach Amerika; einer zuverlässigen Wärterin wurde das Kind anvertraut, Geld war nicht gespart, Geld schien ihnen Liebe. – Es ging Alles gut, schon waren sie auf der Rückreise; da erhob sich ein Orkan und das Schiff verschwand mit Allem, 231 was darauf war, als hätt' es der Sturm verweht. Immer noch hoffte man, Einer oder der Andere würde wiederkommen; aber es kam Niemand und der kleine Just Six war verwaist.

Michel Dürr, sein Vormund, Compagnon im Geschäft des Vaters, überlegte sich, was wol, nicht für den Jungen, sondern für ihn das Bequemste wäre. Geld war noch da, die Kinderfrau wurde behalten, da sie bezahlt werden konnte, so theuer sie auch kam. Damit schien das Kind versorgt.

Frau Wurzel war eine anständige Frau; sie stahl nicht, betrog nicht, sie und ihr Zögling sahen immer nett und reinlich aus: was wollte man mehr – Konnte sie dafür, daß ihr die Sympathie für das kleine Wesen fehlte? Wer will der Zuneigung gebieten? Wer kann heilige Gluth in sich entzünden, weil er bezahlt ist? Unglücklicher aber ist kein Kind, als eins, das seiner Umgebung unsympathisch ist. – Da hat's kein Ende mit Schelten, Alles wird zum Fehler.

Eine fortwährende Qual gab es drüben, ein fortgesetztes Martyrium.

Es verbitterte mir ordentlich mein Glück. Wenn ich mein Dortchen einsang, hört' ich (die Häuser lagen dicht bei einander, nur von einem Hof getrennt) wie eine Begleitung die Jammertöne des kleinen Just Six; am Morgen erschien sein verschrieenes, entstelltes Gesichtchen mir gegenüber. Ich hab' nicht viel Mitleid mit den Erwachsenen; die wissen ja, oder sollten wissen, was sie hier zu erwarten haben. Aber die Kleinen, die, wie aus dem Himmel gefallen, leiden müssen, eh' sie begreifen können wofür, die kann ich nicht elend 232 sehen. Ein trauriges Kindergesicht macht mir den Eindruck, als sei das Paradies zum zweiten Mal verloren und auch das letzte Sonneneckchen auf Erden verlöscht.

Der alte Michel Dürr kümmerte sich wenig darum, für ihn existirten Kinder nicht; das war Sache der Frauen, ein nothwendiges Uebel, damit die Menschheit nicht ausstürbe. Er selbst hielt sich zu schad für dergleichen. Alle Tage ging er auf die Ressource nach geschlossenem Geschäft, das war der Culminationspunkt seines Lebens.

Ich hoffte immer, das viele Geschrei würde ihn stören; aber er dachte wol: rühr' ich daran, hab' ich noch mehr Noth davon. Er war sehr klug für sein Wohl, dieser Herr Michel Dürr und verstand sich die Unannehmlichkeiten so fern zu halten als möglich.

Eines Tages hielt ich den Jammer nicht länger aus; ich konnte den Ton gar nicht wieder los werden.

Da faßte ich mir ein Herz und ging hinüber.

Den grauhaarigen Diener schob ich bei Seite, sonst wär' ich nie zu dem Michel Dürr hineingekommen. Es war recht unweiblich von mir und doch, wahrhaftig, in mir regte sich das wahre Frauenherz, das alle Keimchen an sich schließen möchte und aufziehen, wie Mutter Erde die Keimchen der Blüthen. Diesem Herzen zu Liebe drang ich so kühn in das Heiligthum Michel Dürr's, in dem er selbst sein eigener Götze war.

Er stand sehr höflich auf, verneigte sich; er war immer von der größten Höflichkeit und doch fühlte man sich in seiner Nähe geringschätzig, ja grob behandelt, weil er nur an sich dachte.

233 Mich brachte seine Manier heut' ganz aus dem Text; er zeigte mir auf seine Art, daß die Sitte verletzt und ich nicht an meinem Platz sei.

Ja, mit welchem Recht war ich eigentlich hier? Mit dem Menschenrecht. – Aber dies erste aller Rechte schien, wie so oft im Leben, keine Berechtigung zu haben.

Ich fühlte wie ich roth wurde unter seinen kühlen Blicken.

»Das Geschrei . . . .«, stammelte ich.

»Ah so,« sagte er, »gleich bei der Sache, das Gebrüll von dem Just Six, ich hab' auch schon daran gedacht, das kann kein Mensch länger aushalten – ein Hund heult nicht ärger; nach meiner Berechnung müßte er sich längst den Hals abgeschrieen haben, aber so ein Kind hat beneidenswerthe Lungen. Ich werd' ihn mit sammt seiner Wärterin ausquartieren.«

»Aber dann hören ihn doch Andere«, warf ich schüchtern ein.

»Andere?« wiederholte er eisig, – »nun was geht das uns an? – Ueberhaupt, was geht Sie denn die ganze Geschichte noch an? Ich wüßte wirklich nicht, was Sie sonst noch von mir verlangen könnten«, und dabei suchte er mich mit der größten Höflichkeit zur Thür hinauszucomplimentiren.

Da überkam's mich – das warme Herzblut kam mir zurück.

»Herr Michel Dürr,« begann ich, »ich komme nicht meinetwegen, nicht Ihretwegen, sondern des Kindes wegen.«

»Mischen Sie sich lieber nicht dahinein; was wissen wir Beide denn von Kindern, Jungfer Modeste?« antwortete er 234 mit einem Stich auf mich; »davon verstehen Sie nichts und ich auch nichts. Schreien ist, wie es scheint, ihr Beruf und könnten sie das nicht aushalten, wär' die Erde wol bald entvölkert, statt daß eine Masse Gewürm um Einen her ist, man kann kaum treten und eine ruhige Stelle finden. Das krabbelt verlassen, verloren herum und wird doch groß.«

»Aber wie!« rief ich empört.

»Nun wie es grad kann; ich werde keinen Finger darum rühren. Bin ich schuld, daß die Eltern den Jungen in die Welt setzten und sich dann davon machten?«

»Ich möchte mich seiner annehmen,« sagte ich.

»Der Bursch braucht nicht zu betteln«, erwiderte er hochmüthig.

Mir schwoll das Herz wieder. – Betteln! – auf den Knieen müßte das arme Ding rutschen nach ein bischen Liebe, wie es jedem Hund von selbst wird, der die Mutter behält. Aber ich hielt an mich und sagte: »Geben Sie mir den Jungen, ich habe solche Lust an Kindern; er wird Niemanden mehr mit seinem Geschrei belästigen; und soll er mir keinen Dank schuldig sein, so kann man ja Alles bezahlen.«

Michel Dürr sah mich an, als ob ich nicht recht bei Troste wäre.

»Nun ja,« bekräftigte ich, »Sie werden auf alle Weise dabei Profit haben.«

Im Charakter eines guten Geschäfts lockte es Michel Dürr, das hatte ich ganz richtig berechnet.

»Mir ist es ganz gleich, wo der Junge bleibt«, hub er an, »wenn ich nur die Noth los bin. Mögen Sie die Sache mit der Wärterin abmachen; die Person ist mir im 235 höchsten Grade zuwider, ich habe noch kein Wort mit ihr geredet. Hier ist das letzte Quartal; Geld ist, wie Sie sehen, nicht gespart. Die Sache gilt natürlich nur für die Kindheit, etwa wie eine Pension, später werd' ich mich noch entscheiden, was aus dem Just Six wird. Vielleicht brauch' ich ihn.«

»Natürlich«, antwortete ich giftig, »Sie bleiben der Vormund und sobald der Junge aus dem Gröbsten ist, steht er zu Befehl.«

Damit war meine Unterredung zu Ende und ich ging, den kleinen Just aus den Griffen seiner drachenähnlichen Hüterin zu befreien. Ich wußte kaum, was mir am schwersten wurde; mein Herz pochte hörbar, als ich dem Zorn, der Grobheit gegenüber stand. Scheu, verlegen, als thät' ich bitter Unrecht, stand ich mit meinem guten Gewissen vor der Frau Wurzel. Das Kindchen hatte sich an mich gedrängt; mit klaren, fragenden Augen sah's zu mir auf, es war lange nicht so erschüttert als ich von der Fluth Schmähungen, die sich von den Lippen seiner bisherigen Wärterin auf mich ergoß.

So schloß die wuthentbrannte Rede, deren Energie jedem Redner Ehre gemacht hätte: »Gut, nehmen Sie die kleine Schlange, nehmen Sie sie, warten Sie nur, was jetzt klein ist, wird groß werden; Der wird mich schon rächen. Was! – er hat zu viel geschrieen? Ich hätte brüllen müssen, so hat er mich geplagt; den Mond vom Himmel hätt' ich ihm herunter holen sollen. Das Leben hat er mir verleidet, Tag und Nacht. – Der ist mit nichts zufrieden, denken Sie an mich – mit nichts; mag er auch 236 von Ihnen fordern, was Sie nicht geben können, Unfrieden und Unglück bringen, wohin er geht.«

Mit diesem Segenswunsch entließ sie uns. Just Six weinte ihr nicht nach. Ich schnürte seine Habseligkeiten in ein Bündelchen und brachte ihn zu meinem Dortchen. Wie das jauchzte, wie es all' seine Spielsachen anschleppte, es konnte grad laufen, wie es die Wirthin machte und that, als hätte es für Alles zu sorgen!

Just Six ließ sich's gefallen, als sei er zum Herrschen geboren; wie ein Königssohn rief, befahl er und sah sich mit seinen leuchtenden Augen so gebieterisch um, daß mir mehr als einmal die Rede seiner erzürnten Wärterin einfiel.

Von da ab führten wir ein wundervolles Leben. Im Sommer draußen im verwilderten Garten voll üppiger Ranken, voll halbwilder Früchte, die wie eine süße Ueberraschung hie und da plötzlich auftauchten. Nichts war darin verboten, nicht einmal der große Apfelbaum, lockend wie jener im Paradies. Hohe Mauern schlossen das Plätzchen ein und damit doch Freiheit bliebe, grenzte von einer Seite der Fluß und drüben streckten sich weithin lustige Wiesen. Im Winter im freundlichen Stübchen am Feuer, die Kinder dicht um mich. Es war ein verborgenes Leben, das wir da hatten, Keiner fragte nach uns, Keiner kümmerte sich um uns. Just war unser Tyrann. Aber wir fühlten uns sehr gemüthlich dabei. Nach ihm ging Alles, Alles riß er an sich, oder vielmehr Alles fiel ihm von selbst zu. Wie durch geheimes Uebereinkommen war er zum Thron gelangt, hatte immer den besten Platz, die süßeste Frucht, das größte Theil.

237 Tausend Geschichten könnt' ich erzählen; doch die Kinderzeit ist wie ein Geheimniß zwischen Pfleger und Kind. Sie haben ihre eigene Sprache, Alles – so klein es scheint – ist von größter Wichtigkeit; zieht man es aber an das Tageslicht, verliert es den Glanz, wie ein Glühwürmchen in der Hand.

Dortchen glich dem stillen kleinen Landsee, lieblich und freundlich, selbst das Gewitter lief wie in silbernen Lichtern spielend darauf hin. Just dagegen erinnerte an das Meer, von dem man nie weiß, wohin seine Stürme führen. Manches Mal dacht' ich an den bösen Wunsch, der uns mitgegeben war und erschrak vor dem brennenden Durst nach Glück in des Knaben Seele. Aber warum sollte er nicht glücklich werden? Geistig und körperlich war er herrlich für das Leben ausgestattet. Von mir waren Beide verschieden. Eins hatte ich gelernt bei den Vielen, die unter meinen Händen erwuchsen: man muß nie danach trachten, sie sich gleich zu machen, so sehr auch die eigene Natur dahin drängt; es ist eine gefährliche Sache, eine egoistische Regung, bei der die Pflanze verkümmert oder wild ausschlägt, mit Gewalt die Fessel zerbricht und in geilen Zweigen ihre Kraft vergeudet.

Dortchen schleppte dem Just Alles nach, wie die beste Dienerin, fühlte sich beglückt, geehrt, wenn er es sich nur gefallen ließ. Dann und wann sah sie ihn sich dabei von der Seite an, strahlend, und darauf mich, als fragte sie. »Kann man ihm je genug thun? ist er nicht ein Mirakel von einem Jungen?«

Schön war er wirklich, etwas adeliges, Hohes im 238 Gesicht, als geruhte er nur in unserer niedern Hütte zu wohnen; dabei doch freundlich, fröhlich wie Sonnenschein, der da sagt: »Was kann ich dafür, daß ich heller leuchte als der kleine Stern?«

Ich war bös auf Dortchen. – »Schäme Dich«, schalt ich, »Du bist doch nicht seine Magd; es ist gar nicht politisch, wenn man sich den Männern so niedrig gegenüber stellt, das Niedere wird verachtet. Hoch, von hochher muß man kommen; immer auf dem Sockel, wie eine Statue, damit sie erinnert werden, daß wir die Schwächern sind, etwa aus Alabaster, und könnten gar leicht in Stücke gehn.«

Die kleine Dirne sah mich unaussprechlich unschuldig an und verstand mich nicht. Da schwieg ich, was auch besser war; man muß hier in der Welt, wo Glück rar ist, Jeden es nehmen lassen wo und wie er es findet.

Die Wirthin rief, wo sie die Beiden sah: »Ein Pärchen, grad wie Braut und Bräutigam; wenn die sich nicht heirathen! . . .«

»Ach was!« sagt' ich; »als ob Alles da hinaus müßte, Die sind sich zu nah; beim Heirathen ist es die Hauptsache, daß man sich nicht recht kennt.«

Bis jetzt träumte sich Just Six sein Glück und ließ dessen Glanz vor Dortchen's erstaunten Augen in tausend Märchen und Farben spielen; sie saß da mit glühenden Wangen und ließ sich erzählen; ihre Glaubensfähigkeit war unbegrenzt, er hätte ihr einreden können, daß man mit einer Leiter in den Mond käme, wenn man nur der Mann danach wäre. »Just hat's gesagt«, erschien unwiderleglich.

Der Bursch' ging in das siebzehnte Jahr; 239 großgewachsen, stattlich anzusehen, mit einer Mähne wie ein Löwe. Geschickt zu Allem, beliebt bei Lehrer und Kamerad, führte den Pinsel, spielte die Geige, freilich immer dasselbe Lied, denn fleißig war Just Six nicht; was ihm nicht anflog, blieb nicht sitzen.

Sein größtes Talent war seine Liebenswürdigkeit, sein anregendes Gespräch; leider kann man nicht davon leben, das sah ich ein. Ich hoffte immer, es wäre noch Vermögen genug übrig, um ihm über die erste Zeit fortzuhelfen. Darüber sollten wir nicht lange im Dunklen bleiben; wie ein Blitz fuhr es in unsere wohlgeordnete Häuslichkeit, in der, ein seltner Fall, Jeder mit seinem Platz zufrieden war.

Michel Dürr erschien. – Die Zeit war gekommen, Michel Dürr brauchte einen Schreiber. Ich hatte mir ja längst gedacht, daß Just einen Beruf ergreifen mußte; aber gerade Schreiber! Die Feder hinterm Ohr wie der blasse kleine Jüngling im Geschäft, der Tag aus Tag ein von nichts zu leben schien, als von Tinte; – der sein Genosse fortan in dem dumpfigen Stübchen, das nie die Sonne erblickte, dessen Mauern übernächtig bleich aussahen, dessen Thüren und Fenster zu gähnen schienen! . . .

Dortchen schrie laut auf: »Das leidest Du nicht! Das ist unmöglich!«

»Ich werde nicht gefragt«, antwortete ich; »ich habe kein Recht mitzusprechen.«

»Kein Recht mitzusprechen, nach Allem was Du für ihn gethan hast!«

»Das giebt keins«, antwortete ich, »keins vor dem Gesetz, höchstens eins auf sein Herz und auf solche Rechte 240 darf man nicht zählen. Du und ich, wir haben kein Recht an Just.«

Ich sagt' es mit Vorbedacht und es machte sie sehr nachdenklich, denn sie hatte ihn immer wie Einen, der ihr angehörte, betrachtet.

Michel Dürr nahm gar keine Notiz von unserer Bedrängniß, ich glaube, er ahnte sie kaum; er kam sauber und höflich, wie immer, sich zu holen, was er zu seiner Bequemlichkeit brauchte. »Junger Mensch«, redete er Just an, »es ist hohe Zeit, daß Sie sich irgend Jemandem nützlich machen; seien Sie dankbar, daß ich Ihnen diese Gelegenheit biete. Die Stelle eines Schreibers in meinem Hause ist eine vortreffliche, sehr begehrte, ich wende sie Ihnen zu als Vergünstigung und hoffe, daß Sie das nie vergessen werden. Dieser Beruf führt Sie gleich auf den Weg geregelter Thätigkeit, den Sie fortan zu wandeln haben. Fleiß und Ordnung sei Ihr Wahlspruch; dann werden Sie mit dem Wenigen, was Ihnen Ihre Eltern hinterließen, auskommen. Sie sind arm, vergessen Sie das nicht, Just Six; Sie müssen von Ihrer Hände Arbeit leben. Eins erwarte ich von Ihnen, daß Sie sich nicht einen Tag länger umsonst hier werden füttern lassen.«

»Umsonst?«

»Von nächster Woche ab wird nicht mehr bezahlt.«

Just erröthete tief und mit einer Art ängstlicher Hast machte er die Sache fest und versprach so bald als möglich die Lücke bei Michel Dürr auszufüllen.

Mir war die Geschichte sehr peinlich. »Just«, sagt' ich, »meinethalben gehst Du nicht. – Du wirst doch nicht 241 zu stolz sein, das bischen Essen weiter zu nehmen, bis sich eine passendere Aussicht findet? Hast Du nicht mein Herz genommen ohne viel Federlesens, war es nicht mehr als alles Uebrige?«

»Das ist's nicht, weshalb ich gehe«, antwortete er und in seinen Augen standen Thränen; »wo gegeben wird als käm's Einem zu, merkt man ja nicht einmal, wie viel Zeche man schuldig wird. Mir ist nun plötzlich klar geworden, wer ich bin; wozu bestimmt – ein armer Kerl bin ich, bestimmt, ein saures Brod täglicher Entsagung zu essen; Alles hinzugeben, was Einem der Mühe zu leben werth scheint, um doch wieder dies werthlose Leben zu fristen. Ich habe mich für reicher gehalten. – Damit ist es vorbei – früher oder später wäre dieser Tag immer gekommen. – Was hilft's, ob Du mit Deiner großen Güte ihn noch ein Weilchen hinhältst. – Michel Dürr's Schreiberstelle ist ein Glück für mich, wie er ganz richtig sagt; ich hatte mir nur das Glück ganz anders gedacht.«

Ob es mir leid that, ihn zu verlieren, so jubelte doch mein Herz, daß er brav sein Schicksal auf sich nahm. In der nächsten Woche zog er hinüber, wir halfen ihm und Dortchen sah trostlos aus dem kleinen Zimmer in den dunklen Hof, ob sie nichts entdecke, was ihm Freude machen könne; aber da war nichts, nichts außen, nichts innen, nichts von all' Dem, was er liebte; trocken, langweilig und dürftig. Sie steckte noch eine duftige Rose in ein halbzerbrochenes Glas und dann verließ sie ihn mit einem Seufzer.

Wir sahen ihn von da ab nur selten; er hatte sehr viel zu thun; manchmal nur Mittags ein Stündchen oder Abends 242 spät, immer müde und abgearbeitet, die Leute wurden ordentlich ausgenutzt in Michel Dürr's Wirthschaft.

Dortchen stand am Fenster, die Nase am Glas, und schaute nach Just, wie sie als kleines Kind gethan.

Es war dasselbe Stübchen, in dem er so viel gelitten. Jetzt aber sah er nicht auf, über das Papier gebeugt saß er und schrieb, schrieb, daß Einem vom Zusehen die Finger schmerzen konnten.

Wenn er kam, machte Dortchen ein hohes Fest daraus, holte zusammen, was sie wußte und konnte, all' seine Leckerbissen erschienen, Schaalen voll Früchte, malerisch geordnet, wie er es liebte.

Leuchteten seine Augen im alten Feuer, als wäre eine Illumination dahinter, dann stellte sie sich entzückt ihm gegenüber und genoß seine Freude mehr als er selbst. Aber wenn sie ihm seine Geige geben wollte, daß er sein Lied spiele, wies er sie weg.

»Glaubst Du, daß er es aushält?« frug mich Dortchen besorgt; »ich glaub's nicht – man kann eine Forelle nicht im Sumpf halten.«

»Auf die Art leben die meisten Menschen im Sumpf«, antwortete ich; «meinst Du, daß Jeder hier sein Fahrwasser hat? – und die gewiß am wenigsten, die das Meer brauchen zum Schwimmen.«

»Wer aber das Meer braucht und nur solch' ein Eckchen hat«, rief sie betrübt, »der kann sich nicht entfalten, wie es ihm bestimmt war.«

»Dortchen«, sagt ich, nahm ihren Kopf in meine Hände und sah ihr tief in die Augen, »die äußere Größe thut's 243 nicht; hast Du nicht oft gesehen, in welcher Herrlichkeit sich, im engsten Raum, klein, nicht mehr vom bloßen Aug' entdeckt, die Natur entfaltet? Wir sind doch noch mehr als sie.«


Zwei Jahre war jetzt Just Six im Joch. An einem himmlischen Juniabend kam er noch spät.

Tags über war es warm gewesen; aber jetzt reckte und dehnte sich alles, Blüthe und Blatt, vom Abendthau besprengt, duftete, strömte aus und sog wieder ein in den Strahlen des Mondes, die auf und nieder zu gehen schienen in der Dämmerung; jede starre Fessel schien gelöst, Erde und Himmel in süßer Wechselwirkung. Just nahm einen großen Athemzug von der rosigen Luft und noch einen und immer wieder einen, wie Jemand, der erstickt.

Schweigend gingen wir am Fluß auf und ab. – Drüben auf den Wiesen lag der Nebel, schimmernde Sterne sahen hindurch, leuchtende Blicke aus einer glanzvollen Welt.

»Wie sie zu mir herüber blitzen«, fing er endlich an, »die ewigen unsterblichen Sternenaugen, als wollten sie sagen – Thor, der Du bist! um Dein wahres Dasein wirst Du betrogen. Soll Das Leben heißen, dies Fortkriechen im Staube, dies Arbeiten mit verbundenem Auge, gleich dem Roß in der Tretmühle? Trag' ich dafür frische Jugend in der Seele, die sich gewaltig regt, ein sprossender, wachsender, ewiger Frühling? – Tödten müßt' ich sie – tödten all' die Kräfte, denen kein Raum gegönnt ist und die nur da wären, mich zu verzehren in nutzloser Sehnsucht.«

244 »Viele müssen wie Du«, sagt' ich, «in der Arbeit leben, in der Entbehrung.«

»Ein niedriger Trost«, fuhr er auf, »ein elender! Nur jammervolle Seelen können sich daran aufrichten, daß Andere auch elend sind; im Gegentheil, grad in dem Winter fühl' ich die schwere dumpfe Luft, die auf der Welt liegt. Da sitzen sie in ihren lichtlosen Löchern, stumpf, arbeiten und erwerben sich den Tod – das ist doch erst das Ende ihrer Noth!«

»Für Dich ist besser gesorgt, für Dich, Just, ist es nur ein Durchgang, habe Geduld; bist Du fleißig, kannst Du zuletzt noch gar reich werden.«

»Wenn ich alt bin«, rief er, »nicht wahr? Wenn ich am Boden klebe, wie eine lahme Fliege, dann wird es heißen: entfalte Deine Schwingen, genieße Dein Dasein, erhebe Dich zu den Wolken. Jetzt – jetzt wär' die Zeit, jetzt oder nie. Welch' ein Leben würd' ich daraus machen, voll Kunst und Schönheit und echter Poesie!«

»Male es Dir nicht so verlockend aus, Just; es ist Dir nicht bestimmt.«

»Weshalb nicht?« rief er ungeduldig. – »Wofür opfere ich mich? für wen? – wem gehör' ich an? – für wen hab' ich zu sorgen? – Nur ein enges Gefühl von Ehrbarkeit, ein täuschendes Gefühl von Pflichttreue hält mich, fesselt mich an einen Beruf, den ich verabscheue. Freiheit, nichts als Freiheit will ich für's Erste; ich bin schon reich genug, wenn ich in Gottes freier Natur wieder einmal nach Herzenslust herumlaufen kann, arbeiten nach meiner Manier, nicht geknechtet wie im Arbeitshaus.«

245 »Pflicht«, sagt' ich, »scheint Einem immer Fessel – von der Einen gelöst, kommt oft die schlimmere.«

»Wo Pflicht nicht Freude ist«, rief er, »wird sie nie voll und ganz erfüllt!«

Da hatte er Recht und wir gingen wieder schweigend zwischen den verführerisch duftenden Blumen.

Ich wußte, er würde sich losmachen und zitterte für ihn. Es ist immer gefährlich sich von der Menge zu trennen, seinen eigenen Weg zu gehen, selbst zu bestimmen, was man für seine Pflicht halten will.

»Bist Du mir bös«, frug er, als wir schieden; »ich will ja deshalb kein Taugenichts werden!«

»Werden will es Keiner, Just«, antwortete ich betrübt; »aber plötzlich ist man es und kann dann nicht mehr anders.«

»O, ich kann, was ich will!« rief er; »jetzt aber will ich mein Leben genießen! – Du selbst bist schuld daran,« fuhr er eifrig fort, »als Du das mißhandelte Kind vom Elend befreitest und ihm zeigtest, daß man glücklich sein kann und darf.«

Dortchen ging ihm nach bis zur Gartenthür, sie redeten verstohlen miteinander und als sie zurückkam, glänzten ihre Augen von Thränen.

»Er muß los! – er muß fort!« wiederholte sie immer. »Ach, ich wollte ich wäre reich wie eine Prinzeß, daß ich ihn loskaufen könnte, wie man einen Vogel dem Händler abkauft, ihm den Käfig öffnet und ihn fortschwirren sieht, als ging es direct in den Himmel.«

»Da wär' er recht edler Art«, fiel ich ein, »wenn er 246 mit Deinem Geld seine Sprünge machte; es sieht Manches groß und hoch aus und ist doch sehr niedrig. Das Beste ist eben, daß er arm ist; er mag wollen oder nicht – zur Arbeit muß er zurück, wenn er nicht verhungern will. Uebrigens«, fuhr ich fort, sie dicht an mich heranziehend, »häng' Dein Herz nicht an ihn, er hat Dir nichts dawider zu geben.«

»Als ob ich das wollte«, antwortete sie erröthend; »wenn man Jemanden lieb hat, trägt das nicht Lohn genug in sich? Er ist so mein Stern, nach dem ich sehe, an dem ich mich erquicke; ohne den wär's dunkel, mit ihm wird Alles licht; ich bin ihm so dankbar, daß er leuchtet.«

Nach ein paar Tagen war der Platz leer drüben im Stübchen, der Vogel ausgeflogen – er hatte die Stäbe durchbrochen, er war heimlich davon.

»Du bist schuld daran,« sagt' ich Dortchen, die offenbar darum wußte.

»Soviel ich konnte, ja«, antwortete sie eifrig; »wär' es nur mehr gewesen; ich gab ihm, was ich hatte, mein kleines Kreuz von der Mutter, die Ringe – Alles was ich an Geld aufbringen konnte. Du warst immer freigebig gegen mich, zu größerer Freude hätte ich es nicht aufsparen können. Mit Dem, was er selbst besaß, war's grad zur Ueberfahrt genug.«

»Pfui, daß er's genommen«, sagte ich.

»Schilt ihn nicht, ich zwang es ihm auf, er nahm es mir zu Liebe –«

»Liebe – nennst Du das Liebe? Sich zu Nutzen und Vortheil nahm er's.«

247 Michel Dürr faßte die Sache sehr phlegmatisch; ein anderer Bursch hatte sich gleich eingeschoben, der hatte nur darauf gewartet und lächelte mitleidig über den Schwärmer, der den guten Platz so leicht aufgegeben.

Als ich Michel Dürr unter der Hausthür traf, sagte er mir: »Jungfer Modeste, besser, Sie hätten den Jungen damals schreien lassen! Eine weiche Hand taugt nichts für Einen, den das Leben rauh anfaßt, der nichts zu erwarten hat als Arbeit, und wer zum Dienen geboren, den muß man das Herrschen nicht lehren.«

In mir stieg der Zorn auf. »Das lernt der Mensch immer schwer,« antwortete ich, »und Mancher begreift es nie, daß wir Alle zum Dienen geboren sind.«

»Er wird sich gehörig die Flügel verbrennen«, fuhr er fort, ohne auf meine Rede einzugehen; »ich gönne es ihm. Mich geht übrigens die ganze Geschichte wenig mehr an; was er hatte, ist in der Erziehung drauf gegangen, auch haben seine Papiere Unglück gehabt. Ich bin froh, daß ich ihn mit guter Manier los bin; es ist zu viel verlangt, daß man sich noch mit dem Geschick einer andern Menschenkreatur abplagen soll, man hat am eigenen genug.« Damit zog er seinen Hut tief und ließ mich meiner Empörung.

Just war wie verschollen. Erst warteten wir täglich auf einen Brief, dann Wochen, dann Monde, zuletzt verfiel man in die stumpfe Stimmung, die man Resignation nennt. Dortchen ging still ihrer Arbeit nach, sie war in der ganzen Nachbarschaft bekannt für ein der brauchbarsten, hausmütterlichsten Mädchen. Mir war sie Alles in Allem, mein Trost, meine Freude, meine Pflege, mein Glück. Wenn 248 die Mütter stolz ihre Kinder führten, hatte ich keinen Neid, in mir jauchzte es nur: »Du hast auch eins – es ist Dein, für Dich, für Dein Herz;« nicht ein Eckchen blieb unausgefüllt darin von Liebe und Wonne.

Da entstand – es war etwa zwei Jahre nachdem Just fort war – drüben bei Michel Dürr eine seltsame Bewegung. Die Leute aus dem Haus liefen zusammen; unsere Wirthin, die bei allem was passirte die erste war, stand da und sprach sehr eifrig, während ihr Kleinstes auf dem Fahrweg augenscheinliche Gefahr lief. Ich öffnete das Fenster und rief meine Warnung hinab. Sie raffte ihr Kind auf und schrie dann zu mir hinauf: »O Jungfer Modeste, das kommt davon, wenn man nicht wie ein Mensch mit den Menschen lebt; für nichts läßt sich Keiner drücken, bis ihm das Blut aus den Nägeln spritzt; des Herrn Dürr Kasse ist erbrochen und beraubt. Der alte Diener und der neue Schreiber sind mit dem Geld auf und davon, da kann man schon fünfzig Jahre Quälerei aushalten, wenn man sich so bezahlt macht. War das ein Lärm, als es herauskam! Michel Dürr liegt in einem Anfall über all' die Noth, über den Schrecken; man gönnt es ihm aber gründlich«, fuhr sie beredt fort und Alles im Hause stimmte ein: »Solch' Einer, der Alles für sich will, immer für sich, nichts für die Andern!«

Ich machte mein Fenster zu. »Ja, ja«, dacht' ich, »das verzeiht man am schwersten, weil es Einem am meisten in die Quere kommt.«

Den nächsten Tag erschien der blasse Schreiber bei mir; er bat mich zu seinem Herrn zu kommen, der mit mir 249 reden möchte, aber noch zu schwach zum Gehen sei nach all' dem Aerger.

Ich sah ihn erstaunt an. »Was soll ich Herrn Michel Dürr helfen«, frug ich, »da ich weder Arzt noch Polizei bin?«

Der bleiche Jüngling zuckte mit den Achseln, beschwor mich aber zu kommen, schon damit er keine Schelte bekäme; ich hätte ja ein mitleidiges Herz, wie die Wirthin sage.

Ich konnte es nicht leugnen und ging hinüber.

Der alte Mann saß aufgeputzt, zierlich wie immer, in seinem Lehnstuhl; dennoch sah er aus als wär' er um viele Jahre älter. Die Sorgfalt des Anzugs ließ den Verfall des Körpers noch schärfer hervortreten.

»Jungfer Modeste«, hub er an, »Otterngezücht diese Menschen! undankbare Schlangen! Bezahlt, genährt, gekleidet, was wollen sie denn mehr? Es ist abscheulich, wie schwer einem das bischen Ruhe gegönnt wird, das man zum Leben braucht. Ich bin ganz aus dem Gleichgewicht und das Mißtrauen ist mir vollständig wie ein Fieber in das Blut gegangen; lange ertrag' ich das nicht, ich muß machen, daß ich so bald als möglich aus dieser fatalen Lage komme.«

Noch immer begriff ich nicht, was ich ihm dazu helfen sollte, da fuhr er fort: »Jungfer Modeste, Sie sind vernünftig, verständig, mit Ihnen läßt sich ein für beide Theile vortheilhafter Handel ohne unnütze Sentimentalität besprechen. Sie haben da ein allerliebstes, häusliches, artiges kleines Ding erzogen, das Dortchen – Jeder, der sie kennt, weiß etwas Gutes von ihr zu sagen; man rühmt 250 sie mir sehr und sehen Sie, grad solch ein ehrenhaftes Kind könnt' ich hier im Hause brauchen. Ich setzte sie über all' die Schelmen und wär' der Noth ledig. Mein Compliment, das Mädchen ist Ihnen viel besser gerathen, als der Bursch; ja, das artige Dortchen, das paßte mir grade. Sie führt natürlich nur die Oberaufsicht und mag zu Ihnen gehen so oft sie will. Denn auf Umgang mit Frauen mach' ich keinen Anspruch; nur für die Wirthschaft, da sind sie doch manchmal unentbehrlich.«

Mir schwoll die Zornesader und das Herz schlug mir so hoch im Hals, daß ich kaum die Worte herausbekam: »So, also das Dortchen, mein Dortchen, das wär' Ihnen grad recht?«

Er sprach ruhig fort: »Ja, Jungfer Modeste; aber dann möcht' ich sie auch so bald haben als möglich.«

Da floß mein Gemüth über wie ein Strom im Frühling, bei dem kein Haltens mehr ist; alle Grenzen überstürzt er mit lang angesammelter Fluth.

Die Worte weiß ich nicht mehr, dies etwa der Sinn:

»Was hätt' ich für einen Grund, Ihnen, Herr Michel Dürr, mein Herzblut zu geben, Ihnen meine Freude, meine Bequemlichkeit zu opfern, für Sie gearbeitet zu haben, meinen Augapfel, mein Kind erzogen zu Ihren Diensten? Wie käm' ich dazu? und wie kommen Sie dazu, mir solch' einen Vorschlag zu machen?«

Er ließ mich ruhig ausreden, lächelte, zupfte sich die Manschetten zurecht. »Jungfer Modeste,« fing er endlich an, »wie ich sehe, sind Sie auch nicht vernünftig; wenn es an sein Eigenthum geht, da schreit Jeder, denn es geht ihm 251 an den Kragen. Sie vergessen, wovon ich ausging; einen Handel wollt' ich mit Ihnen machen, oder vielmehr mit Dortchen. Sie gingen so zu sagen leer aus, oder müßten gar noch zuzahlen, all' die guten Dinge aufgeben, die Sie mir da herzählen, zu Ihres Kindes Gunsten, für Ihres Kindes Glück.«

Ich schwieg und ein banges Gefühl beengte mir das Herz. »Was wollen Sie uns thun?« frug ich.

»Nun«, fuhr er lächelnd fort, »für Dortchens Zukunft sorgen, wenn sie mir jetzt ihre Gegenwart opfert. Ich habe keine Angehörige, die mir Das umsonst thun könnten, was ich bezahlen will; es ist mir auch lieber; so weiß ich, was ich habe. Dortchen soll meine Erbin werden, wenn sie es unternimmt, mir all' die Unannehmlichkeiten fern zu halten, die mit einem Haushalt verbunden sind. Auf diese Art kommt mir mein Vermögen doch noch bis zuletzt zugute.«

Mir war, als fasse eine eisige Hand nach dem warmen Leben in mir. Ich konnte nicht reden.

»So viel ich weiß«, sprach er weiter, »und ich kenne Ihre Vermögensverhältnisse, können Sie nichts weiter für das Kind thun, als es kleiden und nähren; sobald Sie die Augen schließen, und das kann jeden Augenblick geschehen, steht das Mädchen verlassen, auf sich selbst angewiesen da. Eilig muß es sich dann ohne Vergütigung, ohne glänzende Aussicht nach einem Dienst umsehen, wie ich ihn heut' biete; wer weiß, ob sie ihn findet; hab' ich Recht, Jungfer Modeste?«

»Dortchen wird sich zu helfen wissen«, fiel ich ein. 252 »Solch' ein fleißiges, tüchtiges Mädchen verkommt nicht, das hat eben Jeder gern im Haus, wie Sie selbst bezeugen.«

»Sie wollen Dortchen für sich behalten, Sie sind eine Egoistin«, sagte er, sich abwendend; »vielleicht verkommt's, vielleicht auch nicht, darauf lassen Sie es ankommen. Sie denken eben an sich, nicht an das Kind bei der Sache.«

Seine Worte trafen wie ein Dorn; ich hatte an mich gedacht, an meine Entbehrungen, an meinen Verlust.

»Ich will Dortchen nicht im Lichte stehen«, fing ich zaghaft wieder an; »aber Geld ist doch nicht das Einzige zum Glück.«

»Nicht das Einzige, aber doch sehr viel«, bemerkte er; »nennen Sie es anders, Freiheit, Selbstständigkeit, die Möglichkeit Gutes zu thun, zu thun, was Sie thaten, Jungfer Modeste.«

Ich begann zu schwanken und zu zagen. Es war wohl ein großes Glück . . . durfte ich es Dortchen vorenthalten? Dann wieder schien es, als wär' etwas Böses dabei; wenn ich es aber fassen wollte, waren es meine selbstsüchtigen Gedanken, die mit mir rangen.

Wer ganz eng miteinander gelebt, im selben Haus, im selben Zimmer, der weiß, was es heißt, sich trennen. Es ist grad, als risse man von Zwillingsbäumen, die Wurzeln und Aeste verschlungen halten, einen aus dem Erdreich; rings entstehen Lücken und dürre Flecke und die Blumen gehen aus, die den Platz fröhlich machten, und es ist um Einen her wie eine Verwüstung, die nur langsam, oft nie wieder gut zu machen ist.

253 »Lassen Sie mich jetzt gehen, Michel Dürr«, bat ich; »solche Dinge muß man mit sich allein abmachen, morgen früh haben Sie Bescheid.«

Ich wußte kaum wie ich herauskam; in meinen Füßen lag's wie Blei; stramm ging ich nach meiner Kammer, sie war voll Sonnenschein; aber das Licht that mir weh, ganz dunkel macht' ich's, und dachte an Dortchens Mutter, die hatte sterben wollen, weil man ihr das Liebste nahm. »Es ist eine Art Tod«, sagt' ich mir, »jetzt weiß ich es.« Die Vernunft rechtete dagegen: »Dein Kind lebt, liebt Dich, was verlierst Du?« Eins, eins, nach dem mich verlangte wie nach der Luft, die ich athmete – ihre Gegenwart. Mag man sagen, was man will, mag man die Treue preisen über Jahre hinaus, über weite Meere hinweg – immer getrennt! – Liebe kann ja nicht vergehen, aber die tägliche Gegenwart, diese Sorge für einander, diese Luft an einander ist ihr wahres Leben, ihre persönliche Erscheinung hier auf Erden.

Ein schmeichelnder Frühlingswind schlich sich durch die geöffneten Fenster, er frommte mir so wenig wie dem Baum, der verdorrt. Das also war das Ende der Sache? – das Ende von Allem? – Wie Just, rang ich mit meinem Schicksal und rief ein über das andere Mal: »Dafür soll ich gelebt haben! – dafür soll ich mich geplagt haben! – soll mir nichts gehören in der Welt?« – Habsüchtig reckte ich die Hände nach Besitz aus und wo ich ihn fassen wollte, wich er zurück, schattenhaft, mich immer wieder verlockend, eine Fata morgana in der Wüste. Ich mag es 254 kaum schreiben, was mir durch die Seele ging – als sei es leichter, sein Liebstes dem Himmel wiederzugeben.

Mein, mein sollte das Kind sein, kein Anderer als ich sollte sein Glück machen. – Warum war die Macht in meine Hand gelegt, die nichts gethan, diese Wonne zu erlangen? – Warum mir genommen, was eigentlich als Lohn der Mühe mir zukam? Hatte ich denn nichts erworben, durch all' die schweren Stunden, die man mit einem Kind durchlebt, bis es erwächst? Immer wieder verarmt – warum ich – grade ich! . . . Ungerechtigkeit ist oft der bitterste Tropfen im Leiden.

Ich zog den Vorhang auf, um freier zu athmen. Wie sich Alles in der jungen Natur regte und bewegte! – Hinaus, herein flog's in die Nestchen; Schwalben, Spatzen, Finken – Alles bunt durcheinander. Wie sie sich an einander vergnügten, sich fütterten, schnäbelten. – »Jedes hat etwas zu pflegen, zu lieben in der Natur«, sagt' ich bitter, »von selbst fällt es ihnen zu; aber dem Menschenherzen geht es anders, einsam sucht es, schmerzvoll ringt es, und erringt sich nichts als die Sehnsucht danach, wie einen Brand in der Seele.«

Ich ging hinunter in den Garten zu Dortchen; ich war ja nicht zweifelhaft, seitdem ich erkannt, daß es ihr Glück galt. Sie war bei ihren Blumen. »Was mag nur mit der Pflanze sein?« rief sie mir zu; »der eine Blüthenstock will nicht keimen, so viel ich ihn gieße.«

»Er ist zu alt«, antwortete ich; »es geht ihm grad wie mir.«

Sie sah mich lächelnd an. »Du alt?« wiederholte sie; »Du hast überhaupt kein Alter – ich weiß nicht, daß Du 255 je anders gewesen sein könntest, blühender, frischer. Du bist wie der Tannenbaum, Sommer und Winter grün.«

»Selbst für den Tannenbaum«, griff ich auf, »kommt die Zeit, wo seine Nadeln verdorren, sein Holz morsch und unbrauchbar wird.«

Sie sah mich aufmerksam an. »Fehlt Dir was?« frug sie, »was ängstigst Du mich?« – und ich sah ihr an, daß sie die traurige Erfahrung machte, plötzlich mit unverhülltem Auge zu sehen, daß der Verfall die Hand ausreckte nach Dem, was ihr ewig unveränderlich schien, wie der Himmel. »Wir können nicht immer zusammenbleiben, Dortchen«, sagt' ich – und eine Thränenfluth, zu groß, um in die Augen zu treten, stockte in meinem Herzen. »Vergleiche doch nur, meine weißen Haare, Deine nußbraunen Flechten; Deine frischen Wangen, meine tausend Falten. Unsere Zukunft kann nicht zusammenfallen, Du mußt ein Stück Wegs später allein gehen. Alte Leute sollten das nie vergessen und der jungen Schicksal sich anschließen, als nähm' es kein End' mit dem Eigenen. Dortchen, ich muß Dich von mir lassen; wegen Deiner Zukunft muß ich das thun. Jetzt kann ich Dich noch nähren, kleiden – aber später, wenn ich schwach oder krank würde und nicht mehr recht wüßte, was die Jugend braucht, selbstsüchtig durch Leiden – was dann?« –

Sie faßte nichts, als daß sie mir zur Last werden könne. »Du hast Recht«, rief sie zärtlich, »Du könntest Etwas brauchen, es muß Jemand da sein, der die Möglichkeit hat, Dir zu helfen wie Du mir geholfen. O, daß ich so blind war – daß ich warten mußte, bis Du es sagst. – Hast Du schon einen Dienst für mich?«

256 Das Wort verwundete mein Ohr.

»Es ist mir sehr hart, Dich dienen zu lassen, Dortchen, wenn es nicht so große Vortheile für Dich hätte.«

»Als ob dienen eine Schande wäre! Ist dienen aus Liebe nicht das schönste Loos auf Erden? Mag ich hingehen, wohin ich will, dienen, wem ich will, Dir dien' ich – Dir aus Liebe, wie Du mir gedient hast, als ich hülflos auf Deinen Armen lag.«

Wie ich ihr gesagt hatte, worum es sich handle, schlug sie die Hände fröhlich ineinander. »So nah!« rief sie, »welch' ein Glück, und ich fürchtete, ich müßte ganz von Dir fort! Alle Tage werd' ich Dich sehen, Dich in der Nähe wissen, fast bleiben wir beieinander.«

»Fast!« – klang es in meiner Seele nach; »nie mehr ganz!«

Wir packten ihre Sachen zusammen. Ich drängte sogar mit Unruhe, daß sie hinüberkam und wieder bei jedem Stück, das ich in die Hand nahm, war's als sei's ein Abschied von ihr selbst. Schon nach wenigen Tagen schlief sie drüben.

Es kam ordentlich wie Angst über mich, so verlassen war mir zu Muth. Wer's erlebt hat, der weiß, was es heißt, solch' ein leeres Bett neben sich zu sehen. Abschied hat eine grausige Aehnlichkeit mit dem Tode.

Dortchen kam alle Tage herüber. Michel Dürr ließ ihr volle Freiheit. Er ging seinen alten Weg nach der Ressource und war ganz froh, wenn sie ihre Pflicht im Verborgenen wie ein unsichtbarer Hausgeist that.

Saßen wir zusammen, so sprachen wir natürlich über 257 Just, ob er sein Leben nun nach seinem Wunsch eingerichtet, ob er vielleicht doch endlich wiederkäme aus Amerika, alle Hände voll Gold.

Es wurde Winter darüber, November; ich saß am Fenster und sah die Flocken fallen, Alles weiß; die Augen wurden Einem krank davon. An den Sommer dacht' ich, der verloren war, und an Dortchen – dann wieder schalt ich auf mich, daß ich immer an das Verlorene dachte und vergaß, was mir geblieben. »Schäme Dich,« sagt' ich; »Du weißt, Dein Kind kommt und hast ein Herz wie eine erfrorene Blumenstaude; die schlägt nicht mehr aus, mag der Sommer dann auch kommen, ihr frommt's nicht mehr, ihr Grün ist schwarz, ihr Kelch für immer geschlossen.« – Mir wurde Angst bei dem Bild! Ob es wirklich mit mir so kommen sollte?

Da ging die Thür auf und Dortchen trat herein.

Nein, erfroren war mein Herz nicht; es war gleich voll Sommerwonne! Dabei jauchzte auch das Dortchen und hielt einen Brief in die Höh' und das dunkle Stübchen war plötzlich so voller Lust, wie eine Kammer im Weihnachtsglanz.

Wir rückten uns ganz dicht an's Fenster zum Licht. – Dortchen las vor, ich konnte nicht schnell genug mit meiner Brille auf die Nase kommen.

»Ihr, meine Liebsten!« fing es an – der Anfang ganz allein war schon für Dortchen genug. »Wundert Euch nicht, wo dieser Brief herkommt; ich bin nicht nach Amerika gegangen, sondern nach Italien, dem Land meiner Sehnsucht. – 258 Alles, was ich je geträumt, verlegte ich dorthin und habe mich nicht geirrt . . .«

»Er ist wieder hinter die Schule gegangen«, unterbrach ich sie; »in Amerika wollte er Geld verdienen und geht statt dessen nach diesem verführerischen Land, wo die Bummelei als Kunst betrieben wird.«

Dortchen fuhr begeistert fort, ohne sich durch meine Prosa stören zu lassen:

»Keine Schwärmerei, keine Phantasie erreicht solche blaue Nacht am warmen südlichen Meer – nirgends ein Mißton, weder in Laut noch in Farbe, umringt von Glanz und doch einfach, umduftet von tausend Blüthenkelchen, mit Myrthen bekränzt, wie eine Braut. Sie ist meine Geliebte, ich liege ihr zu Füßen, ich trinke Wonne, bis ich berauscht in ihre Arme sinke. Nichts verlang' ich vom Leben, als immer so still daliegen zu können in Anbetung versunken.«

»Wahrhaftig«, unterbrach ich Dortchen empört, »wenn ihn nicht seine Jugend entschuldigte, dächt' ich, er wäre verrückt. Kein vernünftig Wort darin oder gesunder Sinn und Menschenverstand. Ist das eine Position für Einen, der seinen Lebensunterhalt nüchtern verdienen soll – berauscht von Orangendüften! – ich beneid' ihn nicht um das Erwachen.«

Dortchen hörte mich kaum und las weiter: »Hier am Meer, zwischen den Felsen eingeklemmt, bau' ich mir einst mein Nest – wann? Einmal – ich bin zufrieden mit der Hoffnung. Hier, wo die Welt unendlich scheint – wo nicht jedes Fleckchen ängstlich eingehegt ist, wo man sich noch dehnen und strecken, wo man allein noch leben 259 kann! Meine Geige oder mein Pinsel haben mir fortgeholfen. Dies nenn' ich Arbeit nach meinem Sinn; nur wenn die Seele mich dazu treibt. Ich führe eine Art Zigeunerleben, ein herrliches, freies Dasein, wo der Tag für den Tag sorgt. Am liebsten lieg' ich im warmen Sand am Meer, jede Welle trägt mir Gedanken zu. – Schönheit auf Schönheit enthüllt sich meinem Blick, ich lerne erst sehen, leben; Ihr zu Haus wißt nicht, was das heißt. – Mit vollen Zügen all' diese Herrlichkeiten einsaugen, die für uns geschaffen sind – meine Seele wächst daran, erhebt sich, lebt. – Leben heißt eben glücklich sein; alles Andere ist Tod. Sterbend schleppen sie sich umher und wissen nicht einmal, daß sie Schatten sind. Ich aber, der es weiß, fliehe sie und ihr Elend. Mich soll man nicht wieder einengen, geistloses Zeug zu arbeiten, bis mein Sinn verknöchert, mein trübes Auge schlaff kein helles Licht zu fassen vermag. Für wen, frag' ich wieder, sollt' ich das thun? – und wozu? Was kümmern mich Die, die nach mir kommen; mag Jeder nur für sich selber sorgen, dann ist für Alle gesorgt. Ja, ich wag' es, diesem thörichten Ameisenbau der Menschheit Hohn zu sprechen; ein Fußtritt der Zeit, ihr Werk ist zerstört, und dennoch schleppen sie unermüdlich ihre Lasten denselben Weg.«

»Unnützer Bursch«, fuhr ich auf, »unnütz und hohl. –«

»Muß denn Alles nützlich sein?« frug Dortchen betrübt; »kann nicht auch Einiges nur schön sein? Manche Blume, die keine süße Frucht bringt; erfreut das Herz und thut oft mehr damit.«

260 »Blumen sind dafür geschaffen; seit wir das Paradies verloren, sind wir geschaffen zur Arbeit.«

»Giebt es nicht welche, die wie eine Erinnerung an das Verlorene sind? Menschen«, fuhr sie begeistert fort, »hohe Geister, die verbannt zu uns herunterkamen, voll Heimweh nach reinerem Aether – getödtet vom Staub, ohne Kraft gegen den Frost – mit Fittigen, zart wie der des Falters – erfreuen wir uns nicht an ihnen, wie am Falter, der nur den Honig aus den Blüthen nimmt? Gern giebt jede ihren Kelch, glücklich, wenn er es nur von ihr fordert. – So ist Just. – Es thät' mir zu weh, säh' ich ihn am allgemeinen Joch ziehen, mit Staub bedeckt, im Schweiß seines Angesichts. Ich wollte, ich könnte es für ihn thun, ich liebe Arbeit.«

»Die schwerste Arbeit kann Keiner für den Andern thun, Dortchen; davon hat jeder selbst alle Hände voll.«

Noch ein Jahr und es kam eine große Veränderung über uns. Drüben bei Michel Dürr zog der Tod ein. Er hatte gar nicht viel Umstände gemacht, nichts angekündigt – umsonst war heut' das ausgesuchteste Essen für Michel Dürr in der Ressource bestellt; er hatte gesagt: »Ich komme morgen wieder;« aber er kam nicht morgen, nicht übermorgen, nie mehr.

Er lag todt und starr und war fertig mit seiner Aufgabe. Dortchen rief mich in ihrer Erschütterung gleich hinüber; wir standen Beide und sahen ihn an. Seltsam war's, in das Antlitz zu schauen, dem ich mit so schwerem Herzen die letzte Freude, oder vielmehr die letzte Wohlthat gegönnt hatte. Ein eigen Ding, eine solche Leiche, die in 261 ihrer ehrfurchtgebietenden Hoheit daliegt und sagt: »Ich bin Dir entrückt – so hoch als der Himmel über der Erde ist, bin ich über Dir; Du kannst mir nichts geben, nichts nehmen mehr auf der Welt. Behalte Deinen guten Willen, verschließ Deine gute Wünsche in Deinem Herzen; wenn Du mir etwas schuldig geblieben, es kommt jetzt Alles auf die große Rechnung am jüngsten Tag.«

Ich war froh, daß er Dortchen gehabt hatte, daß ich mein Glück nicht allem Andern vorgezogen. Wie hatte ich gezagt, als sollte der Schmerz eine Ewigkeit dauern – und nun war es schon überstanden! – Sind wir Großen doch grad so kindisch wie die Kinder und meinen überall, die Ewigkeit zu haben – bald in der Freude, bald im Kummer.

Ich hatte mein Kind zurück. Dortchen kam in die Erbschaft. Sehr froh war ich, daß Just nicht da war, sie dachte natürlich gleich an ihn.

Da nahm ich sie ordentlich vor. »Du bist nicht seine Schwester, bist durchaus nicht mit ihm verwandt; er darf kein Geld von Dir nehmen und Du darfst ihm damit keine Fessel auflegen, die ihn binden könnte. Bis hieher wart Ihr Kinder – die Sitte darf man nicht verletzen.«

»Die Sitte nicht«, antwortete sie betrübt, »und doch das Gebot der Liebe, das da sagt: wir sollen uns untereinander helfen wie Geschwister. Es ist so viel Verkehrtes in der Welt! Manchem ist man gut und darf's ihm nicht zeigen und wieder soll man oft Gefühl zeigen und hat kein Herz dazu. Wie soll man sich da zurechtfinden? Kannst 262 Du nicht von dem Reichthum nehmen und schicken, was er braucht?« –

»Es wäre Gift für ihn, Dortchen«, antwortete ich, sie streichelnd. »Laß ihm seine Armuth; mir ist, als verscheuch' ich seinen Schutzengel mit dem Geld.«


Bis jetzt schien ihn der Mangel nicht zu drücken. Er schrieb überschwängliche Briefe voll Gluth und Uebermuth; bald war er hier, bald dort, bald malte er Teresina, bald sang und tanzte er mit Marietta. Dann wohnte er auf felsigem Abhang am Meer im Kloster bei den Mönchen. Mich wunderte nur, wann er mit all' dem Vergnügen fertig sein würde. Plötzlich verstummte er – verschwand aus unserm Leben wie ein Sonnenstrahl hinter Wolken. Es wurde Sommer und Herbst – keine Nachricht. Dortchen sagte nichts; sie war scheu, von ihm zu reden, seit dem Tag, an dem ich mit ihr über ihr Verhältniß geredet.

Ich saß allein auf der Terrasse am Fluß. Die Herbstsonne funkelte in den Blattgewinden, ihre bunten Blätter durchleuchtend, bis sie zu Smaragd und Rubin wurden, Tropfen gleich Demanten dazwischen – Flitterstaat, den die Natur im Herbst anlegt – ich liebe ihn nicht – Lüge ist's. Erst wenn die falben Blätter fallen, ist er in der Wahrheit.

Als ich noch so dachte und dazu an den Just, stand er plötzlich vor mir. Er war noch ein gut Stück gewachsen. Das Feuer seiner Augen leuchtender den je, umstrahlt von der glühend flammenden Sonne. Wahrhaftig, Dortchen fiel mir ein mit ihrem Vergleich. Er lachte fröhlich und sagte: 263 »Was staunst Du mich so an? Ich bin es leibhaftig, kein Spuk. Ich komme auch nach sehr irdischen Dingen, das Geld ist mir im gelobten Lande ausgegangen und soviel hab' ich gesehen, Geld muß man doch überall haben, sogar recht viel«, setzte er mich schlau ansehend hinzu, »wenn man sich's wohl sein lassen will.«

»Aber wo willst du es hernehmen, Just?« frug ich erschrocken; »Du weißt, hier ist keine Goldgrube.«

»Nicht von Dir und nicht von Dortchen, so gern sie's mir gäbe«, fuhr er lustig fort.

»Du willst Dich wieder an die Arbeit machen!« rief ich erfreut.

»Ei behüte«, antwortete er frisch, »so zahm bin ich noch nicht. Ein Vogel, der den Käfig gekostet, kriecht so bald nicht wieder hinein. Ich will das Geld Dem abfordern, der es mir schuldig ist.«

»Wer wäre Dir Geld schuldig?« frug ich überrascht.

»Nun, der alte Geizhals, der Michel Dürr. Was hat er mir da geschrieben? Meine Papiere wären unglücklich gewesen – ich hätte nichts mehr zu verlangen! – – War's nicht seine Pflicht, danach zu sehen? Warum hat er sich nicht mehr Mühe gegeben? – Ich werde ihn zur Rede setzen« –

»Den«, sagt' ich, »Just, wirst Du nicht mehr zur Rede setzen – Er ist todt!« –

»Was« – rief er – »todt! Michel Dürr ist todt! Das hatt' ich freilich nicht gedacht. Da hab' ich mich wieder einmal verrechnet. Er ist mir durch die Finger geschlüpft. Wahrhaftig, er ist sehr achtlos mit meines Vaters Vermögen 264 umgegangen; freilich, er quälte sich um nichts, als um seine eigene Bequemlichkeit.«

»Ja ja«, sagt ich, »und er hatte sich, um Dir zu gefallen, nur um die Deine quälen sollen! Das ist die alte Geschichte.«

»Nun werde ich mir wohl anderweitig Etwas verschaffen müssen«, meinte er sichtlich betroffen.

Mir wurde sehr angst um Dortchen, um ihn, um das böse Geld.

»Pfui!« sag' ich, »Geld leihen! Das ist der Anfang aller Liederlichkeit. Der Augenblick kommt nie, in dem man es gern wiedergiebt, immer scheint's noch nicht an der Zeit, bis es plötzlich zu spät ist. – Arbeite!«

»Als ob ich faul wäre! In meinem Hirn arbeitet es fortwährend, auch habe ich Allerlei getrieben –«

»Nur was Dir Spaß machte.« –

»Immer das alte Lied! Nun ja, was mir Spaß machte. Wenn Du nur im Geringsten den Schauder fühltest, den ich vor der Misère habe, die Du arbeitsames Leben nennst! Eh' ich nicht buchstäblich verhungere, bringt mich nichts daran.«

»Ich will für Dich thun, was ich kann«, sagt' ich, »ich hab' ein paar hundert Thaler zurückgelegt – nur Eins mußt Du mir dafür versprechen, daß Du Dortchen in keiner Weise um Geld angehst.«

»Wie sollt' ich«, rief er; »sie gäb' es mir schon, aber sie hat ja nichts!«

»Dortchen ist reich«, begann ich und erzählte ihm die ganze Geschichte von Michel Dürr's Hinterlassenschaft.

265 Er hörte mich schweigend an.

»Jetzt will ich aufrichtig mit Dir reden, Just«, schloß ich; »Dortchen würde Dir Alles geben, da hast Du Recht – geschenkt könntest Du es nicht nehmen, auch nicht geliehen; aber es giebt eine andere Manier, wie mancher Mann von Ehre zu Gelde kommt. Er heirathet eine reiche Frau. Ich lege gewiß nicht zu viel Werth auf das Geld, und meine, weil ein Mädchen reich ist, könne es um das Geld geheirathet werden, noch dazu eines wie Dortchen. Aber der Mann, der grade Geld braucht, der danach seufzet wie Du, der nehme sich in Acht, ob er nicht eine Gemeinheit vor hat, obgleich er sich vorlügt, es sei nicht der Fall. Davon erholt sich die Seele nie und daraus entsteht kein Glück. Ich meine, Du kannst nicht klar sehen, Just!«

Er sah auf den Boden und zerpflückte einen Zweig.

»Liebst Du Dortchen?« frug ich, »so sag's und ich will Dir's glauben und wir wollen vergessen, was ich gesagt habe.«

Da hob er seine klaren ehrlichen Augen, unschuldig wie Kinderaugen zu mir auf – ein brennendes Roth lag auf seinen Wangen.

»Ich weiß es nicht«, sagte er – »ich habe mich nie gefragt, wie das Gefühl hieß, das uns verband. Jetzt hast Du Recht, ist mir verwirrt zu Muth. Ich will fort. – Erst wollt' ich Dir nicht Dein Geld nehmen, nun aber muß ich Dich darum bitten, damit ich nur fort kann. Du hilfst mir wieder einmal wie in alter Zeit; es ist noch nicht so lange her, daß ich verlernt hätte, Hülfe von Dir anzunehmen.«

266 Die Rede rührte mich und ich lief was ich konnte mein Geld holen, daß nicht Dortchen etwa dazu komme und es Beiden erschwerte. Wir kamen übereins, nichts von seinem Besuch zu sagen.

Ich bracht' ihn noch bis an das Pförtchen am Fluß, die Sonne ruhte auf dem Wasser und die Welt strahlte.

»Lieber«, sagte er, »spräng' ich hier in das Wasser, einen Stein um den Hals, als zurück in das elende Joch; ich werde schon meinen Weg finden.«

Ich sah ihn mit stolzen Schritten den Pfad hinuntergehen und blieb zurück wie die Henne, die den Schwan erzogen – angstvoll und verstört. »Er wird schon seinen Weg finden; aber wohin er führt, das weiß der Himmel.«

Nun kam Dortchen – von Just schwieg ich; aber ein Geheimniß ist immer vom Uebel, selten kommt Gutes daraus oder wird Böses verhütet – wie eine halbe Lüge ruht's auf dem Menschen.

Lange Zeit hörten wir nichts von Just.

Endlich kam der blasse Schreiber aus dem Geschäft von drüben, der war mit ihm zusammengetroffen auf Reisen. Wunderbare Nachricht gab er. Just lebe in Herrlichkeit und Freuden; bald bei diesem, bald bei jenem großen Herrn. Sie könnten gar nicht mehr auskommen ohne ihn, er sei so spaßig und voller Talente, grad was sie brauchten; kein prächtiges Fest ohne ihn, er ordne Alles an, gäbe seinen Witz, sein Geschick und sie tractirten ihn dafür. Einer risse ihn nur so immer dem Andern weg.

Ich schüttelte den Kopf darüber und Dortchen klagte:

267 »Nun wird er uns vergessen, jetzt hat er, was er braucht.«

»Wenn er nicht mehr braucht, als das«, sagt' ich entrüstet, »wird er sein Lebtag ein nichtsnutziger armer Kerl bleiben.


Grad über dem Fluß lag ein Wäldchen; im Sommer war es sehr lieblich dort zu sitzen. Wir fuhren manches Mal hinüber und sonnten uns aus. Auch heut' – da kam Jemand durch den Wald geschritten, zwischen den schlanken Fichtenstämmen hindurch, grad auf uns zu; mich blendete die Sonne, aber Dortchen fuhr auf wie ein getroffenes Reh und rief – »Just!«

Er war es wirklich – ich hätt' ihn nicht gekannt, hohlwangig, hohläugig wie ein Schatten seiner selbst. Umsonst versuchte er, meine Empfindung hinwegzuspotten; Dortchen wurde ganz bleich.

»Armer Sohn«, sagt' ich, »Du siehst nicht aus, wie Jemand, der das Vergnügen gefunden hat – keine Arbeit hätte Dich mehr herunterbringen können.«

Er beugte den Kopf und antwortete nicht.

Ich wußte, er war zuletzt in einem schönen Palast gewesen, einem reichen und edlen Haus.

»Just«, hub ich an, »es war Deiner nicht würdig, Dich dort füttern zu lassen; es freut mich, daß Du es nicht länger ertragen hast.«

Er blitzte mich an mit seinen Augen in der alten stolzen Manier. »Wer sagt, daß ich mich umsonst habe füttern lassen? Ich gab ihnen mehr, als sie mir.«

268 »Mit geistiger Münze ist schwer zu rechnen, Just; Cours und Werth gleich zweifelhaft, dazu schlägt der Geber den Werth weit höher an als der Empfänger.«

»Wahrhaftig ich nicht«, fuhr er dazwischen; »bettelhaft kam ich mir vor, und weshalb? weil ich nicht zu Sammet und Seide geboren war; weil ich wie ein ungebetener Gast an dieser glänzenden Tafel des Lebens stand; zugelassen, geduldet – aber ohne Recht daran. Mitten in den geschmückten Sälen, strotzend von Luxus, hing mir meine Armuth an und raunte mir zu: Dir gehört nichts von dem Allen – nichts – – Du gehörst nicht hierher; was willst Du hier bei den Festen des Lebens? Du gehörst zur Arbeit, zu den Sclaven, die sorgen müssen, daß es den Reichen an keiner Annehmlichkeit fehlt – Geh, nimm das Bündel Elend, das für Deinen Rücken bestimmt war, was zauderst Du? Alles stößt Dich darauf, willst Du verhungern? – Ja, lieber todt sein, lieber heut als morgen – ich habe einen Ekel vor dem Leben.« –

»Just«, rief ich erschreckt, »hast Du keine Religion? . . .«

»Religion!« wiederholte er spöttisch; »mit dem Wort wird erschrecklich Mißbrauch getrieben. Wer kann sagen, er besitzt sie – weiß er es, schon eh das Ende seiner Leiden da ist? – Ebensogut könnte er sagen: ich besitze den Himmel! Eines aber, wenn Ihr das auch Religion nennt, davon ist meine Seele erfüllt, wie die Pflanze von ihrem Saft – unauslöschliche Sehnsucht nach allem Hohen, Edlen – Ewigen; nach Allem, was mir hier auf Erden unerreichbar ist, nach dem ich die Hände umsonst in heißer Liebe 269 ausstrecke. Warum soll ich nicht Heimweh danach haben? warum nicht heimzukehren wünschen?«

Ich hätte ihn schelten können, ihm das Hohle seiner Existenz zeigen; aber vom Reden ist selten Einer anders geworden. Wir hörten seine Klagen an, die in Bitterkeit ausströmten; als wir zu Hause waren, wollte er gleich fort. – »Was soll ich bei Euch – ich passe nicht zu Euch« – aber ich litt es nicht und so blieb er für heut' unter meinem Dach.

Es war eine mondhelle Nacht, warm, licht. Ich konnte keinen Schlaf finden und stand am Fenster. An die Kinderwärterin des Just dacht' ich, an ihre prophetischen Worte, ihm hafte Unglück an – Unglück für Die, die mit ihm in Berührung kämen. Vielleicht hätte es sich wenden können, damals als ich ihn warnte; vielleicht war er, als der faule Knecht, der fleißigen Magd bestimmt; es that mir leid, daß ich gesprochen hatte. Nie ist man doch thörichter, als wenn man sich weise genug dünkt, Etwas an der Weltordnung mitzuschieben.

Während ich noch mit mir rechtete, sah ich Just den Weg zum Fluß hinuntergehen. Mir schoß wie ein Blitz ein Gedanke durch die Seele – rasch öffnete ich die Thür und ging dem Wanderer nach – leise, um Dortchen nicht zu stören, die zu schlafen schien.

Draußen war's so stumm wie der Tod, geisterhaft leuchtete hie und da ein vom Mondstrahl getroffener Busch mir entgegen. Auf dem Steg, an dem die Schiffe anlegen, fand ich Just, ich rief ihn beim Namen, er schrak zusammen wie ein Mondsüchtiger.

270 »Du hier! was willst Du hier?« frug er mich barsch.

»Ich suche Dich«, antwortete ich, »Dich, Just, den ich verloren habe; ich suche mein Glück, wie Du Deins, und kann es nicht finden, so lang ich Dich elend weiß. Du gehörst dazu. Wie sehr, möcht' ich Dir eben sagen.«

»Ich kann Niemandes Glück mehr sein,« antwortete er; »ich bin wie ein wundes Thier, das nur noch ein Loch sucht, um ruhig zu sterben.«

»Ein Kranker bist Du, Just.«

»Und Niemand hat die Arzenei dazu.«

Ich setzte mich zu ihm auf den Vorsprung, seine Trostlosigkeit hatte etwas Feierliches, Entfremdendes, als sei wirklich keine Hülfe für ihn. Die warme Nacht strich schmeichelnd über uns her. »Wir hätten so glücklich sein können, wir Drei liebten uns, hatten, was wir brauchten zum Leben und doch ging es nicht. – ›Ja, wenn Der oder Der anders wär',‹ seufzt Mancher, ›aber Der ist Einem nun grad wie ein Stein des Anstoßes in den Weg gelegt.‹« . . .

»Du glaubst vielleicht, ich empfände Reue,« fing er an, »und Du könntest mich jetzt wieder nach Hause nehmen, gleich dem Kind, das sich verlaufen hat. Nicht einen Schritt thät ich zurück, nicht einen Tag möcht' ich von der Zeit wiederhaben. Ich will nichts – nichts mehr – mich ekelt die ganze Geschichte an. Wozu soll ich leben? für wen? Ich sehe nicht ein, daß es edel ist, sich zu plagen um einen Erwerb, der mir nicht der Mühe werth scheint. Wer ein großes Loos gezogen, der mag sein Dasein lieben; mir ward es schaal und erbärmlich angeboten; ist es eine Sünde, sich davon frei zu wünschen, wie man sich frei wünscht von 271 Noth und Qual? Als ich damals fort wollte aus dem elenden Gefängniß bei Michel Dürr, da glaubt' ich, draußen würd' ich die Freiheit finden. Jetzt seh' ich, für mich ist überall nichts als Kette und Gefängniß; ich sehne mich fort, brennender als damals.«

So sprach der gottlose Bursch und ich hatte keinen Trost für ihn. Wer kann den Waldvogel zwingen, das Futter zu nehmen, das er im Käfig verweigert?

Ein elendes Gefühl kam über mich, als hätt' ich besser gethan, ihn die ihm bestimmte Leidensschule der Kindheit durchmachen zu lassen. Als wäre das besser gewesen für ihn und besonders für uns. Mein zorniges Herz legte ihm Dortchen's Schicksal zur Last. Einer zieht ja immer den Andern nach sich in den Grund oder erhebt ihn.

»Vergeßt mich«, fuhr er fort; »es wird doch nicht so schwer sein. Ich habe Euch nichts Gutes, nur Schlimmes gethan; Ihr seid eine Sorge, eine Last los.«

»Als ob man sich so abschütteln könnte, was mit der Seele verwachsen ist wie die Wurzel im Erdreich. Dortchen wird Dich nie vergessen.«

Er sah rasch zu mir auf. »Du könntest es doch nicht für ein Glück ansehen, daß wir beide jetzt zusammen kämen? Denke an Deine eigenen Worte.«

»Wenn Ihr Euch lieb habt«, sagt' ich, »ist ja Alles gut.«

Eine dunkle Röthe überzog sein schönes Antlitz.

»Nein«, rief er, »es ist nicht Alles gut, mir bleibt der Bettler verächtlich, der die Hand ausreckt nach der reichen Braut. Nichts kann ich thun, nichts bieten als 272 mein Elend. Ich käme in die Wirthschaft, als zög' ich fremden Putz an.«

»Und Deine Liebe«, sagt' ich, »rechnest Du sie für nichts?«

»Mit der ist's wie mit dem geistigen Gut«, antwortete er; »wer wägt ab, wie viel sie werth ist!«

»Keiner wird Dich danach fragen; Dortchen hat für Euch Beide genug.«

»Keiner wird fragen – ich werde fragen! – Das eben«, fügte er bitter hinzu, »das auch haben die Reichen voraus; sie können gierig Gold auf Gold häufen, ohne selbst zu fühlen, daß ein unedles Motiv in ihrer Wahl mitgespielt. Dem Armen steht es wie ein Gespenst zur Seite, wie eine Gewissensqual. Ich will meine Seele ganz rein halten von dem schmutzigen Handel der Welt.«

»Hochmüthiger!« sagt' ich, »wir leben Alle in der Welt. Wie edles Metall durch die Erde, zieht sich in goldenen Adern das Ewige. Schöneres, Besseres kannst Du nicht für Dein Glück erwerben, als dies Herz.«

»Versuche mich nicht«, rief er, »es würde entwerthet in meiner Hand.« Damit stand er auf und verließ mich. Als ich mich umwandte, stand Dortchen hinter mir. Ich sah, daß sie Alles verstanden hatte.

»Kümmre Dich nicht um ihn, gräme Dich nicht«, sagte ich, indem ich sie an mich drückte; »er hat Niemand lieb, das ist sein Unglück.«

Just war nächsten Tages wieder verschwunden.

Dortchen nahm nicht Vernunft an, sondern grämte sich vom Morgen bis Abend.

273 »Wenn ich nur in seiner Nähe sein dürfte«, wiederholte sie, »ich könnte ihm doch helfen. Ich allein könnte ihn noch retten.«

»Das ist gefährlich Spiel«, warnte ich; manches Mädchen hat derlei gedacht und ist daran zu Grunde gegangen.«

Nach einigen Monaten bekamen wir von fremder Hand die Anzeige, Just läge krank in einem Dorf am Meer, einem kleinen Nest an der italienischen Küste. Dortchen ließ mir kaum Zeit, meine Sachen gehörig einzupacken, so eilig machten wir uns auf die Reise.

In mancher Zeit lebt man von Innen nach Außen, in anderer von Außen herein; bei einer Reise sollte es das Letztere sein, aber unser Sinn war gefangen. Mag man dann hingehen wohin man will, überall dieselbe Farbe, derselbe Ton.

An einem späten Abend kamen wir in dem genannten Ort an; aber er war nicht mehr dort – er hatte sich fortgeschleppt, man hörte wol, weshalb.

Wir zogen seiner Spur nach. Es waren keine guten Nachrichten, die uns führten, bergab ging es mit ihm; ich sah ihn schon in Gedanken wie so Viele, die hoch hinaus wollen, in Niedrigkeit enden. Muthlos folgte ich; aber Dortchen ließ nicht ab.

Mit Haß durchzog ich dies entnervende Land voll ermattender Gluth. Was hat der aus dem Norden damit zu schaffen? Ihm ist ein anderer Himmel beschieden; mag er ihn tragen wie ein Mann.

Schwarzäugige Kinder, halbwach, halbnackt der Länge nach im Sand ausgestreckt, vor ihnen das blaue Meer, in 274 das sie sich hineinwälzten, wenn ihnen zu heiß wurde – hieß das hier zu Land leben? –

Wieder kehrten wir ein; am Thor des Hauses empfing uns die dicke, gutmüthig aussehende Frau.

»Gebt uns ein Stübchen nach dem Meer hinaus«, bat Dortchen; »hier ist es so eng und bedrückt, als sollte der Fels über Einen herstürzen.«

»Der Fels«, meinte die Wirthin, »wird noch stehen, wenn Alle vergangen sind, und das Stübchen mit dem Blick nach dem Meer – ja, sehen Sie, das einzige, das ich noch hätte – ich könnt' es Ihnen geben und ich kann auch nicht. Es wohnt Einer darin, den ich herauswerfen könnte und ich möchte doch nicht; auf der Tafel steht ihm schon viel angekreidet und er hat nicht mehr Geld, als ein Wickelkind. Aber er ist auch so gut wie ein Kind. Er hat schon meine ganze Familie gemalt, sogar den Kater; aber er kann damit doch nicht immer wieder von vorn anfangen. Ist hier ein Tanz, geigt er dazu. So glaubt er sich quitt und ich lass' ihm den Glauben. Er hat das böse Fieber gehabt und der Doctor sagt, gebt ihm noch eine Weile das Gnadenbrod. Wir haben ihn alle lieb und geben es gern, sonst nähme er es auch gar nicht; er wollte fort, aber die Kinder hingen sich an seinen Rock, für diese ist er gar zu interessant mit seinen Bildern und Geschichten. Er hätte ein großer Herr werden müssen, wie der Prinz drüben im Schloß; einen herrlichern hätte es nicht geben können. Jetzt hat er nur noch eine Freude – das Meer; stundenlang sitzt er Euch da und starrt hinüber, verläßt ihn die Sonne hier, steigt er die Stiege hinab und sucht sie 275 unten, wo der Fels sie nicht mehr verdeckt. Mond, Sterne, Sonne sieht er dort auf- und niedergehen; er sitzt Euch so still, Ihr denkt er ist von Stein. – Die scheue Möve fürchtet ihn nicht, so unbeweglich sitzt er da. Ich red' ihm oft zu und sage: Ihr werdet Euch den Tod holen; aber er lacht dazu und sagt, das wäre nicht das Schlimmste. – Soll ich ihn aus dem Stübchen treiben? Er heißt Just Six und ist nebenbei Euer Landsmann.«

So schwatzte sie fort, indem sie die für uns bestimmten Zimmer öffnete. – Lang eh' der Name genannt wurde, wußten wir Beide, von wem die Rede war.

»Nein! nein« rief ich, »wir wollen dem Just Six wahrhaftig keine Freude nehmen!«

»Es ist eine köstliche Aussicht« versicherte die Wirthin. »Von weit her kommen die Fremden angereist, um sie zu sehen; treten Sie nur hinaus auf den Altan, der Herr ist nicht zu Haus.« Damit öffnete sie uns das Stübchen des Just Six. Ich trat mit Dortchen ein, die Frau verließ uns; erbärmlich sah es darin aus, aber wenn man hinaus trat, enthüllte sich die ganze Majestät der Natur. Da war nichts Jämmerliches, Elendes, unser Auge ruhte auf lauter Pracht.

Es war noch in der Frühstunde, eh' die Hitze kam; der Himmel klar, durchsichtig in silbernem Morgenlicht. Wir gingen hinab, Just suchen; – ein Lied, das Lied, das er immer spielte, führte uns den Weg.

Schimmernd lag das unendliche Blau vor uns; hie und da flatterte ein weißes Segel, einen Ruhepunkt gebend für Sehnsucht und Hoffnung. Ich konnte mir denken, wie 276 die Seele hier versinkt im Verkehr mit dem Unendlichen, wie sie die Schwingen entfaltet und sich befreit von Staub – Hast – Müh – Arbeit der Menschen, kleinlich und elend, nichtig vor der Heimat, der sie angehört und zustrebt. Zum ersten Mal fühlte ich eine Art Verständniß für Just. Hatte er vielleicht doch Recht und erniedrigten wir uns umsonst in irdischer Müh'?

Ueber unsern Empfang war ich sehr zweifelhaft; aber er schrie auf vor Freude, als er uns erblickte.

»Es ist so schön hier,« sagte er, »aber es fehlte mir doch Etwas; jetzt weiß ich, Ihr wart es. Wie wollen wir zusammen dies herrliche Land genießen, in dem jeder Bettler sich reich dünken kann, denn das Schönste theilt er mit den Reichsten, diese wonnige Luft, diese köstliche Natur! Hier will ich still ausathmen – ich begehre nichts mehr, als daß ich hier bleiben darf, bis daß es mit mir zu Ende geht, mag das nun Jahre oder Wochen dauern. Jetzt weiß ich, ich bin der ganzen Arbeit des Lebens müde – ich will nichts als Ruhe – ruhen und feiern.« –

»Du bist im Venusberg, mein Sohn,« dacht' ich; »Dein Glück ein Irrthum – ruhen und feiern ziemt den Greisen. Hier weht die Luft der Verführung; zum Pflücken bereit reift die goldene Traube, süß, ohne daß Du Dir den Dank durch Pflege erworben. Du hättest dies reiche Land erst als Lohn für schwere Zeit betreten dürfen.«

Gleich heut' wollte er uns seinen Lieblingsplatz nicht weit vom Ufer zeigen. Alle Boote schienen aber fort zur Fischerei. Eines nur schaukelte plätschernd am Strand. Ein altes Ding von Boot, offenbar zurückgelassen wegen 277 Unbrauchbarkeit. Mir schien es nicht geheuer. Just war aber nicht gewohnt, sich einen Wunsch zu versagen.

»Es ist ganz nah',« sagte er; »im schlimmsten Fall, wenn das Boot versagt, trag' ich Euch ein Stückchen durch das Wasser zum Strand und wir kommen auf einem Umweg nach Haus.«

Der Vorsprung schien wirklich sehr nah – dazu lockte die blaue Fluth, als könnte es nur Wonne sein hineinzutauchen; wie schmeichelnd umspielte sie die Hand, die ich hineinhielt – wie ein Kuß.

Dortchen wollte natürlich nur, was Just wollte. Uns nach war das kleine Hündchen der Wirthin in das Boot gesprungen. Just hatte ihm hie und da einen Bissen Brod, ein freundliches Wort hingeworfen. Das Thier lohnte es ihm mit großer Anhänglichkeit.

Wir waren schon auf dem Rückweg; da fühlte man den Boden des Bootes naß werden – es war noch kein Grund zur Angst, denn es ging offenbar zu langsam und mit raschen Ruderschlägen waren wir bald zu Haus, man sah ja das Land ganz nah' vor sich.

Mit doppelter Anstrengung ergriff Just das Ruder– das Holz krachte unter seiner Heftigkeit – er lachte, daß ich Angst hätte – Dortchen lachte mit; wie konnte man sich ängstigen, wenn er dabei war?

Aber das Wasser nahm zu, Tropfen auf Tropfen. Immer wilder führte er das Boot, des Fahrens, der Arbeit ungewohnt. Da plötzlich war Alles aus – das morsche Ruder brach – weithin sah man es ziehen mit den lichten Wellen. Der Morgenwind aber, der sich erhoben, sanft wie 278 ein Hauch, trieb uns zurück, fort vom Land – wer weiß wohin. –

Leichenblaß sah es Just – darauf hatte er nicht gerechnet. Jetzt lag unter uns unendliche Tiefe und Keiner konnte uns hindurch tragen. Es war grausig den Tod zu sehen, hier in dieser Stille, in dieser Sonnenfluth, so nah' der Rettung. Keiner sprach das schlimme Wort aus, Jeder hatte es im Sinn; der Hund heulte – er mochte wohl den Instinct haben, daß es mit uns vorbei wär'.

Unser banges Rufen verklang – vor dem Hause war Niemand . . . Wir waren verlassen von aller Welt. Just faßte den Hund und warf ihn über Bord, möglich, daß er durch Schwimmen noch Rettung fand, von selbst hätte er uns nicht verlassen.

Dortchen drückte sich nah an Just; es war so still, ich konnte ihr Flüstern verstehen. »Geh',« sagte sie, »rette Dich; Du kannst es, Du kannst schwimmen, Du bist ein starker Mann. Jetzt im Angesicht des Todes sag' ich Dir meine letzte Bitte – mir zu Liebe rette Dich! – Du wolltest bei meinem Leben nicht reich durch mich werden, mit meinem Sterben gehört Dir Alles, was ich besaß. Ich machte es gleich fest, als ich das viele Geld bekam. Weise mich nicht zurück – rette Dich.«

Aber er umschlang sie und drückte sie fest und immer fester an sich. »Wo Du bleibst,« flüsterte er zurück – »bleibe ich; wir gehören fortan zusammen, ich theile mit Dir Dein Geschick, sei es nun Leben oder Tod.«

So liebkosten sie sich inmitten höchster Gefahr, als 279 wäre Sterben und Leben ein Kinderspiel und nur ihre Liebe wichtig.

Mich hatten sie ganz vergessen. Ich war allein, so nah' sie auch waren. Mir graute vor dieser Herzenseinsamkeit. Das Meer umspielte unser Boot wie eine glatte schillernde Schlange. »Es ist Alles Trug in der Welt,« schien es zu flüstern. »Euer Gefühl Lüge, hin und her schwankt es, Jeder glaubt, es sei ewig, Jeder erfährt, daß es weniger hält als Rohr. Verlaßt Euch nur immer wieder darauf, um zu erfahren, was Du heut' erfährst.« Ich suchte mein Ohr davor zu verschließen; aber umsonst – statt hinauf zu horchen, bedrängte mich ein Wirrsaal irdischer Wünsche und Begierden; vor meinem geistigen Auge, ich hatte den Kopf in die Hand gelegt, um es nicht mehr zu sehen, erschienen immer wieder die beiden Kinder, die ich erzogen, wie sie sich küßten und mich vergaßen. Ueber mir stand wie ein Räthsel, wie ein Himmel, von dem ich ausgeschlossen, die Liebe in ihrem heiligen Egoismus. Ich hatte keinen Theil daran, keinen Theil an den Kindern, die ich ernährt und gepflegt.

Sie würden mir einen Brocken zuwerfen, wenn sie zur Besinnung kämen, denn es waren gute Kinder; immerhin war es nur ein Brocken, ihr Herz ganz erfüllt von ihrem bittern Schicksal.

Da wuchs in mir allmächtig, überwältigend, Alles in sich verschlingend, eine Sehnsucht nach der Liebe, die, weit wie der Himmel, Alles im Arm umfängt und nichts ausschließt.

»Just,« sagt' ich zu den Beiden, wie vorhin Dortchen: 280 »Rettet Euch, Du bist ein leichtes Ding, der Just ist stark genug für Euch Beide – an mir ist doch nicht viel gelegen; ich bin alt, bald müßt' ich doch fort, dies ist vielleicht die beste Manier. Auch wär's ja eine Möglichkeit, ihr brächtet mir Rettung.«

Da umschlangen mich Beide, erdrückten mich fast und wir saßen zusammen, Keins konnte vom Andern lassen, glücklich – ich kann es nicht anders nennen – trotz unserer trostlosen Lage.

Drüben aber fing sich's an zu regen, zu laufen, die Boote der Fischer kamen nach Haus – wir wurden gesehen – gehört, triefend von Wasser sprang das Hündchen zu uns herein; es hatte den ersten Allarm geschlagen.

Noch gerad im letzten Augenblick wurden wir gerettet.

Bald saßen wir wieder fröhlich auf dem Altan, das Nachzittern überstandener Gefahr nur noch als angenehmes Grauen in der Seele; frisch, denn auch geistig hatte man ein Bad genommen. Wer sich das Sterben anprobirt hat, merkt fast immer, daß es ihm zu eng oder zu weit war; – passend wol nie. Darunter weggekommen richtet man sich ganz gern noch einmal häuslich wieder hier ein, findet das Schlimme nicht so schlimm und das Schöne doppelt schön.

Es dauerte nur kurze Zeit – worauf sollten sie warten? – da wurde Just mit Dortchen zusammengegeben; für Alle ein Fest, Groß und Klein. Man merkte, daß er verstand das Leben zu genießen. Noch lange sah man Abends die Raketen aufsteigen und hörte den Jubel. Eine selige Zeit begann; wie er immer gesagt, für das Glück war er geboren; mit voller Hand auszutheilen. Kunst, Natur, Alles 281 wurde in den Kreis hineingezogen; seine Gedanken irrten nicht mehr planlos umher, bald dort, bald hier sah man sie sich gestalten in Parkanlagen, in Bauten.

Ein kleiner Zauberpalast entstand am Strand des Meeres. Im Frühjahr zogen wir hinein. Die Welt war für uns ganz verbrämt mit Lustbarkeiten. Hatten wir sie an einem Ort ausgekostet, zogen wir nach einem andern; bald schwammen wir in Gondeln mit bunten Lampen auf dem Lido, bald waren wir zum Carneval in Rom, bald ruhten wir zwischen Myrthen und Orangen in immergrünen Wäldern; ab und zu kehrten wir zurück zu unserer sogenannten Heimat. Es war ein ruheloses Suchen, ein Jagen, als ob es immer noch einen schönern Punkt gäbe, den wir versäumen könnten.

Da war's, daß ich zum ersten Mal in meinem Leben mich überflüssig fand; fast möchte ich sagen: ohne zu lieben. Ich war so gewöhnt durch Sorge und Pflege meine Liebe auszusprechen, in dem Gefühl, Wohlleben geschaffen zu haben, meinen Dank zu finden. Hier ging Alles von selbst. In meinem Egoismus vergaß ich, daß für den scheinbar Unnöthigsten doch plötzlich der Augenblick kommen kann, wo er unentbehrlich ist. Ich wartete meine Zeit nicht ab, schützte Heimweh vor und ließ die Beiden ihrem Glück. Schon auf der Reise hatte ich mehr als einmal Lust umzukehren; dies hatte ich ihnen noch sagen wollen, vor jenem warnen, aber ich schämte mich.

An einem Novembermorgen kam ich an; ich schob es auf das Regenwetter, daß mein Stübchen mich so traurig 282 ansah und mich zu fragen schien: »Was kommst Du so allein? Was willst Du von mir?« –

Es tropfte fort und fort von den Dächern. »Modeste«, frug's, »sehnst Du Dich auch zurück nach dem schimmernden goldenen Land?« –

Nicht nach dem Land, aber nach meinen Kindern.

Dort glaubt' ich zu wenig von ihnen zu haben; jetzt erfuhr ich wie viel ich gehabt – die Luft, die wir athmeten, verband uns, der Anblick ihrer lieben Gestalten erquickte mich.

Was kommt dem elenden Gefühl gleich, wenn der Tag vorüber geht und bringt nichts von ihnen? Ein Straße ist schon schlecht; so aber – getrennt durch Meer und Gebirg!

»O«, sagt' ich zu mir, »was sind wir Menschenkinder doch thöricht! Wann werden wir Freud' und Leid richtig zu unterscheiden wissen!«

Das Haus des verstorbenen Michel Dürr schickte mir seinen Bevollmächtigten, sobald ich ankam. Er hatte eine lange Unterredung mit mir, in der er mir sagte, was mir längst geahnt; daß Just bei Weitem die Mittel überschritt, die ihm zu Gebote ständen; er zehrte vom Capital und auch selbst davon war nicht mehr viel vorhanden, Dortchen's Vermögen so gut wie verschwendet. Man kann Briefe schreiben wie ich's that; aber ein Wort zur rechten Zeit, die Gegenwart thut doch mehr. Ein banges Jahr verging. Wär' ich doch nicht fortgegangen! Dicht muß man sich zu Denen halten, die man liebt, damit Gott Einen zur Hand hat, wenn er Einem die Freude gönnen will, ihnen zu dienen. Ich 283 machte mich wieder auf und stand endlich wieder bei meinen Kindern auf der Veranda am Meer.

Sie wußten sich nicht zu fassen vor Entzücken; welch' einen dummen Streich hatte mir mein Herz gespielt, als ob man nicht Den entbehren, vermissen sollte, der Einen so treu liebt, wie ich die Beiden!

»Dortchen«, rief Just lachend, »glaube nicht, daß Tante Modeste unserthalb kommt; es giebt wieder etwas zu wickeln und zu warten, deshalb kommt sie allein.«

»Meinethalb nehmt es, wie ihr wollt«, antwortete ich, »zum Helfen komm' ich natürlich.«

Als Dortchen fort war, nahm ich Just gleich vor.

»Wie denkst Du, daß Alles werden soll?« frug ich und legte ihm die Papiere vor.

Er sah lange hinein. »Ich bin kein Rechenmeister«, sagte er endlich; »da werde ein Anderer daraus klug.«

»Das ist nicht so schwer«, fuhr ich fort, »wo Null mit Null aufgeht.«

»Es wird wol wieder eine Rechnung sein, wie sie Michel Dürr machte.«

»Da Du sie nicht machst, muß sie wol ein Anderer für Dich machen. Du bist am Ende mit Deinem Reichthum, so viel ist gewiß.«

»Nun«, sagte er leichthin, »so haben wir wenigstens auch Etwas davon gehabt.«

»Ihr hättet viel mehr davon haben können, ein sorgenfreies Leben, und nun –«

»Sorgenfrei nennst du das? sorgenfrei, wenn man jeden Groschen zwei Mal umdrehen muß, eh' man ihn 284 ausgiebt, damit es auch ja bis an's Ende reicht? Es wird sich schon wieder Etwas finden.«

»Für Dich magst Du so reden, aber für Dortchen!« –

»Dortchen und ich sind Eins; was ich liebe, liebt sie, was ich gut finde, heißt sie auch gut.«

»Aber Dein Kind, Just.«

Er lachte hell auf. ».Natürlich, das ist bei Dir die Hauptsache. Das kleine Ding wird doch nicht gleich so riesengroße Ansprüche machen; für's Erste braucht es nichts als die Mutter und Dortchen ist ja da.«

»Für's Erste« wiederholte ich. –

»Bis es erwächst, ist lange Zeit; mag es später sehen wie es fertig wird. Ist's mir doch auch so gegangen. Bin ich nicht auch hinausgeworfen worden ohne Zukunft, ohne Aussicht wie in das Meer geworfen, geklammert an eine Planke! Hat die Gegenwart nicht auch das höchste Recht und betrügen sich die Menschen nicht umsonst darum, indem immer der Eine für die Zukunft des Andern sorgt?«


Dortchen fand ich verändert. »Denk' Dir«, sagte sie heimlich zu mir, »es ist mir zu schön hier, ich habe Heimweh nach unserm engen Stübchen. Dort hatte ich mehr Freude, konnte Just überraschen mit guten Dingen, mit allerlei Vergnügen. Hier ist man so satt davon.«

An einem wilden Gewittertage, der alle Lieblichkeit umher mit einem Schlage vernichtete, wurde das Kind geboren, ein kleines Mädchen.

285 Es ging wie ein Aechzen und Klagen durch die Natur, das sich in die Klagen der Menschen mischte. Brausend schwollen die Meeresfluthen und spielten mit den Splittern gestrandeter Schiffe. Dunkle Wolken drohten am Himmel durch unausgesprochene Schrecknisse. Das leichte Lusthaus zitterte und von den schlanken Säulchen riß der Sturm die zierlichen Ranken und jagte sie haltlos in den Lüften umher.

Wir standen gedrängt um Dortchen's Lager. Der Jammer draußen ein Widerhall für den Jammer innen. Der Arzt gab keine Hoffnung – es waren Zeichen und Zufälle, die keine zuließen.

Just war fassungslos, ich schickte ihn hinaus, damit der Ausdruck seines Schmerzes das arme Dortchen nicht erreiche und ihr das Scheiden noch schwerer mache; aber mein Herz erwärmte sich wieder für ihn, wenn ich durch das Seufzen des Windes seine trostlose Stimme hörte.

Meist war sie bewußtlos. Ich war jetzt allein mit ihr. Das Kind, ein ganz lebenskräftiges Kleines, lag mir im Arm. Draußen ließ das Wetter nach – es wurde stiller; wie von fern dröhnte der Donner und wie im Traum fuhren bleiche Scheine durch das Gemach. – Ueber die Wolken fort erkämpfte sich der Mond seine lichte Straße – er zog wie ein Sieger daher und vor ihm flohen zersprengt die dunklen Schatten.

Würde es hier auch so sein? Würde es noch einmal hell und licht werden? Fast schien es so.

Dortchen schlug die Augen auf; aber ein angstvoller, unruhiger Ausdruck war darin. Sie richtete sich empor; 286 verstört und wild blickte sie umher. – Ich dachte, sie wäre wieder von sich.

»Was willst Du? Was suchst Du?« frug ich leise.

»Mein Kind!« rief sie, »mein Kind!«

Ich legte es ihr in die Arme, da fing sie an zu weinen und zu schluchzen, daß mir, die ich's hörte, das Herz still stand.

»Weine nicht so«, bat ich, »Du machst Dich kränker.«

»Was schadet das?« antwortete sie; »es hilft mir nichts mehr, ich hörte es ja, ich weiß es – ich muß sterben. – Ach«, rief sie ein über das ander Mal, das Kind an sich drückend, »ich muß fort – fort von Dir – kann Dich nicht pflegen, nicht warten, nicht hüten, gebe Dir nichts, als dies jammervolle Leben – o, dürft' ich's verlöschen! Dürft' ich Dich mit mir nehmen in den ewigen Schlaf, wie sanft wollten wir mit einander ruhen, wie selig!«

»Still, Dortchen«, sagt' ich, »man darf einem Kind nicht den Tod wünschen! Weißt Du nicht, daß Leben Gottes Odem in uns ist? . . .«

»Es wird mir so Angst darum«, entschuldigte sie hastig, immer noch verstört um sich schauend, es deckend mit ihren Armen, wie die Henne das Küchlein mit den Flügeln. »Wer wird's versorgen? – Wer? – Wer wird's lieben?«

»Ich bin alt«, sagt' ich, »und alte Leute dürfen nicht viel versprechen; doch so lange ich lebe, wird's nicht verlassen sein.«

»Aber später – später?« frug sie fieberhaft eifrig. 287 »Was braucht solch' ein kleines Geschöpf Alles, bis es erwächst . . . Jetzt erst erkenne ich, was Du für mich gethan – Deine Liebe und Treue. Komm' und schilt mich. Wie war ich aufgenommen, eine Waise; und mein Kind, das eine Heimat hat, wie fremd, wie verlassen wird's darin sein!«

»Habe Vertrauen, Dortchen, es wird schon Einer dafür sorgen.«

Aber sie ließ sich nicht trösten, verfiel wieder in ihren Jammer.

»Könnt' ich's mit mir nehmen! Dürften wir mit einander die Welt verlassen! Ich glaubte«, sagte sie, das Haupt wieder erhebend, »ich könnte Niemanden heißer lieben, als den Just. Als ob Liebe ein Ende hätte, als ob man wissen könnte, wie weit sie reicht. – An das Kleine dacht' ich nicht – nicht an mein Kind. – Und nun – nun es da ist, strömt es ihm zu von meinem Herzen – heiß, als hätt' ich noch nie geliebt. O, was möcht' ich ihm Alles anthun! Was gäb' ich darum, könnt' ich es – Alles umsonst – keine Stätte hab' ich ihm bereitet – nichts vorhergesehen – fremd, einer Last gleichgeachtet, tritt es in die Welt. – O, wie schrecklich ist es, in Unruhe sterben – in Unruhe um Das, was Einem das Liebste ist.«

»Just ist da«, sagt' ich zweifelhaft; »er wird sich dessen annehmen, wenn ich nicht mehr bin.«

Sie drängte sich zu meinem Ohr und flüsterte: »Just! Ich bin schuld, daß es nicht so sein wird – dort, eben dort hab' ich dem Kind keine Stätte bereitet. – Es wird ihm überall im Weg sein, glaubst Du nicht auch? Fordern wird's, 288 nichts geben – er aber ist gewohnt, nur zu empfangen; ich hab' ihn daran gewöhnt. – Für ihn paßt kein Kind, keine Sorge, er macht sich frei davon, er wird es kaum merken, wenn es stirbt – vergeht. – Das wäre ja noch nicht das Traurigste, wenn es mir bald folgte; aber was kann man leiden, ohne zu sterben! Wie wird es herumgestoßen werden unter fremden Leuten. Ein Hund ist schon elend, der dem Herzen nach Niemandem angehört, für den Niemand sorgt – aber ein Kind! Mein Kind, mein Liebling . . .«

Ungesehen von ihr war Just eingetreten; an seinem aschfarbenen Gesicht sah ich, er hatte Alles gehört.

Eine Zeit lang blickte er ihr stumm zu, wie sie immer wieder in dieselbe Klage verfiel: »Wer – wer wird dafür sorgen? Könnt' ich's mit mir nehmen!«

Dann näherte er sich ihr. »Mir vertraust Du's nicht an, Dortchen?« sagte er und seine Stimme zitterte.

Flüchtige Röthe färbte ihr Antlitz – sie schwieg.

»Du hast Recht«, fuhr er fort, »ich würd' es auch nicht thun. Worte sind geduldig, ich könnte Dir schwören, wer weiß was; – aber es würde Dir nicht helfen. Wer kann für sich stehen, daß er plötzlich ein Anderer wird, obgleich es Tage giebt, die Einen zu verwandeln scheinen von Grund aus – aber ein Besserer werden – da liegt's . . . Verachten würd' ich mich – aber was hälf' es dem Kind! Dortchen, Deine alte Liebe will ich anrufen – sonst hieltest Du so viel von mir, vertrautest mir in Allem, glaubtest an Gutes und Großes in meiner Seele. Vertrau' mir noch ein Mal! Ich will unser Kind nicht versäumen, nicht verlassen, die Sorge darum soll mein Leben werden. Um das 289 Kleine, mußt Du denken, wird er's schon thun, um nichts Anderes in der Welt – aber um das Kind doch – Dortchen, Du hast ihm doch eine Stätte bereitet – Deine Liebe zu mir hat es gethan!«

Er streckte die Arme nach dem Kind aus – in ihren Augen – erlöschend, schon dem Tod nah – tauchte es wie ein Sonnenstrahl auf; mit der letzten Kraft legte sie ihm ihren Schatz hinein.

»Es ist wieder mein Vermächtniß«, flüsterte sie, »anders wie damals, aber auch Reichthum – o, könntest Du's erkennen!«

»Mag es sein, was es will«, erwiederte er, »Schmerz, Noth, Entsagung – ich will es auf mich nehmen. Dortchen, Deiner will ich gedenken und wie Du mir Alles gabst, ihm geben, was ich kann.«

»Du kannst, was Du willst, Just«, sagte sie mit der alten Zuversicht und ein verklärter Ausdruck lagerte auf ihrer Stirn. »Wie konnte ich an Dir irre werden! Ich vertraue Dir's an, gewiß, ich vertraue Dir unser Kind, wo könnte es besser sein, als bei Dir?«

Damit zog sie sein Haupt zu sich auf das Kissen, zwischen ihnen lag das Kleine. Sie flüsterten noch lange mit einander, aber ich hörte nicht, was sie sagten.

In der Nacht traten die gefürchteten Zufälle wieder ein, der Abschied wurde ihr erspart; ohne es zu wissen, ging sie hinüber.

Draußen war es ganz still geworden; frisch und warm zugleich brach der neue Tag an und versuchte sein Leuchten durch die Schatten der niedergelassenen Vorhänge zu schicken. 290 Just saß unbeweglich am Bett und sah bald auf die Leiche, bald auf das neuerwachte Leben in meinem Schooß. Ich begriff nicht, warum es mit dem verlorenen vertauscht worden war; dies Dasein fortgenommen, welches uns so nothwendig war wie die Luft, die wir athmeten; ein anderes hineingedrängt zur Sorge, zur Last. Solch' zerbrechliches, kleines Dasein, aus dem der Tyrann werden sollte für Just; eine Fessel, die er nicht abwerfen durfte und die ihn trotz Allem anschloß an jene Art Existenz, die er mehr fürchtete, als den Tod.

»Er wird sie sich doch abschütteln«, dacht' ich.

Just mußte es mir wohl angesehen haben, denn er sagte:

»Du glaubst nicht an mich, es müßte ein Wunder geschehen, denkst Du. Glaubst Du nicht an Wunder und bist doch umringt davon! Mir ist selbst, als wär' ich vertauscht und könne nie wieder werden, der ich gewesen bin, nie wieder froh, nie wieder begierig nach Allem, was ich sonst heiß wünschte – ob nun aber Der, den das Kind braucht? – Gott helfe mir dazu.« Er nahm es auf die Arme. »Wie leicht Du bist«, sagte er, »und solltest doch für mich zu schwer sein! – Wie natürlich für einen Vater, sein Kind zu lieben, dafür zu sorgen, und ich sollte das nicht können?«

»So ist's nicht gemeint!« rief ich; »aber wer ein tägliches Entsagen nicht gewöhnt ist . . .«

»Täglich«, wiederholte er, »Du hast mich nicht begriffen. Ein für alle Mal hab' ich's gethan; für mich ist mit diesem Tag aus, was Leben heißt – als hätt' ich mich in den Tod gestürzt, um einen andern zu retten. Nach Nichts 291 mehr in der Welt will ich mich umschauen, nach keiner Lust, nach keinem Genuß, unempfindlich – bleich, stumm wie die Leiche dort – ohne Wunsch, ohne Begehr. Verdorrt doch Mancher am Geist bei lebendigem Leib. Ersticken will ich, was sich in mir regt und höher hinaus will; zwingen will ich mich zur Niedrigkeit, für die ich bestimmt war, gierig nach Gewinn wie der Geizhals, Groschen auf Groschen zusammensparen für mein Kind. Fort will ich von hier; brechen mit der Vergangenheit, keinen Freund, keine Verbindung mit hinübernehmen – absterben wie Der, hinter dem sich des Klosters Pforte schließt.«

An einer der schönsten Stellen legten wir Dortchen zur Ruh'. Das Meer sah man von dort aus und unermeßliche Fernen. In der Nähe schlang die glühende, kleine Rose sich um die Cypresse und küßte den dunklen Stamm, der hoch in den klaren Aether hineinragend aufstrebte, als wisse er nichts von ihr. Myrthen und Orangen, feurige Geranien drängten sich herzu, Blätter und Blüthen in üppiger Fülle, als fragten sie: »Wie? – ein Grab inmitten von all' dem herrlichen Leben?«

Ein Grab – Just konnte sich nicht trennen von dem Fleck. »Da lieg' ich mit begraben«, wiederholte er, »ich und mein Leben. Laß mich nur noch einmal zurück, noch einmal und immer wieder noch einmal. Ich trinke mich satt, ich sauge das Heimweh tief in mich ein – das nehm' ich mit. Nach dem Paradies darf man ja Heimweh haben; der Engel mit dem flammenden Schwert treibt Jeden einmal heraus; aber die Sehnsucht darnach behält man sein Lebenlang.«

292 Plötzlich aber drängte er, daß wir fort sollten; er hatte Angst vor sich selbst. Die Villa wurde verkauft, es blieb kaum etwas zur Reise übrig, als die Schulden gedeckt waren. Wollte er für die Zukunft der Kleinen mit irgend einer Art Sicherheit sorgen, blieb ihm nichts übrig als das alte Joch. Er mußte sich sogar noch sehr bemühen, denn Keiner traute seinem Fleiß.

Wie in früherer Zeit saß er Tag für Tag drüben im Stübchen und arbeitete. Ich stand mit dem Kind oft am Fenster, wie damals mit Dortchen; sah er uns, nickte er uns zu. Mancher Geschäftsfreund wollte ihn verleiten, hie und da Etwas zu wagen, aber er wies Alles ängstlich zurück.

Oft sagte ich ihm: »Du könntest Dir doch etwas freie Zeit gönnen, einen Gang in die frische Luft, die Du so sehr liebst«, aber er schüttelte traurig den Kopf.

»Nein«, antwortete er, »ich darf mir nichts gönnen, ich darf keinen Tag aus dem Geschirr, meine alte Natur bräche gleich wieder durch; am liebsten ist mir, ich vergesse, daß draußen überhaupt die Sonne scheint, die Nachtigall singt, fröhliche Menschen herumgehen; am liebsten redete ich mir ein, dies kleine Loch wäre die Welt.«

»Könnte doch Dortchen sehen, wie Du Dich mühst um das Kind, es würde sie freuen –«

»Nein, nein!« rief er abwehrend, »Gott sei Dank, daß sie es nicht sieht – ich wünschte nie, nie, daß sie wüßte, welch' ein elendes Leben ich führe, ein jammervolles. Jeden Morgen, wenn ich die Augen aufschließe, fällt mir der Tag 293 wie ein dunkler Alp auf die Brust. O, es ist gut, daß sie es nicht sieht.«

Er nahm das Kind. – »Für Dich leb' ich,« sagte er, »es mag wol doch nicht anders gehen, als daß hier Einer für den Andern lebt. Mach' Du es Dir nur zu Nutze.«

Aber das Kind wuchs und mit ihm unbemerkt eine große Liebe zwischen den Beiden – wo sie angefangen, wie sie zu dieser Höhe gediehen – wer weiß – genug, sie war da und warf über die elende Existenz ihren vollen Sonnenschein. Was er wußte und konnte, brachte er der Kleinen mit; nichts Werthvolles, aber etwas Schimmerndes, Glänzendes – Etwas aus der Feenwelt, wie sie es nannte und war's auch nur ein Stückchen altes Glas oder ein Steinchen. Dann saß sie auf seinem Knie – hörte ihn reden von der Mutter, von Italien – sie konnte kein Ende finden mit Fragen, er mit Antworten; zum Schluß nahm er fast immer die Geige und spielte sein altes Lied. Da es aber melancholisch war, ging er meist in ein Tänzchen über, er mochte gar zu gern sein Kind lustig sehen. Sobald er in Sicht kam, brach in der Erwartung all' der Freuden ihr Jubel los. Einen Lärm machten die Beiden wie losgelassene Schulbuben, durch Zimmer, Garten ging's, in wilder Flucht, dazwischen das Aufjauchzen der Kleinen.

Ich fand sie grad wie unsinnig am Boden; Just's Augen leuchteten wie Sterne.

»Nun, nun,« sagte ich, dem Mädchen das ganz verschobene Röckchen zurechtzupfend, »Ihr macht es auch gar zu arg; nie hätte ich geglaubt, Just, daß Deine Lustigkeit 294 mir zu viel werden könnte. Deine Lebensgeister sind offenbar im besten Zustand, trotz dem Absterben in trübseliger Arbeit.«

»Gott sei Dank, ja«, sagte er aufstehend und sich den Staub abschüttelnd; »ich hab' es auch schon entdeckt, wo sie herkommen, ich weiß es nicht. Die weiß es!« rief er, sein Töchterchen hoch in die Höhe hebend. »Kann man sie ansehen, ohne lustig zu werden? Du mein Alles, mein gelobtes Land, meine Kunst, mein Reichthum, meine Seele, wie hast Du es gemacht, um Alles zu werden? Wie kannst Du kleines Endchen das Alles in Dir vereinigen?«

Da reckte sich das Kind in seinem Arm in die Höh', beide Händchen hoch hinausstreckend.

»O«, sagte sie, »ich bin ja so groß – viel größer als Du, ich kann Alles.«

Ja, wir Drei sind glücklich; ich wüßte nicht, was uns außer Dortchen gefehlt hätte. Ich werde bald zu ihr gehen und freue mich schon darauf, ihr zu erzählen, was selbst dort oben ihre Seligkeit noch erhöhen muß.

Modeste, als ob Du darauf rechnetest, zur Seligkeit zu kommen! . . . Das nicht; aber darauf rechne ich, daß Die, die sich lieb hatten, sich wieder zusammenfinden.


Mehr hat Jungfer Modeste nicht verzeichnet, leere weiße Blätter füllen den Rest des Büchelchens; – ein Bruchstück ist's, ein Ton aus dem unermeßlichen Chor von Stimmen, die bald im Jubel, bald in der Klage sich aufheben gen Himmel.

 


 


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