E. Phillips Oppenheim
Madame und ihre Zwölf
E. Phillips Oppenheim

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9

Die Menge hatte sich bereits zerstreut, als Eric Brownleys und sein Freund Sidney Trench aus dem Stadthaus von Cannes traten. Beide waren angehende Politiker und dem europäischen Kongreß zugeteilt, der eben in Cannes seine Sitzungen abhielt. Eric Brownleys zog eine kleine Grimasse, als er die leere Straße überblickte.

»Für uns interessiert sich niemand,« meinte er. »Die Tatsache, daß ich Privatsekretär eines richtiggehenden englischen Kabinettministeriums bin, macht nicht den geringsten Eindruck auf dieses Volk. Nicht ein einziges Hüteschwenken – nicht einmal ein Veilchenstrauß.«

»Es ist unverantwortlich,« stimmte der Freund zu. »Besonders wo du noch diese ungeheure Mappe herumschleppst, damit der hinterste Bürger darauf kommen muß, daß wir zu dem Rummel gehören.«

Eric Brownleys winkte einen Wagen herbei.

»Wir wollen das Zeug im Hotel abgeben und dann im Casino die Zeitungen lesen.«

Sie fuhren durch die sauberen Straßen, sprachen rasch im Hotel vor und kehrten dann nach dem Casino zurück. Unterwegs kauften sie sich noch englische Zeitungen am Kiosk, die sie unter den weiß und rot gestreiften Schirmen zu lesen begannen. Trench bestellte sich Tee und vertiefte sich in einen Artikel über die Aussichten der kommenden Cricket-Saison. Erst als er die letzte Zeile gelesen hatte und zum Schlusse gekommen war, daß jede Mannschaft außer seiner eigenen, Aussicht auf die Meisterschaft habe, bemerkte er eine auffallende Veränderung, die bei seinem Kameraden eingetreten war. Die Times war ihm aus den Fingern geglitten und lag unbeachtet am Boden. Mit seinen Händen klammerte er sich krampfhaft an die Stuhllehne und schaute mit einem seltsam geängstigten Ausdruck ins Leere.

»Hallo, Eric!« erkundigte sich sein Freund. »Was ist denn los?«

Eric Brownleys versetzte sich mit einem sichtlichen Ruck in die Gegenwart zurück.

»Nichts Besonderes,« gab er zurück und hob die Zeitung auf. »Es erinnerte mich da eine Notiz an eine Episode in meinem Leben, die ich lieber vergessen hätte. Man hat ja solche Anwandlungen, wenn man vor seiner Verheiratung steht.«

»Du wirst mir doch nicht sentimental,« protestierte Trench. »Verkneif es mindestens noch für eine Minute, denn hier kommt Peggy mit ihrem ganzen Anhang.«

Peggy kam mit einer ganzen Schar Freundinnen auf die beiden zu. Ihr richtiger Name war Lady Margaret Rossiter. Seit genau drei Tagen war sie mit Eric Brownleys verlobt, und alles freute sich über diese Verbindung.

»Sieh einer an!« rief sie. »Die britischen Staatsmänner ruhen sich aus. Was für ein Anblick! Was hast du denn in diesem Glase, Eric?«

»Syrup und Soda, Peggy. Das ist wohl nichts für dich.«

Sie machte eine kleine Grimasse.

»Komm, laß uns den Tee im Casino nehmen,« schlug sie vor. »Und wie ist es mit morgen? Bist du frei für eine Segelfahrt? Oder müssen diese Wichtigtuer wieder eine Sitzung abhalten?«

»Ich fürchte, ich stehe morgen nicht zur Verfügung,« gab er unsicher zurück. »Ich – ich muß nämlich nach Nizza hinüberfahren.«

»Nach Nizza? Aber wozu denn das?«

»Ein dummes Geschäft,« gestand er. »Aber es läßt sich nicht vermeiden.«

»Warum gehst du nicht heute nachmittag?« wollte sie wissen. »Du hast doch massenhaft Zeit bis zum Diner und am Bakkarat hast du ja doch keine Freude.«

»Das ist eine Idee,« stimmte er zu. »Wenn ich einen Wagen bekommen könnte. Es ist ja nicht einmal ganz bis Nizza, nur bis Cagnes.«

»Nimm doch meinen Rolls-Royce,« drängte sie. »Wir gehen zu Fuß nach der Villa zurück. Es ist ja nur ein Katzensprung. Aber sorge ja, daß du zum Diner zurück bist. Wir haben Gäste. Und gute Verrichtung für deinen geheimnisvollen Auftrag, was immer es sein mag.«

Eric Brownleys saß wenige Minuten später in der Wagenecke mit den zerknitterten »Times« auf dem Sitz gegenüber und verwünschte diesen Auftrag und alles, was damit zusammenhing. Er war jetzt 37 Jahre alt und hatte die Ausgelassenheit und Schwächen seiner unreifen Jahre längst überwunden. In den letzten Jahren hatte er eine große Veränderung durchgemacht. Festumrissene Pläne hatten seiner Abenteuerlust ein Ende gemacht. Die Erinnerungen, die durch die kurze Zeitungsnotiz heraufbeschworen waren, wurden zum Gespenst, und düster vor sich hinbrütend, erreichte er seinen Bestimmungsort.

Die Villa schien völlig ausgestorben. Die Stühle auf der Terrasse waren leer. Ihn fröstelte, als er die Treppe hinaufstieg und läutete.

Die Erscheinung Madames verblüffte ihn. In dem halbdunklen Raum entdeckte er erst die fein angebrachten Hilfsmittel ihrer Toilettekunst nicht. Es war die Madame vor fünfzehn Jahren, deren Hand er an die Lippen führte. Ihr Lächeln war vielleicht ein wenig lässiger, ihre Bewegung etwas gelassener, ihre Stimme aber hatte die alte Frische.

»Sie sind beinahe der letzte, mein lieber Eric, der meinem Appelle folgt,« begrüßte sie ihn. »Wo haben Sie sich denn versteckt?«

»Ich war sechs Monate in Washington in besonderer Mission und dann in Tokio,« antwortete er. »Die wenigsten Briefe wurden mir richtig nachgeschickt, und ich sah die Mahnung in der ›Times‹ erst heute mittag. Was wissen Sie von den andern?«

»Hugh Cardinge hat sich ein Gut gerade hier gegenüber gekauft und ist hier ständiger Gast, obschon er seinen Schein längst eingelöst hat,« erzählte sie. »Dann beehrte uns Sir John Fardell mit einem kurzen Besuch,« fuhr sie mit einem Anflug von Humor weiter.

»Ach, der gute, alte Johnny!« lachte Eric. »Er hat die reichste und schwerste Frau von Amerika geheiratet.«

»Ein Atelierroman,« murmelte Madame.

»Johnny war immer ein wenig auf das Gewicht erpicht. Schon auf dem Montmartre war er für Fleischmassen eingenommen. Aber Cardinge, das interessiert mich. Der hat sich also hier niedergelassen.«

»Er kam in Lumpen an,« fuhr Madame fort. »Er landete in Marseille mit einem Dampfer aus Südamerika und kam zu Fuß hierher. Sie aber scheinen zu den Erfolgreichen zu gehören, Eric – Erbe eines Fürstensitzes, Privatsekretär eines Kabinettministers, zukünftiger Gatte von Lady Margaret Rossiter.«

Er fuhr auf. »Sie haben meine Spuren verfolgt.«

»Ich vernehme diese Dinge eben,« gab sie zu. »Sie wollen also Ihren Schein?«

»Natürlich, gerade jetzt liegt mir daran, wo ich mich doch verheiraten will,« versicherte er.

»Sie werden ihn verdienen müssen,« warnte sie.

Er rutschte unruhig auf seinem Stuhle hin und her. Die Luft schien ihm plötzlich drückend. Das Zimmer war überfüllt mit Blumen, deren Duft ihm den Atem nahm. Ihm gegenüber saß Madame, die in einer Beziehung wenigstens ihrem früheren Bilde nicht mehr so ganz ähnelte: es fehlte ihr heute die Menschlichkeit.

»Die anderen haben ihren Schein bereits eingelöst, nehme ich an,« begann er wieder. »Mein Bekenntnis enthält nichts Schwerwiegendes, aber ich möchte es doch zurückbekommen, bevor ich heirate.«

»Sie sollen es haben,« entgegnete Madame, »sobald Sie es sich verdient haben, wie es die anderen getan.«

»Was soll ich?« fragte er etwas verzweifelt. »Früher hatte ich weder Namen noch eine Zukunft auf das Spiel zu setzen. Heute müßte ich beides daran wagen.«

»Bourgeois,« murmelte sie verächtlich.

»Wir alle kehren eines Tages um,« wandte er ein. »Ich muß meinen Weg gehen, ob ich will oder nicht.«

»Mein lieber Eric,« seufzte sie. »Sie sind wirklich dumm. Man kann die Leute doch nur dazu gebrauchen, wofür sie sich eignen. Ich kann Sie doch nur in der Stellung verwenden, die Sie heute einnehmen: in der eines jungen Mannes von höchster Ehrenhaftigkeit, der vor seiner Hochzeit steht und eine Zukunft als Diplomat vor sich hat.«

»Unter der Bedingung stehe ich Ihnen völlig zu Diensten.«

»Sie haben Tag für Tag Sitzungen des Kongresses mitgemacht. Sie kennen also die Delegierten?«

»Ich kenne sie alle.«

»Auch diesen Mann aus dem Osten, Nikolas Kornstamm?«

»Diesen kenne ich nur flüchtig. Wir sind ihm gegenüber korrekt, aber nichts weiter.«

»Sie kennen ihn also nicht genügend, um ihn hierher zu bringen und bei mir einzuführen?«

»Um Himmelswillen, nein!« erwiderte der junge Mann. »Wir unterhalten keinerlei gesellschaftliche Beziehungen mit diesen Leuten. Und von Ihnen hätte ich es auch nicht gedacht, daß Sie mit dieser Gesellschaft etwas zu tun hätten.«

»Das Leben vermittelt bisweilen seltsame Bekanntschaften,« meinte sie. »Ich muß also diesen Nikolas Kornstamm kennenlernen. Schauen Sie mich nur nicht so an, Eric. Sie wollen doch Diplomat sein, nicht wahr? Ich wiederhole es, daß ich ihn kennen lernen muß.«

»Das ist eine verfluchte Geschichte,« begehrte Eric auf. »Ich weiß nicht, wie ich Ihren Wunsch erfüllen soll. Ich verkehre doch gar nicht mit ihm.«

»Ich werde Ihnen einen Wink geben,« versprach Madame.

»In diesem Falle will ich tun, was ich vermag,« versicherte er.

*

Nikolas Kornstamm glich in keiner Weise den ungepflegten und unzivilisierten Emissären, die in der ersten Zeit aus dem neuen Osten die westlichen Hauptstädte überschwemmt hatten. Er war ein kleiner Mann mit weichlichen Zügen, sorgfältig gekleidet und wohl bewandert in den gesellschaftlichen Gepflogenheiten. Es hieß, er sei früher Kammerdiener bei einem schwedischen Grafen in Paris gewesen. Jedenfalls sprach er ausgezeichnet französisch und ebensogut englisch und war weit unbefangener in seinen Anschauungen als seine Vorgänger und Mitarbeiter.

Wenige Tage nach dem Besuche Eric Brownleys in der Villa Sabatin erregten zwei Damen vor dem Sportklub in Monte Carlo seine Aufmerksamkeit: eine ältere und eine jüngere, beide anscheinend Schönheiten. Die ältere trug einen Hermelinpelz, und wenn ihre Blicke auch den Verdacht auf künstliche Schönheitsmittel aufkommen ließen, so war diese Kunst so angewandt, daß sie immer noch anziehend wirkte. Das Mädchen war auch schön, aber noch sehr jung.

Die beiden Damen hatten ihn zweifellos interessiert angesehen, als er ihnen den Weg in den Klub freigab. So gab er die Idee, in den Privatsalon einzutreten, auf und folgte ihnen in den Speisesaal.

Kornstamm hatte bisher mit seinen Liebesabenteuern Pech gehabt. Diese Damen stammten offenbar aus einem anderen Kreis als seine früheren Bekanntschaften. Sie mußten auch wissen, wer er war. Sie hatten ihr Interesse nicht verborgen. Wenn sie nur Platz nehmen wollten, so könnte er sich einen Stuhl in ihrer Nähe erobern. Unglücklicherweise schienen sie aber zu viele Bekanntschaften zu haben.

Ein Hoffnungsschimmer ging ihm aber doch auf, als Eric Brownleys sich von ihnen verabschiedete und er sich erinnerte, daß der junge Engländer in den letzten Tagen ihm gegenüber außerordentlich liebenswürdig gewesen war. Er nahm seinen Mut zusammen und sprach ihn an.

»Das ist hier amüsanter als in Cannes, Mr. Brownleys?«

Eric nickte.

»Ich bin, offen gestanden froh, daß dieser Rummel vorbei ist,« meinte er. »Reisen Sie diese Woche noch ab?«

»Am Samstag,« antwortete der andere. »Trinken wir noch einen Cocktail zusammen?«

Einen Moment lang zögerte Eric. Er fragte sich, ob der Preis, den er zu bezahlen habe, nicht zu hoch sei. Dann überwand er seine Bedenken.

»Danke,« sagte er. »Ich nehme einen Whisky, wenn es Ihnen recht ist.«

Sie gingen in die Bar und tauschten höfliche Nichtigkeiten aus, bis der Diplomat aus dem Osten den Mut fand, auf sein Ziel loszusteuern.

»Ich habe kürzlich diese Damen sehr bewundert, mit denen Sie am Roulettetisch gesprochen haben.«

Eric unterdrückte die Anwandlung, seinem Gegenüber eine Ohrfeige zu geben und nickte.

»Eine reizende Frau, diese Madame de Soyeau,« nickte er. »Und auch ihre Nichte ist sehr nett.«

»Sie ist Französin?« fragte Kornstamm.

»Amerikanerin, glaube ich. Sie heiratete einen Franzosen. Sie interessiert sich übrigens außerordentlich für Ihr Land. Möchten Sie ihr vorgestellt werden?«

»Es würde mich glücklich machen,« stimmte Kornstamm enthusiastisch zu.

Die Vorstellung vollzog sich in den nächsten Minuten. Madame war äußerst liebenswürdig. Kornstamm frohlockte. Beim Abschied wurde er eingeladen, die Damen in ihrer Villa zu besuchen, da Madame sich die neue Landkarte des Ostens von ihm erklären lassen wollte.

»So sind Sie denn gekommen,« begrüßte Madame am folgenden Tage Kornstamm und reichte ihm vom Sofa aus, auf dem sie sich ausgestreckt hatte, die Hand. Meine Nichte wird sich freuen. Ist Ihnen nicht zu warm hier?«

»Durchaus nicht,« versicherte er. »Bei uns zu Hause lassen wir die Kälte auch draußen und halten unsere Wohnräume eher noch wärmer als hier.«

»Erzählen Sie mir etwas,« fiel sie ein. »Sie wollen doch die Welt umbilden vom Osten aus. Sie haben sich aber auch mit Verbrechen beladen. Wie können Sie diese rechtfertigen?«

»Wir tun, was wir können, um aus den Trümmern ein neues Volk erstehen zu lassen. Wir laden uns eine furchtbare Verantwortung auf, das ist wahr. Gelegentlich mögen wir fehlgehen. In der Hauptsache aber sind wir auf dem rechten Weg.«

Madame sank in ihre Kissen zurück.

»Erzählen Sie mir mehr davon,« wünschte sie.

Als er nach einem halbstündigen Vortrag verstummte, schien sie erst zu schlafen, obschon ihre Augen weit geöffnet waren.

»Sie sind ein ausgezeichneter Fürsprecher, Mr. Kornstamm,« sagte sie endlich.

»Ich setze mich für eine gute Sache ein,« entgegnete er.

»Ich habe Sie angehört, ohne zu widersprechen,« fuhr sie fort. »Sie haben die Sache dargestellt, wie Sie sie ansehen. Jetzt möchte ich noch einen Bauern aus Ihrem Lande anhören.«

»In diesem Falle müssen Sie wohl mit mir nach dem Osten kommen.«

Sie zuckte die Achseln.

»Es lohnte sich vielleicht,« meinte sie. »Jetzt möchte ich Ihnen aber die Villa zeigen, wenn Sie Lust haben.«

»Gewiß, Madame,« stimmte er zu.

Sie erhob sich und zeigte ihm rasch den Wintergarten, das Eßzimmer, ihr Boudoir. Dann führte sie ihn auf einem schmalen Weg zu dem alten Turm, dem einzigen Überbleibsel des alten Schlosses. Im Erdgeschoß standen einzig ein paar Bänke. Die feuchte Luft eines Verlieses schlug ihnen entgegen. Madame schauerte zusammen.

»Steigen Sie diese Leiter hinauf,« wies sie ihren Begleiter an. »Sie werden oben eine Überraschung vorfinden.«

»Sie wollen mich nicht begleiten?« fragte er höflich.

»Sie werden oben einen anderen Führer treffen,« antwortete sie.

Kornstamm stieg die Leiter hinauf. Vielleicht würde er die junge Nichte oben finden. Aber als er oben angelangt war, wartete seiner – ein Mann von nicht sehr einnehmendem Äußeren. Cardinge, der an einem Tisch geschrieben hatte, schaute auf, als die Stimmen heraufklangen. Er beobachtete, wie Kornstamms Kopf erschien und dann die Schultern. Dann erhob er sich. Der Besucher schaute sich mit einem kleinen Frösteln in dem unfreundlichen Raume um.

»Madame sagte mir, Sie wollten mein Führer sein,« begann Kornstamm. »Ich muß aber gestehen, daß ich keine Lust zu weiteren Entdeckungen habe. Die Villa ist ja reizend, aber diese Ruine erinnert mich – nun, ich weiß selber nicht woran.«

Madame erschien über der Falltüre. Cardinge half ihr hinauf. Sie schüttelte den Staub von den Kleidern.

»Ich hoffte, Mr. Kornstamm, ich könnte Ihnen einen kleinen Raum im Gefängnis St. Joseph in Minsk in Erinnerung rufen,« sagte sie.

Kornstamm stand wie versteinert da.

»Ich verstehe nicht,« stotterte er.

»Es wird Ihnen alles klar werden,« fuhr Madame fort. »Ich versuchte hier so gut als möglich, diesen Gefängnisraum nachzubilden, so wie er mir beschrieben wurde. Hugh, lesen Sie Herrn Kornstamm den Brief vor, den ich Ihnen übergeben habe.«

»Einen Brief!« rief Kornstamm.

Cardinge zog ein Papier aus der Tasche. Es war kein Briefpapier, sondern sah eher einer rauhen Zuckerpackung ähnlich. Er las:

»Madame,

Das Schicksal ist bös mit mir umgesprungen. Seit vier Jahren unendlicher Qualen habe ich weder eine französische noch eine englische Zeitung zu Gesicht bekommen. Heute fällt mir eine Nummer der ›Times‹ in die Hände, und ich lese Ihren Appell. Nichts wäre mir lieber, als ihm zu folgen. Aber sehen Sie mich an – schmutzig, halb verhungert, von den Mördern geschont, weil mein armseliges Gerippe die Kugel nicht mehr wert ist, die meinen Leiden erbarmungsvoll ein Ende machen würde. Ich schleppe mich weiter, ohne Hoffnung, immer die Todesboten an der Seite. Und doch will der Atem nicht aus meinem Körper entfliehen. Ich weiß eigentlich nicht, warum. Gestern hatte ein neuer Wärter Mitleid mit mir. Er warf die Zeitungen, die ein Fremder in einem Hotel zurückgelassen hatte, in meine Zelle. Er versprach mir auch, diesen Brief zu spedieren. Wenn er es auch tut, so habe ich doch keine Hoffnung mehr. Sie, schrecklichste und zugleich liebenswerteste aller Herrinnen, Sie würden einen treulosen Diener mit eigener Hand in den Staub werfen. Sie lassen es aber auch nicht zu, daß einem Ihrer treuen Jünger ein Haar gekrümmt werde. Ich weiß, daß Sie Ihr Leben und Ihr Vermögen eingesetzt haben, um den geringsten unter uns zu retten. Ich sterbe hier, Madame, und habe doch kein anderes Verbrechen begangen, als daß ich ein Aristokrat war in meinem Vaterlande und daß ich gekämpft habe für meine Familie, wie es eines Mannes Pflicht ist . . . Aber genug davon. Ich rufe um Hilfe, und diese muß rasch kommen, wenn mein Blut nicht gefrieren und meine Gebeine nicht gebrochen werden sollen.

Wenn aber Hilfe nicht möglich ist, dann, Madame, empfangen Sie meine Entschuldigung, weil ich Ihrem Rufe nicht Folge leisten kann, und gleichzeitig meine Abschiedsgrüße.

Paul Smolatensk.«

Cardinge faltete das Papier zusammen. Kornstamm blickte von einem zum andern und dann nach der Falltüre, die zugeschnappt war. Sein geschniegeltes Wesen war verschwunden. Er war zusammengefallen, mit der angstvollen Miene eines Mannes, der sich einer plötzlichen Gefahr gegenübersieht.

»Ich begreife nicht, warum man mir diesen Brief vorlesen mußte,« protestierte er.

»Ich will es Ihnen erklären,« sagte Madame mit sanfter Stimme. »Der Brief ist von einem alten Freund von mir – dem Prinzen Paul von Smolatensk. Sie erinnern sich seiner sicher. Er war Armeekommandant und galt als sehr tapferer Heerführer. Vor vier Jahren hieß es, er sei gestorben.«

»Ich bedaure, daß eine solche Falschmeldung erfolgen konnte,« stammelte Kornstamm.

»Der Tod kann bisweilen Gnade bedeuten,« fuhr Madame fort. »Paul lebt, wie es scheint. Lebt im Elend und in Qualen.«

»Nach meiner Rückkehr werde ich die Gründe der Einkerkerung dieses Mannes untersuchen, falls der Brief echt ist,« versprach Kornstamm. »Ich will sehen, ob ich etwas für ihn tun kann.«

Madame und Cardinge hatten ihre Plätze gewechselt. Cardinge stand jetzt an der Falltüre und Madame hatte am Tische Platz genommen. Sie beugte den Kopf zurück und lächelte.

»Ist das alles, was Sie versprechen können?« fragte sie.

»Ich weiß es nicht,« gab Kornstamm zurück. »Ich will die Sache untersuchen, sobald ich zurückgekehrt bin. Möglicherweise kann ich sein Los etwas erleichtern.«

»Wenn Sie zurückgekehrt sind?« wiederholte Madame sanft.

»Gewiß.«

»Aber Sie werden noch nicht zurückkehren.«

»Ich habe mir bereits einen Platz reservieren lassen in meinem Zuge vom Sonntag,« erklärte Kornstamm.

Madame schüttelte den Kopf.

»Das war verfrüht,« erwiderte sie. »Sie müssen Ihre Abreise verschieben auf den Tag, an dem Prinz von Smolatensk frei ist.«

»Sie wollen mich doch nicht gefangen halten,« lachte er etwas beklommen auf. »Ich bin Untertan eines befreundeten Landes und dazu eine offizielle Persönlichkeit.«

»Und ich bin ich,« entgegnete Madame. »Und ich tue, was mir paßt.«

»Das ist absurd,« drängte Kornstamm. »Sie können mich doch nicht hier zurückhalten gegen meinen Willen. Man wird mich vermissen, nach mir forschen.«

»Bilden Sie sich nur nichts ein,« versicherte Madame kühl. »Ich zweifle, ob jemand Sie vermissen wird – außer Sie hätten vergessen, Ihre Hotelrechnung zu bezahlen. Ihre Kollegen sind, wie Sie wissen, heute abgereist. Ich glaube nicht, daß jemand sich die Mühe nimmt, Ihnen nachzuforschen. Man wird annehmen, Sie seien irgend einem Abenteuer nachgegangen. Dieses Renommee haben Sie sich geschaffen, wie ich höre. Und man ist in Ihrem Hotel an unerwartetes Ausbleiben gewöhnt.«

»Gut, machen Sie mit mir, was Sie wollen,« ergab sich Kornstamm finster.

Madame erhob sich.

»Ausgezeichnet,« rief sie aus. »Mein Freund hier und ich werden uns Mühe geben, Ihnen hier die gleichen Bedingungen wie im Gefängnis von Minsk zu gewähren. Ich fürchte nur, wir werden Ihren Aufenthalt immer noch zu luxuriös gestalten. Unser Wasser ist trinkbar, und das Brot ist nicht ganz steinhart. Immerhin kann ich Ihnen versprechen, daß Sie in bezug auf das Menü nicht verwöhnt werden.«

»Nennen Sie mir vorerst die Bedingungen meiner Freilassung,« lenkte Kornstamm ein.

»Ein Telegramm an den Polizeichef von Minsk genügt,« erwiderte Madame. »Sie brauchen nur anzuordnen, daß Prinz Paul auf freien Fuß gesetzt wird, und daß man ihm die Mittel zu seiner Reise hierher zur Verfügung stellt.«

»Ich danke,« zischte Kornstamm, »ich wollte das nur wissen.«

Madame wandte sich gegen die Türe, und auch Kornstamm machte einen Sprung darauf zu. Aber Cardinge packte ihn und warf ihn zurück.

»Keine Waffen,« konstatierte er, nachdem er ihn abgetastet hatte. »Ich denke, Sie hätten ja auch nicht den Mut, davon Gebrauch zu machen.«

Kornstamm fluchte, und Cardinge versetzte ihm einen Schlag, der ihn in eine Ecke taumeln ließ.

»Ihr werdet mir das büßen,« brüllte Kornstamm, als die Falltüre sich hinter den Absteigenden schloß.

Drei Wochen später stand Madame in einem ihrer leichten, kühlen Kleider auf der obersten Stufe der Treppe und beobachtete eine schmale Gestalt, die in einem den Berg herankriechenden Tourenwagen lehnte. Sie strahlte von jugendlicher Freude. Vielleicht warf sie noch einen raschen Blick in die Welt, die hinter ihr lag.

In die Welt, die der Pulsschlag ihrer Jugend so schön gestaltet hatte. In die Welt, in der die Romantik so gewuchert hatte, wie die Rosen, die von den Steinpfeilern an ihrer Seite herunterrankten. Ihre Augen aber wurden verjüngt durch den Schimmer des Mitleids, als der Wagen vorgefahren war, und sein Insasse, immer noch groß, aber gebeugt, der Schatten eines grauen, eleganten Mannes, ausstieg und mit nervösen Schritten auf sie zukam. Er schien die Stütze Ihrer Hand gern anzunehmen.

»Madame,« murmelte er. »Ich habe gehorcht. Aber welches Wunder mit mir geschah, weiß ich nicht. Ich vermute, Sie können es mir erklären.«

»Sofort, Paul,« versprach sie und führte ihn zu einem Stuhl. »Sie haben eine lange Reise hinter sich.«

Diener kamen. Der Wagen wurde weggeschickt. Wein und Früchte wurden aufgetragen. Die Stimme des Fremden gewann wieder an Kraft.

»Erinnern Sie sich an Cardinge?« fragte Madame, als Hugh, der herbeigerufen wurde, erschien.

Die beiden Männer schüttelten sich die Hände.

»Ich erinnere mich,« sagte Smolatensk, die Stirne in seiner Hand vergraben. »Aber das Nachdenken strengt mich an. Das wird schon besser werden. Es war eine lange Reise – Budapest, Triest, Venedig, Genua – aber jeder Luftzug im Wagen war eine Erfrischung. Jetzt muß ich das Rätsel erfahren, Madame. Ich hätte nie geglaubt, daß ich je freigelassen würde.«

»Eine kleine Komödie,« meinte sie. »Den tragischen Teil hatten Sie ja übernommen. Wir hatten hier die Unterhaltung, Sie das Leiden. Kommen Sie mit!«

Sie führten ihn zu dem Turm, die Leiter hinauf und durch die Falltüre. Er fand sich in einem kahlen Raume, dessen Fenster so hoch angebracht waren, daß nur ein kleiner Lichtschimmer eindrang. Die einzige Ausstattung bestand aus einem Stuhl, auf dem ein kleiner Mann mit verschränkten Armen saß – ein kleiner Mann, von dem aller Hochmut abgefallen war, dessen Augen aber böse blickten, wie die einer Schlange.

»Hier ist Ihr unfreiwilliger Befreier,« kündete Madame an. »Er sieht nicht sehr freundlich aus, nicht wahr? Wir haben versucht, in diesem kleinen Verlies die Bedingungen Ihrer Haft in Minsk nachzuahmen.«

Smolatensk schüttelte den Kopf.

»Dieser Raum ist ein Palast,« versicherte er. »Aber wer ist der Mann?«

»Ich fürchte, sein Gedächtnis hat nachgelassen,« meinte Cardinge. »In der ersten Woche hat er uns ein Dutzendmal täglich erzählt, wer er sei. Er heißt Nikolas Kornstamm. Er war zweiter Delegierter und Vertreter Ihres Heimatlandes an der Konferenz von Cannes. Er bekleidet daheim das Amt, das ungefähr unserem Justizminister entspricht.«

»Sie haben ihn gefangen gehalten?«

»Warum nicht?« fiel Madame ein. »Man muß doch für Unterhaltung sorgen. Cardinge war mir behilflich.«

Kornstamm erhob sich und versuchte zu sprechen, unterdrückte aber wieder, was sich ihm auf die Lippen drängte. Er fürchtete Cardinge nicht mehr, als der Feigling einen Mann fürchtet, aber die Stimme Madames ließ ihn vor Schrecken zittern.

»Ich habe mein Wort gehalten,« stammelte er.

Madame lächelte.

»Und Sie sind frei,« erwiderte sie. »Der Wagen, der den Prinzen herbrachte, kann Sie nach Nizza zurückbringen.«

Alle brachen auf. Kornstamm etwas schwankend. Cardinge führte ihn an den Wagen und gab ihm dort noch ein Glas Wein. Er trank es gierig aus und streckte die Hand aus nach mehr.

»Seien Sie fürs erste vorsichtig,« winkte Cardinge ab. »Sie haben genug Geld in Ihrer Brieftasche. Der Expreß nach Italien fährt um drei Uhr. Sie haben gerade noch Zeit, in Nizza zum Haarschneider zu gehen.«

»Sind Sie sicher, daß ich nicht vorziehe, zur Polizei zu gehen?« fragte Kornstamm.

Cardinge lächelte verächtlich.

»Welcher Polizeichef in Frankreich würde Ihnen diese Geschichte glauben? Welcher Franzose würde nicht vor Freude den Hut in die Luft werfen bei dem Gedanken, daß einer von euch Tyrannen für kurze Zeit den Geschmack der Erniedrigung, die ihr anderen zuteil werden laßt, zu fühlen bekam? Wenn Sie mir versprechen, zum Polizeichef zu gehen, so begleite ich Sie gerne nach Nizza!«

»Meine Regierung wird aber zu der Geschichte noch etwas zu sagen haben,« knurrte Kornstamm.

»Vielleicht,« gab Cardinge zu. »Aber wird sich eine Regierung finden, die Sie anhört?«

Claire trat auf die Terrasse hinaus, gerade als der Wagen davonfuhr. Sie winkte zum Abschied die Hand.

»Sie hätten mich schon an der Schlußszene teilnehmen lassen können,« schmollte sie.

»Mit dieser Sorte von Leuten weiß man nie, ob es nicht doch noch zu Ungelegenheiten kommt,« bemerkte Cardinge.

»Und der Prinz?« fragte sie.

»Madame zeigt ihm den südlichen Garten. Sie sitzen zusammen in der Rosenlaube. Der Prinz trinkt den Sonnenschein wie der Durstige den Wein. Und Madame hat die Sorge um ihren Teint vollständig vergessen.«

In diesem Augenblick tönte eine Stimme vom unteren Garten herauf; sie klang etwas laut, verleugnete aber den musikalischen Sinn von Madame durchaus nicht.

»Claire, schick' mir doch meinen Sonnenschirm hinunter.«

 


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