Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Tage schwanden dahin, Roman war noch immer in Darnówka. Häufig besuchte er Casimir; bald allein, bald mit Bronia. Wenn ihm der Freund nicht Gesellschaft leisten konnte, las er, sammelte Nüsse mit den beiden Mädchen oder ging den Weg entlang, der zum Palaste in Górowo und zur Kirche nach Zawróæ führte. Besonders der Palast interessirte ihn und zog ihn an. Casimirówka und Góra! Welch ein Unterschied! Wenn hier eine Lampe sein konnte, so mußte doch dort eine Fackel brennen, wie in einem Leuchtthurm, der von seiner Höhe das uferlose Meer erhellt. Und solch eine Fackel leuchtet ohne Schwierigkeit, ohne Entsagung, ohne die Qual des »Hin oder Her« zu kennen!
Roman hatte dem Onkel gesagt, er hätte Górowo gern in der Nähe betrachtet. Der Palast komme ihm vor wie ein Brennpunkt oder eine Wacht.
»Gut, Herz,« hatte der Alte geantwortet, »warum denn nicht? So viel Du nur willst. Eine Wacht! Hast recht. Das ist wahr. Was kann man thun? Und auch ein Brennpunkt. Natürlich. Eine treffende Bezeichnung für die Residenz der Olowieckis. Ja, ja! Was kann man thun? Ein Brennpunkt und eine Wacht. Wir müssen einmal hinfahren.«
Auch die Kirche in Zawróæ, von der er eine unklare, aber angenehme Erinnerung bewahrt, hätte Roman gern besucht.
»Wann werdet Ihr zur Kirche fahren?« fragte er eines Tages, während er mit Bronia Nüsse sammelte. »Zwei Sonntage sind schon vorüber und noch waren wir nicht beim Gottesdienste.«
»Weil Mama krank war und es geregnet hat. Aber zu Maria Himmelfahrt werden wir in Zawróæ sein.«
»Wann ist denn Maria Himmelfahrt?«
»O Gott, Romek, das weißt Du nicht? Welches Datum haben wir denn heute?«
»Weiß ich es denn? Bei Euch verliert man ja jede Zeitrechnung. Ich glaube, den zwölften.«
»Und Maria Himmelfahrt ist am fünfzehnten; Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag – am Samstag also!«
Bronia erklärte, trotzdem es ihr leid thue, sich von Lunia zu trennen, müsse sie heute früher nach Hause gehen; ohne das feierliche Versprechen, das sie der Freundin gegeben, wäre sie gar nicht gekommen, da sie sehr besorgt sei um Irus, und außerdem, sie wisse selbst nicht warum, thäte ihr Irus leid, ach, so schrecklich leid.
»Was fehlt denn der Cousine Irene?«
Das wußte Bronia nicht, aber etwas war nicht richtig. Entweder Irus ist krank oder sie hat einen großen Kummer. Sie plaudert nicht mehr mit Bronia so wie ehemals, sie singt nicht, sie lacht nicht und manchmal wird sie so nachdenklich, daß Bronia überzeugt ist, wenn man in solchem Augenblicke einen Pistolenschuß über ihrem Kopfe abfeuerte, sie würde ihn nicht hören. Vorigen Sonntag, als Mama an Migräne litt, Irus den ganzen Tag Mamas Zimmer nicht verließ und Bronia sie in der Wirthschaft vertrat –
»O, des Tages gedenke ich vorzüglich,« unterbrach Roman. »Du sahst in Deiner großen Schürze ganz besonders feierlich aus, was Dich jedoch nicht hinderte, zwei Teller und ein Glas zu zerschlagen.«
»Lach' nicht, Romek, mir ist das Weinen näher als das Lachen.«
»Aber Bronia, Du und weinen – da hört doch schon wirklich alles auf!«
»Ach, Roman, lach' nicht, sondern höre mir lieber zu.«
Roman, der seine Erregung unter Scherzen zu verbergen gesucht hatte, hörte der Kleinen aufmerksam zu. Aber Bronia hatte eigentlich nichts zu erzählen. Nur das Eine. Als sie am verflossenen Sonntag in Mamas Zimmer trat, kniete Irus am Bette der Mutter und flüsterte derselben etwas zu. Dabei hatte sie Thränen in den Augen, Bronia hatte es ganz deutlich gesehen, und das war bisher bei Irus noch nie der Fall gewesen. Gepflegt hatte sie die Mama schon sehr oft, aber daß sie zu derselben hätte so leise flüstern oder gar weinen sollen, das hatte Bronia noch nie bemerkt.
Entweder Irus hat einen Kummer oder sie ist krank. Wenn Bronia manchmal die Frage an sie richtet, warum sie jetzt anders sei als ehemals, antwortet sie immer, sie habe Kopfschmerzen. Das ist auch etwas ganz Neues, denn bisher war Irus gesund wie ein Fisch im Wasser. Vielleicht hat sie dasselbe Leiden wie die Mama. Ist Migräne ansteckend? Roman ist zwar kein Arzt, aber das wird er vielleicht doch wissen.
Roman – obgleich kein Arzt – beruhigte die Kleine, indem er ihr versicherte, er wisse aufs bestimmteste, daß Migräne keine ansteckende Krankheit sei. Bei Bronia's Erzählung jedoch war er so nachdenklich geworden, daß er Blätter statt der Nüsse von den Sträuchern pflückte. Bronia hatte ihn nämlich zwischen dichte Haselnußsträucher geführt, und da sie nun alle Taschen mit Nüssen vollgestopft hatte, gab sie deren eine ganze Menge an Roman.
»Bitte, Roman, nimm doch die Nüsse in Deine Rocktasche oder in Deinen Hut. Die bringen wir für Irus mit. Irus ißt Nüsse sehr gern und knackt sie so komisch auf, daß Papa und Stephan immer darüber lachen müssen. Sie macht das noch viel geschwinder als ich.«
Sie lachte ebenfalls und war schon wieder das fröhliche, sorglose Kind.
Vor der Trennung hatten die beiden Mädchen viel miteinander zu flüstern und Roman fragte, mit Domunt auf das Hofthor zuschreitend:
»Weißt Du nicht, warum Bohdan Rosnowski aufgehört hat nach Darnówka zu kommen? Ich habe ihn daselbst noch nicht gesehen, obgleich –«
»Ich sah jemanden aus Zawróæ, der mir sagte, Bohdan habe wieder einen Fieberanfall gehabt. Es ist ein böses, hartnäckiges Fieber.«
»Was ist das für eine Geschichte mit Bohdan's Fieber, mit dem Hunde und dem Sparren, den er haben soll?« fragte Roman ein wenig ironisch.
Dabei dachte er:
Sie ist traurig und weint, weil sie den Freier zu verlieren fürchtet. Natürlich. Sie ist fünfundzwanzig Jahre alt und in der schönsten Jugendblüthe; es bietet sich ihr eine glänzende Partie und dies in einer Gegend, wo ein Heiratscandidat so selten ist wie ein schwarzer Schwan!
Was Rosnowski's Fieber anbelangt, erzählte Domunt, so hatte es damit folgende Bewandtniß: In den großen Urwäldern, die seiner Obhut anvertraut waren, befand sich eine weit sich dahin streckende Einöde, die man jedoch fast gar nicht kannte, da die Ausdünstungen des sumpfigen, nicht urbar gemachten Bodens mit schwerer, todbringender Krankheit drohten. Bohdan's Vorgänger pflegten diesen Ort kaum im Fluge zu berühren. Er jedoch siedelte sich daselbst auf längere Zeit an und lernte sowohl die Reichthümer des Bodens kennen, wie die Möglichkeit, die gesundheitswidrigen Ausdünstungen unschädlich zu machen, so daß man ihn gleichsam als Entdecker dieser Stätte bezeichnen kann. Dabei mußten ihm jedoch Hütten und Zelte zur Wohnung dienen, und da seine Untergebenen ihm nur unwillig an den giftathmenden Ort folgten, war Swój daselbst sein einziger Freund und Gefährte.
»Swój?«
»Ja. Er hatte ihn als ganz kleines Hündchen aus Zawróæ mitgenommen und seine Vorliebe für das Thier grenzt an das Anormale.«
»Nun, jedenfalls muß dieser Sparren sehr unbedeutend sein, da Bohdan allgemein als eine gute und sogar glänzende Partie betrachtet wird,« bemerkte Roman.
Domunt lachte.
»Wie kommst Du auf diese Idee?«
»Nun, wie ich höre, bewirbt sich dieser Held der Wüste um die Hand meiner Cousine Irene. Die Sache gilt als bestimmt.«
»Und ist es auch. Ich sah die Beiden mehreremale zusammen, und es war unverkennbar, daß sie ihm Sympathie einflößt.«
»Und er ihr?« fragte Roman.
Domunt zuckte die Achseln.
»Das weiß ich nicht, vermuthe es jedoch. Sie schien mir zwar immer sehr zufrieden mit ihrer jetzigen Lage, aber schließlich bilden doch Liebe und Ehe das Ziel, dessen Erreichen fast jeder unverheirateten Frau erwünscht ist. Und wenn auch gewisse Begriffe von Fräulein Irene mit Bohdan's Persönlichkeit nicht gut in Einklang zu bringen sind, aber weiß ich es? Das Herz ist kein Diener, besonders bei Frauen.«
»Und häufig auch bei Männern,« fügte Roman nicht ohne Bitterkeit hinzu.
Sie waren am Ende des mit blaublühender Cichorie bedeckten Feldrains angelangt, als sie von Bronia eingeholt wurden.
»Das ist doch aber wirklich nicht schön,« rief die vom raschen Lauf ganz athemlose Kleine, »ein wenig hättet Ihr doch auf mich warten können.«
Und Roman's Arm ergreifend, fuhr sie zu plaudern fort:
»Lunia fährt morgen und übermorgen nicht fort aus Casimirówka. Sie sagt, die Trennung von Herrn Casimir werde ihr immer schwerer, und wenn alles in Ordnung und die Wohnung eingerichtet sein wird, bleibt sie ganz bei ihrem Bruder. Ihre Mama hat es bereits erlaubt.«
»Ja,« lächelte Casimir. »Mein Liebling darf bei mir bleiben und wird gleichzeitig mein Hausmütterchen und meine Schülerin sein. Lunia hat mich sehr lieb gewonnen und die Pflicht, die Stephan ihr auferlegt, sich so zu Herzen genommen, daß ich jetzt das einzige Ziel ihrer Gedanken und Träume bin.«
Er hielt inne. Nach einer Weile jedoch begann er abermals:
»Es ist doch eine wahre Gnade Gottes, daß man auf Erden immer ein Herz findet, das einem nahe ist, das man sein Eigen nennen kann. Es läßt sich solch ein Herz, wenn auch klein, mit dem Lethestrom und der Castalischen Quelle vergleichen, denn es gewährt gleichzeitig Kühlung und Vergessenheit.«
»Nicht immer findet man ein solches Herz,« erwiderte Roman.
Er blickte um sich und in die Höhe.
Ach! Ihm war in der großen, weiten Welt kein Herz nahe; er besaß keines, das er sein Eigen hätte nennen dürfen.
Sie waren an dem kleinen Wasserfall vorübergekommen, als Bronia mit ausgestrecktem Zeigefinger ausrief:
»Sie kommen uns entgegen. Siehst Du, Roman? Herr Casimir, sehen Sie dort drei Personen? Mama, Irus und noch jemand. Wer ist aber der Dritte? Das kann ich noch nicht unterscheiden.«
»Ich erkenne ihn,« erwiderte Domunt, »aber sagen werde ich es nicht; das muß errathen werden.«
»Ich weiß schon. Siehe nur, Romek. Dort ist Swój, er läuft uns entgegen. Wo der Hund ist, muß auch Herr Rosnowski sein. Die Beiden trennen sich niemals und unterhalten sich viel miteinander.«
»Was Du nicht redest, Bronia! Kann man sich denn mit einem Hunde unterhalten?«
»Du wirst schon sehen. Swój spricht sogar viel.«
»Plaudere doch nicht, Bronia! Wie kann denn ein Hund sprechen?«
»Du wirst schon sehen. Swój! Swój! Komme her! Sieh' nur, Roman, wie hübsch er ist! So groß, zottig und dabei sanft wie ein Lamm!«
Das Thier, eine Mischung von einem Hof- und Tiroler Schäferhund, mit einem buschigen Schwanz und grau und gelb gefleckt, schien mit Bronia, die eine große Hundeliebhaberin war, sehr vertraut zu sein. Mit weiten Sätzen sprang er auf sie zu, begrüßte sie mit lauter Freude, machte jedoch sofort Kehrt und eilte zu seinem Herrn zurück.
»Swój! Swój!« rief eine angenehme Männerstimme.
Der Hund hatte beide Vorderpfoten auf die Brust des Rufenden gestellt, und den zottigen Kopf an ihn schmiegend, ließ er ein kurzes, freudiges Bellen erschallen.
»Schon recht, schon recht!« fuhr die Männerstimme zu sprechen fort. »Ich weiß es. Die Herrschaften, denen wir entgegengehen, kommen schon. Aber so lasse mich doch zu ihnen.«
»Hau, hau!« bellte der Hund. Es klang fast wie »gut, gut!« Dann sprang er beiseite. Sein Besitzer trat vor und die Hand zum Hut erhebend, begann er:
»Da ich wahrscheinlich nicht erkannt werde, muß ich mich vorstellen.«
Doch bevor er mit dem Satze zu Ende war, grüßte Roman und declamirte:
» Epaminondas post puquam apud mantineam cuni gravi –«
»Ha, ha, ha!« lachte Rosnowski. »Denkst Du das! Richtig! Du warst noch ein kleiner Bursche als ich, großer Schüler der siebenten Classe, Dir half, die Schwierigkeiten des Latein zu überwinden. Ja, ja,« fuhr er fort, nachdem er Roman mit einem kurzen, aber kräftigen Händedruck bewillkommt hatte, »das ist doch ein merkwürdiger, aber jedenfalls freundlicher Zufall, der uns hier zusammentreffen ließ.«
Roman begrüßte Irene, die er an diesem Tage noch nicht gesehen hatte, und streifte ihre Gestalt mit einem raschen, aber beobachtenden Blick.
Nein, Bronia war entschieden im Irrthum. Irene ist ebenso ruhig wie gewöhnlich, und sieht sogar sehr frisch aus. Zwar mag sie heute einen besonderen Grund zur Zufriedenheit haben.
Die Gesellschaft trat den Heimweg an.
Rosnowski war nicht schön, aber sein Aeußeres hatte einige individuelle und sogar originelle Kennzeichen. Die im Verhältnisse zu seinem kaum mittelgroßen Wuchs übermäßig breiten Schultern ließen seine Gestalt ein wenig schwerfällig und vierschrötig erscheinen. Aber seine Stirn war hoch und gewölbt, und die dunkelbraunen Augen blickten klar und ernst, wenngleich etwas müde und traurig. Durch seine gelbliche Gesichtsfarbe und die in Folge plötzlichen Abmagerns schlaff herabhängenden Wangen schien er älter als er thatsächlich war, und machte sich dies besonders bemerkbar, wenn er schwieg und müden Blickes vor sich hinschaute.
Dafür war in seiner wohllautenden Stimme häufig ein warmer Ton vernehmbar, und nur hin und wieder, und auch dann ganz leise, klang seine Sprache ein wenig gönnerhaft. Ueberhaupt zeichnete sich Rosnowski's Benehmen durch große, fast raffinirte Höflichkeit aus. In den Bewegungen seines Kopfes und seiner Hände war eine Rundung und Grazie, die nicht ganz natürlich. Im Ganzen machte er den Eindruck eines sehr vernünftigen, sehr selbstbewußten Mannes, in dessen Seele jedoch, tief, tief auf ihrem Grunde verborgen, Ermüdung und Trauer lagen.
Mit sanfter, wohllautender Stimme hatte er Roman begrüßt; als er jedoch über dessen künftige Thätigkeit zu sprechen begann, klangen seine Bemerkungen wie die eines Mentors oder Triumphators, der bereits einen weiten Weg mit Erfolg zurückgelegt hat.
»Es freut mich sehr,« sagte er, »daß wir gerade in einem Augenblicke zusammentreffen, da Dir das zutheil wird, was Dir seit langem gebührt, und was die Zukunft nicht nur in materieller Beziehung sicherstellt. Denn was mich anbetrifft, so scheint mir die Unmöglichkeit, Fähigkeiten und Kenntnisse zu verwerthen, das größte Unglück, das einen Menschen treffen kann. Je höher und weiter das Arbeitsfeld, desto größer die Möglichkeit, das Glück gewinnen oder das allgemeine, nothwendige Unglück vergessen zu können.«
Bei den letzten Worten lächelte er. Sein Blick schweifte in die Weite und blieb einige Secunden an Irene haften, die in einiger Entfernung von den Sprechenden ganz allein am Ufer des Flüßchens einherschritt.
Mit einer eigenthümlich gerundeten Bewegung seines Halses und seiner Hand wandte sich Rosnowski wieder dem jüngeren Gefährten zu.
»Wenn Dir meine Erfahrung in irgend etwas nützen kann, so bitte, vergiß nicht, daß ich Dein aufrichtiger Freund und ergebener Diener bin.«
Die Worte waren freundlich, die Form elegant, der Ton der Sprache jedoch nicht ohne gewisse Herablassung.
Frau Pauline wies auf einen entfernten Punkt der Wiese, wo eine Baumgruppe in den letzten Strahlen der scheidenden Sonne erglänzte.
»Nach der wilden, poetischen Natur, in deren Mitte Sie leben, müssen Ihnen unsere Bäumchen gar armselig erscheinen. Ach, ach, ach! Wie großartig müssen diese unermeßlichen, jungfräulichen Urwälder sein! Was man darüber liest, klingt fast märchenhaft, und man wird von einer förmlichen Sehnsucht nach dieser anderen, schöneren Welt ergriffen. Ach, ach, ach! Wie gern möchte ich reisen! Immer träumte ich davon. Ach, ach! Träume und Wirklichkeit – das sind ganz verschiedene Dinge. Obgleich andererseits, vielleicht ist es Gewohnheit, aber ich liebe die Bäume in Darnówka so sehr, so sehr, daß, wenn ich einen oder den anderen längere Zeit nicht sehe, ich ihm beim Wiedererblicken: »Wie geht es Dir?« sagen muß, als wäre er ein lebendes Wesen.«
Rosnowski blickte auf die Baumgruppe.
»Eine Idylle!« sagte er lächelnd.
»Bist Du kein Verehrer der Natur?« fragte Roman.
»Im Gegentheile. Nur lebe ich zu viel allein mit ihr.«
Er erzählte, daß er die Wälder, deren Bewirthschaftung ihm obliege, nur einigemale im Laufe des Jahres verlasse, um in die nächste Stadt zu fahren, die jedoch nicht viel des Interessanten biete. Sonst verkehre er nur mit Untergebenen. Indessen unternehme er häufig Rundreisen in dem weiten Gebiete, und er könne sich rühmen, einer der ersten gewesen zu sein, die daselbst rationelle, auf wissenschaftliche Theorien gegründete Bodencultur eingeführt hätten. Auch sammle er Material zu einem Werke, welches die Landwirthe mit einigen neuen Ansichten über den Waldbau bekannt machen solle.
»Dann bist Du in Deiner Einsamkeit sehr beschäftigt,« bemerkte Roman.
»Sehr,« lächelte Rosnowski. »Aber es vergehen Monate, und recht lange sogar, während welcher ich mit niemandem ein Wort zu wechseln habe.«
Wie von einer plötzlichen Erinnerung berührt, wandte er mit einer raschen Bewegung den Kopf zum Walde hin, wo Bronia mit dem großen, schönen Hunde spielte.
»Swój! Swój!«
Das Thier kam sofort herbeigerannt und sprang um seinen Herrn herum.
»Wo warst Du?« fragte dieser vorwurfsvollen Tones.
Ein mehrfaches Bellen erklang als Antwort.
»Du verläßt mich!« fuhr Rosnowski fort. »Du weißt doch, daß ich das nicht gern sehe!«
»Hau, hau,« bellte Swój traurigen Tones.
»Nimm Dich in Acht, Swój, ich werde aufhören, Dich lieb zu haben, und es wird uns Beiden nicht gut damit sein.«
»Hau! hauuu! hauuu!«
Das war kein Bellen mehr, sondern klägliches Winseln.
»Nun, so weine doch nicht gleich! Bitte mich um Verzeihung!«
»Hau, hau, hau, hau!« klang es freudig als Antwort zurück.
Am Lächeln und freundlichen Tone der Stimme hatte der Hund erkannt, daß die Verzeihung bereits gewährt war. Er stellte beide Vorderpfoten auf die Brust seines Herrn und leckte dessen Hand.
»Nun ist's aber genug der Abbitte. Du kannst gehen, nur entferne Dich nicht zu sehr, damit ich Dich nicht aus den Augen verliere.«
Noch ein demüthiges, einschmeichelndes Bellen und dann schritt Swój in angemessener Entfernung würdevoll vor seinem Herrn einher.
Frau Pauline lobte den Verstand und mehr noch die Anhänglichkeit des Thieres. Domunt jedoch konnte, nachdem er sich eine Weile beherrscht hatte, seine Lustigkeit nicht länger unterdrücken und brach in helles Lachen aus.
»Ich habe den Hund vor drei Jahren von hier mitgenommen,« begann Rosnowski ausschließlich zu Roman zu sprechen. »Wir haben uns aneinander gewöhnt und uns gegenseitig lieb gewonnen. Wir leben nur zu Zweien.«
Dann wandte er sich zu Domunt:
»Es ist mir lieb, daß ich Ihnen hier begegne, da ich eben im Begriffe war Stephan zu bitten, mich noch heute zu Ihnen zu begleiten. Vor kurzem erhielt ich einen Brief von Marcel und wollte Ihnen den Inhalt des Schreibens mittheilen, nur war ich krankheitshalber gezwungen, das Haus zu hüten.«
»Ich kann mir wohl ungefähr denken, was Marcel schreibt,« erwiderte Casimir mit plötzlich umwölkter Stirn.
»Ich möchte Ihnen und Stephan das Schreiben vorlegen, und wenn Sie gestatten, werden wir über die Antwort, die ich Ihrem Bruder ertheilen soll, gemeinschaftlich Rath halten.«
Casimir verneigte sich zustimmend. Sein Verhältniß zu Rosnowski war ein ziemlich förmliches! für Marcel jedoch schien der gelehrte Förster hohe Achtung und warme Sympathie zu empfinden. Er erzählte von seinem letzten, vor ein paar Jahren stattgehabten Zusammentreffen mit dem ältesten der Domunt'schen Brüder. Das ist ein Mann! Ein echtes Kind der Zeit! Solche Männer braucht man jetzt. Energisch, klug, ein klarer Kopf, viel Wissen, ein Geist, der immer vorwärts strebt. Er wird es auch weit bringen. Noch einige Jahre und Marcel hat ein großes Vermögen und einen berühmten Namen.
Roman trat auf Irene zu, die noch immer etwas abseits ging.
»Das Verhältniß zwischen dem armen Bohdan und seinem Hunde,« sagte er halblaut, »rührt mich bis zu Thränen.«
»Du bist sehr weichherzig, Cousin,« entgegnete sie.
»Sonst wohl nicht, aber dieser psychologische Fall spricht ganz besonders zu meinem Gemüth. Ich begreife den Gefangenen, der in der Einsamkeit seiner Zelle sogar eine Spinne liebgewann.«
In Irene's Augen ward ein flimmerndes Leuchten bemerkbar, doch schwieg sie.
Leiser noch als vorhin fuhr Roman fort:
»Ich vermuthe auch, Cousine, daß Dein gutes Herz Mitleid mit dem Einsiedler haben wird.«
Erstaunt blickte sie zu ihm empor. Ihr Antlitz wurde von flammender Glut überströmt. Doch währte dies nur einen kurzen Augenblick. Dann erwiderte sie lachend:
»Mein gutes Herz ist sehr in Sorge um das heutige Abendbrot. Die Tante wollte durchaus, daß wir Euch entgegengehen, so that ich es ihr denn zu Liebe. Aber jetzt muß ich so rasch als möglich nach Hause.«
Sie ergriff Bronia's Hand und war bald den Augen der Gesellschaft entschwunden. Auf dem Hofe herrschte bereits völlige Dämmerung. Frau Pauline und Domunt traten in das Haus; Rosnowski und Roman gingen vor den erleuchteten Fenstern langsam auf und ab.
»Wie lange bleibst Du noch hier?«
Diese Frage regte Roman immer auf. Er murmelte eine undeutliche Antwort.
Rosnowski gratulirte ihm abermals zu seinem Posten.
»Nicht nur weil derselbe materielle Sicherstellung und sogar Wohlstand gewährt. Es ist ja noch Anderes, was dem Leben seinen Werth verleiht. Wir sind Kinder des geistigen Lichtes. In seinem Kreise leben wir, ihm müssen wir dienen. Swój! warum bist Du so traurig?«
Der Hund, der hinter seinem Herrn einherging, hob den Kopf empor, antwortete jedoch diesmal nicht.
»Und ist es auch schwer, wir müssen dem Fortschritt dienen und der Cultur – sonst sind wir Schwächlinge, oder Deserteure.«
Durch die offenstehenden Fenster des Speisezimmers sahen sie einen gedeckten Tisch und einen zweiten kleineren, an welchem Stephan in Gesellschaft mehrerer Männer saß, die ihrer Kleidung nach zu schließen, entweder begüterte Bauern oder Kleinbürger aus dem nächsten Städtchen sein mochten. Vor ihnen lagen verschiedene Papiere; auch drang der gedämpfte Klang ihrer Stimmen ins Freie.
»Ich muß den jüngeren Domunt sprechen, und zwar in Stephan's Gegenwart,« begann Rosnowski, »doch ich sehe, daß Stephan beschäftigt ist. Nun, man muß das Ende dieser Berathung abwarten. Er ist doch ein eigenthümlicher Junge, dieser Stephan. Nicht? Wie vertragt Ihr Euch miteinander? Denn was mich betrifft, so muß ich gestehen, daß ich ihn nicht begreife – Phantastereien – Utopien – oder am Ende eine Verwilderung.«
Da die Antwort ausblieb, lenkte Rosnowski das Gespräch auf die Stadt, in der Roman bisher gelebt.
»Ach!« seufzte er, »diese Großstädte sind doch wirklich Sammelpunkte von Licht!«
Roman lächelte.
»Aber auch von Schmutz –«
»Du bist, wie ich merke, ein wenig enttäuscht. – Freilich, recht hast Du. Jedes Ding hat eine Kehrseite. Aber doch kann man nur, wenn man in diesen Sammelpunkten lebt, oder wenigstens enge und ununterbrochene Fühlung mit ihnen unterhält – es zu etwas bringen – etwas sein und leisten.«
Sie gingen wieder am Fenster vorüber und Roman sah Stephan's feines Profil, das von den flachen und derben Zügen seiner Gäste auffallend abstach. »Eine Lampe!« fuhr es ihm durch den Sinn.
Swój ließ ein leises, trauriges Bellen vernehmen.
»Was willst Du? Ach, ich weiß schon, ich weiß! Du langweilst Dich! Du willst nach Hause!«
»Hau, hau!«
»Wart' ein Weilchen! Ich habe einen einstigen Collegen getroffen und plaudere mit ihm. Es geschieht nicht alle Tage, daß man Menschen sieht, die man im Frühling des Lebens gekannt und geliebt hat. Das mußt Du verstehen, Swój, denn lieben kannst Du doch.«
Das schöne Thier hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu und antwortete nur mehr mit einem leisen, resignirten Knurren.
Rosnowski blieb stehen und faßte vertraulich die Rockklappe seines Gefährten.
»Nur weißt Du was, Roman? Bevor Du verreist – heirate. Einsamkeit und Sehnsucht – das sind höllische Dinge. Trotz Arbeit, Wissenschaft und Erfolg kann man manchmal wahnsinnig werden. Uebrigens weiß ich nicht – vielleicht bin ich nur so – die Mutter und die Schwestern haben ein sentimentales Thier in mir großgezogen und das kann ich nun nicht los werden. – Schließlich sind wir vielleicht Alle zu sentimental und das ist unser Unglück! Doch was kann man thun? Diese Darnowskis zum Beispiel, das sind ja wache Träumer.«
Roman blickte eben durch das Fenster in das erleuchtete Zimmer. Die fremden Männer waren aufgestanden und nahmen Abschied von Stephan, dessen hohe, kräftige Gestalt nichts Träumerisches an sich hatte. Selbst das »sentimentale Thier« schaute nirgends hervor und wenn es da war, verhielt es sich jedenfalls bedeutend ruhiger als bei Rosnowski, der seine Erregtheit vergeblich zu bekämpfen suchte und noch immer Roman's Rockklappe haltend, mit gedämpfter Stimme sprach:
»Du hast Deine Cousine, Fräulein Irene, doch jetzt näher kennen lernen müssen. Mich, der ich sie lange nicht gesehen, hat sie bezaubert. Es giebt wohl schönere Frauen, aber sie besitzt eine Ruhe, eine Anmuth und eine vollendete Herzensgüte, die geradezu hinreißend wirken! – Solch' eine gute, rechtschaffene Seele blickt durch ihre Augen! Nicht wahr? Das wär' eine Lebensgefährtin! Wunderbar! Was willst Du, Swój? Du quälst mich ja! Sei so freundlich, Dich ein wenig ruhiger zu verhalten!«
Der Hund hatte mit seiner großen Pfote mehrmals Bohdan's Hand berührt; auf die an ihn gerichtete Anrede antwortete er mit einem ganz leisen Bellen und streckte sich, ungeduldig aufstöhnend, zu Füßen seines Herrn nieder.
Rosnowski fuhr, immer unruhiger werdend, zu sprechen oder vielmehr zu flüstern fort:
»Nur fürchte ich, sehr fürchte ich es, ob sie sich von den hier herrschenden Theorien nicht hat anstecken lassen. Solche Dinge sind für Frauen gefährlich, da sie ihnen den Weg zum Glück versperren können. Das Glück einer Frau bilden Liebe und Familie. Alles Uebrige sind Hirngespinste. Stephan ist ein Fanatiker und konnte diesem guten und reizenden Mädchen mit seinen – ich bitte um Entschuldigung – sentimentalen Dummheiten den Kopf verdrehen. Ich liebe und achte ihn, aber er ist jedenfalls eine verlorene Kraft und, angesichts der bedeutenden Angelegenheiten der Welt, ein Deserteur.«
In diesem Augenblicke trat Stephan auf den Balcon hinaus, wo er von seinen Gästen mit herzlichem Händedruck Abschied nahm. Die Männer dankten, er schien ihnen noch etwas ans Herz zu legen, dann bestiegen jene zwei vor dem Balcon stehende einspännige Britschkas und der junge Darnowski wandte sich zu seinen Freunden. Er schien zufrieden und sogar heiter.
»Ich bitte um Verzeihung,« sagte er, »daß ich Euch allein ließ, aber diese Leute sind meine Collegen und holen manchmal, wenn sie in Verlegenheit sind, meinen Rath ein. Du wolltest über Casio's Angelegenheit sprechen?« wandte er sich zu Bohdan. »Nun, ich stehe zu Diensten und bitte, nach dem Essen mir in mein Zimmer folgen zu wollen. Dort sind wir ungestört.«
Etwa eine Stunde später saßen die Freunde in Stephan's Zimmer, das durch die Lampe, die auf dem Tische brannte, nur zur Hälfte erhellt wurde.
Rosnowski, der diesen Raum seit vielen Jahren nicht betreten hatte, hielt neugierig Umschau, und Roman bemerkte, daß sein Blick wiederholt an dem großen, an der Wand befindlichen Kreuz haftete. Durch das geöffnete Fenster drang, zugleich mit der kühlen Abendluft, süßer Blumengeruch in das Zimmer. Ein Strahl der Lampe fiel auf den Bücherschrank und entfachte in einer der Scheiben gelbliche Funken. Swój lag zu Füßen seines Herrn. Rosnowski entfaltete ein Schreiben, das er seiner Brieftasche entnommen, und begann, indem er eine gewisse Verwirrung zu verbergen suchte, scherzenden Tones:
»Vor allem, meine Herren, gestatten Sie mir, Sie daran zu erinnern, daß ein Bote – selbst in Kriegszeiten – weder geköpft, noch gehängt wird. Ich bin ein Bote von Marcel Domunt an seinen Bruder, und wünschte meine Botschaft in Gegenwart von Personen übergeben zu dürfen, die ihm näher stehen als ich.«
Stephan verneigte sich leicht. Er, Rosnowski und Roman saßen am Tische, Domunt in einiger Entfernung von ihnen am Fenster, wo das Licht der Lampe nicht mehr hindrang.
In dem Briefe, den Rosnowski vorlas, ersuchte Marcel den einstigen Nachbarn und Collegen, dessen Bekanntschaft er vor mehreren Jahren erneuert hatte, derselbe möge doch seinen ganzen Einfluß aufbieten, um Casimir zu bestimmen, auf den wiederholt gemachten Vorschlag des Bruders einzugehen. Die Pflichten seines Berufes, schrieb Marcel, hielten ihn von der Familie entfernt. Nichtsdestoweniger jedoch läge ihm das Schicksal eines jeden sehr am Herzen. Als die Mutter ihm von der Katastrophe schrieb, deren Opfer Casio geworden, hatte er sofort den Bruder gebeten, zu ihm zu kommen, hatte ihm versprochen, er wolle ihm behilflich sein, wieder Carrière zu machen. Trotz Casio's abschlägiger Antwort hatte er sein Anerbieten wiederholt. Leider mit demselben Erfolge. Die Gründe, die Casimir für seine Weigerung angab, seien jedoch so sonderbar, daß sie fast unglaublich klingen. Er spricht von einer Sühne, von der Tilgung einer Schuld, von Pflichten gegen den Boden, von dem Glücke des Familienlebens und so weiter.
Ist das möglich? Existiren noch Menschen mit einer derartigen Sinnesart und ist es nicht ein Traum, daß sein Bruder, vor kurzem noch so nüchtern und vielversprechend, zu ihnen gehört? Wieso ist das gekommen? Auf welche Atlantis haben ihn nach seinem Schiffbruche die Meereswellen getragen? Marcel begreift, daß jener Schiffbruch Casimir's Nerven sehr angegriffen haben muß, und diesem Umstande schreibt er diese mit der Strömung der Jetztzeit so unvereinbaren Träumereien zu. Casimir war immer ein Enthusiast, liebte es schon in früheren Jahren eigene Wege zu gehen und neue Ziele zu suchen. Solche Naturen sind sehr edel, aber auch der Gefahr des Zugrundegehens mehr ausgesetzt als andere. Marcel kann nicht ohne Besorgniß an die Zukunft seines Bruders denken. Es schmerzt ihn, daß Casimir als armer Pächter grobe, physische Arbeit verrichten soll. Das ist Elend, Demüthigung und schlechte Verwerthung seiner Kräfte und Fähigkeiten. Wenn es nicht anders ginge – dann freilich! Muß es doch allerlei Elend auf der Welt geben. So lange jedoch ein anderer Ausweg möglich, müßte man wahnsinnig sein, um an diesen vorsündfluthlichen Ansichten festzuhalten. Denn ist es nicht eine förmlich antediluvianische Idee, heutzutage von dem Glücke des Hirtenstandes schwärmen und, eine Heerde Ochsen vor sich hertreibend, die Bukolikas declamiren zu wollen? Weiß man doch gar zu gut, daß die Ziele der zeitgenössischen Geister nichts weniger als ideell sind. Reichthum und Macht bilden die Achsen, um welche die Welt sich dreht; nach Reichthum und Macht strebt man, und zu erreichen sind diese Ideale nur vermittelst kühner, unermüdlicher, ja rücksichtsloser Energie.
Möglich, daß dies gut, möglich, daß es schlecht ist, aber es ist nun einmal so, und nur Wahnsinnige kämpfen gegen das Bestehende, da ein solcher Kampf aussichtslos oder vielmehr mit sicherer Aussicht auf eine schmähliche Niederlage geführt werden kann.
Alle diese Gründe bewogen den Schreiber dieser Zeilen, den Versuch, seinen Bruder zu retten, noch einmal zu wiederholen, und wendet er sich behufs dessen an Bohdan, dem – da er doch nüchtern, klarblickend und erfahren – es vielleicht gelingen wird, Casimir zur Aenderung seiner Ansicht zu bewegen.
Rosnowski lehnte sich in seinen Sessel zurück, legte seine weiße, gepflegte Hand auf den Tisch und sich zu Casimir wendend, sagte er, Marcel's Ansicht sei vollkommen die seinige, nur habe er noch etwas hinzuzufügen. Es sei wohl richtig, daß Reichthum und Macht die Achsen bilden, um welche die Welt sich dreht, aber als dritte kommt noch – das Wissen hinzu. Oder eigentlich als erste, da es die Quelle ist, der die beiden anderen entspringen. Daher müsse man sagen: Wissen, Reichthum und Macht. Doch könne dies für Casimir nur ein Beweggrund mehr sein, um auf Marcel's Vorschlag einzugehen, und fühle sich der Redner verpflichtet, denselben aufs wärmste zu unterstützen.
Als Rosnowski zu sprechen aufgehört, herrschte eine Weile tiefe Stille. Stephan rauchte in langsamen Zügen seine Cigarette und blickte auf die den Tisch bedeckenden Papiere. Roman erhob sich mit einer etwas ungestümen Geberde und schritt auf das Fenster zu, in dessen Nähe er sich niederließ.
Erst nach mehreren Minuten erklang aus dem Schatten die Stimme Casimir's:
»Haben Sie die Absicht, Marcel zu antworten?«
»Selbstredend. Wie auch das Ergebniß unserer heutigen Berathung ausfallen möge.«
»Dann seien Sie so freundlich, ihm vor allem zu schreiben, daß ich ihm für seine Freundschaft und brüderliche Liebe herzlich dankbar bin. Er hat unbedingt ein gutes, edles Herz, aber unsere Ueberzeugungen sind entgegengesetzter Art. Ob dieser Unterschied in der Verschiedenheit unserer Charaktere seinen Ursprung hat, ob er eine Folge fremden Einflusses oder verschiedener Schicksalswendungen ist, lasse ich unerörtert. Thatsache jedoch ist, daß dieser Unterschied existirt, und mit dem Bestehenden soll man – dies ist doch Marcel's Ansicht – nicht Krieg führen.«
»Weil man Gefahr läuft, entweder zermalmt zu werden oder Andere zu zermalmen,« lachte Rosnowski. »Das ist richtig.«
»Daher,« fuhr Casimir fort, »werde ich ein kleiner Pächter bleiben und mich dabei ebenso wohl fühlen, wie Marcel als großer Geschäftsmann. Ein anderer Glaube, ein anderes Leben. Ich liebe ihn, obgleich ich seine Geschäfte verabscheue; so mag denn auch er mir die brüderliche Treue bewahren, ungeachtet dessen, daß er mit Verachtung auf meine Thätigkeit herabsieht. Es soll mich freuen, wenn er mir Gelegenheit bietet, ihn in meinem Hause begrüßen, ihn mit einem Glase Milch oder einem Teller Erdäpfel bewirthen zu können. Ich fahre nicht zu ihm.«
Die Antwort klingt entschieden genug.
»Was sagst Du dazu, Stephan?«
Bei dieser Frage leuchteten Rosnowski's kleine, aber kluge Augen in lebhafter Neugierde auf.
Stephan zuckte die Achseln.
»Wenn ich seinerzeit einen Einfluß auf Casimir ausübte, so ist das längst vorüber. Jetzt soll er thun, was er für richtig findet. Uebrigens übt man keinen Einfluß aus durch Worte.«
»Wodurch denn?«
»Durch Beispiel und Gefühle,« antwortete Stephan. »Wenn es Marcel gelingt,« fuhr er lächelnd und nicht ohne Ironie fort, »in seinem Bruder die Liebe zu den Geschäften wieder zu erwecken, ihn zu überzeugen, daß es seine Pflicht sei, diesen Geschäften obzuliegen, so kann er dessen sicher sein, daß Casimir zu ihm hinkommt. Pflicht und Liebe – darauf steht alles. Ohne dieses Fundament ist alles werthlos.«
»Aber ich bitte Dich,« sagte Rosnowski mit Lebhaftigkeit, »Pflicht und Liebe, das ist recht gut, recht schön; das erkenne ich ebenfalls an, aber wie kommt das hierher? Dieser Zusammenhang ist mir völlig unbegreiflich. Wenn Du, ein begüterter Mann, pflügst, mähest, sägst und so weiter, wenn Herr Casimir, der mit seinem Wissen ganz anderes leisten könnte, dies ebenfalls thun will – was hat diese Arbeit mit Pflicht und Liebe gemein? Welchen Zweck hat sie? Mir macht es den Eindruck von etwas – geradezu Vorsündfluthlichem. Aber ich bin dieser Gegend entfremdet und verstehe es vielleicht darum nicht. Erkläre mir also, ich bitte, ist diese Vereinfachung ein Spiel, eine Utopie, die Rückkehr zum Zustande der Ursprünglichkeit? Ich werde Dir für eine nähere Auseinandersetzung sehr dankbar sein.«
Seine Augen glänzten vor Neugierde und seine gelblichen Wangen begannen sich zu röthen.
Stephan lachte.
»Wenn Du glaubst, daß ich Dir eine Idylle vordeclamiren werde, so irrst Du Dich. Es liegt der Sache wohl eine Parabel zugrunde; doch bei der sind wir noch nicht angelangt. Vor allem muß ich die einfache, prosaische Thatsache constatiren, daß ich nichts weniger als ein begüterter Mann sein werde.«
»Wieso?« rief Rosnowski, »Darnówka ist doch –«
In diesem Augenblicke berührte Swój die Hand seines Herrn und denselben mit seinen klugen Augen anblickend, knurrte er leise und ein wenig kläglich.
»Ich habe keine Zeit, Swój!« wies ihn Rosnowski ärgerlich zurecht, »störe mich nicht und bleibe ruhig liegen!«
Mit einem lauten Gähnen ließ sich der Hund sofort zu Füßen seines Herrn nieder und Letzterer folgte gespannt dem weiteren Berichte Stephan's:
»Ich habe ja noch einen Bruder und eine Schwester und hoffe, daß meine Eltern ein hohes Alter erreichen werden. Wir haben also Darnówka in vier Theile parcellirt und auf dem einen Viertel werde ich mich ansässig machen, sobald ich mir einen eigenen Hausstand gründe –«
»Du heiratest?« fragte Rosnowski ein wenig zögernd.
»Natürlich. Und wahrscheinlich binnen kurzem. Warum sollte ich denn nicht?«
»Weil Dein Zimmer mich stark an eine Mönchszelle gemahnt.«
Bei diesen Worten um sich blickend, heftete Rosnowski sein Auge auf das an der Wand hängende Kreuz.
»Das scheint Dir so,« erwiderte Stephan lächelnd, »weil Du von der großen Welt kommst. Thatsächlich ist es das einfache Zimmer eines Landmannes und fehlen hier nur –«
»Chinesische Wandschirme,« erklang eine Stimme vom Fenster.
Alle lachten.
»Wieso sind Dir chinesische Wandschirme eingefallen?« fragte Rosnowski, zu Roman sich wendend.
»Weil sie modern sind und ich deren viele gesehen habe.«
»Nun,« fuhr Stephan fort, »obgleich also in diesem Zimmer keine chinesischen Wandschirme vorhanden, habe ich nichtsdestoweniger die Absicht zu heiraten. Bis dies jedoch geschieht, bis Leo und Bronia heranwachsen, verpachten wir die Vorwerke. – Wir haben unsere Berechnung dabei –
Thatsächlich bin ich also Besitzer nur eines Viertels von Darnówka, was gar nicht Reichthum und nur bei sehr fleißiger Arbeit Wohlstand genannt werden kann.«
»Aber eigenhändig brauchte diese Arbeit doch nicht zu sein.«
»Das nun wohl nicht, aber auch diese schadet weder der Tasche, noch der Gesundheit, noch dem Kopfe.«
»Das ist eben die Frage.«
»Für mich ist sie entschieden. Wenn dem jedoch so wäre, und diese Thätigkeit, wie Du glaubst, dem Kopfe schaden sollte, so ist noch ein Umstand vorhanden, der sie mir durchaus nothwendig erscheinen läßt. Ich bin nämlich der Ansicht, daß man die Hoffart aus dem Herzen bannen und die Aermel in die Höhe streifend, an die Verrichtung einfacher Arbeit gehen soll; einer Arbeit, die nicht erfordert, daß der Mensch ihr das zum Opfer bringe, was Du vorhin, als Du von den Achsen sprachst, um welche die Welt sich dreht, aufzuzählen vergessen hast.«
»Ach, so hast Du noch etwas entdeckt, was als Weltachse betrachtet werden kann?«
»Ich habe gar nichts entdeckt, nur an längst Vorhandenes gedacht.«
»Und dies wäre?«
»Der Name klingt einfach und altmodisch. Die Tugend.«
»Ach! Nun freilich; warum denn nicht?« begann Rosnowski zu erwägen. »Nur siehst Du, unterliegt das verschiedener Deutung. Tugend!«
»Ganz recht! Aber welche? Es giebt ja zwanzigtausend Tugenden. Kindliche, eheliche, väterliche, bürgerliche, kaufmännische, europäische, afrikanische –«
»Und so weiter,« unterbrach Stefan, »aber außer der afrikanischen, über welche die Bewohner Afrikas sich die Köpfe zerbrechen mögen, fließen sie alle aus einer Quelle. Man muß etwas lieben, gewisse Pflichten anerkennen und nicht vergessen, daß nicht die Welt unsere Dienerin und unser Fußschemel, sondern wir Diener der menschlichen Leiden und der Ideen Gottes sind. Man muß lieben und dienen können. Das ist die unerläßliche Bedingung einer jeden Tugend. Wer ein guter Sohn, Vater, Staats- und Weltbürger sein will, muß vor allem ein guter Mensch sein. Sonst erreicht er das Uebrige nicht.«
»Das heißt,« sagte Rosnowski, »er muß etwas lieben, gewisse Pflichten anerkennen, den Hochmuth aus seinem Herzen bannen –«
»Und,« schloß Stephan, »dies nicht mit Worten, sondern mit Thaten beweisen.«
»Ich verstehe,« sagte Rosnowski.
Das ironische Lächeln, das anfänglich seine Lippen umspielt hatte, war von seinem Antlitze verschwunden. Nach einer Weile des Schweigens begann er sinnend:
»Eine gewisse Tiefe und Logik lassen sich diesem Gedanken nicht absprechen. Nur steigen mir doch Zweifel auf: Woher wollt Ihr denn so viel einfache Arbeit nehmen, daß sie denjenigen, die den Hochmuth abstreifen, das tägliche Brot sichert? Ich glaube zwar nicht, daß Ihr viele Anhänger findet, das Ganze ist eine Ideologie, aber gesetzt den Fall, daß dem so wäre, so müssen doch alle diese Leute sich satt essen. Der Eine und Andere wird eine eigene Werkstätte haben; aber wenn sie schaarenweise zu Dir kommen und fragen: wo ist der Boden, auf dem wir pflügen sollen?«
»Dann freilich werde ich ihnen die Antwort schuldig bleiben. Aber an der rechten Lösung dieser Frage müßten sich viele tüchtige Köpfe und manch guter Wille betheiligen. Wie soll man nun die Lösung finden, wenn es eben an diesen wichtigsten Factoren mangelt?«
Als Beitrag zu diesem Gespräche erwähnte nun Domunt einiges aus Deutschland, in dessen Hauptstadt er längere Zeit verbracht, und auch Roman streute einige Bemerkungen mit ein. Rosnowski waren die ökonomischen Verhältnisse verschiedener Länder nicht fremd, und so entspann sich denn eine lebhafte Unterhaltung.
Man sprach von englischen Farmern, ungarischen Mühlenbesitzern, französischen Gärtnern, und berührte viele mit dem Ackerbau, dem Handel, Gewerbe und zahllosen Zweigen der menschlichen Thätigkeit in Verbindung stehende Einzelheiten. Als das Thema theilweise erschöpft war, sagte Bohdan:
»Das ist eines. Aber dem ließe sich am Ende noch abhelfen. Nur hast Du darin recht, Stephan, daß eine Abhilfe unmöglich, so lange niemand nach ihr strebt. Aber es existirt noch ein Umstand, der bei mir immer obenan steht, und zwar: das geistige Niveau einer gewissen Menschengruppe. Nun muß ich ehrlich gestehen, daß ich einem Staate, der unter den heutzutage obwaltenden Verhältnissen ein Volk von Hirten heranbildet, nicht gratuliren würde.
»Ihr sagt, daß die englischen Farmers die Times lesen, die tschechischen Bauern Kunsttempel errichten, daß man die Universitätsstudien mit Erfolg absolvirt haben und doch manches thun könne, was mit denselben in gar keinem Zusammenhange stehe. Schön. Aber das ist erst Bildung. Nun behauptet Stephan, die Bildung übe, wenn sie in das Mark des Menschen dringe, eine veredelnde Wirkung sowohl auf des Letzteren Thätigkeit wie auf seine Umgebung aus. Das ist wahr und muß unbedingt anerkannt werden. Aber Bildung ist noch kein Wissen. Was soll mit dem Wissen werden, mit der echten, wahren, verschiedenen Zweigen menschlicher Thätigkeit dienenden Wissenschaft, die –«
»Ein Ausfuhrartikel ist,« unterbrach Stephan.
»Wieso?« fragte Rosnowski erröthend.
»Natürlich. Man erwirbt sie für den Marktgebrauch, reist mit ihr herum und verkauft sie dem Meistbietenden um –«
»Pasteten!« ergänzte Roman.
Rosnowski's Wangen färbten sich dunkler. Er fühlte sich beleidigt.
»Meine Herren,« sagte er, »derartige Anspielungen habe ich schon mehrmals gehört. So seid doch aber gerecht, und seht ein, daß sie nicht überall hinpassen. Mir gegenüber zum Beispiel haben sie gar keine Existenzberechtigung. Mein Beruf ist ein solcher, daß ich trotz raschen Vorwärtsschreitens sehr bescheidene Einkünfte habe und niemals ein Nabob sein werde.«
»Das weiß ich,« sagte Stephan, sein Haupt neigend, »Du gehörst zu den wenigen, die ihrem Berufe und dem Wissen mit wahrer Liebe anhängen –«
»Und Geld habe ich so wenig,« fuhr Rosnowski mit Aufregung fort, »daß ich nie im Stande sein werde, meinem Bruder die Hälfte von Zawróæ abzukaufen. Er wird Besitzer meines Theiles werden und dann wird das Gut, da er sich im Auslande acclimatisirt hat und nicht wird zurückkehren wollen, in fremde Hände übergehen. Ich jedoch, der ich unbedingt heimgekehrt wäre, werde auf meine alten Tage verbannt sein von der Scholle, auf der ich geboren. Solches ist mein Reichthum – und habt Ihr daher gar keine Ursache zu Sticheleien.«
»Das ist wahr,« bestätigte Stephan. »Wäret Ihr jedoch in Zawróæ geblieben, so wäre jeder von Euch dreimal so reich als ich, Besitzer eines Viertels von Darnówka. Nur freilich hättet Ihr nicht können vornehme Herren sein. Denn wenn Du auch kein Vermögen hast, Bohdan, ein vornehmer Herr bist Du doch.«
Rosnowski antwortete nicht. Er erhob sich, schob seinen Stuhl beiseite und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Swój, der durch das Geräusch erwacht war, folgte ihm, den zottigen Schwanz regungslos in die Höhe haltend, Schritt für Schritt nach.
Endlich ließ sich Rosnowski schwerfällig auf Stephan's Bett nieder. Er saß außerhalb des Lichtkreises der Lampe, und so sah man nur die Contouren einer vornübergeneigten, menschlichen Gestalt, deren Arm um den Hals eines Hundes geschlungen war.
»Nun, Swój?« erklang Bohdan's angenehme Stimme, »man macht uns das Glück, das wir auf dem Markte erhandelten, zum Vorwurf. – Man sagt, wir verkauften das Wissen um eine Pastete. – Hast Du gehört, Swój?«
»Hau, hau!« bellte der Hund, und es klang ganz als wolle er sagen: o ja! o ja!
»Und haben sie recht? Denkst Du wie lustig wir die Herbst- und Wintermonate zuzubringen pflegten? – wir Beide in dem öden Hause ganz allein. – Denn unser Koch, der gleichzeitig unser Bedienter war, hatte die Eigenheit, sich zu betrinken und dann wie todt zu schlafen. – Und wir Beide wachten die langen Abende und Nächte.«
»Huu, huu!« bellte der Hund traurig.
»Auch die Nächte, denn denkst Du, Swój, wie mich die ringsum herrschende Grabesruhe nicht schlafen ließ? Auch Du schliefst nicht, Swój. – So lange ich arbeitete, lagst Du mir zu Füßen und wenn ich nicht mehr arbeiten konnte, sprachst Du mit mir –«
»Hu, hu, hu, hu!« bellte der Hund ganz leise.
»Wenn die Stürme um das Haus pfiffen und heulten, denkst Du, welchen Genuß uns diese wunderbaren und vor allem erheiternden Concerte bereiteten?«
Diesmal erklang als Antwort seitens des Hundes ein unruhiges Winseln.
»Und manchmal, wenn nicht nur die Stürme, sondern auch die Wölfe heulten, das war eine großartige Musik, nicht wahr, Swój?«
»Huuuu!«
»Aber das war nicht alles. Die vorzüglichste Pastete war doch damals, als ich das teuflische Fieber bekam. Denkst Du, Swój, wie es mich in der Hütte des Försters zu schütteln begann? Auf das Bett, auf dem ich lag, strömte von der Decke und den Wänden ein Regen ekelerregender Würmer nieder, und die Mutter des Försters pflegte mich. Erinnerst Du Dich noch, welch eine liebenswürdige, alte Frau sie war? – Ha, ha, ha, ha! So liebenswürdig, sauber und verständig.«
Bei Erwähnung der alten Frau, erklang Swój's Heulen viel kläglicher und gedehnter, als da von Stürmen und Wölfen die Rede gewesen.
»Ich wand und krümmte mich in rasenden Schmerzen und Du, Swój, lecktest mir die Hände. War doch dies das Einzige, was Du mir leisten konntest. Du Aermster! Littest selbst Hunger in dieser elenden Hütte, aber lecktest mir die Hände und sprachst mit mir, so gut, als Du nur konntest. – Sonst war niemand da, der dem Kranken während der langen Tage und ewigen Nächte zugesprochen hätte. – Damals waren wir glücklich; nicht wahr, Swój? Wir aßen Pasteten und waren vornehme Herren, stolz und vornehm.«
Der Hund, der beide Vorderpfoten auf die Schultern seines Herrn gestellt und seinen zottigen Kopf dessen Gesicht genähert hatte, ließ ein schauerliches, durchdringendes Winseln ertönen.
»Nun, ruhig, Swój, ruhig!« beschwichtigte Rosnowski, das Thier sanft streichelnd. »Wir haben ja doch auch manches Angenehme und wirklich Gute erfahren. Wir haben unsere Pflicht stets ehrlich und gewissenhaft erfüllt. Wir lernten, strebten, kamen vorwärts und dachten vermittelst unseres Wissens der Cultur und dem Fortschritte zu dienen. Und dem war so, Swój, ganz sicher war dem so! – Nur was die Pastete anbetrifft, weißt Du, Swój, die Pastete – die war gerade nicht von der besten Art –«
»Hau, hau!« bestätigte der Hund, doch klang sein Bellen schon bedeutend fröhlicher.
Auf die drei Männer, deren Augen auf die im Halbdunkel sitzende Gestalt gerichtet waren, machte dieses Zwiegespräch einen eigenthümlichen Eindruck. Stephan, dessen Antlitz sich umwölkt hatte, trat mit einer raschen Bewegung auf Rosnowski zu.
»Wenn ich Dich beleidigt habe, Bohdan,« sagte er, »so bitte ich Dich um Verzeihung. Du weißt recht gut, daß ich Dich achte, und weit entfernt davon bin, Dir den Vorwurf des Eigennutzes zu machen. Nur, daß wir eben über manche Dinge verschiedener Ansicht sind.«
Bohdan erhob sich und ergriff die dargebotene Hand.
»Nun,« sagte er lächelnd, »bisher war ich nicht sehr glücklich, möchte jetzt von hier ein wenig Glück mitnehmen – ob's mir gelingt? – Das ist die Frage. Ich betrachte nun einmal die im Dienste des Fortschrittes stehende Wissenschaft als eine Macht, welcher alle persönlichen und auch andere Rücksichten weichen müssen. Sie gilt bei mir als Nummer eins –«
»Nummer zwei,« berichtigte Stephan.
»Nummer eins ist bei Dir die Tugend?«
»Ja.«
»Amen,« sagte Rosnowski und nach seinem Hut greifend, fügte er hinzu: »Nun und was soll denn daraus werden? Etwas ganz Apartes, wie ich sehe. Eine neue Secte?«
»Behüte,« unterbrach Stephan. »Die Sache ist alt.«
Seine Augen erglänzten, ein ernstes Lächeln umspielte seine Lippen.
»Römer, wir sind Christen,« sagte er einfach.
»Ah!«
Diesem unwillkürlichen Ausrufe des Erstaunens folgte jedoch sofort die Erwiderung:
»Aber natürlich! Das sind wir doch Alle –«
»Fast niemand.«
»Aber – aber muß man denn, um Christ zu sein, durchaus in einem Loche leben und sein Licht unter den Scheffel stellen?«
»Wenn dies ein Gebot des Herzens und Gewissens –«
Rosnowski stand, die Hand, in der er seinen Hut hielt, auf den Tisch gestützt, gesenkten Hauptes schweigend da. Nach einer Weile des Nachdenkens erhob er das Auge und fragte:
»Und glaubst Du, daß Du viele Adepten haben wirst? Aber wenn dem selbst so wäre, meinst Du, es wird zu etwas führen?«
» Qui sait?« entgegnete Stephan achselzuckend. »Das Zukünftige ist verhüllt, folglich können wir kein Urtheil darüber fällen. Fais ce que dois, advienne ce que pourra.«
Rosnowski wandte sich zu Casimir.
»Die Antwort, die ich Marcel in Ihrem Namen ertheilen soll, ist also entschieden ablehnend?«
»Ganz entschieden. Uebrigens bin ich nicht gelehrt, und unter meinem Scheffel wird nicht viel Licht verborgen.«
»Christliche Demuth,« scherzte Rosnowski.
»Ja. Und niemals werde ich aufhören, mich zu freuen, daß ich sie erworben.«
»Und wenn Sie es nicht gethan hätten?«
»Würde ich mich zum zweitenmale aufhängen,« erwiderte Casimir lachend. »Denn einmal that ich es schon.«
»Das würde man bei Ihrer gegenwärtigen Heiterkeit niemals errathen haben!«
Bei diesen Worten begann er, gefolgt von Swój, die zu den Wohnungsräumen der Familie führende Treppe hinunter zu steigen.
Im Empfangszimmer saß Frau Pauline und sprach, tiefe Bekümmerniß in den Mienen, leise zu ihrem Gatten, der, seinen Kahlkopf schüttelnd, ihr mit halblauter Stimme antwortete:
»Was kann man thun? Gräme Dich nicht, mein Herz. Jeder Mensch muß für seine Dummheit bezahlen. Was kann man thun? Ihre Strafe wird sein, daß sie ein Pilz wird!«
»Aber, lieber Romuald, das ist es ja eben, was mir so wehe thut, was ich so fürchte, ach, ach, ach! Wie sehne ich ihr Glück herbei. Wie sehr möchte ich –«
Darnowski ergriff eine ihrer mageren Hände und blickte seiner Frau schalkhaft lächelnd in die Augen.
»Obgleich andererseits –« hub er an.
»Andererseits,« wiederholte sie, hielt jedoch lachend inne. »Du mußt Dich immer über mich lustig machen. Nun, andererseits kennst Du aber die Kehrseite der Medaille wirklich besser als ich.«
»Darum sage ich auch, Herz, Du sollst nicht so traurig sein. Was kann man thun? Auch mein sehnlichster Wunsch ist es, sie glücklich zu sehen, aber – Gott weiß, wozu es gut ist!«
Bei den letzten Worten erhob er sich und ging den in Gesellschaft von Stephan eintretenden Gästen entgegen.
Rosnowski, dessen Pferde bereits vor dem Hause standen, suchte die Abfahrt nach Möglichkeit zu verzögern. Er ging mit Herrn Romuald im Zimmer auf und ab, setzte sich neben die Hausfrau, der er ein neuentdecktes Mittel gegen Migräne anrieth, wandte plötzlich den Kopf mit einer hastigen Bewegung zur Thür, durch die soeben Bronia hereintrat, mit einem Worte, sein ganzes Gebaren verrieth Unruhe und Erwartung.
Noch fünf Minuten, noch zehn, eine Viertelstunde. Endlich mußte Abschied genommen werden. Nun standen Alle in der Mitte des Zimmers. Frau Pauline schien noch unruhiger als der Gast. Alle Augenblicke sah sie auf die Thür, und ihre mageren Wangen rötheten sich. Zu Bronia sich wendend, fragte sie leise:
»Wo ist Irus? Gehe und hole sie.«
Die Kleine jedoch, der die Nothwendigkeit des leisen Sprechens nicht einleuchtete, antwortete laut:
»Irus ist schlafen gegangen. Gleich nach dem Abendbrot, als die Herren in Stephan's Zimmer sich zurückzogen und ich Czuwaj zu essen gab, ging sie zu Bette.«
Der Zeitpunkt war mit solch chronologischer Genauigkeit angegeben, daß ein Anzweifeln der Thatsache unmöglich. Auf Rosnowski's Antlitz lagerte sich der Ausdruck einer unendlichen, alle anderen Gefühle in den Hintergrund drängenden Müdigkeit. Er sah sich um und fragte:
»Bist Du da, Swój?«
Zwei Minuten später fuhr er in seinem vierspännigen, eleganten, wenn auch etwas altmodischen Wagen davon. Neben ihm saß Swój. Als das Gefährt sich ein wenig entfernt hatte, hörten die auf dem Balcon des Hauses Stehenden, wie Bohdan zu seinem Hunde sprach. Die Worte waren nicht verständlich, aber das als Antwort erklingende Bellen war traurig und wehmüthig.
Nachdem der Gast fortgefahren, blieb Roman allein mit der Tante. Frau Pauline trug an diesem Tage mehr Spitzen noch als sonst; eine Mantille, Falbeln, ein Häubchen in Gestalt eines Schmetterlings und etliches mehr. In ihren Fauteuil zurückgelehnt, klagte sie:
»Da haben wir es! Nun ist sie schlafen gegangen. Er wird das für einen Refus ansehen und nicht mehr wiederkommen, und dies umsomehr, als sie schon am Nachmittag, bevor wir Euch entgegen gingen, entweder sich in der Wirthschaft zu schaffen machte oder stumm war wie ein Fisch. Ich wußte wohl, daß es so kommen würde, denn sie sagte mir –«
»Was hat Cousine Irene gesagt?« unterbrach Roman hastig.
Doch scherzend drohte ihm Frau Pauline mit dem Finger.
»Ei, sehe Einer nur die Neugierde! Aber wir Frauen verrathen unsere Geheimnisse nicht. Obgleich andererseits es kein Geheimniß mehr ist, sobald sie sich zurückzieht, ohne seinen Abschied abzuwarten. Und das hat sie absichtlich gethan, da sie doch sonst niemals mit den Hühnern schlafen geht. Gott, mein Gott! Was hat sie gethan? Das ist ja eine directe Absage. Und wenn Bronia es noch anders mitgetheilt hätte! Aber so! Nun ist es aus und vorbei! Und was wird aus ihr werden? Was wird ihr Los sein, wenn Romuald und ich die Augen schließen? Dienen wird sie gehen, zu Fremden.«
Sie war so betrübt und bekümmert, daß sie sogar zu seufzen und ihr stereotypes »andererseits« hinzuzufügen vergaß. In ihren blassen Augen glänzten Thränen.
»Denn siehst Du, Romek, ich habe sie ja auferzogen. Sechs Jahre war sie alt, als ihr Vater starb. Ihre Mutter lebte damals nicht mehr, und so blieb denn das Kind als eltern- und vermögenslose Waise zurück. Die Verwandtschaft mit Romuald war keine sehr nahe, aber immerhin existirte sie, und mein Mann sagte gleich, man müsse die Kleine zu uns ins Haus nehmen. Ich hatte nichts dagegen, im Gegentheile. Eine Tochter hatte ich damals noch nicht, so erzog ich sie denn und pflegte sie, als wäre sie mein eigen Kind. Sie hat es mir aber auch redlich vergolten! Ach! Wie hat sie es vergolten! Nur jetzt, dieser Kummer! Wenn ich daran denke, daß sie nie einen Lebensgefährten, keine Stellung, keine gesicherte Zukunft haben wird.«
Sie drückte ihr Taschentuch an die Augen und weinte bitterlich.
»Dieser Rosnowski, ein so anständiger, lieber Mensch, obgleich, wenn ich wieder daran denke, daß er Irus an das Ende der Welt mit fortgeführt hätte. – Das eine ist schlecht, das andere nicht gut. Aber wenn sie uns auch fehlen würde, ist das nicht belanglos dem gegenüber, daß sie selbst verwaist sein wird, obdachlos und gezwungen, ihr Brot in der Fremde zu suchen?«
In diesem Augenblicke wurde die Thür leise geöffnet. Vorsichtig den Raum überblickend, trat Irene in das Zimmer. Ihre Erscheinung bildete einen lebhaften Gegensatz zu den Klagen der Tante. Eine weiß und rosenroth gestreifte Schürze über dem Kleide, in den feingeschnittenen Zügen des Antlitzes den Ausdruck eines Kindes, das einen lustigen Schabernack gespielt, neigte sie sich vornüber, und ihre ganze Gestalt sprach deutlich: »Ihr dachtet, ich sei schlafen gegangen! Weit gefehlt! Hier bin ich!« Ihre Augen begegneten dem Blicke Roman's. Diesmal senkte Irene nicht die Lider. »Mein gutes Herz konnte sich dem Einsiedler nicht barmherzig erweisen, denn es gehört nicht ihm!« Roman las diese Worte in des Mädchens leuchtendem Blicke, und ein unendliches Glücksgefühl schwellte seine Brust.
In demselben Augenblicke jedoch hatte Irene wahrgenommen, daß Frau Pauline weinend die Augen mit ihrem Taschentuche bedeckte. Im Nu war sie an ihrer Seite.
»Du weinst, Tante,« rief sie, vor ihr niederkniend, »und über mich. Was soll ich thun, wenn ich nicht anders kann, ich kann wirklich nicht.«
Sie küßte ihr die Hände und Frau Pauline umschlang sie zärtlich.
»Du, mein gutes Kind, thue was Du willst, handle wie Du es für richtig findest, denn, wenn ich auch erfahrener bin und weiß, welche Wichtigkeit die Ehe für eine Frau besitzt, so hast Du andererseits hundertmal so viel Verstand als ich.«
Bei diesen Worten kam Bronia geräuschvoll hereingestürzt.
»Da sehe Einer,« rief sie, die Hände zusammenschlagend, »Irus ist nicht schlafen gegangen. Ach, hast Du mich gefoppt! Ich hatte doch wirklich geglaubt, daß sie schläft. Sie hatte sich in unser Zimmer eingeschlossen. Auf mein Klopfen erhielt ich keine Antwort. Nun, denke ich mir, da sie schläft, will ich sie nicht wecken. Später, wenn Schlafenszeit sein wird, werde ich stärker klopfen. Dann wird sie aufwachen und mir die Thür öffnen. Und wie ich jetzt komme, ist von Irus keine Spur und ihr Bett ist unberührt. Aber, Irus, wozu hast Du mich so gefoppt? Aha! Ich weiß schon! Ich weiß!«
Und in die Hände klatschend, sprang sie auf einem Fuße im Zimmer umher:
»Irus bleibt bei uns!« sang sie, »Irus fährt nicht fort mit Herrn Rosnowski!«
Sie ergriff Roman bei beiden Händen und drehte ihn mit sich im Kreise herum.
Roman ließ es gern geschehen und noch lieber hätte er mit der Kleinen laut mitgesungen; doch ging das nicht an. Plötzlich blieb Bronia stehen:
»Und die Nüsse, Romek? Wo sind die Nüsse, die wir für Irus gesammelt haben?«
Nun erst erinnerte sich Roman der Nüsse, mit denen er alle Taschen voll gestopft hatte, und deren er außerdem noch eine ganze Menge im Vorzimmer hatte liegen lassen.
»Da haben wir es!« jammerte Bronia, »im Vorzimmer! Sicherlich hat Anton sie dort gefunden und aufgegessen!«
Anton war der halbwüchsige Bursche, der gleichzeitig Diener, Irenens Schüler und ein großer Liebhaber jeglichen Naschwerkes war.
Ein glücklicher Zufall hatte es jedoch gefügt, daß die Nüsse Anton's scharfem Auge entgangen waren. Die Uebergabe des Depots dauerte ziemlich lange. Roman schüttete die Nüsse in die gestreifte Schürze, welche Irene ihm zu diesem Zwecke hinhielt; dann leerte er den Inhalt seiner Taschen.
»In einer Stunde so viel zu sammeln!« sagte er. »Das ist keine Kleinigkeit! Das haben Bronia und ich zuwege gebracht!«
»Für Irenchen ist das nicht viel!« erklang hinter ihm die Stimme des alten Darnowski, der soeben mit Stephan hereingekommen war, »die wird in einer Viertelstunde damit fertig.«
»Das kann nicht sein!« sagte Roman erstaunt.
»Irus,« bat Bronia, »zeige Roman wie geschickt Du Nüsse aufknackst.«
»Ha, ha, ha!« lachte der Alte, »was kann man thun? Zeige doch dem Cousin Deine Kunst.«
»Warum willst Du Dein Licht hinter den Scheffel stellen?« fragte Stephan scherzend.
Irene, von Allen umringt, stand am Tische und begann nun mit geschickten Fingern die Nüsse aus ihren rauhen Hülsen auszuschälen. Schon hatte sie dieselben zwischen ihre blendend weißen Zähne geschoben; knack, knack! Wie das knusperte!
Mit der Gewandtheit eines Eichhörnchens arbeitete sie abwechselnd mit Fingern und Zähnen.
»Es ist wirklich unglaublich,« erzählte der alte Darnowski, »wie viel Nüsse das Mädchen aufessen kann. An den Winterabenden hört man's von allen Seiten knack, knack, bald hier, bald dort. Ueberall knuspert's. Was kann man thun? Das ist Irus, die bei der Arbeit Nüsse verspeist.«
Alle lachten. Um Roman's Lippen jedoch spielte ein Lächeln anderer Art. Sein Auge haftete an Irenens Gestalt. Das junge Mädchen hielt das Haupt ein wenig über die auf dem Tische liegenden Nüsse gesenkt. In ihrem blauschwarzen Haare welkte eine bleiche Levkoje. Ihre Stirn, auf die das volle Lampenlicht fiel, zog durch die Reinheit der Linien den Blick des jungen Mannes mit unwiderstehlicher Gewalt an.
Frau Pauline, die ihren Lehnstuhl nicht verlassen hatte, bemerkte dies; eine Ahnung überkam sie und eine frohe Hoffnung hielt plötzlich Einzug in ihr Herz. Nichtsdestoweniger jedoch begann sie seufzend zu sprechen:
»Ach, denkst Du noch, Romek, wie Ihr vor Jahren in diesem Zimmer tanztet? Ich spielte und Du und Irus Ihr drehtet Euch wie Kinder im Kreise umher – Ihr waret freilich noch Kinder! Ach, wie lange das her ist! – Aber die fröhlichen Zeiten können wieder kommen! Wollt Ihr? Ich spiele gern.«
Sie erhob sich, lebhafter als je, ging ans Clavier und bald strömten unter ihren mageren gelben Fingern die Klänge eines Strauß'schen oder Lanner'schen Walzers hervor, eines derjenigen, die in ihrer Jugend en vogue gewesen waren. Ihr Anschlag war zart und schwach, so klangen und sangen denn die Töne ganz leise wie eine entfernte Erinnerung längst vergangener Dinge.
»Warum tanzt Ihr nicht?« fragte sie, den Kopf umwendend, »tanzt doch wieder so wie ehemals!«
Aber mit denjenigen, zu denen sie sprach, mußte etwas Eigenthümliches vorgegangen sein. Roman stand wie festgewurzelt, regungslos da und Irene schaute zum Fenster hinaus, als suche sie etwas in der nächtlichen Finsterniß.
Mit den Klängen des alten Walzers war dem jungen Manne die Fluth der Erinnerungen seines Lebensfrühlings zugeströmt und hatte in seinem Herzen eine unendliche Sehnsucht geweckt. Von jener reinen, heiligen Erinnerung trennten ihn so viele Jahre, so viel Lärm und Trubel, zahlreiche befriedigte Begierden und vor allem so viele Flecke auf Leben, Geist und Herz, daß er es nicht wagte, sich Irenen zu nähern und sie um die gemeinsame Wiedererweckung dieser Erinnerung zu ersuchen.
Irene wußte dies und um ihre Erregung zu verbergen, blickte sie zum Fenster hinaus. Auch über ihrem Haupte waren diese langen Jahre nicht spurlos vorübergegangen und wenn ihre Vergangenheit auch makellos, an traurigen, leidvollen Stunden war sie nicht arm gewesen. Ja, hatte derjenige, dem ihr Kinderherz bei den Klängen eben dieses Walzers so warm entgegengeschlagen, zu dieser Trauer nicht ein wenig Anlaß gegeben?
Aber in dem bescheidenen Empfangszimmer der Darnowskis war ein jugendliches Wesen, welches die Zeit noch mit jedem Schatten, mit jedem Tröpfchen Bitterniß verschont hatte. Ohnehin durch Irenens Production belustigt, fühlte sich Bronia durch die Musik ihrer Mutter in den siebenten Himmel versetzt. Sie blieb vor Roman stehen, legte ihre kleinen, sonngebräunten Hände auf seine Arme und bat:
»Tanz' mit mir, lieber Roman, tanz' mit mir!«
»Kannst Du denn tanzen, Mäuschen?«
»Freilich. Irus hat mich gelehrt.«
»Wenn ich aber keine Lust habe –«
»O, mein lieber Bruder, ich bitte, bitte sehr!«
Um sie für diese Benennung zu belohnen, umschlang er sie und flog mit ihr mehreremale in der Runde umher, zur großen Freude der alten Kupferstiche über dem alten Canapee, die plötzlich Farbe und Bewegung erhalten zu haben, zur Freude der Runzeln auf der hohen, kahlen Stirn des alten Darnowski, die lachend zu hüpfen schienen. Es war, als ob sie rufen wollten: »Ei, wie befreundet doch die Kinder sind! Was kann man thun? Auch wir haben unsere Pasteten!«
Stephan und Casimir unterhielten sich leise miteinander, und auf der Schwelle stand Czuwaj, der große, zottige Hofhund, der beim Anblicke seiner kleinen Beschützerin, die mit fliegendem Goldhaare einem Schmetterling gleich im Zimmer umherflog, mehrmals fröhlich aufbellte.
Athemlos, mit freudig blitzenden Augen schlang Bronia, nachdem der Walzer zu Ende, beide Arme um den Hals ihres Tänzers und auf seine Wange einen weithin schallenden Kuß drückend, erklärte sie:
»Du bist ein lieber, guter Mensch, Romek. Ich danke Dir für das Tanzen und liebe Dich, obgleich Du – ein Australier bist!«
»Du mein goldenes Mäuschen!« erwiderte er, ihre beiden kleinen Hände herzlich drückend.
Und er fühlte in diesem Augenblicke, daß dieses kleine Wesen seinem Herzen sehr nahe und sehr theuer war.
»Jetzt aber heißt es: Schlafen gehen, Kinder!« sagte Herr Romuald, sich von seinem Sessel erhebend.
Als Roman seiner Cousine beim Abschiede die Hand bot, waren Irenens Züge wieder vollkommen ruhig. Nur in den Schatten ihrer gesenkten Wimpern und um ihre geschlossenen Lippen irrte der Ausdruck einer stillen Trauer. War es stumme Resignation oder barg sich eine Thräne unter diesen Lidern?
Es war schon spät und noch immer ging Roman im Garten unter den Thränenweiden, deren lange Reihe bis zu dem auf das Feld hinausführenden Pförtchen sich hinzog, auf und ab.
An Schlaf war nicht zu denken. Dazu war er zu unruhig und zu aufgeregt; das Leben hatte ihm ein so großes Fragezeichen in den Weg gestellt, daß er den Blick davon nicht wegwenden konnte. Was wird nun sein? Dieses oder jenes. Wähle!
Und er hatte bereits gewählt in der Theorie. Während der Unterredung zwischen Stephan und Rosnowski hatte er gefühlt, daß er die Ueberzeugungen Stephan's aus voller Seele theile. Das war nicht auf einmal so geworden. Tropfen nach Tropfen war in sein Inneres gedrungen, hatte sich zu einem Ganzen gefügt und stand nun da, fest und klar wie Krystall. Doch dies war erst die Theorie. Die Praxis bot manche Schwierigkeit dar. Jetzt hieß es, entweder auf glatten, den Körper einschmeichelnd berührenden Lebenswellen sich hinstrecken, obgleich in ihrer Tiefe – das wußte Roman wohl – Kühle und etwas Schmutz vorhanden, oder den Kampf mit dem Leben muthig aufnehmen, dem schweißbedeckten Körper manche Qual auferlegen, aber mit der Seele sich in reine, wohlthuend warme Sphären emporschwingen. Denn daß ein solches Leben nicht immer einer ruhigen Idylle gleiche, dem widersprach auch Stephan nicht; und thäte er es sogar, so konnte nichtsdestoweniger ein aufmerksamer Beobachter in seinen Zügen die Spuren von Entsagung lesen und von Kämpfen, die nicht beendet waren und vielleicht niemals beendet sein würden. Denn niemand verläßt straflos einen ausgetretenen Pfad und es ist nicht leicht einem Drange zu entsagen, der von Generation zu Generation sich fortpflanzt und der den höchsten Blüthen der Civilisation entspringt. Da sind Schmerzen und Kämpfe nicht zu umgehen. Roman hatte die Theorie aufgefaßt, nur begriff er noch nicht, wieso man die Kraft zum Aufheben und freiwilligen Tragen einer Dornenkrone haben könne. Sein Herz war übervoll von Gefühlen, welche wohl die erste Ursache dieser Theorien gewesen sein mögen, und doch blickte er auf das Fragezeichen seines Lebens mit Unruhe und Zweifel.
Dann wieder versank alles und in der nächtlichen Dämmerung stieg eine liebliche Mädchengestalt vor ihm auf, die eine rosenrothe Schürze über dem Kleide trug, und in deren rabenschwarzem Haar eine weiße Levkoje welkte.
Würde dieses Mädchen mit ihm ebenso verfahren wie mit Rosnowski? Vielleicht nicht. In ihren Augen, ihrer Stimme, ihrem Erröthen hatte er etwas wahrgenommen. – Welch ein Gedanke! Roman mußte über sich selbst lachen. Sie würde ihn sicherlich ebenso fortschicken. Eine sonderbare Frau! Wie kann sie nur ruhig leben, wenn sie daran denkt, daß sie die Liebe, dieses höchste Glück eines Frauenherzens, niemals kennen lernen wird.
Nur eines Frauenherzens?
Roman fühlte in diesem Augenblicke mit aller Kraft, daß der Tag, an dem er sich sagen dürfte, er sei von dieser Frau geliebt, ein so hoher Festtag für ihn wäre, wie er einen solchen noch nicht erlebt.
War es möglich, daß sie nie an ein solches Fest dachte? Empfand sie niemals Trauer und Leid in ihrem gegenwärtigen, Angst vor ihrem zukünftigen Leben? Diese Zukunft wird ihr das Schicksal einer vorzeitig dahingewelkten, vielleicht gar zertretenen Blume bringen. Und er dachte an Frau Paulinens Worte: »Wenn Romuald und ich die Augen schließen, wird sie zu Fremden dienen gehen!« Ist es möglich, daß sie dieser Perspective furchtlos und ruhig entgegensieht? Heute, gegen Ende des Abends, war sie plötzlich nachdenklich und tief traurig geworden. Niemand hatte es bemerkt, außer Roman. Aber er wollte ja in die Tiefe dieser reinen Mädchenseele dringen. Der Gedanke, daß er ihr nie etwas sein, ihr immer – ebenso wie Bohdan – fremd gegenüberstehen würde, machte ihn schier wahnsinnig.
Er war während seiner Wanderung zum viertenmale bei dem Pförtchen angelangt, welches auf das Feld hinaus führte. Diesmal blieb er stehen. In der nächtlichen, durch den Schein der Sterne nur schwach erhellten Dämmerung schimmerten die weißen Mauern des Olowiecki'schen Palastes gespenstisch herüber. Bei diesem Anblicke begann, wie an jenem denkwürdigen Abende bei der Baronin Lamoni, die Natter des Neides sich leise um Roman's Herz zu ringeln: Ja, ja; der dort oben, der hat's gut. Kennt nicht Kampf noch Entsagung, und wenn er leuchtet und erhellt, so geschieht dies von Gottes Gnaden, ohne jedwede Selbstqual. Ein wenig guter Wille und die Krumen feiner Pasteten – das ist alles, was zu diesem Zwecke verwendet wird. Hat Marcel Domunt nicht recht mit seiner Behauptung, daß Reichthum und Macht die beiden Weltachsen sind? Sie erleichtern das Ausüben des Guten und gewähren obendrein die Möglichkeit des Glückes.
Denn wie grenzenlos, wie unsagbar glücklich wäre Roman, könnte er die Frau, deren Bestimmung sein wird, »zu Fremden dienen zu gehen,« in seinen Armen emportragen zu diesem Wohnsitz, wo der Reichthum jedweden Genuß, jeglichen Luxus ermöglicht.
Bei diesem Gedanken angelangt, lachte Roman fast laut auf.
»Chinesische Wandschirme!« sagte er zu sich selbst. »Unsinn!«
Und im Weitergehen dachte er: Was hilft es, die Dinge »Unsinn« zu benennen, wenn wir nichtsdestoweniger nach ihnen streben, wenn sie uns Bedürfniß sind? Titania, den Eselskopf liebend, wird wohl auf ewige Zeiten ein Symbol der menschlichen Seele bleiben, die dem nachjagt, was sie verachtet. Die Elfenkönigin sieht die Eselsmaske ihres Geliebten und empfindet nichtsdestoweniger glühende Liebe für ihn.
Wunderbar ist doch dieser »Sommernachtstraum«. Roman denkt daran, wie oft er ihn auf der Bühne gesehen. Wie weit, wie unendlich entfernt von Darnówka ist doch diese Erinnerung, sammt allem, was mit ihr verknüpft.
Er hatte sich jetzt in seiner Wanderung wieder dem Wohnhause genähert. Dasselbe lag da in Schlaf versunken. Nur in einem der Fenster brannte Licht, und die Klänge einer Frauenstimme drangen ins Freie.
Es war die Stimme Irene's. Das junge Mädchen erfüllte eine seiner hundertfältigen häuslichen Obliegenheiten und las dem Onkel vor.
Roman blieb unter der vor dem Fenster wachsenden Akazie stehen und lauschte, der Worte nicht achtend, nur dem süßen Wohllaut der Stimme. Bald jedoch drang, ohne sein Wollen, auch der Text des Gelesenen an sein Ohr. Irene las:
»Gesegnet sind die, welche weinen, denn Trost wird ihnen zutheil.«
»Gesegnet sind die, welche Gerechtigkeit suchen, denn Sättigung wird ihnen zutheil.«
»Gesegnet sind die Barmherzigen –«
Die im Windesrauschen sich bewegenden Akazienblätter verhinderten Roman, die Fortsetzung zu hören. Er blickte empor zum Sternenhimmel, als ob Stimme und Worte von dort auf ihn herniederströmten.
»Gesegnet sind die Stillen, denn die Erde wird ihr Besitz sein.«
»Gesegnet sind die, welche leiden um der Gerechtigkeit willen, denn ihrer ist das Himmelreich.«
Stärker rauschte der Wind; er bewegte die Blätter des Baumes und flog weiter über den Garten, das Haus, das Feld.
War es ein Engel, der in dunkler Nacht schützend über die Erde flog, um der gequälten Menschheit zuzuflüstern: »Gesegnet sind die, welche leiden und Thränen vergießen!?«