Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

3.
Die Flucht in den Angriff, Ordnungszelle Bayern

 

»Ich muß nun reden von Verschwörung, Verrat und Freveltat, worüber die Wahrheit zu sagen gefahrvoll, Falsches aber sündhaft ist«.

Otbert von Lüttich (1106)

 

Geheimbünde in Deutschland

Dieses Motto, das E.I. Gumbel seinem Buch »Verräter verfallen der Feme« voranstellt, könnte über jeder Chronik der deutschen Republik stehen. Denn die Geschichte der deutschen Republik ist eine fortlaufende Kette von Hochverrat und Landesverrat, der von den reaktionären Kreisen unter schamloser Duldung oder sogar Billigung der verantwortlichen Behörden begangen worden ist.

Es gehört ein langwieriges Spezialstudium dazu, sich durch das wüste Knäuel von Geheimbünden und »Wehrvereinen« hindurchzufinden, in denen sich das Kapital eine Schutzgarde gegen die Sozialisierungsbestrebungen geschaffen hatte, die schwach und undeutlich unter den ersten Verwaltungsmaßnahmen der republikanischen Regierung zu erkennen waren.

Außer den zahlreichen Freikorps, die unmittelbar von der Regierung zur Aufrechterhaltung von »Ruhe und Ordnung« gebildet werden, entstehen schon frühzeitig jene aktivistischen Gruppen, die sich im Jahre 1922 zu der Riesenorganisation der »Vereinigten Vaterländischen Verbände Deutschlands« zusammenschließen. Einer Dachorganisation, der ungefähr fünfzig einzelne Verbände, die wiederum zahlreiche Unterorganisationen zusammenfassen, angehören. Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten, Deutscher Reichskriegerbund Kyffhäuser, Bund Oberland, Bund Bayern und Reich, Jungdeutscher Orden, Bund Wiking, Großdeutscher Baltikumverband, Werwolf, Deutscher Wehrverein, Reichsoffiziersbund, Nationalverband deutscher Offiziere, Marine-Offizier-Verband, Reichsbund ehemaliger Kadetten, Bund deutscher Marine-Vereine, Reichskriegsflagge, Blücherbund ...

Interessenkonflikte

Das sind einige, bei weitem nicht alle Namen jener Organisationen, die sich die Zerschlagung der deutschen Republik zur Aufgabe gemacht haben, und die sich – bei aller Gemeinsamkeit der Ziele – doch untereinander bitter befehden. Oft liegt der Grund dafür nur in der Eifersüchtelei und Großmannssucht der sogenannten »Führer«, die das Konkurrenzunternehmen – nicht zuletzt aus rein materiellen Gründen – der Schlappheit, der Judenknechtschaft oder auch der republikanischen Gesinnung verdächtigen. Hinter allen diesen lächerlichen Zänkereien steht jedoch der Interessenkonflikt zweier wirtschaftlicher Mächte, dessen ideologische Auswirkungen wir bereits betrachtet haben: der Interessenkonflikt zwischen der Schwerindustrie und dem agrarisch-militärischen Feudalismus.

Daß der Flagellantenzug des Kleinbürgertums gerade von München seinen Ausgang nimmt, liegt daran, daß der Boden hier jeder verschwörerischen Rebellion besonders günstig ist. Denn zu jenem großen Interessenkonflikt tritt in Bayern noch ein dritter, dessen Angelpunkt nicht mehr in Deutschland selbst liegt. Die Kurie glaubt, die Verwirrung in Deutschland ausnutzen zu können zur Erreichung jenes Zieles, das sie seit Bestehen des Deutschen Reiches eigentlich niemals aufgegeben hat: der Schaffung einer Donaumonarchie, die Bayern, Deutschösterreich und Teile des Rheinlandes umfaßt, und an deren Spitze die Dynastie Wittelsbach stehen soll, deren Romtreue tausendfach erprobt ist.

München, das Mekka des Nationalismus

So wird München das Mekka der deutschen Nationalisten. Und es liegt durchaus auf der Linie des internationalen Nationalismus, daß gerade von der Hochburg des Chauvinismus aus Verbindungen zum »Erbfeind« Frankreich angeknüpft werden, das den »franco-nationalen Putschismus« in Bayern mit insgesamt 93.000 Goldmark unterstützt, die in die Taschen einzelner Patrioten fließen. Denn die Klassensympathie, die man für Frankreich fühlt, ist stark genug, den Bundesgenossen im Kampf gegen den Marxismus auch jenseits der schwarz-rot-goldenen Grenzpfähle zu suchen.

Die Genesis aller jener Verschwörergruppen ist fast stets die gleiche: die Republik beauftragt einen Offizier, den sie für unpolitisch hält, mit der Bildung eines Freikorps zur Aufrechterhaltung von »Ruhe und Ordnung« im Inneren oder zum Schutz der bedrohten Ostgrenzen. Bald jedoch stellt sich – zur großen Überraschung der Behörden – heraus, daß jener Freikorpsführer keineswegs unpolitisch ist, sondern unter der Maske einer loyalen militärischen Unterstützung der Regierung höchst illoyale konterrevolutionäre Ziele verfolgt. Die Truppe wird – oft unter großen Schwierigkeiten – aufgelöst, aber die entlassenen Landsknechte geben ihre Waffen nicht ab, laufen auch nicht auseinander, sondern sammeln sich in schwerbewaffneten Geheimverbänden, bei denen der politische Mord und blutige Terrorakte zu den Alltäglichkeiten gehören. Die Unterstützung durch Großgrundbesitzer oder Schwerindustrielle ermöglicht es, daß die ehemaligen Freikorpsleute als friedliche Arbeiter in geschlossenen Kolonnen auf Gütern und in Fabriken zusammenbleiben. Mit der Auflösung der Freischaren glaubt die Regierung das Menschenmögliche zur Befriedung des Landes getan zu haben und kann sich nur schwer oder überhaupt nicht dazu entschließen, gegen diese illegalen Organisationen vorzugehen.

Unbequeme Bundesgenossen

Das hat seinen Grund auch noch in besonderen Schwierigkeiten: solange die Freischärler »regierungstreue« Soldaten waren, sind sie selbstverständlich zu Aufgaben herangezogen worden, die recht häufig mit dem Wortlaut des Versailler Vertrages in Widerspruch standen. Die Condottieri der deutschen Republik haben so Einblick in politische untergründige Zusammenhänge gewonnen, und ihre Mitwisserschaft lähmt die Entschlußkraft der Behörden, deren Furcht vor etwaigen boshaften und folgenschweren Offenherzigkeiten größer ist als ihr Interesse an energischer Bekämpfung der Konterrevolution.

Nur so können höchst befremdliche Tatsachen erklärt und verstanden werden: Regierungsstellen leisten ganz offenkundig den Verschwörern auch dann noch nachdrückliche Hilfe, als diese längst wegen ihrer staatsfeindlichen Umtriebe der öffentlichen Ächtung anheimgefallen sind. Während der Kapitänleutnant a. D. Manfred von Killinger wegen seiner Begünstigung des Mordes an Erzberger im Untersuchungsgefängnis zu Offenburg sitzt, erhält er im August 1921 von einer amtlichen Stelle plötzlich die Summe von 22.500 Goldmark! Begründung: es sind Marsch- und Verpflegungsgelder, die Killinger für die Aufstellung eines Regiments im Oberschlesischen Selbstschutz verwenden soll!

Oder: der Hauptmann Pabst, der Mentor der österreichischen Heimwehrbewegung, wegen seiner Teilnahme am Kapp-Putsch steckbrieflich verfolgt, wird bis in das Jahr 1929 hinein von einer halbamtlichen Organisation, dem »Deutschen Schutzbund«, der aus Mitteln des Reichsinnenministeriums finanziert wird, laufend unterstützt. Begründung: der Hauptmann Pabst gilt dieser Regierungsstelle als »besonders geeigneter Vertreter deutscher Interessen«!

Nationalsozialismus und Freikorps

Für die Beurteilung der Entstehungsgeschichte des Nationalsozialismus ist die Kenntnis der soziologischen Grundlagen des Freikorpsunwesens unerläßlich. Wir werden sehen, daß alle diejenigen Putschisten, die während der Jahre 1919 bis 1925 in der deutschen Republik eine so verhängnisvolle Rolle spielen, später in leitenden Stellungen bei der NSDAP erscheinen. Außerdem hat die nationalsozialistische Bewegung zu keiner Stunde ihres Bestehens den Anschluß an diese Ordnungshüter verloren. Es ist gleichgültig, ob dabei feudalistische oder kapitalistische Interessen das ausschlaggebende Moment gewesen sind. Tatsache bleibt, daß diese »Arbeiterpartei« von Anfang an in einer Formation mit der Reaktion marschiert ist.

Das deutsche Volk hat kein gutes Gedächtnis. Diese Dinge sind längst vergessen, und aus begreiflichen Gründen hat es die Leitung der NSDAP heute durchaus nicht gern, wenn man an die Entstehung des Nationalsozialismus aus dem Geiste der Freikorps erinnert. Diese Irreführung der öffentlichen Meinung hat nur deswegen Erfolg haben können, weil die großen Interessenkonflikte, die hinter dem Putschismus in der Republik standen, nach außen hin kaum oder überhaupt nicht in Erscheinung getreten sind. Das große Ziel, das zunächst erreicht werden sollte, war die Niederringung der sozialistischen Komponente in der republikanischen Innen- und Wirtschaftspolitik.

Der Gegensatz: Bayern und Reich

Die Aufmarschstellung der NSDAP ist im Jahre 1920 durch zwei Komplexe bedingt: die Bestrebungen, ein großdeutsches Direktorium zu schaffen, das in gleicher Weise Sozialisierungstendenzen und republikanische Staatsform liquidieren soll und durch den Gegensatz Bayern und Reich.

Der partikularistische Gedanke in Bayern hat sich immer in einer Weise geäußert, die häufig nahe an Landesverrat grenzte. E. I. Gumbel sagt darüber: »Der Gegensatz zum Reich ist nie ganz zum Schweigen gekommen. Ein starker ideologischer und gefühlsmäßiger Überbau ließ die ursprünglichen Quellen und die wirksamen Gründe nicht klar hervortreten. Sie sind der Gegensatz des traditionellen Agrarlandes gegen den emporstrebenden Industriestaat. Dem entsprach eine selbstzufriedene Genügsamkeit mit dem Hergebrachten, die von Optimisten als bewußte Abkehr vom Imperialismus mißverstanden werden konnte. Dazu kam ferner der Gegensatz: Katholizismus–Protestantismus, in letzter Linie auch die kleinen Eifersüchteleien der Dynastien, die ihre Souveränität eingebüßt hatten ... Die Quellen des bayerischen Partikularismus entsprangen also völlig dem materiellen Bedürfnis und den Ideologien der herrschenden Schichten. Da aber solche Ideologien auch auf diejenigen abzufärben pflegen, deren Interessen keineswegs mit den Interessen der herrschenden Schichten identisch sind, so übertrug sich diese Stimmung auch auf die damals ganz unpolitische Arbeiter- und Bauernschaft ...«

Wittelsbach tut pazifistisch

Dieser latente Gegensatz Bayern und Reich kommt nun gegen Ende des Krieges in einer ganz eigenartig veränderten Form zum Ausbruch: je mehr der unglückliche Ausgang des Krieges in den Bereich des Möglichen trat, um so schärfer wurden in Bayern die Stimmen, die die offizielle Reichspolitik und vor allen Dingen die Persönlichkeit Wilhelms II. dafür verantwortlich machen wollten. Bezeichnenderweise griff die Dynastie Wittelsbach diese Volksstimmung auf und gehabte sich, als sei ihr Wille von vornherein, wenn nicht auf Verhinderung, so doch auf frühzeitige Beendigung des Krieges gerichtet gewesen. Aber die revolutionäre Propaganda erstickte diese dynastischen Rettungsaktionen im Keime. Die besondere Lage Bayerns als Grenzland steigerte die Stimmung gegen den Krieg in solchem Maße, daß sich noch vor den Kieler Matrosenunruhen in Bayern die politische Strömung mit dem Ziel: »Friede um jeden Preis« als gewissermaßen logische Folge des bayerischen Partikularismus bis zur Revolution verstärken konnte.

Kurt Eisner, seiner ganzen Mentalität und politischen Vergangenheit nach Zentralist von reinstem Wasser, versuchte, den alten Gegensatz gegen Norddeutschland für die Zwecke der Revolution nutzbar zu machen. Seine Agitation, die sich zu gewissen Zeiten seiner politischen Führerschaft sogar bis zu einer offenen Drohung mit Loslösung vom Reiche steigerte, sah in diesem Gegensatz nur noch den Kampf zwischen seiner radikal-pazifistischen Politik und der Reichsleitung der Sozialdemokratischen Partei in Berlin, die keinen Weg sehen konnte, der aus dem Dilemma »Soziale oder nationale Befreiung?« hätte herausführen können.

Nach der Ermordung Eisners durch den damaligen Leutnant und heutigen Direktor der aus Reichsmitteln finanzierten »Süddeutschen Lufthansa«, Graf Arco-Valley, erlebte der Gegensatz Bayern und Reich seine höchste Überspitzung in der Räterepublik, die unter der Lebensmittelsperre der bayerischen Bauern und der bewaffneten Intervention norddeutscher Freikorps zusammenbrach.

Franco-bayerische Allianz

Neben diesen Separationsbestrebungen liefen Versuche der partikularistisch und ultramontan verhetzten Bauernschaft her, durch Verbindung mit Frankreich die Wiederherstellung der alten Zustände in Bayern zu bewirken. Der Bauernführer und Leiter der »Bayerischen Volkspartei«, Dr. Heim, hatte schon im Dezember 1918 im »Bayerischen Kurier« ganz offen die Gründung eines neuen Rheinbundes unter französischem Protektorat und wittelsbachischer Führung propagiert, in den auch Deutschösterreich einbezogen werden sollte. Nach dem Zusammenbruch der Räteregierung werden diese Bestrebungen in so verstärktem Maße wieder aufgenommen, daß der noch zwölf Jahre später in der bayerischen Politik eine maßgebende Rolle spielende Dr. Heim in Wiesbaden mit Offizieren der französischen Besatzungsarmee Verhandlungen über eine Separierung des deutschen Südens führen kann. Der Anschluß an die Separatistenbewegung im Rheinland, die damals unter der politischen Führung des Wiesbadener Staatsanwalts Dr. Dorten steht, wird mit allen Mitteln herzustellen versucht. Den sichtbarsten äußeren Erfolg finden diese reichsfeindlichen Versuche darin, daß Frankreich im Jahre 1921 einen besonderen französischen Gesandten bei der bayerischen Regierung akkreditiert, in dessen Hand alle Fäden dieser partikularistischen Politik zusammenlaufen. Wittelsbach und die Kurie stehen als maßgebende Faktoren in dieser Rechnung.

Sieg der Reaktion in Bayern

So lagen – in groben Umrissen – die Dinge, als der Kapp-Putsch die bayerische Innenpolitik vor neue Aufgaben stellte. Dieser Restaurationsversuch des Feudalismus endete in Bayern damit, daß der Oberpräsident des Regierungsbezirks Oberbayern, Dr. Gustav von Kahr, die vollziehende Gewalt an sich riß. Das »nationale« Kabinett, das die mehrheitssozialistische Regierung Hoffmann am l6. März 1920 ablöst, beseitigt die letzten Reste des sozialistischen Einflusses auf die bayerische Politik. Niemandem ist dabei zweifelhaft, daß Kahr in höherem Auftrag handelt, daß er der Unterstützung der Kurie und der weitreichenden internationalen Beziehungen des Hauses Wittelsbach versichert ist. Hinter Herrn von Kahr stehen die bayerischen Bauernverbände, die völlig in der Hand des Klerus sind, und deren politischen Machtfaktor die Einwohnerwehren darstellen.

Diese Organisation, der zuzeiten zehntausende wehrfähiger und ausgezeichnet bewaffneter Männer angehören, wird die Keimzelle aller späteren Umtriebe.

Die Geschichte der bayerischen Einwohnerwehr mit all ihren kaum glaublichen Verbindungen zu den höchsten legalen Regierungsstellen Bayerns und die moralische und tatsächliche Hilfe, die diese Regierungsorgane bei der Ausführung, Duldung und Vertuschung der etwa 200 politischen Morde, die von rechtsradikalen Elementen nach der Niederwerfung der Räteregierung verübt worden sind, geleistet hat, ist mit aller wünschenswerten Deutlichkeit aus den Protokollen des 27. Reichstagsausschusses zur Untersuchung von Femeorganisationen und Fememorden zu ersehen.

Die Einwohnerwehren

Im Frühjahr 1920 schlossen sich die Organisation Escherich, die sogenannte »Orgesch«, und die Organisation Kanzler, die »Orka«, zu dem gemeinsamen Verband der bayerischen Einwohnerwehr zusammen. Es handelt sich hier um eine großzügige Selbstschutzorganisation der Bourgeoisie und des Bauerntums, die nicht auf das Gebiet des Freistaates Bayern beschränkt bleibt, sondern analoge Organisationen in allen Teilen des Deutschen Reichs gründet und unterstützt. Das nationale Kabinett des Herrn von Kahr verleiht dieser Schutzgarde des Kapitals nach und nach den Charakter einer offiziellen Institution. Die legale Polizei wird angewiesen, in allen Fällen, die nur entfernt innerpolitische Komplikationen hervorrufen können, sich mit der Einwohnerwehr zu einigen, damit nicht Verwaltungsmaßnahmen die geheimen Pläne der Einwohnerwehr konterkarrieren. Das Gesetz über die Entwaffnung der Bevölkerung vom 8. August 1920 hat für die bayerische Einwohnerwehr keine Geltung. Die bayerische Regierung unterstützt ganz offen die Sabotierung dieses Reichsgesetzes und erhebt keinen Einspruch, als die Einwohnerwehr von den ihr »gehörenden« 400.000 Gewehren offiziell nur 179.000 anmeldet und abliefert, so daß auch nach der Ablieferung dieser Waffen noch Bestände in ihren Händen blieben, die zur Armierung von fünf Armeekorps ausreichten.

Das nationale Kabinett, Waffen übergenug: München wird zum Mekka der Nationalisten, der Freistaat Bayern die »Ordnungszelle«, an der die Hoffnungen der Reaktionäre aller Richtungen sich entzünden. General Ludendorff, der Stockpreuße, läßt sich um diese Zeit in einem Münchner Vorort nieder. Er bleibt nicht allein: aus allen Gegenden Deutschlands strömt es in München zusammen. Sozial entwurzelte Kleinbürger, Landsknechte und Offiziere, die nach der Auflösung der Selbstschutzverbände in Norddeutschland brotlos geworden sind; ehrgeizige Offiziere der alten Armee, die sich in den bayerischen Wehrorganisationen Stellung und Macht erhoffen; junge Leute, die sich in anderen Freistaaten der deutschen Republik durch Übernahme irgendeines »vaterländischen Auftrags« strafbar gemacht haben: stellenlos, oft hungernd, zerrissen und zerlumpt wogt in der Halbmillionenstadt ein bourgeoises Lumpenproletariat hin und her, die Nerven durch die materielle Not bis zum Äußersten gespannt, jeder putschistischen Parole zugänglich, von wilder Ratlosigkeit besessen und die brennende Sehnsucht im Herzen, aus diesem unerträglichen Zustand einer sterilen Aufgeregtheit erlöst zu werden. Die Hochschulen Münchens, die Universität, die Technische und Tierärztliche Hochschule, werden zu einem Sammelpunkt reaktionärer Studenten, deren einzige ernsthafte Arbeit oft die Betätigung in illegalen Organisationen ist.

Hauptquartier München

Verbindungen werden nach Norddeutschland angeknüpft, wo Gleichgesinnte unter der Bedrückung durch behördliche Maßnahmen an der Entfaltung ihrer Kräfte gehindert werden. Die großen Condottieri der Republik verlegen nach und nach ihren Wohnsitz nach München. Sie sind ihren süddeutschen Kollegen an Energie und Entschlußkraft weitaus überlegen. In das bierselige, geruhige Leben der bayerischen Metropole kommt Schwung und Tempo. Zaghafte Gemüter werden mitgerissen. Den gefühlsmäßigen Widerstand der königlich bayerischen »Biamten«, die sich gegen diese norddeutsche Invasion aufzulehnen versuchen, beseitigen die Anweisungen höherer Dienststellen. Im Polizeipräsidium sitzt der Oberamtmann Dr. Frick, der mit Leib und Seele der aktivistischen Reaktion ergeben ist. Man benützt ihn zu dunklen Machenschaften, die er mit der Autorität seines Amtes als Leiter der politischen Polizei deckt.

Kapitän Ehrhardt tritt auf

Im März 1920, nach dem Zusammenbruch der Kapp-Regierung, findet sich in München auch der Korvettenkapitän Ehrhardt ein. Der Mann, der den Generallandschaftsdirektor Kapp mit Hilfe seiner ihm sklavisch ergebenen dreitausend Mann Marinetruppen nach Berlin gebracht hat. Eine der undurchsichtigsten Persönlichkeiten der deutschen Revolution. Eine äußerlich belanglose Erscheinung, deren Wirkung auf die Soldaten rätselhaft ist: eher klein als groß, etwas dicklich, mit wasserblauen, ausdruckslosen Augen und einem kleinen Knebelbart à la Prinz Heinrich. Ein Mann, dessen Beziehungen sehr weit reichen müssen. Die Marinebrigade Ehrhardt, die er im Anschluß an die Revolutionskämpfe in den Garnisonen der Wasserkante zusammengestellt hat, gilt jahrelang als eine der bestdisziplinierten Truppen, ihr Führer als Condottiere großen Stils. Niemand weiß, in wessen Auftrag er eigentlich handelt. Nur daß er nicht auf eigene Rechnung und Gefahr arbeitet, leuchtet jedem ohne weiteres ein. Denn seine politische Einsicht ist außerordentlich gering, selbst für einen Marineoffizier, der während des Krieges als Kommandant einer Torpedobootsflottille keine Möglichkeit gehabt hat, seinen politischen Horizont zu erweitern. Berühmt geworden sind jene Worte, die er am Morgen des 13. März 1920 zu dem »Reichskanzler« Kapp am Brandenburger Tor zu Berlin gesprochen hat: »Nun haben wir Sie glücklich herangebracht, nun regieren Sie aber auch ordentlich!«

Keine Verschwörung gegen den Bestand der deutschen Republik gibt es, keinen politischen Mord, keine Konspiration innerhalb des republikanischen Heeres oder der Marine, mit der dieser Mann nicht irgendwie in Verbindung gebracht wird. Ein undurchsichtiger Mann, und ein mächtiger Mann: während nach der Liquidation des Kapp-Unternehmens gegen alle führenden Putschisten Haftbefehle erlassen werden, läßt man Ehrhardt ungeschoren. Er geht im Reichswehrministerium ein und aus und erreicht das Unglaubliche, daß die republikanischen Behörden seinen Söldnern jene »Treuprämie« auszahlen, die der Fünftagekanzler Kapp seinen Landsknechten für treue Dienste während des Putsches ausgelobt hat! Der Haftbefehl gegen ihn wird erst am 25. Mai 1920 im Fahndungsblatt publiziert. Längst ist er in Sicherheit ...

Organisation Consul

In der Zwischenzeit hat Ehrhardt mit den bayerischen Regierungsstellen Fühlung genommen. Seine Marinebrigade ist aufgelöst, sie besteht weiter unter der mysteriösen Bezeichnung »Organisation Consul«. In diesem Geheimbund schafft sich der Kapitän, der »Consul« oder der »Chef«, wie er genannt wird, ein schlagkräftiges Instrument gegen die Republik und das Proletariat. Die Mitglieder sind durchwegs ehemalige Marine- oder Armeeoffiziere, die alles zu gewinnen und nichts zu verlieren haben, und die auf die Person des besinnungslos verehrten Führers Ehrhardt vereidigt werden. Ein großer Teil dieser Männer, die Kern, Fischer, Hustert, Ohlschläger, Helmut, Tillessen, Schulz, von Killinger und von Salomon, sind in die Geschichte der deutschen Republik eingegangen als Täter, Mittäter oder Begünstiger der Morde an den Ministern Erzberger und Rathenau, des Attentats auf den früheren Ministerpräsidenten Scheidemann und an zahlreichen anderen Terrorakten. Und fast alle ehemaligen O.C.-Mitglieder spielen später eine führende Rolle in der NSDAP und ihrer Sturmabteilungsorganisation ...

»Beziehungen«

Allmählich kommt System in das Chaos der Aktivisten. Die bayerische Polizei wird rücksichtslos in den Dienst der Reaktion gestellt. Der Haftbefehl gegen Ehrhardt kann in Bayern nicht ausgeführt werden. Der Consul hat seine Verbindungen. Das liegt jedoch nicht lediglich an der Begünstigung durch die nationalen Männer der bayerischen Regierung: Ehrhardt ist auch anderswo wohlgelitten. Auch im republikanischen Reichswehrministerium will man ihm nicht wehe tun: während er noch von den Strafverfolgungsbehörden steckbrieflich gesucht wird, beschließt man in der republikanischen Heeresleitung, dem Hochverräter seine Pension als kaiserlicher Korvettenkapitän außer Dienst, deren Zahlung vorübergehend ausgesetzt worden war, wieder zuzustellen. Der Geldbriefträger, der ihm allmonatlich dieses Geld bringt, findet ihn. Die Reichsanwaltschaft findet ihn nicht.

Ehrhardt wird durch ein kleines technisches Versehen im Frühjahr 1923 doch in München verhaftet und nach Leipzig in Untersuchungshaft überführt. Aber bereits im Juli 1923 gelingt es einigen seiner Getreuen, ihn aus dem Gefängnis zu befreien. Er flieht nach München und erhält hier, wie vor ihm und nach ihm schon viele Hochverräter, von der Münchener Polizei einen falschen Paß, der ihn allen Nachforschungen indiskreter Gerichtsbehörden entzieht ...

Das Kapitel Ehrhardt ist ein bezeichnendes Symptom für die staatspolitische Verwahrlosung, die die deutsche Republik durch ihr verhängnisvolles Bündnis mit den reaktionären Generälen hat herbeiführen helfen, und die der Ausbreitung des Nationalsozialismus in Deutschland so günstig gewesen ist.

Verteidigung oder Angriff?

Die bayerischen Kampfbünde sind – so sagt man offiziell – Wehrvereine, geschaffen und unterhalten zu dem ausdrücklichen Zweck einer bewaffneten Intervention bei kommunistischen Umsturzversuchen, mit denen man angeblich rechnen muß. In Wirklichkeit jedoch weiß jedermann, daß die Gewehre eines Tages von selbst losgehen werden, wenn die Zeit reif ist, und daß das einigende Ziel aller dieser Organisationen die Aufhebung der Verfassung von Weimar und »die Bestrafung der Novemberverbrecher« ist. Der nationale Befreiungskampf gegen Frankreich, unter welcher Parole man in Norddeutschland hauptsächlich in nationalaktiven und völkischen Kreisen agitiert, tritt in der Propaganda der bayerischen Verbände begreiflicherweise zurück. Das Spiel mit der franko-bayerischen Allianz ist noch lange nicht verlorengegeben worden ...

Man muß diesen Zustand der wahnwitzigen Erregung einer Halbmillionenstadt, in der jeder von einer Abrechnung mit den Novemberverbrechern, von der Zerschlagung der Republik, von der Wiederherstellung der Monarchie oder der Schaffung einer Diktatur redet, in Rechnung stellen, will man erkennen, wie wohlvorbereitet das Feld für die Agitation Adolf Hitlers ist, der in dieser Zeit seine ersten Massenversammlungen abhält. Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei wird mehr und mehr zum politischen Willensausdruck der nationalen Aktivisten in Kleinbürgertum und Bourgeoisie. Die Deutschnationale Volkspartei, die Partei der Reaktionäre um jeden Preis, hat in ihrer feudalen Verkalktheit niemals den Schwung besessen, die Arbeiterschaft durch eine großzügige Propaganda zu gewinnen. Sie hat – abgesehen von der Unterstützung der völlig bedeutungslosen christlichen Gewerkschaften – auch niemals den ernstlichen Versuch dazu unternommen. Die Deutsche Volkspartei, ein exklusiver Klub von Interessenten, hat zu keiner Zeit ihres Bestehens den Ehrgeiz gezeigt, eine Massenpartei zu werden. Die Bedingungen dafür liegen auch so ungünstig wie nur möglich: das Hereinziehen wirtschaftlicher Fragen in den politischen Tageskampf macht sie von vornherein demjenigen Teil des Kleinbürgertums verdächtig, der sich ein gesundes Mißtrauen gegen die »reichen Leute« bewahrt hat. Die Bayerische Volkspartei endlich krankt an ihrer Vergangenheit, in der sie die festeste Stütze der klerikalen Reaktion war und als solche bei der sich für aufgeklärt und liberal haltenden Stadtwählerschaft wenig Sympathien genoß.

Der Weg für Hitler ist frei

Der Weg für eine neue Partei, in der sich die radikalen aktivistischen Tendenzen der Bourgeoisie mit pseudosozialistischen Regungen vermischen, ist frei. Hitler sieht ihn und beschreitet ihn mit Erfolg. Die Masse, die den Tiraden des »Trommlers« lauscht, ist soziologisch eine phantastische Erscheinung. Die Anhänger Hitlers rekrutieren sich im Jahre 1921 aus allen bürgerlichen Parteien. Sie hören von dem neuen Mann immer nur die alten Deklamationen, die ihnen allmählich lieb und vertraut geworden sind: Los von Weimar! Los von Versailles! Nieder mit dem Sozialismus! Die grundlegenden Unterschiede, die etwa den Partikularisten Gustav von Kahr von dem Großdeutschen Kapitän Ehrhardt oder den Kleinbürger Hitler von dem wittelsbachisch beeinflußten Sanitätsrat Pittinger, dem politischen Leiter der Heimwehrbewegung, trennen, bleiben ihnen selbstverständlich verborgen. An energischer Gegenpropaganda fehlt es in München völlig: der Kommunismus ist durch den weißen Terror, der nach der Niederwerfung der Räterepublik wochenlang in München tobte, in Bayern auf lange hinaus erledigt. Die Agitationskraft der Sozialdemokraten wurde durch den angeblichen Nachweis ihrer ideologischen Verbundenheit mit der Räteregierung empfindlich geschwächt. Das Resultat ist ein kleinbürgerliches Publikum, ohne jede politische Urteilsfähigkeit, das zwischen der Sehnsucht nach der guten alten Zeit und der romantischen Vorstellung einer strahlenden Zukunft hin und her schwankt und aus den Reden Hitlers nichts weiter heraushört als den Inbegriff aller jener politischen Instinkte, die der Klasse des Kleinbürgertums seit Jahrzehnten eigentümlich sind: Antisemitismus, die deutsche Sendung ...

Soziologisches Chaos

Der kaufmännische Angestellte, der in der Einwohnerwehr organisiert ist, der Student, der auf Ehrhardt schwört, der Offizier, der auf Zivildienstvertrag in einer Reichswehrstelle arbeitet, der wütende Polenfresser aus dem Freikorps Oberland – sie alle sehen in Hitler ihren politischen Führer. Sie alle halten die Tatsache ihrer Zugehörigkeit zu einem Wehrverein mit ganz ausgeprägter politischer Sondertendenz keineswegs für einen Hinderungsgrund, sich als Anhänger der neuen nationalsozialistischen Bewegung zu fühlen und zu betätigen.

Hitler hat zunächst mit Schwierigkeiten zu kämpfen: sein zähes Festhalten an der großdeutschen Idee macht ihn den Klerikalen verdächtig. Auch sein Zusammengehen mit Ludendorff, zu dem er Verbindung aufnimmt, läßt ihn den bayerischen Patrioten als gefährlich erscheinen. Gewisse industrielle Kreise nennen seine kleinbürgerlichen sozialen Neigungen sozialistisch. Aus einer Versammlung der bayerischen Geheimorganisationen, an denen die Führer aller einzelnen Verbände teilnehmen, weist man ihn einmal sogar wegen »bolschewistischer Ideen« hinaus. Aber er kommt immer wieder, drängt sich den Führern der Reaktion auf und erreicht es, daß diese ihn nach kurzer Zeit für einen Mann halten, den man nicht übergehen dürfe.

Radikalisierung des Kleinbürgertums

München 1923.

Die beginnende Inflation radikalisiert das Kleinbürgertum. Die Besetzung des Ruhrgebiets durch die Franzosen erregt in den Kreisen der Nationalisten einen Sturm der Empörung und bringt geheime Hoffnungen zum Reifen, die man schon lange genährt hat: man hofft, die verantwortlichen Reichsbehörden werden sich zu einem Vorgehen gegen die Besetzungsarmee entschließen. Aus den verschiedensten Verbänden werden in aller Eile Kommandos zusammengestellt, die ins Ruhrgebiet abgehen. Ihnen gehören erfahrene Leute an, die sich in den Revolutionskämpfen und in dem Krieg der oberschlesischen Selbstschutzformationen gegen Polen ausgezeichnet haben. Man organisiert Sabotageakte in der Hoffnung, damit ein fait accompli zu schaffen, dessen Zwang sich die Reichsregierung nicht wird entziehen können. Man bekämpft offen in Massenversammlungen und in geheimen Führerbesprechungen den von der Regierung proklamierten passiven Widerstand. Man hofft, im Anschluß an den Franktireurkrieg gegen die Besatzungsarmee würde sich der große Freiheitskrieg entwickeln, der die Wiederherstellung der alten Zustände automatisch nach sich zöge.

Schwarze Reichswehr und Revanchekrieg

Die Reichsregierung setzt diesen Versuchen energischen Widerstand entgegen. Aber in militärischen Kreisen rechnet man mit allen Möglichkeiten. Im Reichwehrministerium gibt man sich den Anschein, als befürchte man als Folge des Einmarsches der Franzosen ins Ruhrgebiet einen Angriff von Polen. Wieweit man ernsthaft an diese Möglichkeiten glaubt, kann nicht entschieden werden. Jedenfalls gibt dieser vorgeschobene Grund willkommenen Anlaß, die legale Reichswehr mit illegalen Verbänden aufzufüllen. Die »schwarze Reichswehr« wird im Bezirk des Wehrkreises III, in der Umgebung Berlins und in der Mark Brandenburg, aufgestellt. Wieder greift man hierbei auf die Vaterländischen Verbände zurück. Die jungen Leute, die sich in die neugeschaffenen Kaders drängen, werden von der Vorstellung beherrscht, demnächst bei der Abwehr eines geplanten kommunistischen Aufstands eingesetzt zu werden und dabei die Republik zu liquidieren. Aus der unheimlichen Atmosphäre von Rauflust, nationaler Begeisterung, Geheimniskrämerei und hysterischer Furcht vor Verrat der illegalen Reichswehr an die Entente oder auch nur an die preußische Polizei entstehen jene Dutzende von Fememorden, deren Bekanntwerden Jahre später die deutsche Öffentlichkeit mit Grauen und Abscheu erfüllt ...

Die Inflation geht weiter: am 4. August 1923 kostet ein amerikanischer Dollar 4,700.000 Papiermark! Die Verzweiflung des Kleinbürgertums ist ungeheuerlich. Langsam dämmert die Erkenntnis auf, daß diese gigantische Ausplünderung der kleinkapitalistischen Schichten keineswegs eine Naturkatastrophe sei, der man keinen Widerstand entgegensetzen könne. Aber diese gefährlichen Einsichten werden durch geschickte Agitation paralysiert: ihr einziges Resultat ist der Haß gegen die Republik und den Sozialismus, der angeblich an diesem Volksbetrug schuldig sei.

Gleichzeitig flammen in den verschiedensten Gegenden Deutschlands revolutionäre Bewegungen auf. Die Agitation der Kommunisten gewinnt an Boden. Der Gedanke eines »Sowjet-Deutschlands« setzt sich in den Köpfen des Proletariats fest. Die Dinge drängen zur Entscheidung.

Man einigt sich

Während die Erregung der Bevölkerung auf dem Siedepunkt steht, vollzieht sich – unbeachtet von der Öffentlichkeit – eine entscheidende Wendung: schon im August 1923 beginnen Verhandlungen zwischen den Ruhrindustriellen und der französischen Besatzungsarmee. Man erkennt auf beiden Seiten die Vorteile einer gütlichen Einigung. Die Franzosen beginnen einzusehen, daß gegen den Widerstand der Arbeiterschaft die Ausbeutung des besetzten Gebietes nicht mit jenem Gewinn durchgeführt werden kann, den man erhofft hatte. Die deutschen Industriellen sehen den baldigen Zusammenbruch des von der Regierung mit ungeheuren Geldmitteln unterstützten passiven Widerstands voraus, gleichzeitig aber erkennen sie auch die Unmöglichkeit, aus diesem passiven Widerstand zum Angriff überzugehen, während der Feind das Hauptindustriegebiet Deutschlands in seiner Gewalt hat. Außerdem befürchtet man – nach bedrohlichen Anzeichen innerhalb der kommunistischen Bewegung – daß die ersehnte nationale Befreiung Hand in Hand gehen würde mit einer proletarischen Revolution. Man pfeift die Vaterländischen Verbände zurück. Mit dem Abschluß der »Micum«-Verträge ist die Liquidation des Ruhrunternehmens vollzogen, der Gedanke an einen Rachekrieg gegen Frankreich von den maßgebenden Kreisen endgültig aufgegeben.

Aber die spontane und künstlich genährte Erregung des Kleinbürgertums läßt sich nicht mehr kommandieren. Die Inflation geht weiter: am l. Oktober steht der Dollar bereits auf zweihundertvierzig Millionen Mark, wenige Tage später auf sechshundert Millionen, dann auf einer Milliarde, auf drei Milliarden ...

In den Freistaaten Sachsen und Thüringen bilden sich sozialistische Ministerien, in die – zum erstenmal seit Bestehen der Republik! – sogar Kommunisten eintreten. Man fordert von den Arbeiterregierungen Bewaffnung der Arbeiterschaft. Putschpläne liegen in der Luft. Das Ende der deutschen Republik scheint gekommen.

Neue Aufgaben für die Reaktion

Das Arrangement der Ruhrindustrie mit den Franzosen und der Zusammenbruch des passiven Widerstands stellen die Reaktion vor veränderte Aufgaben. Man verzichtet auf die nationale Befreiung, die nur im Kampf gegen die Entente hätte errungen werden können, und beschränkt sich auf die innenpolitischen Ziele. Die allgemeine Ratlosigkeit und Verwirrung wächst ins Phantastische. Niemand weiß, was geschehen soll.

In der »Ordnungszelle Bayern« kristallisiert sich aus dem gigantischen Durcheinander schließlich die Parole heraus: »Auf, gegen das rote Berlin!« Hitler ist es, der in unermüdlichen Reden die Notwendigkeit nachweist, wie Mussolini in Italien, den Sozialismus durch den Marsch nach Berlin zu vernichten. Niemand hindert ihn an der öffentlichen Verkündung dieses hochverräterischen Zieles. Herr von Kahr und der bayerische Ministerpräsident von Knilling, der Landeskommandant von Bayern, General von Lossow, und der Chef der bayerischen Landespolizei, Oberst von Seisser – sie alle stimmen ihm zu und fördern die Bewaffnung und Aufstellung der nationalen Kampfverbände in jeder Weise.

Aber hinter dieser scheinbaren Einmütigkeit verbergen sich schwerwiegende Gegensätze, die weder Hitler in seiner kleinbürgerlichen Beschränktheit noch der General Ludendorff in seinem »großdeutschen Wollen« überblicken können.

Diktator Kahr

Am 26. September 1923 wird der passive Widerstand von der Reichsregierung abgeblasen. Einen Tag später wird von Kahr zum Generalstaatskommissar von Bayern mit unbeschränkten Vollmachten ernannt, wird im Gebiet des Freistaats Bayern der Ausnahmezustand proklamiert, unter dessen Schutz sofort einige scharf antisozialistische Verordnungen herausgegeben werden. So unter anderen ein generelles Streikverbot, für dessen Strafandrohungen man die längst außer Kraft gesetzten Bestimmungen der Gewerbeordnung heranzieht!

Wenige Stunden nach der Proklamierung des Ausnahmezustands in Bayern entschließt sich die Regierung in Berlin zu einer Maßnahme, die schon lange vorbereitet worden ist: der Reichspräsident Ebert überträgt auf Grund des §48 der Reichsverfassung die vollziehende Gewalt dem Reichswehrminister Geßler, der sie an die einzelnen Divisionskommandeure des Reichsheeres abgibt. Der Diktator Deutschlands heißt Generaloberst von Seeckt, der Chef der Obersten Heeresleitung. Seeckt hat es verstanden, sich in den Ruf eines geheimnisvollen Menschen zu bringen, hinter dessen Schweigsamkeit – die gern mit der des Grafen Moltke verglichen wird – sich große Pläne zur Rettung Deutschlands verbergen. Die Anerkennung, die der General im allgemeinen in den Kreisen der Reaktion genießt, hindert jedoch nicht, daß er einzelnen reaktionären Führern außerordentlich verdächtig erscheint. Vor kurzer Zeit haben sich die Gerichte mit einem Komplott beschäftigen müssen, das gegen ihn auf Anstiften des alldeutschen Justizrats Claß geplant worden ist. Niemals wird gegen den Justizrat ein Verfahren wegen Anstiftung zum Morde eingeleitet werden ...

Bayern macht sich selbständig

Die Duplizität eines Ausnahmezustandes im Reiche und eines in Bayern hat für die Entscheidung, wer nun eigentlich in Bayern Inhaber der legalen Exekutive sei, groteske Folgen. Nach dem Reichsausnahmezustand ist der Landeskommandant von Lossow Staatskommissar für Bayern, nach dem bayerischen aber Herr von Kahr. In Berlin scheint man sich über die wahren Absichten Kahrs nicht klar werden zu wollen. Jedenfalls hindert die offene Sabotage, die Kahr gegen die Diktatur Seeckt treibt, den Oberbefehlshaber nicht, die bayerische Regierung um Unterstützung für den beabsichtigten Einmarsch der Reichswehr in Sachsen und Thüringen zu bitten. Kahr kommt diesem Wunsche nach: an der Spitze einer ausschließlich aus Angehörigen der Vaterländischen Verbände rekrutierten und als »Notpolizei« bezeichneten Armee von l0.000 Mann schickt der Generalstaatskommissar den – Kapitän Ehrhardt nach Nordbayern. Der Condottiere an der Spitze einer bewaffneten Armee besetzt die bayerische Grenze gegen den Freistaat Thüringen, bereit, auf die erste Anweisung dort einzufallen. Der »Abschnitt Coburg«, den Ehrhardt kommandiert, wird zur Aufmarschstellung der nationalen Aktivisten des Südens für den Kampf gegen das rote Berlin.

Es ist nicht lediglich die Absicht einer Provokation gegen die Berliner Regierung, die Kahr gerade den vom Reich steckbrieflich verfolgten Hochverräter Ehrhardt mit dieser Aufgabe betrauen läßt. Der Generalstaatskommissar ist groß geworden in der Schule wittelsbachisch-jesuitischer Politik: der Zweck heiligt die Mittel. Niemals hat er seine separatistischen Pläne aufgegeben, bei deren Durchführung ihm die großdeutsch eingestellten Kampfverbände, die in Hitler und Ludendorff ihre Führer sehen, das größte Hindernis sein würden. Ehrhardt, den die Kampfverbände als ihren unbedingten Bundesgenossen ansehen, bringt Herrn von Kahr die Sympathien jener Männer in das neue Verhältnis mit, deren Widerstandskraft und Aufmerksamkeit durch diese erstaunliche Maßnahme gelähmt wird.

Feine Unterschiede

Die entscheidenden Gegensätze, die die Kampfverbände Hitlers von der Politik des Herrn von Kahr trennen, sieht weder Hitler noch Ludendorff. Und vor allen Dingen bleibt in ihrer Rechnung ein Faktor völlig unberücksichtigt: der Generaloberst von Seeckt.

Im Norden gehen unterdessen große Dinge vor sich. Während Hitler immer wieder den Marsch nach Berlin predigt, seine Truppen ausrüstet und die verantwortlichen Behörden Bayerns zum Mitgehen zu überreden sucht, wird aus Reichswehrkreisen das Gerücht kolportiert, Seeckt wolle ein nationales Direktorium bilden, das den Parlamentarismus ablösen solle. Die Industrie, die seit der Aufhebung des passiven Widerstandes an der früher kräftig finanzierten großdeutschen Bewegung in München kein Interesse mehr hat, verspricht diesem geplanten Direktorium vollste Unterstützung ...

Der Küstriner Putsch

Aber die »einfachen Soldatengemüter« der Putschisten, die bis zum Bersten mit ekstatischen Hoffnungen auf die kommende große Auseinandersetzung erfüllt sind, geraten über diesen dumpf gefühlten Konflikt innerhalb der nationalen Front in Verzweiflung. Der Major Buchrucker, der Führer der märkischen Schwarzen Reichswehr, hat in gutem Glauben, es müsse nun endlich etwas geschehen, ohne Wissen seiner vorgesetzten Dienststellen die ihm unterstehenden illegalen Truppen mobilisiert und weit über den etatsmäßigen Bestand hinaus vermehrt. Seeckt, der in dieser Eigenmächtigkeit eine Gefahr für die offizielle Reichswehrpolitik erblickt, zieht Buchrucker zur Verantwortung und erläßt schließlich einen Schutzhaftbefehl gegen ihn. Aber ein Offizier im Reichswehrministerium – der noch zwölf Jahre später in der Reichswehr aktive Oberstleutnant Held – benachrichtigt Buchrucker rechtzeitig, der flieht nach Küstrin, alarmiert die Schwarze Reichswehr und versucht die Festung zu erobern, die von regulären Reichswehrtruppen gehalten wird. Der Festungskommandant, Oberst Gudowius, weigert sich, sich dem Rebellen Buchrucker anzuschließen. Die Meuterer können zwei Tage lang – vom 30. September bis 1. Oktober – die Festung Küstrin halten, dann ergeben sie sich nach kurzem Feuergefecht den heranrückenden aktiven Reichswehrformationen. Buchrucker und seine Offiziere werden in Haft genommen ...

Der »Küstriner Putsch« droht die allgemeine Hochspannung innerhalb der Vaterländischen Verbände zur Entladung zu bringen. Mit einem Schlage erkennt man die Tatsache, daß Seeckt seine eigenen Ziele verfolgt, die mit denen der nationalen Aktivisten keineswegs identisch sind. Nun entwickeln sich die Dinge in rasendem Tempo.

Krieg gegen Sachsen und Thüringen

Am 10. Oktober wird die Reichsexekutive gegen Sachsen und Thüringen erklärt. Der Gipfelpunkt staatspolitischer Verwahrlosung ist damit erreicht. Während die Franzosen an der Ruhr stehen, sammelt sich die deutsche Reichswehr an der Grenze der Freistaaten Sachsen und Thüringen. Man gibt sich nicht einmal sonderliche Mühe, auch nur einen Scheinvorwand für dieses Vorgehen zu finden. In Sachsen und Thüringen sitzen Sozialdemokraten und Kommunisten in der Regierung, – diese Tatsache genügt der Reichsregierung, ihre Einwilligung zu einem bewaffneten Einfall der Reichswehr zu geben! Es gibt keinen »Erbfeind« mehr. Das wichtigste Ziel der republikanischen Regierung ist, zu verhindern, daß sich auf dem Trümmerhaufen der Inflation eine sozialistische Republik Deutschland entwickelt. Unter dem Kommando des Generals Müller fallen die Reichswehrtruppen in Sachsen und Thüringen ein. Die Ministerien werden ohne jeden rechtlichen Grund aufgelöst. Ein wüster Terror beginnt gegen sozialistische und kommunistische Arbeiter. Wahllose Verhaftungen, tierische Mißhandlungen sind an der Tagesordnung und bilden niemals den Gegenstand auch nur einer staatsanwaltlichen Untersuchung. Der weiße Terror haust in Mitteldeutschland. Die Minister in Berlin können ruhig schlafen: Herr von Seeckt hat die kapitalistische Republik gerettet.

An der Südgrenze der mitten im Frieden von deutschen Truppen eroberten deutschen Reichsgebiete stehen die Horden Ehrhardt zum Sprunge bereit und warten darauf, daß der Weg nach Berlin frei wird. Schon drohen Zusammenstöße der bayerischen »Notpolizei« mit den Truppen der Reichsexekutive. Kuriere gehen von Coburg nach München, von München nach Berlin, vom Reichswehrministerium zu den einzelnen süddeutschen Kommandostellen der Reichswehr ...

Die bayerische Fronde

Inzwischen hat sich der Konflikt Bayern und Reich in ungeahnter Weise verschärft. Kahr nimmt den offenen Kampf mit dem Reich auf, nachdem er sich versichert hat, daß die bayerische Separation bei der Entente keine militärischen Gegenmaßnahmen auslösen wird. Die Verordnungen des Generalstaatskommissars werden immer aggressiver. Da erläßt zum Beispiel die Reichsanwaltschaft einen Haftbefehl gegen den Führer eines kahrtreuen Kampfbundes, der »Reichskriegsflagge«. Der Hauptmann Heiß hat sich durch aufrührerische Reden gegen das Gesetz zum Schutze der Republik vergangen. Kahr setzt mit einer einfachen Verordnung dieses Reichsgesetz für das Gebiet des Freistaats Bayern außer Kraft!

Gleichzeitig gibt er Anweisung, daß die bayerischen Dienststellen der Reichsbahn und der Reichspost nur mehr auf die Befehle des Generalstaatskommissariats zu hören hätten und nicht auf diejenigen der legalen Berliner Behörden. Seine offene Fronde geht so weit, daß er einen Goldtransport der Reichsbankfiliale Nürnberg, der nach Berlin gehen sollte, kurzerhand verhindert. Alle geharnischten Proteste der Berliner Behörden prallen an der eisernen Stirn des Bajuwaren Kahr ab.

Jetzt entschließt sich Seeckt endlich, den Kommandeur der 7. Reichswehrdivision, den General von Lossow, anzuweisen, mit Waffengewalt den Anordnungen der legalen Exekutive in Bayern Geltung zu verschaffen. Seeckt hat den »Völkischen Beobachter«, das Organ der NSDAP, wegen fortgesetzter Aufforderung zum Hochverrat verboten. Kahr duldet, daß das Blatt weiter erscheint. Lossow soll einschreiten, aber der General weigert sich und bleibt trotz allen Befehlen Seeckts dabei, gegen die Anordnungen Kahrs nicht handeln zu wollen.

Lossow abgesetzt

Seeckt entschließt sich zum Äußersten: er enthebt den General Lossow seines Amtes und teilt diese Tatsache allen Unterkommandeuren Lossows mit. Diese Maßnahmen beantwortet der bayerische Landeskommandant damit, daß er kurz entschlossen sämtliche in Bayern garnisonierenden Reichswehrtruppen der Befehlsgewalt des Reiches entzieht und sie auf den Freistaat Bayern, das heißt auf Kahr, vereidigt. Lossow gibt vor, dabei im Reichsinteresse zu handeln, um einen Bürgerkrieg zwischen Bayern und Reich zu vermeiden und nennt diese Vereidigung eine »Inpflichtnahme«. Die Generäle seines Dienstbereichs stehen hinter ihm.

Der Partikularismus marschiert. Die Wiederherstellung der Wittelsbacher Monarchie scheint Wirklichkeit werden zu wollen. Von allen Seiten kommen die Legitimisten nach München. Der Admiral Horthy entsendet den Erzherzog Josef, Mussolini schickt einen Beobachter, der Exzar von Bulgarien läßt sich in München nieder, und schließlich kommt auch die Kaiserin Zita, um die Interessen des Hauses Habsburg bei der kommenden Aufteilung Mitteleuropas wahrzunehmen. Gleichzeitig beruft der Papst eine Konferenz der bayerischen Bischöfe nach Rom, in der die Politik der nächsten Zukunft festgelegt werden soll ...

Immer noch heißt die Parole »Kampf gegen das rote Berlin«, unter der sich Kleinbürger und reaktionäre Aktivisten, Partikularisten und Großdeutsche vereinigen.

Die Zeit ist reif! Aber wofür?

General von Lossow gibt in seiner Aussage im Hitler-Ludendorff-Prozeß ein plastisches Bild von der Rolle, die der ahnungslose Kleinbürger Hitler in diesem hohen politischen Theater gespielt hat: »Hitler meinte, das Programm, das hätte ausgearbeitet werden sollen, auf das kann man nicht warten. Man kann schon jetzt ruhig zu regieren anfangen, das Programm wird dann schon kommen ... Hitler war der Ansicht, daß es keinen Zweck hätte, in Berlin weiter nach Männern für das kommende Direktorium zu suchen. Das sei auch nicht notwendig, der gesuchte Mann sei schon da, das sei er, Hitler, selber ...«

Man sieht: um jeden Preis etwas tun! Die Zeit ist reif! Aber wofür?

Hitler, der politische Trommler, der die Massen für den Gedanken eines großdeutschen kapitalistischen Direktoriums mobilisieren sollte, vergißt seine Rolle, die ihm die feindlichen Brüder der Reaktion in seltener Einmütigkeit zugebilligt haben: er will nicht mehr nur Agitator, er will selber Diktator sein. In dem Possenspiel der Interessen und Intrigen findet sich sein beschränkter politischer Verstand nicht zurecht. Er sieht um sich nur lauter »nationale Männer«, die den »Saustall in Berlin« säubern wollen. Weiter nichts. Der Marsch nach Berlin wird bei ihm zur fixen Idee, der sich alles unterzuordnen hat. Inzwischen hat sich die Politik der Reaktion ganz anderen Zielen zugewandt, aber Hitler weiß von nichts.

Das Kleinbürgertum wird nicht um seine Meinung gefragt. Die entsetzliche Aufgeregtheit, in der sich die Münchener putschistischen Organisationen befinden, hat praktisch nicht die geringste Bedeutung: die Entscheidung über die kommenden Dinge liegt durchaus nicht dort, wo Hitler und seine Gefolgsleute es sich denken ...

Peinliche Überraschungen

Anfang November reist der Polizeioberst von Seisser nach Berlin. Dort spricht er mit Seeckt und den übrigen »Herren aus dem Norden«, auf die der Stockpreuße Ludendorff seine Hoffnungen setzt, und die wieder einmal von dem alldeutschen Justizrat Claß dirigiert werden. Seisser kommt nach München zurück mit bedrohlichen Nachrichten: er hat in Berlin erkennen müssen, daß die »maßgebenden Kreise von Landwirtschaft und Industrie« hinter Herrn von Seeckt stehen; daß Claß den Generalobersten nicht mehr ermorden, sondern ihn unterstützen will; daß man in Berlin gegen die bayerischen Separationsgelüste gerüstet ist; daß eine großdeutsche Bewegung, die von München aus mit dem Ziel eines Direktoriums in Gang gesetzt werden sollte, höherenorts als inopportun angesehen würde. Lossow und Seisser schwanken, Kahr – oder seine klerikalen Auftraggeber – finden den Mut zur Entscheidung nicht.

Die nationalen Kreise im Norden haben sich unter besonderer Beteiligung des »Stahlhelms« für ein Direktorium entschieden, das den Generaloberst von Seeckt als Reichsverweser mit diktatorischen Vollmachten an seiner Spitze haben soll. Stresemann als Außendirektor, der mitteldeutsche Zuckerindustrielle Rabethge als Wirtschaftsdirektor und der Großgrundbesitzer Graf Kanitz als Ernährungsdirektor sollen ihm zur Seite gestellt werden. Ein General, ein Industrieller, ein Großgrundbesitzer und ein Berufspolitiker, der sein Leben lang nichts als der Exponent einer schwerindustriellen Gruppe gewesen ist: dieses geplante Direktorium erfüllt alle Hoffnungen, die man an die Liquidierung der Republik knüpfen kann. Für weitergehende Pläne hat man kein Interesse, und besonders liegt eine Reichsdiktatur Hitler-Ludendorff so außerhalb jeder Erwägung, daß nur die hoffnungslose Beschränktheit der Münchner Revolutionspolitiker ernsthaft damit rechnen kann, die »Gegen das rote Berlin«-Bewegung würde unter diesen Führern in Norddeutschland auch nur den bescheidensten Beifall finden.

Der Kleinbürger auf der Barrikade

Während die Münchener Idealisten bis zur letzten Patrone für den Marsch nach Berlin gerüstet sind, während die Ungeduld der immer wieder auf einen günstigeren Zeitpunkt vertrösteten kampfbegeisterten Freiwilligen die Disziplin der Putschtruppen zu sprengen droht, während der »Völkische Beobachter« sich in wildem hysterischen Gekreisch erschöpft, vollzieht sich das Schicksal des Kleinbürgertums, das auf den neuen Mann Hitler schwört. Von Süden aus setzt sich das revoltierende Kleinbürgertum in Marsch. In Hamburg bricht ein kommunistischer Aufstand aus, zu dessen Niederschlagung die Polizei nicht mehr ausreicht. Reichswehr und Marinetruppen werden eingesetzt, Barrikaden, Kanonendonner, Brände, Tote und Verwundete ...

Die deutsche Republik erlebt ihre Krisis. Ihr Herrscher heißt von Seeckt.

Am 4. November erläßt der Oberbefehlshaber der Reichswehr ein Rundschreiben an alle Kommandeure und Standortsälteste der Reichswehr: »Der Ruhrkampf und sein Ende haben Deutschland im tiefsten aufgewühlt. Frankreichs und Belgiens frevelhafter Eingriff in das Reichsgebiet, die wirtschaftliche Not, die das Volk an den Rand der Verzweiflung bringt, haben uns nicht zusammengeführt, sondern den Kampf der Parteien zur Siedehitze gesteigert. Der kommunistische Umsturz ist in Hamburg soeben von Polizei und Reichsmarine niedergeworfen worden: aber die Kommunisten sind entschlossen, ihn zu erneuern, sobald ihnen die Verschärfung der Not und des politischen Kampfes neue Gelegenheit gibt. Andererseits ist Macht und Anhang derjenigen gewachsen, die Deutschlands Rettung nur in der beschleunigten gewaltsamen Beseitigung des heutigen Regierungssystems durch eine nationale Diktatur sehen. Die bayerischen Nationalsozialisten fordern den Marsch auf Berlin.

Signal zur Retraite

»Solange ich an meiner Stelle bin, habe ich die Ansicht vertreten, daß nicht von diesem oder jenem Extrem, nicht von äußerer Hilfe oder innerer Revolution – komme sie von links oder rechts – das Heil kommt, sondern daß uns nur harte, nüchterne Arbeit die Möglichkeit zum Weiterleben gibt. Diese können wir allein auf dem Boden des Gesetzes und der Verfassung leisten ... Solange in der Reichswehr innere Disziplin und unerschütterliches Vertrauen zu ihren Führern lebt, solange kann kein Feind des Staates etwas ausrichten, solange kann die Reichseinheit nicht angetastet werden, solange wird die Hoffnung auf ein freies und großes Deutschland nicht erlöschen ...«

Das Schreiben des Oberbefehlshabers endet mit der Aufforderung an die Kommandeure, lediglich den »staatspolitischen Notwendigkeiten« zu dienen und allen »Parteikampf« aus dem Heere fernzuhalten: »Eine Reichswehr, die in sich einig und im Gehorsam bleibt, ist unüberwindlich und der stärkste Faktor im Staate.«

Im Hintergrund Kardinal Faulhaber

Der Partikularist Kahr wird unsicher. Der General Lossow erkennt die tatsächliche Macht des Oberbefehlshabers, die man bisher zu gering eingeschätzt hat. Die Situation ist für die bayerischen Separatisten äußerst kritisch: das Instrument, das sie sich zur Erreichung ihrer Ziele in langjähriger, mühsamer Arbeit geschaffen haben, droht ihnen von den großdeutschen Putschisten aus der Hand geschlagen zu werden. Mißtrauen und wilde Feindseligkeit bricht wie eine Krankheit in die bisher scheinbar so festgefügte Front der süddeutschen Fronde ein. Jeder glaubt, sich gegen jeden wehren zu müssen: Hitler gegen Kahr, Kahr gegen Ludendorff, Hitler gegen Seeckt, Lossow gegen Seeckt und Hitler ...

Der Trommler hetzt und drängt zur Entscheidung. Kahr zögert immer noch, den ersten Anstoß zu dem Marsch nach Berlin zu geben. Immer hat ihm diese Parole ja nur dazu gedient, ihm die Unterstützung der großdeutschen Aktivisten bei der Verfechtung bayerischer Reservatrechte zu verschaffen. Diese Fiktion kann kaum mehr aufrecht erhalten werden. Kahr hat gegen seine eigenen Kreaturen zu kämpfen: die höheren Beamten des Staatskommissariats predigen auf eigene Faust den Marsch nach Berlin und durchkreuzen die Pläne ihres Chefs. Und am mächtigsten ist in diesem heillosen Durcheinander der Mann, von dem sich nur Eingeweihte heimlich etwas zuflüstern: Seine Eminenz Kardinal von Faulhaber, Erzbischof der Erzdiözese München-Freising ...

Die großdeutsche Revolution hat ihre erste Niederlage längst erlitten. Nur ihre Führer haben nie begriffen, daß es sich hier um mehr als einen geringfügigen Prestigeverlust gehandelt hat: Gustav von Kahr hat die Front des »Kampfbundes«, in dem sich separatistische und großdeutsche Verbände unter Hitlers Führung zusammengeschlossen hatten, gesprengt. Der Kapitän Ehrhardt war der erste, der umfiel. Er selbst kommandiert immer noch den Abschnitt Coburg und wartet auf das Zeichen zum Losschlagen. In München hat er als seinen Stellvertreter den Kapitänleutnant Kautter zurückgelassen, der die Ehrhardtsche Kampfformation des »Wiking-Bundes« befehligt. »Wiking-Bund« und »Reichskriegsflagge« treten offiziell aus dem Kampfbund aus und stellen sich hinter Kahr. Man hat rechtzeitig Verbindungen zu dem Justizrat Claß aufgenommen, der Ehrhardt zurückpfeift ...

Stinnes will nicht zahlen

In dem allgemeinen Trubel geht eine kurze Notiz unter, die die Zeitungen an versteckter Stelle bringen: Herr Hugo Stinnes hat sich entschlossen, sich von seinem langjährigen Generaldirektor Friedrich Minoux zu trennen. Eine interne Angelegenheit des Hauses Stinnes? Ein Symptom, das den Untergang der großdeutschen Revolution besiegelt.

Hugo Stinnes, der ungekrönte König Deutschlands, der Mann, dessen gigantischer Skrupellosigkeit Dutzende von großen Konzernen erlegen sind, ein Fanatiker des Geldverdienens, eine fast mythische Persönlichkeit, hat Monate und Monate die großdeutsche Bewegung unterstützt. Minoux, der allmächtige Minister im Reiche Stinnes, hat die Verbindung mit den Revolutionären um Ludendorff und Hitler aufrecht erhalten. Er galt als der kommende Wirtschaftsführer des großdeutschen Direktoriums. Jetzt läßt sein Herr und Meister ihn fallen. Minoux sinkt in die Bedeutungslosigkeit eines stellungslosen Generaldirektors zurück. Hitler und Ludendorff hören und sehen nichts ...

Der törichte Trommler

Auch der fanatisierten Masse, dem revoltierenden Kleinbürgertum, bleiben diese bedrohlichen Flammenzeichen verborgen. Weiter und immer noch berauschen sich Tausende an der Vorstellung einer Wiederherstellung der guten alten Zeit; glauben an das durch den völkischen Gedanken und das Bewußtsein der deutschen Sendung bestimmte Ideal einer »Deutschen Revolution« und brüllen die Parole nach, die der Trommler ihnen Jahre hindurch in die Hirne gehämmert hat, und in deren Sinnlosigkeit sich die historische Tragik einer zum Untergang bestimmten Klasse drohend entlädt: »Auf gegen das rote Berlin!«

Ein Taumeltanz idealistischer Toren, denen die Augen gegen die großen wirtschaftlichen und politischen Zusammenhänge verklebt sind, und deren empörerische Verzweiflung sich hilfeflehend klammert an das Ideal des Führers, des politischen Messias, des deutschen Übermenschen: »Hitler! Hitler! Hitler!«

Und nie ward eine Masse jämmerlicher betrogen als durch diesen Glauben. Die Revolutionierung des Kleinbürgertums wird umwuchert und erstickt von dem Gestrüpp ökonomischer Tatsachen, in denen nicht für eine Klasse, genannt Kleinbürgertum, Raum zu leben ist, sondern nur für eine Herde verzweifelter, verbissener, verstörter und gewalttätiger Hetzhunde, denen man den Kopf freigibt, um sie zubeißen zu lassen auf die Feinde des Kapitalismus.

Die apokalyptische Daseinsangst einer sterbenden Klasse entlädt sich in dem wilden Ruf: »Hitler! Hitler! Hitler!«

Und nie ward ein Entsetzensschrei grausiger umlogen als dieser Ruf einer quälenden Agonie: die Sterbenden hängen ihr totes Gewicht an die Lebenden und morden noch im Tode. Die Revolution des Kleinbürgertums endet im Fascismus, in der blinden, irrsinnigen Wut gegen den deutschen Sozialismus, dessen Ziel auch die Befreiung des Kleinbürgertums ist.

Der Schrei nach Hitler

»Hitler! Hitler! Hitler!« So gellt es durch den Dunst des November 1923 ...

Hitler?

Es gilt innezuhalten.

Es gilt, das Bildnis eines Kleinbürgers zu betrachten. Eines Menschen, der die Masse an das Trugbild der »Deutschen Revolution« glauben lehrte, und der dieses trügerische Ideal verriet, um der Wegbereiter des deutschen Fascismus zu werden.


 << zurück weiter >>