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Es war jetzt sieben Uhr abends. Während zweier Stunden war wirklich der Teufel los gewesen, alle Zucht und Ordnung im Kloster war verschwunden. Die in Aussicht gestellten Schritte wirkten auf alle beruhigend. Der Pfarrer ging in die Ortskirche, um Monstranz und Ziborium bereitzuhalten. Auf dem Wege dahin sprach er begütigend zu allen, die ihm begegneten. Auch trat die Dämmerung ein und die meisten begaben sich nach Hause. La Première wurde zum Arzt geschickt. Madame selbst bereitete oben alles für die Ankunft des Arztes vor. Monsieur hatte ebenfalls den Kooperator in der Klosterkirche verständigt, alles zum Exorzisieren bereitzuhalten. Er selbst schlug die genauen diesbezüglichen Direktiven in seinem Ordinale auf und machte sich aus Bodinus' »Daemonomania« mit den körperlichen Stigmata des Teufelsbundes bekannt. Die Zöglinge bekamen im Refektorium ihr Abendessen. Mit der Dunkelheit war bei den Mädchen statt Ausgelassenheit, Bangigkeit und Furcht getreten. Alle baten, heute nacht die Lichter im Schlafsaal brennen lassen zu dürfen. – Inzwischen war der Holzknecht wieder heruntergekommen und hatte aufs bestimmteste dem Abbé versichert, das Frauenzimmer, welches er soeben durch die Türspalte bei Madame la Superieure mit verweinten Augen habe sitzen sehen, sei der Inkubus, der damals im Wald auf Henriette gesessen habe.
Es war schon halb neun, als der Arzt, ein noch junger Mann, der in Paris mit Auszeichnung studiert hatte, ankam. Er hatte gerade einen Gang ins benachbarte Dorf gemacht und zurückgekehrt eben erst die ganze merkwürdige Geschichte gehört. Die Lichter im Kloster waren schon angesteckt; es herrschte jetzt rings auf Gängen und Treppen tiefste Stille. Den Vorschlag des Abbé, mit ihm erst das Verzeichnis der Stigmata im Bodinus durchzugehen, hatte der Arzt abgelehnt. Er war dann von la Première sogleich in den zweiten Stock hinaufbegleitet worden. Oben empfing ihn Madame mit höchster Zuvorkommenheit in dem prächtig erleuchteten, reich ausgestatteten Salon, der zu ihren Gemächern gehörte. In dem halb offenstehenden Nebenzimmer brannte nur ein Licht. Dort wartete Alexina halb entkleidet, auf dem Bettrand gekauert, auf den Arzt. Dieser wechselte nur wenige Worte mit Madame und ging dann sogleich hinein. Dabei ließ er die Tür, wie es gerade die Handbewegung wollte, halb oder dreiviertel zufallen. Und nun konnte man draußen folgendes hören, trotz des lauten Buchumblätterns, mit dem Madame sich und die Stille zu betäuben suchte: Kurzes Gemurmel und Begrüßungsformeln; einzelne Fragen, sehr knapp, ebenfalls knapp beantwortet. Beide Stimmlagen waren sehr tief; die des Arztes aber schärfer skandiert und heller, die Alexinas mehr dumpf und gaumig. Das Licht wird gerückt, so daß die Helle jetzt ganz aus der Türspalte verschwindet. Eine Aufforderung, dann Ziehen und Schleifen von ausgezogenen Gewändern. Pause, neue Aufforderung. Entgegnung, wiederholte Aufforderung in festerem Ton! Ein Seufzen; dann wieder Ausziehen und Rutschgeräusche; strumpfiges Aufstampfen auf dem Boden. Erst einmal, dann noch einmal; dann noch ein Rutschgeräusch und jetzt ein weiches, schilfriges Gleiten; wie Haut auf Haut. Dazu ein zustimmendes: »Ah, c'est cela! C'est cela! Oui!« des Arztes. Längere Pause. Dann wieder ein Befehl, man hört die knerzenden Bewegungen eines Bettgestells und das knistrige Hingleiten auf eine Matratze. Ein ruhiges Kommando, ein stärkeres Kommando, dringende, unwillige Aufforderung! Seufzendes Wimmern von der anderen Seite.
»Ah, vous me faites mal, Monsieur!« rief auf einmal Alexina laut und wie explosiv. Dumpfe Entgegnung des Arztes, dessen ununterbrochenes Atmen auf schwieriges, intensives Arbeiten hinwies. Nunmehr ausgiebiges Schluchzen ohne Unterlaß von seiten Alexinas, ohne stärkere Schmerzensrufe, aber mit unstillbarem Weinen, hingebend, machtlos, verzweifelnd, sich gänzlich überlassend. Die Stimme des Arztes nunmehr weich und bedauernd, ohne plötzliche Kommandorufe. Der Höhepunkt schien überschritten, die Entscheidung erfolgt. Das Ergebnis schien aber ein trauriges. Trotzdem dauerte es aber noch lange, bis alle Manipulationen zu Ende waren. Madame hatte nach dem Angstschrei Alexinas nicht mehr geblättert, sondern atemlos gelauscht und an die Türspalte gestarrt. Das Wimmern drinnen wurde allmählich schwächer, das Weinen hörte auf und ging zuletzt in ein rhythmisches Wehklagen über, welches synchron mit dem Atmen ging. Endlich nach langer, langer Zeit, es war fast eine Stunde verflossen, hörte man Wasser in ein Waschbecken gießen und kurz darauf kam der Arzt mit dem Handtuch in der Hand verstörten Antlitzes heraus. La Superieure stand auf und schien zu fragen. »Ein trauriger Fall, Madame«, sagte der Arzt in dunklem Ton, »ich muß ein eingehendes Gutachten über den Fall abstatten, welches ich morgen vormittag schon Monsieur l'Abbé zustellen zu können hoffe. Inzwischen möchte ich raten, sobald es angeht, heute möchte es zu spät sein, le jeune Alexina zum Dorfpfarrer zu bringen und Mademoiselle Henriette zurückzuholen zu Madame.« – Damit verabschiedete sich der Arzt, sagte dem draußen harrenden Mesner, zu irgendeiner religiösen Handlung bestehe kein Anlaß, und begab sich durch das jetzt totenstille Kloster nach Hause.
Jetzt war's elf Uhr; und alles schlief in seinen Betten – vielmehr alles wachte. Denn wer konnte nach solch einem Tag schlafen! Oben huschten die Schwestern in schleppend weißen Nachtgewändern von Bett zu Bett und beruhigten die Kleinen, die alle eine schreckliche Furcht vor dem Teufel hatten. Die Lampen brannten hell. La Première selbst ging von Schlafsaal zu Schlafsaal, um jetzt keine Unordnung, keine Panik mehr ausbrechen zu lassen. Sie wußte ja, sie hatte gewonnen. – Und unten wachte in seinem Bett Monsieur l'Abbé. Er hatte noch vom Mesner die Nachricht erhalten, zum Eingreifen des exorzisierenden Apparats bestände kein Anlaß, und war dann, nachdem er den gleichen Boten mit der gleichen Nachricht zum Ortspfarrer geschickt und mit la Première einige Verordnungen wegen der Ruhe der Nacht besprochen hatte, selbst zu Bett gegangen.
Kein Anlaß zum Eingreifen des exorzisierenden Apparats – ja, glauben denn diese neuen Ärzte, sie können die Welt ohne Geistlichkeit in Ordnung bringen? Und wenn sich keine Stigmata fanden, was war denn dann los mit Alexina? Bediente sich der Teufel nur ihres Phantoms, ihrer sinnlichen Hülle, so war dies nach allen Exorzisten des Mittelalters auf die Dauer unmöglich, ohne Spuren zu hinterlassen. War aber der Teufel nicht im Spiel, dann hatten offenbar Henriette und la Maitresse ein frevelhaftes, sündig-gottloses Spiel miteinander getrieben. Denn wer wird sich im Walde in so unsauberen Stellungen präsentieren? Ja, ja, er erinnerte sich jetzt: Henriette hatte dieses Frühjahr einige Male von Madame die außergewöhnliche Erlaubnis erhalten, mit Alexina nachmittags in den Wald zum Maiglockenpflücken gehen zu dürfen, und er sah sie einmal mit Sträußen und fieberhaft glänzenden Augen zurückkehren. – Was aber jetzt nach Feststellung der Stigmalosigkeit bei la Maitresse erreicht sei, konnte er nicht begreifen. Die Sache stand am alten Fleck! Und die Geistlichkeit würde die Sache doch zuletzt lösen müssen! – Mit diesen Gedanken war Monsieur l'Abbé beschäftigt.
Oben im zweiten Stock ruhte Madame. Sie hatte bange Ahnungen, es möchte mit ihrem Priorat im Kloster vorbei sein. Seit heute abend sechs Uhr, als die Bauern die Sensen vor der Klostertür schwangen und den Teufel in Gestalt einer Lehrerin im Kloster suchten, war ihr klar, daß dies auf sie hinausgehen werde. Diesmal hatte la Première die Sache fein eingefädelt und zur rechten Zeit in die Flamme geblasen, die noch heute morgen mit dem Schuh auszulöschen war! Mein Gott, zwei Mädchen, die sich in ihren körperlichen und seelischen Eigenschaften einander ergänzten, beieinander schliefen und sich mit Zärtlichkeiten überhäuften, – was war dabei? Allerdings, diese Alexina war ein merkwürdiges Geschöpf, und der Ausspruch des Arztes lasse erwarten, daß mit ihr etwas ganz Besonderes los sein müsse!
Im Nebenzimmer lag Alexina auf ihrem Lager; gestern noch die bewunderte, wegen ihrer glänzenden geistigen Eigenschaften gepriesene, mit dem Ehrentitel la Maitresse benannte Schülerin! Jetzt war sie ein wimmerndes Geschöpf, wie zum Tod getroffen, von einem Arzt in ihren geheimsten Beziehungen vor aller Welt enthüllt, als Teufelsfrauenzimmer an den Pranger gestellt und ihrer Lebenskraft, Henriettes, beraubt! Ja, heute abend, als sie der Arzt besuchte, war ihr wohl klar geworden, daß etwas Außergewöhnliches mit ihr der Fall sein müsse. Als er vom Kopfe beginnend alles abmaß und genau feststellte, dann das untersuchte, was jedes mit Scham verhüllte, und ihr die fürchterlichen Schmerzen dabei verursachte, so daß sie hinausschreien mußte, da begann sie nachzudenken. Sie wußte ja: etwas anders war sie gebildet als die anderen Mädchen, als Henriette. Aber das war ihr nicht weiter aufgefallen – waren nicht auch die anderen in sonstigen Dingen verschieden? Hatte die eine nicht eine Adlernase, die andere eine eingebogene oder gerade? Diese einen häßlichen, fleischigen Mund, jene einen feingeschnittenen, knospenden, wie an einer Statue? Hatte diese nicht eine flache, jene eine gewölbte Brust? War die eine nicht dumm, die andere gescheit? Was war denn dann mit ihr so Besonderes los? Diese Kleinigkeit, über die Henriette so oft gelacht? – Aber es mußte doch etwas sein! Woher sonst dieser schreckliche Schmerz? – Und so wimmerte und schluchzte und spintisierte das Geschöpf weiter.
Noch bedeckte die Nacht mit ihrem Mantel alles, Kloster, Menschen und ihre Gedanken. Aber die Sonne brannte schon darauf, mit Inbrunst hervorzubrechen, um die ganze schauderhafte Klosteraffäre zu beleuchten und mit greller Flammenschrift jedem ins Gewissen und ins Hirn zu schreiben.
Es war jetzt wieder sieben Uhr morgens. Die Sonne glänzte durch die Scheiben des geistlichen Arbeitszimmers, das Frühstücksgeschirr stand auf dem Arbeitstisch und Monsieur l'Abbé las wieder eifrig in Liguori, Theologiae moralis, libri sex. Nichts in seinem Gesicht ließ etwa eine Unruhe oder Abspannung entdecken. Der Vorfall des gestrigen Tages hatte keinen nervösen Rest bei ihm zurückgelassen. Die gleiche sublime Ruhe wartete in seinen Zügen wie gestern.
In diesem Augenblick klopfte es an der Tür; Monsieur rief. »Herein!« Die Pförtnerin brachte ein Schreiben großen Formats, das soeben abgegeben worden sei. Monsieur öffnete es sogleich durch einen Winkelschnitt über der Oblate, faltete das kräftige Handpapier auseinander und las folgendes:
»Beauregard, le 21 Juni 1831. Adolphe Duval, médecin agrégé de la Faculté de Paris, à Monsieur l'Abbé de Rochechouart, à Douai. – Monsieur! Über den körperlichen Befund des sogenannten Alexina Besnard, achtzehn Jahre alt, habe ich auf Grund der von mir gestern abend vorgenommenen Untersuchung die Ehre folgendes zu melden:
Alexina, als Mädchen von außerordentlich hoher Statur, muß auch als Mann noch zu den größeren Gestalten gerechnet werden. Das magere Gesicht zeigt den Ausdruck hoher Intelligenz; der Blick ist entschieden männlich, konvergierend. Stark prominente Augenbögen, unter denen ein paar schwarze, kluge, flinke Augen herauslugen; keine Spur von Bart; die Kopfhaare etwas länger als sie gewöhnlich von Männern getragen werden, aber weit entfernt die Länge von Mädchenhaaren zu erreichen. Die Stimme Alexinas ist eine Altstimme. Der ganze Körperbau ist schlank, muskulös, ohne eigentliches Fettpolster, zeigt in seinem oberen Teil femininen Charakter, zarte Haut, schwache Mamma-Bildung mit weiblich gebildeter Warze; die unteren Extremitäten fallen sofort durch ihre reiche, dunkle, männliche Behaarung auf und zeigen auch in ihrer allgemeinen Stellung männliche Anlage. Die Oberschenkel zeigen zum Knie hin nicht die beim Weib bekannte Konvergenz, sondern verlaufen geradlinig. Die Hände sind zwar klein, dagegen die Füße sehr groß und kräftig. Die Hüfte charakterisiert sich schon durch den allgemeinen Anblick, wie durch Messungen, bei dem gänzlichen Fehlen der seitlichen Ausladung als Beckenanlage von rein männlichem Charakter. Der mons veneris ist stark behaart und bedeckt auf den ersten Anblick die eigentliche Bildung der Genitalien. Dieselben zeigen ein wenig klaffende labia majora von wulstigem, faltigem Charakter, hinter denen die kleinen, wenig ausgebildeten labia minora sichtbar werden. Keine Spur von hymen. Der introitus vaginae ist so eng, und das versuchsweise Eindringen so schmerzhaft, daß es keinem Zweifel unterliegt, daß er als blinder Sack endigt und entweder keinen oder höchstens einen rudimentären uterus als Fortsetzung trägt, der für Ovulation wie Menstruation ohne Belang ist. Dagegen umschließen die labia minora in ihrem oberen Teil einen sukkulenten Körper, der vorne perforiert ist und sich als wohl charakterisiertes membrum virile erweist. Dieses ist der Erektion fähig; obwohl es an seiner vollen Entfaltung durch ein von den genannten kleinen Labien ausgehendes straffes ligamentum gehindert ist. Die Perforation ist der Ausführungsgang der urethra, die ihrerseits in die vesica urinalis endet. Testikel sind nirgends zu entdecken und scheinen im Abdomen zurückgeblieben zu sein. – Somit ist Alexina Besnard ein Zwitter. Da derselbe nun während der Untersuchung, offenbar durch die augenblickliche psychische Erregung hervorgerufen, auch eine unwillkürliche ejaculatio seminalis hatte, deren Bestand unter dem Mikroskop das deutliche Vorhandensein normaler, beweglicher Spermatozoen ergab, so muß Alexina als männlicher Zwitter angesprochen werden. Somit ist Alexina ein Mann, und zwar ein zeugungsfähiger Mann. – Auf Grund der mir obliegenden Pflicht habe ich bereits Anzeige an die betreffende Zivilbehörde, behufs Änderung der Stammrolle in der Heimat Alexinas gemacht und überlasse Euer Hochwürden die weiteren Schritte bis zur definitiven staatlicherseits vorzunehmenden Änderung der zivilen Verhältnisse Alexinas. Mit hochachtungsvoller Ergebenheit ec. Adolphe Duval.«
Noch am gleichen Tag wurde Alexina in ihre Heimat zu ihren Eltern gebracht.
Mademoiselle Henriette Bujac, die ins Kloster zurückkehrte, sah sich genötigt, nach etwa sechs Monaten aus dem Institut auszutreten, und wurde zu einer entfernt wohnenden Tante aufs Land geschickt.
Mit ihr verließ Madame la Superieure definitiv das Kloster. – Und la Soeur Première wurde Superiorin. –