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Wenn wir uns nun Paula Modersohns künstlerische Entwicklung im einzelnen vergegenwärtigen wollen, so haben wir vorab zu bemerken, daß dieses die Geschichte ihrer Auseinandersetzung mit den von außen auf sie einströmenden Quellen der Anregung sein wird. Man hat gut reden und den Kunsthistoriker belächeln, der gewillt zu sein scheint, jede Originalität in ein Gewebe von Einflüssen aufzulösen, da doch das angeborene Talent als ein Gnadengeschenk der Natur alles Wesentliche aus sich selbst heraus bereite. Allerdings ist es so; allein so gewiß unsere angeborene Körperkraft sich nur durch Nahrung erhält und nur in der Reaktion auf zahllose Reize sich weiterbildet, so gewiß besteht auch unsere geistige Entwicklung in nichts anderem als in der Aneignung oder der Ablehnung von Geistesnahrung im Dienste des eigenen Schaffens. In der Jugend verhält sich der Mensch den Mächten der Umwelt gegenüber wesentlich rezeptiv; das ist es, was die Anfänge auch starker künstlerischer Begabungen bisweilen als unsicher und wenig folgerichtig erscheinen läßt. Erst allmählich erstarkt der Charakter, um in dem Maße, wie er sich seiner selbst bewußt wird, das anströmende Fremde sich zu assimilieren und somit zu beherrschen. Seine Betätigung wird dann von einem Wählen begleitet, indem er unfehlbar nur das ergreift, was seiner Art gemäß ist. Dann freilich gilt es, was einmal Lichtwark in das kurze Wort prägte: Genie ist Charakter.
In einer so kurzen Lebenszeit wie der Paula Modersohns wird uns das typische Bild des Heranreifens, der Blüte und der allmählichen Auflösung nicht gewährt, wir sehen nur dem Aufstieg zu, wie er sich in sieben kurzen Jahren vollzieht. – Ihr selbständiges Dasein als Künstlerin beginnt in Worpswede. Was weiter zurückliegt, bedeutet Elementarschule und verliert sich für uns im Dunkel der Anfänge. Die Mächte, mit denen sie sich nun auseinandersetzte, waren Mackensen. Vogeler, in geringerem Maße Modersohn, und aus der Ferne Böcklin. Mackensen predigte die banale Lehre einer naturalistischen Akademie: »Am Anfang war die Kraft. Die Kraft ist das Schönste,« und dann wieder: »Sich klein fühlen vor der Natur«. – Vermutlich hatte sie Mühe, sich dieses Alpha und Omega zusammenzureimen und vermerkte einmal in drolliger Bekümmerung, daß sie »zuviel ihren eigenen kleinen Menschen in den Vordergrund treten Ließe«. Eben daß sie nicht anders konnte, war der Beweis ihrer Begabung. Mackensens Verdienst bestand darin, daß er sie nachdrücklich auf das ihr gemäße Stoffgebiet des bäuerlichen Lebens hinwies und ihr eine im akademischen Sinne gute Korrektur angedeihen ließe. Der Kern ihres Wesens wurde dadurch nicht berührt. Ihr Farbensinn entwickelte sich durchaus selbständig, d. h. er war, wie es immer zu sein pflegt, bei ihrem ersten Auftreten vollkommen da und änderte nur seine Ziele. Koloristische Vorzüge sind nicht zu erlernen; und Paula besaß sie in weit höherem Maße als Mackensen. Ferner aber war ihr als ein von Mackensen vergebens erstrebtes Gut die Gabe verliehen, im Vergänglichen das Ewige zu sehen und es schon in der Studie auszudrücken. Es lebte damals im Worpsweder Armenhaus der heruntergekommene Sohn eines alten preußischen Adelsgeschlechtes, jetzt ein Greis, der als Kuhhirte sein kümmerliches Brot erwarb. Paula hat ihn verschiedentlich gezeichnet, während er ihr die verworrenen Brocken seiner früheren Bildung, untermischt mit Reflexionen über sein Schicksal, vorschwatzte. Nun blickt uns aus ihren Blättern sein durchfurchtes Antlitz an Züge von edler Bildung verbauert, erloschene Augen starren Blickes, das Wrack eines Menschenlebens. – Neben den Alten sind es die Kinder, die Halbwüchsigen, deren animalische Dumpfheit sie uns offenbart. Denn wir hatten es nicht gesehen, das halberschlossene blöde Wesen, das diese Geschöpfe in der Ruhe annehmen, weil unsere Aufmerksamkeit darüber hinwegglitt und das Kind in der Bewegung und im lärmenden Treiben aufsuchte. – Wie kommt es, daß auch ihre frühen Aktstudien nach schwergliedrigen Weibern den Eindruck hohen und feierlichen Ernstes machen? Sie sitzen in ihrer Entblößung da – tempelhaft wie enthüllte Mysterien der Menschheit. So sind die Dinge, die sie unter Mackensens Augen und Leitung malte, und an denen er doch keinen Teil hatte.
Anders wirkte Vogeler auf sie, nicht formbildend, aber ihre Phantasie lenkend und bezaubernd. Die Erfahrung sagt uns, daß viele Menschen für ein bestimmtes Alter geboren zu sein scheinen, in welchem ihre Talente sich am reinsten entfalten. Es gibt unter ihnen wie unter den Pflanzen Frühblüher und Spätblüher. Vogeler blühte früh. Seine Kunst war die des stillen, verträumten Jünglings, zart, zierlich, knospenhaft und jederzeit bereit, die Wirklichkeit in ein Märchen umzudichten. So entsprach er vollkommen einem Zuge des vielgestaltigen deutschen Wesens, der im Wandel der Zeiten immer wieder einmal hervortaucht – fast in allen Jahrhunderten – einem Zuge, den die Ausländer und zumal die Franzosen mit nachsichtigem Lächeln als vorzugsweise deutsch ansprechen. Vogeler steckte voll von Romantik, war liebenswürdig und wohlwollend, der Poesie und der Musik zugetan. »Der ganze Mensch wirkt märchenhaft auf mich«, sagte Paula von ihm. (So hat er auch auf andere, z. B. auf Paulas Gatten, gewirkt.) Sein Beispiel verlockte sie, eine Zeitlang ihm zu folgen. Damals entstanden die Entwürfe zu einigen phantastischen Kompositionen und Bildnisstudien bekränzter kleiner Mädchen, die uns in einer Mischung von Erdgebundenheit und seltsamem Aufputz befremdlich anschauen. Denn sie sind nicht von der hebenswürdigen Irrealität der Vogelerschen Geschöpfe, sondern höchst wirkliche kleine plattdeutsch redende Worpswederinnen, die ihren Kranz oder die Blumenvase oder ein buntes Gewand wie zur Maskerade tragen. Es gibt aus diesem Kreise die Skizze eines phantastischen alten Weibes, das auf einem gelben Sessel thront, zwei weiße Katzen vor sich und eine schwarze Katze hinter sich. Nur ein Bild wüßte ich, in dem die Tonart Vogelerscher Kunst mit Paulas Art rein versöhnt ist, das Bildnis der Tochter Modersohns aus seiner ersten Ehe, der kleinen Elsbeth. Wie das Kind mit einem Kornblumenkranz auf dem blonden Haar, halboffenen Mundes, die Hände über dem Schoß zusammengelegt, mit gesenktem Köpfchen träumend oder ein wenig müde vom Gemaltwerden dasteht, das ist vollkommen erschaut und verstanden –wie nur das mütterliche Mitfühlen der Frau ein Kind verstehen kann. Hier ist alles Sentimentale überwunden, und das lyrische Element zu einer zarten, in Worten nicht faßbaren Stimmung verflüchtigt. – Noch ziemlich lange glaubt man hier und da einen leisen Nachhall von Vogeler in Paula Modersohns Arbeiten zu verspüren – und doch war seine Art ihrem Charakter nicht gemäß; denn sie war stärker und schlichter.
Die Spur, die Modersohn in den Arbeiten seiner Gattin, und zwar nur in der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft, zurückgelassen hat, ist bald verwischt. Wir glauben sie in einigen frühen Landschaftsstudien zu finden, aus denen etwas von der tiefen, weichen Farbigkeit widerhallt, die Modersohns ältere Arbeiten auszeichnet.
Was Böcklin unserer Malerin gegeben hat, ist schwer zu fassen und darf doch nicht übersehen werden. Vielleicht war es nicht mehr als der allgemeine Hinweis auf die dekorative Bestimmung des Bildes und auf das Vorrecht der frei schaffenden Phantasie, die an das Naturmotiv nicht gebunden bleiben könne; vielleicht war es nicht mehr als der Gegensatz zum Impressionismus. In ihm reicht Böcklin dem jüngeren Geschlecht der deutschen Maler die Hand. Er und nicht etwa Marées ist Ahnherr unserer Expressionisten. Die geläuterte Gesetzmäßigkeit, die Marees und die Seinen erstreben, ist dem Kerne deutschen Wesens nicht gemäß und erscheint in unseren Zusammenhängen als ein edles, fremdartiges Gewächs. Dagegen bricht eben das, was Böcklin dem Romanen unverständlich und abstoßend macht, das Barbarische seiner Phantastik und lauten Farbigkeit, das Ekstatische und Groteske wie ein Urlaut germanischen Wesens aus der wohltemperierten Kunstwelt seiner Zeit hervor. Und eben dieses Elementare wirkte zündend. Es ist hier nicht der Ort, dem noch unerforschten Einfluß Böcklins auf die deutsche Kunst der Gegenwart im weiteren Umfang nachzugehen; daher sei nur so viel gesagt, daß die Verehrung später geborener Künstler für einen Meister der älteren Zeit immer Geistesverwandtschaft bedeutet; und es sei daran erinnert, daß sowohl Emil Nolde wie dazumal die Worpsweder Böcklin verehrten, während sie sich (mit alleiniger Ausnahme Mackensens) dem Impressionismus Liebermanns fremd fühlten.
Es gibt in Paula Modersohns künstlerischem Nachlaß eine Kompositionsskizze zu einem Reigentanz junger Mädchen um einen entlaubten Baum; der seine schwarzen, kühn verwirrten Zweige in einen blauen, von weißen Wolken durchzogenen Himmel streckt. Hier meint man Böcklins Nähe zu spüren; doch ist sein Geist in tieferem Sinne in Paulas Kunst wirksam. Was grotesk und ekstatisch in ihr ist (und es ist nicht wenig), hängt mit ihm zusammen. In ihrer Frühzeit hat Paula eine Reihe von Landschaftsstudien gemalt, doch ohne je in der Landschaft allein ihre Aufgabe zu erblicken. Die meisten dieser Arbeiten sind für das Gesamtbild ihrer Kunst unbeträchtlich; unter den wenigen übrigen möchte ich ein kleines Bildchen aus bremischem Privatbesitz hervorheben (Nr. 247). Es ist kaum eine Landschaft zu nennen – ein Stück Vordergrund: Büschel von gelben Huflattichblumen, die aus bräunlichem Wirrsal von Blättern, Gräsern, Erdreich aufsteigen ; darüber ein feuchter, wolkenverhangener Himmel, unter dem ein dunkler Falter schaukelt. Es ist ein Nichts als Motiv, und doch enthält es die Essenz der Landschaft dieser meerverwandten Niederung. Und eben darin erkennen wir die ewige Aufgabe der Kunst, daß sie uns einen Gefühlswert rein vermittele, während die Symbole, deren sie sich hierfür bedient, mit jedem Geschlechte wechseln, alle gleichgültig und alle wertvoll sein mögen.
Paulas malerische Technik ist in diesen Bildern ihrer frühen Jahre dünnflüssig, ohne darum behende zu sein. Was man Technik zu nennen pflegt, ist ja nichts Äußerliches, es ist nur sichtbar gewordene Innerlichkeit wie jegliche Art, uns zu bewegen und auszusprechen. Und wenn es auch Menschen gibt, die diese Mittel zu veräußerlichen suchen und sie wie Masken gebrauchen, so können doch auch diese nur ein blödes Auge über ihr Inneres täuschen. Bei Paula Modersohn aber ist die sogenannte Technik sie selber, das Atmen und Sichregen ihrer einfachen, eher schwermütigen als leichtbeschwingten Seele. Ihre frühen Zeichnungen sind von einer ernsthaften Umständlichkeit, doch niemals kleinlich, des Ganzen vergessend; und ihre Malerei gewinnt zeitweise, wenn ich recht sehe, von 1903 an, eine schwerere Stofflichkeit. Namentlich einige Stilleben und Bauernbilder gibt es, deren Oberfläche einem gobelinartigen Gewebe vergleichbar ist. Man fühlt sich an Segantini und seine Farbengeflechte erinnert. Sie erwähnt ihn auch tatsächlich an einer Stelle ihrer Tagebuchaufzeichnungen, wo sie – am 3. Juni 1902 – ausführlicher von ihrer Technik spricht; allein sie erwähnt ihn, um ihn abzulehnen. Sie las damals mit ihrem Manne das Buch von Servaes über Segantini. Modersohn zeigte sich gerade durch dessen Technik stark angeregt. Sie aber hatte Bedenken: »Auch ich träume von einer Bewegung in der Farbe, von einem gelinden Schummern, Vibrieren, einem Schummern des einen Gegenstandes durch den anderen. Aber die Mittel, die ich anwenden möchte, sind ganz andere. Dieser dicke Farbenauftrag hat für mich etwas Materielles. Ich möchte es auf dem Wege der Lasur, vielleicht über einem dick gemalten Untergrund erzeugen ... Ich glaube, man kann zehnmal übereinander lasieren, wenn man es bloß richtig macht. Auch ich glaube, daß, wenn ich weiter fortgeschritten sein werde, ich meinen Bildern eine größere Leuchtkraft geben möchte. Das werde ich aber versuchen, durch die Unterlage zu tun. Später möchte ich auch einmal versuchen, auf Goldgrund zu malen.« – Ihre Praxis entsprach der Theorie nicht völlig. Wohl wendet sie manchmal, aber keineswegs konsequent Lasuren an. Auch scheut sie durchaus nicht einen ziemlich reichlichen Farbenauftrag, den sie dann allerdings ähnlich wie Segantini strichelnd bildet oder mit dem Pinselstock aufrauht; und von dem fragwürdigen Experiment des Goldgrundes sah sie glücklicherweise ab. –
In den nächsten Jahren bevorzugt sie – namentlich in ihren Figurenbildern – diskrete Harmonien von einer schweren Tonigkeit. Zuerst sucht sie in den Stilleben leuchtendere Farben auf, und zwar in einem unerschöpflichen Reichtum von koloristischen Kombinationen, die in jedem einzelnen Falle auf das sorgfältigste abgestimmt sind. In ihrer letzten Zeit malt sie eine kleine Anzahl von phantastischen Kompositionen von stärkstem farbigen Anregungswert – Bilder, die ganz in Farben komponiert, gleichsam aus Farben erwachsen sind. Freilich wirken ihre stärksten Grade immer noch gedämpft neben der Intensität unserer Expressionisten. Inzwischen hatte sie sich von Worpswede nach Paris gewendet, wodurch ihre weitere Entwicklung bestimmt wird. Der Segen, den die Fremde ihr gewährte, äußerte sich in der Beschränkung auf die einzig wahren, die formalen Probleme ihrer Kunst. Sie war durch ihre Anlage hierfür bestimmt; allein ihr Weg wurde ihr durch alles, was sie nun sah und lernte, erleichtert. Es ist bereits gesagt worden, daß ihr erster Aufenthalt 1900 nur im allgemeinen orientierend wirkte. Simon und Cottet bedeuteten für ihre innere Entwicklung wenig oder nichts, um so mehr bedeutete die Fülle erlesenster Dinge aus dem Gesamtbereich der Kunst, die ihr in den Sammlungen und Ausstellungen zu Gebote stand. Die Worpsweder Velleitäten von Heimatkunst und Märchenerzählen fielen nun allmählich von ihr ab, und sie besann sich auf die eine Aufgabe ihres Lebens, die in ihr schlummernden Keime des eigenen Guten rein zu entwickeln. Als ein Kind der neuen Zeit erwies sie sich durch das Bestreben, die individualistische Auffassung, von welcher der Impressionismus lebte, zurücktreten zu lassen. Daß sie seine größesten Meister als fremd und folglich ihrem eigenen Vorhaben als bedrohlich empfand, ergibt sich schon daraus, daß sie sie ignorierte. In ihren Aufzeichnungen ist so wenig von den französischen Führern wie von Liebermann die Rede. Sie malt, als wäre ihre Kunst nur eine Stimme in einem vielstimmigen Chor oder als wäre sie die Beauftragte einer neuen Gemeinschaft. Eben in dieser Anonymität einer still vergeistigten Arbeit spüren wir ahnungsvoll das Nahen einer neuen Religiosität, einer Religiosität, die keiner sakralen Gegenstände bedarf, da sie die Natur in ihrer Gesamtheit mit heiligender Liebe durchdringt.
Auf diesem Wege sehen wir sie unbeirrt seit dem zweiten Pariser Aufenthalt von 1903 wandeln. Was sie nun sah und als geistesverwandt erkannte, strömte von sehr verschiedenen Seiten auf sie ein, um in dem Flusse ihrer eigenen Kunst zu verschmelzen. Und doch war in den verschiedenen Quellen ihrer Anregung jener tief gemeinsame Gehalt, der eben damals deutlich wurde, als das Verlangen der Zeit ihn aufsuchte. Die Kunst Asiens wurde damals von den jungen Künstlern erst recht entdeckt, nachdem die Impressionisten sich nur an einem ihrer späten Ableger, den japanischen Holzschnitten, gefreut hatten. Nun würden die älteren Malereien beachtet, die Skulpturen Indiens und Ostasiens, die persischen Miniaturen. Unter den alten Europäern waren es die Kölnischen Meister des späten Mittelalters, die sie aufsuchte und die Florentiner der frühen Renaissance, in ihrer Mischung von Strenge und Lieblichkeit; unter den Neueren jene Franzosen, die sich von der nervösen Interpretation der Natur abwandten, um Bilder von einer neuen Ordnung zu malen, in denen ein anderes überindividuelles Leben waltet – ein Leben, an dem alles Dargestellte gleichmäßig Teil hat, die Menschen und die Dinge. Ja, bisweilen ist es so, daß die Dinge, die Blumen, Früchte und Geräte, eine deutlichere Sprache reden als die Menschen, deren individuelles Innenleben in seiner qualvollen Kompliziertheit für den Künstler gleichgültig geworden ist. In der ahnungsvollen Sprache der Kunst wird hier die Gesinnung eines neuen Geschlechtes als Weltanschauung sichtbar.
Die Gesinnung entschied für Paula Modersohn. Wie wir es immer wieder in vergleichbaren Fällen wahrnehmen, begrüßte sie dankbar das Geistverwandte bei Größeren und Geringeren; denn allmählich erst sondern sich in solchen Zeiten des Überganges deutlich die Führer von dem Gefolge ab. Puy und Maurice Denis wurden ihr wertvoll, namentlich aber war es Gauguin in seinem starken Gefühl für eine reiche dekorative Bildwirkung und in seinen feinen manchmal einschmeichelnden Farbenakkorden, der Eindruck auf sie machte. Im Salon d'Automne von 1906 sah sie seine Gedächtnisausstellung. Er war keine elementare Kraft, vielmehr einer, der die Verfeinerung einer alten malerischen Kultur in eine insulare Tropenwelt trug, um nun die exotischen Stoffe mit allen Verführungen der Pariser Schule neu zu gestalten. Wir finden seine Spur in einigen ihrer späten Bilder wieder. Dann wieder fühlte sie sich zu van Gogh hingezogen, dessen Leidenschaft sie erregte. Sein Ungestüm war freilich von ihrer besonnenen Art verschieden genug, und doch gibt es Fälle, in denen sie sichtbar von ihm berührt worden ist. Daß alle diese Künstler stillebenhaft malen, ist von tiefer symbolhafter Bedeutung. Das Stilleben wird zum Neuland der Malerei. Auf diesem von allen motivischen Nebengedanken befreiten Gebiete erwächst ein neuer Stil. Sein großer Wegbereiter war Cézanne. Er, der den anderen vorangegangen war, lebt in ihnen allen; er ist es, der das Alte mit dem Neuen verbindet, zugleich die Brücke, der Weg und der Weiser. Paula Modersohn hat nach dem Urteile ihres Gatten sich ihm nicht besonders nahe gefühlt. Man möchte es nur mit Vorbehalt gelten lassen. Freilich gab es manches, was sie, ganz abgesehen vom Gewicht und Range ihrer Persönlichkeiten, voneinander trennte. Und doch verlohnt es sich, ihr Verhältnis zu ihm zu untersuchen. Cézanne ist, wie die Franzosen überall in kulturellen Dingen, ein maßvoller Revolutionär. Er erwächst aus dem Impressionismus, dessen letzte Folgerungen er zieht, um sich von ihm abzukehren. An Stelle eines höchst gesteigerten Subjektivismus verkündet er ein neues Gesetz. Das Gemälde, das unter den Impressionisten ein farbig flimmernder Raum geworden war, wird zur Flächenhaftigkeit zurückgeführt – freilich nicht zu einem Nebeneinander begrenzter Farbflächen, sondern zu einem sanften Schwingen und Ineinanderwogen der Farben. Die Impressionisten hatten illusionistisch die Atmosphäre gemalt, die die Dinge umhüllt; Cézanne deutet den Raum an. Auch die Dinge, die in dem Raum erscheinen, werden von ihm nur angedeutet, obwohl er angesichts der Natur malt. Sie verlieren von ihrer Körperhaftigkeit, ihre begrenzte Individualität verschwindet, als Farbengebilde fügen sie sich schattenhaft zu bisher unbekannten Harmonien zusammen. Cézannes Gesetzmäßigkeit ist die des farbigen Aufbaus. In den Bildern seiner Reifezeit, die seine Anfänge einer schweren Dunkelmalerei ablösen, wird die Komposition nach einem klaren und wohlausgewogenen Plane aus Farben gewoben. So sehen denn seine Gemälde aus der Ferne schimmernden Stoffen ähnlich, in denen Seide und gedämpftes Gold glänzen. Überall waltet im Sinne alter Überlieferung romanischer Kultur das Maß. Hier gibt es keine klingenden Kontraste, und die leicht aufgetragenen, manchmal nur hingehauchten Farben werden nie zur Glut entfacht. Sie bewegen sich in den Grenzen einer temperierten Helligkeit und mit Vorliebe in verwandten Harmonien von einem stumpfen Blau mit köstlich warmen goldigen und rötlichen Tönen, zu denen sich in den Landschaften das Grün der Vegetation gesellt. Eine bestimmte Linienführung fehlt, da jeder scharfe Umriß das Leben der farbigen Fläche stören würde, und doch erwächst aus der schummrigen Gestaltung deutlich das Gerüst der Komposition.
In Paula Modersohn begegnet solcher milden Reife eine junge und vergleichsweise derbe Einfalt. Die Gegenstände verflüchtigen sich ihr nicht zu farbigen Schemen, vielmehr läßt sie sie in ihrer Körperlichkeit durchaus gelten. Indessen ist es nicht so sehr das Individuelle, das sie an ihnen fühlt und darstellt, als vielmehr der gattungsmäßige Charakter. Sie sieht im Vorübergehenden das Bleibende und im Zufälligen das Allgemeingültige. Eben deswegen gewinnen ihre Bildnisse und Stilleben einen Zug von symbolischer Größe und wirken denkmalhaft. Paula Modersohn vermeidet alles lebhaft bewegte, wie sie auch die formzerreißenden Gegensätze von Licht und Schatten als Störung empfindet. Sie stellt ihre Gegenstände aus der Nähe gesehen, am liebsten sehr einfach zusammengesetzt oder vereinzelt in einer diffusen Helligkeit vor uns hin.
Unter den Deutschen ihrer Zeit fand sie wenige Gesinnungsgenossen. Ihr Gatte weist darauf hin, daß sie in ihren letzten Lebensjahren ein näheres Verhältnis zu Marées gefunden habe, dessen statuarische Größe ihre Bewunderung erregte. Eine solches Wohlgefallen bezeugt innere Verwandtschaft, wenigstens Zielverwandtschaft. Die Mittel freilich, mit denen sie ihr Ziel zu erreichen suchte, waren ganz anders als die eines Marées; denn die klassische Welt, in der sein Geist wohnte, blieb ihr fremd, so fremd wie die strenge Harmonie seines Bildaufbaus und seine Gleichgültigkeit gegen die unerschöpflichen Möglichkeiten farbiger Kombinationen, zu denen das Stilleben einlädt. Viel näher stand ihr doch – trotz allem – Cézanne. Als sie Paris verlassen hatte – ein paar Wochen vor ihrem Ende – sehnte sie sich nach ihm. Sie schreibt ihrer Mutter: »Ich wollte wohl gern auf eine Woche nach Paris. Da sind 56 Cézannes ausgestellt ...«
Während ihres letzten langen Aufenthaltes in Paris 1906 wurde sie mit Bernhard Hoetger bekannt, in dem sie einen geistesverwandten Gefährten und Anreger erblickte. Ein Beispiel dafür, wie die höhere Begabung sich manchmal der minder hohen verpflichtet fühlen kann! Denn das, was in Paula Modersohn sich elementar erhob, wurde von Hoetger, dem Kultivierten und Versatilen, vielmehr dargestellt. Was sie ihrem Talente mit den Mühen und Bedenklichkeiten des naiven Menschen entrang, und was eben dadurch den mitfühlenden Betrachter erschüttert –, ihm, dem durch europäisches und asiatisches Mittelalter Belehrten, gelang es ohne spürbare Beschwerde. Sie lebte nicht lange genug, um diesen Abstand zu fühlen und blieb somit der geistigen Gemeinschaft dankbar, die sie mit Hoetger verband; ja, es gibt sogar aus ihren letzten Jahren Bilder, in denen man das Beispiel ihres Freundes wirksam zu sehen meint! Kompositionen von einer gewissen hieratischen Feierlichkeit der Gebärde. Allein eben diese Bilder sind dem Gesamteindruck ihrer schlichten Kunst nicht völlig gemäß.
Wenn wir die Quellen nannten, aus denen sie Geistesnahrung entnommen hat, so geschah es nicht, um ihre Selbständigkeit in Frage zu ziehen. Eher um sie zu erhärten; denn jeder Vergleich mit einem der von ihr Verehrten dient nur dazu, um ihre Eigenart zu verdeutlichen. Sie hat nicht nachgeahmt, weder Gauguin, noch Cézanne, weder Marées noch Hoetger. Sie war ihre Begleiterin auf dem Wege nach verwandten Zielen. Und was sie von ihnen empfing, erscheint als neugeboren unter dem Zeichen ihres Geistes. Den Franzosen war sie am meisten verpflichtet und in einigen ihrer besten Stilleben verspüren wir – allem Trennenden ungeachtet – die Geistesnähe Cézannes, ob sie sich nun dessen bewußt war oder nicht. Die Analogien erstrecken sich bisweilen bis auf Äußerlichkeiten, z. B. die unbekümmerte Darstellung der von oben gesehenen auf einem Tische ruhenden Objekte – die der Gewöhnung des Publikums als ein Herabrutschen von schräger Fläche erscheint. Dabei scheidet sie von den Franzosen doch die tiefe Verschiedenheit der Rasse. Ihre Kunst ist minder ausgeglichen, aber von Kräften beseelt, die jenen fehlen. Denn ihre Ruhe ist verhaltene Leidenschaft, die wohl einmal unversehens hervorbricht, um uns dann doppelt zu erschüttern. Nur drei Beispiele dafür!
In Worpswede diente ihr als Modell eine alte Armenhäuslerin, die, weil sie, in ihrer Unbehilflichkeit auf einen Stock gestützt, dreibeinig einherging, von Paula Modersohn und ihrer Freundin Westhoff die alte »Dreebehn« genannt wurde – ein Ungetüm von einem Weibsstück, dickbäuchig mit schweren Gliedern und groben, aufgeschwemmten Gesichtszügen, aber von einer gewissen animalischen Größe. Paula malte sie des öfteren in ihrer Art einer schwerblütigen Monumentalität, namentlich in jenem Bilde der Hoetgerschen Sammlung, wo sie in rostgelber Jacke auf einem Schemel im Freien sitzt (Nr. 19). Bald darauf entstand das Bild der Bremer Kunsthalle, wo die Alte sich auf einmal in ein phantastisches Ungeheuer verwandelt (Nr. 27). Es sind dieselben Züge, ein ähnliches Gewand, und nichts Ungewöhnliches umgibt sie – rote Mohnblumen und dazwischen eine weitbauchige, auf einen Stock gestülpte Glasflasche, der naive Schmuck eines Bauerngartens. Aber alles dies erglüht plötzlich zauberisch in der grünlichgoldigen Helle, die am Horizont eines Sommerabendhimmels steht. Die roten Mohnblumen flackern spukhaft auf, der Fingerhutstengel in den Fäusten der Alten wird zu einem beblümten Zauberstab, und ihre Mienen, die sich dunkel vom Himmel abheben, drohen wie die einer überweltlichen Unholdin. So, meint man, hätte das Scheusal schon vor Jahrhunderten die Bauern schrecken können, und ebenso mag es noch ihren späten Enkeln erscheinen. Oder irre ich mich? Ein anderer reibt sich die Augen und erklärt, nur die wohlbekannten Züge der Armenhäuslerin zu sehen. Aber nein, hier ist mehr, hier sind aus längst vergessenen Tiefen des deutschen Volkstums auf einmal wieder urtümliche Beängstigungen ans Licht gestiegen, um sich zu der Vision zu verdichten, in der ein Künstler sie beschwört. Hier ist die Verzerrung mittelalterlicher Miniaturen, hier ist die Fratzenhaftigkeit romanischer Kathedralskulpturen, hier ist der Teufelsspuk der Mysterien.
Ein weiteres Beispiel gewährt uns die alte Bäuerin der Hamburger Kunsthalle (Nr. 38). Auch sie war ein öfter benutztes Worpsweder Modell, ein müdes Weib, dessen von schweren Lidern belastete Augen uns dumpf und trübe anblicken. Nun erscheint sie auf einmal zu einem geisterhaften Leben erwacht als die Ahnfrau vieler Geschlechter, das gelbfahle Gesicht zur Seite gewendet, mit den großen Augen in die Ferne starrend, die Hände über der Brust gekreuzt in einem seltsamen Gestus der Beschwörung.
Denselben Charakter einer elementaren Leidenschaft finden wir auch in ihren Stilleben wieder. Zwischen ernsten tonigen oder farbenstarken Gemälden steht das Sonnenblumenbild der Bremer Kunsthalle wie ein loderndes Fanal (Nr. 184). Es ist nicht nur leidenschaftlicher als irgendeiner ihrer französischen Anreger, sondern seelenhafter, von jener eigentümlichen romantischen Beseelung des Objektes, die eine Gabe der Germanen zu sein scheint. Man fühlt sich an van Gogh erinnert, denn er ist von dieser Art; nur wäre gleich zu sagen, daß die sichtbare Berührung vereinzelt bleibt. Im übrigen und formal betrachtet, steht er Paula ferner als Cézanne, nicht in seiner Gesinnung, wohl aber in dem Charakter seiner Betätigung. Dieser ist bei van Gogh, dem heftig Zupackenden, durchaus männlich, während die Zurückhaltung, das maßvoll Wägende, bei Paula ebensosehr als ein Element der Weiblichkeit erscheint wie ihre liebevolle Vertiefung in die Seele alles Dargestellten.
In ihren letzten Jahren erstarkt das architektonische Element in ihrer Kunst; sie malt Gestalten, in denen die individuelle Beseeltheit einer überindividuellen Feierlichkeit gewichen ist. Es wurde bereits erwähnt, daß in ihnen wohl Hoetgers Einfluß zu erkennen sei. Daneben aber entstehen einige wundervolle Kompositionen von einer gedämpften Monumentalität und einer Farbenharmonie, die gänzlich ihr gehören. Sie weist damit den Weg in eine Zukunft, die voller Verheißung vor ihr lag, als sie die Augen schloß. Als das bedeutendste Bild dieser Reihe erscheint mir das unvollendete der knienden Mutter mit dem Säugling in lübeckischem Privatbesitz (Nr. 141). In ihm sehen wir noch einmal alles zusammengefaßt, was erhebend und hemmend in Paula Modersohn wirksam war, ihre Größe und ihre Feinheit, ihre Mystik, ihre Weiblichkeit und ihre Kindlichkeit. In keinem Falle ist so sehr wie hier das Banale zum Monumentalen verwandelt, denn die Komposition ist ganz naiv aus den Requisiten ihres Pariser Ateliers zusammengebaut. Die Italienerin, die ihr damals als Modell diente, ist nackt auf einer weisen Scheibe niedergekniet, den Säugling an ihrer Brust haltend. Um die beiden sind am Boden ein paar Orangen symmetrisch verteilt und grüne Blattpflanzen im Hintergrund aufgestellt – wie ein Kind in seinem Spielzimmer Dinge zusammenbaut, an denen es sich freut. Wenn man es so beschreibt, möchte man es belächeln. Aber das kindliche Naturmotiv gab nun den Anlaß zu einem Gemälde von geheimnisvoller Größe und Schönheit. Aus einer gedämpften Harmonie von grünen, blauen und bräunlichen Farben erhebt sich der Körper des Weibes in mächtigem Umriß und in dunklen rosigen und lilafarbenen Fleischtönen, die das Bild beherrschen, obwohl sie sich milde ihre Umgebung einfügen. Die malerische Behandlung ist breit und leicht, beschwingt von einem Gefühl der Andacht, das im Gemüte des Beschauers sein Echo findet. Eine matte Helligkeit wie von verschleiertem Mondlicht ist über die Szene gebreitet und verleiht ihr den Charakter des Visionären.
Das Bild weist voraus in die Zukunft und zurück in ferne Vergangenheit, da es etwas enthält, was allen Äußerungen einer zugleich herben und feinen Monumentalkunst gemeinsam ist. Hier ist es anschaulich geworden, was Paula Modersohn einige Jahre zuvor ahnungsvoll begriff, als sie am 25. Februar 1903 in ihr Pariser Tagebuch schrieb: »Ich fühle eine innere Verwandtschaft von der Antike zur Gotik – hauptsächlich von der frühen Antike – und von der Gotik zu meinem Formempfinden.«
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Wenn der Künstler sich nach Anerkennung sehnt, so ist das kein eitles Verlangen des Ehrgeizes, sondern das natürliche Bestreben, sein Werk zu vollenden, indem er es bis an das Ziel seiner Wirkung führt. Man könnte in der Tat sagen, daß ein Kunstwerk sich erst im Beschauer vollende, da es einer Brücke vergleichbar auf den Pfeilern verwandten Fühlens beim Schaffenden und beim Genießenden ruht. Dann erst, wenn dieser Zustand erreicht ist, gewährt es das volle Maß seiner Lebensspende, weil es mit dem Genießenden zugleich den Schaffenden beglückt, den es in seiner Arbeit bekräftigt. Doch unter welchen Mühen und um welchen Preis wird die Verbindung erreicht, wenn der Empfänger, dem der Künstler seine Gabe bestimmt, das Publikum ist! Diese Einheit einer namenlosen Menge ist ja nicht etwa dem Volke gleichzusetzen, sondern nur jenem Teile des Volkes, der als Repräsentant seiner Kultur und demzufolge als Richter neuer kultureller Werte auftritt. In dieser Rolle war das Publikum des neunzehnten Jahrhunderts mächtiger, in seinem Verhalten unsicherer und in seiner Betätigung unseliger als irgendein anderes. Mit seinem Beifall belohnte es die Kunst einer mittleren Schicht, in der es seine eigenen bürgerlichen Vorzüge des Fleißes, der Gefälligkeit, der Gebildetheit wiederfand. Jede starke instinktmäßige Äußerung wurde beargwöhnt und abgelehnt und der große Künstler nur insofern geduldet, als er der öffentlichen Meinung zu entsprechen schien. Immerhin waren die Zustände wenigstens so lange erträglich, als über die letzten Ziele der Kunst eine ziemliche Einmütigkeit bestand. Cornelius und Rethel haben wohl mit kleinlicher Kabale, doch kaum mit grundsätzlichen Widerständen zu kämpfen gehabt.
Als nun aber ein neues Künstlergeschlecht heranwuchs, das der laienhaften Begönnerung müde seine neuen Ideale verkündete, entbrannte der Kampf mit dem Publikum auf der ganzen Linie. Wenngleich aus diesem Kampfe schließlich die Künstler als Sieger hervorgegangen sind, so dürfen wir darum doch nie der Opfer vergessen, mit denen sie ihren Sieg bezahlen mußten. Nur wenige haben die erbitternden Folgen des Verkanntseins und der Vereinsamung ohne Schaden ertragen. Manche Maßlosigkeit und manche Schrullenhaftigkeit, andererseits auch manche entgegenkommende Schwäche sind diesem unseligen Zustand zuzuschreiben. Auch jene Atelier- und Ausstellungskunst haben wir ihr zu verdanken, die den Zusammenhang mit dem Leben und seinen Forderungen verloren hat. – Zu den Opfern der Entfremdung zählte auch Paula Modersohn, die beim Beginn ihrer Laufbahn keinen klar vorgezeichneten Weg vor sich sah und in deren weiterem Verlauf der Stärkung durch ein dankbares Echo ihrer Arbeit entbehren mußte.
Ihr erstes, wohl etwas verfrühtes Auftreten im Dezember 1899 wurde mit wütendem Schelten der Kritik begrüßt. Ein nächster Versuch, 1902 auf einer Ausstellung in Bremen zu erscheinen, mißglückte, da die Jury sie zurückwies. Dann wurden zu ihren Lebzeiten nur noch einmal ein paar Bilder von ihr im November 1906 in der Bremer Kunsthalle gezeigt – zusammen mit Arbeiten ihres Gatten und wohl auf dessen Veranlassung. Sie fanden kaum Beachtung. So war es denn kein Wunder, daß sie sich scheu zurückzog und es bei den ersten Begegnungen mit Hoetger sogar verschwieg, daß sie Malerin sei. In Worpswede wußte nicht einmal der ihr persönlich befreundete Vogeler über ihre Arbeiten Bescheid, solange sie lebte. Dann freilich, als der Inhalt ihrer Werkstatt ans Licht gezogen wurde, war Vogeler – was ihm unvergessen bleiben soll – der erste, der leidenschaftlich werbend für sie eintrat. In den nächsten Jahren folgten in Bremen, Hagen, Berlin und Hannover verschiedene Gesamtausstellungen, in denen sich bald die öffentliche Meinung zu ihr bekehrte; und nun, als kein freundlicher Zuruf sie mehr erreichte, war die Brücke des Verständnisses zwischen ihr und dem Publikum geschlagen.