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Tauatmend bedecken die Erde schweigend die Schatten der Nacht. Dunkel und einsam liegt das Landhaus, ein einziges Fenster ist matt erleuchtet. Traurig schimmert das winzige Licht durch die Finsternis. Unheimliche Stille herrscht in den schweigsamen Räumen, in welchen es am Morgen noch so heiter und lustig zugegangen war. Unten im Erdgeschoß, dort wo das kleine Licht matt durch die Scheiben bricht, liegen zwei leblose, kalte Gestalten. Das Auge gebrochen, das Haar noch feucht von dem Wasser, das sie mit seiner weichen Umarmung erstickte. Zwei Menschen, denen noch vor wenigen Stunden das Herz warm und frisch in Lebenswonne geschlagen hatte, sie liegen jetzt kalt und fühllos nebeneinander. »Tief und schwer ist der Schlummer der Toten.«
Das schwache Licht der Lampe, die zu Häupten der beiden brennt, wirft seinen flackernden Schein über die bleichen Gesichter der stillen Schläfer. Sie vergoldet das greise Haar des Großvaters, sie umstrahlt wie ein Heiligenschein die blonden Locken des Kindes. Im Hause brennt noch ein Licht, aber der schwere Vorhang des Fensters ist so dicht geschlossen, daß kein Strahl nach außen dringt. Das Licht brennt in einem der Eckzimmer des ersten Stockwerkes.
Dort liegt ein blasser Mann zwischen den Kissen eines Bettes. Sein Schlaf ist unruhig, fiebernd wirft er sich hin und her. Eine bleiche junge Frau sitzt neben dem Lager; sie hat die kleinen weißen Hände auf seine Stirn gelegt. Dann ist er ruhiger, sie weiß es.
Es ist Helene. Ihr Gesicht ist marmorblaß, ihre Augen sind gerötet, aber sie weint nicht, sie blickt stumm vor sich hin, fassungslos – klaglos.
Was hat dieser Tag nicht über sie gebracht, wie hat er begonnen, wie geendet! Sie konnte es nicht fassen, nicht begreifen. Ihr Leben war bisher ruhig und unbewegt gewesen, wie der Spiegel eines klaren Sees. Und nun kam das Unglück über sie, wie der Dieb in der Nacht, wie ein Donnerschlag aus heiterem Himmel, der plötzlich das gewohnte Gleichgewicht zerstörte, wie ein zündender Blitz, ein glühender Gottespfeil, der, die Wellen in brandendem Aufruhr zum Himmel schleudernd, die Ruhe vernichtete und das klare Wasser in einen blutigen Sumpf verwandelte. Dort unten lag ihr Vater, den sie zärtlich geliebt, auf der Totenbahre, neben ihm ihr erstes und einziges Kind. Sie selbst saß am Bett ihres Gatten, für den sie gern ihr eigenes Herzblut gegeben, der, eben erst von schwerer Krankheit genesen, schon wieder in den Kissen lag, mit kochendem Blut und fliegendem Atem.
Dazwischen tauchte die rätselhafte Gestalt jenes Fremden, der dem geliebten Manne so seltsam glich, vor ihren Augen auf, tönten seine harten, mitleidslosen Worte in ihrem Ohre wieder.
Was hatte sein Erscheinen, was jene Worte zu bedeuten? sie wußte es nicht, sie konnte keine Erklärung finden, aber eine namenlose Angst schnürte ihr die Brust zusammen und drohte, ihr Herz zu erdrücken.
Hiller war ein wenig ruhiger geworden. Leise löste sie die Hände von seiner Stirn, mit einem bangen Blick schaute sie in sein blutleeres Antlitz, dann schritt sie lautlos aus dem Zimmer.
Sie ging die Treppe hinab. Dort vor der Thüre blieb sie einen Augenblick stehen, dann öffnete sie dieselbe und stand in dem Gemach, in dem Großvater und Enkel im Tod vereinigt ruhten.
Langsam, mit gefalteten Händen, schritt sie auf die Bahre zu. Im thränenlosen Jammer ruhte ihr Auge auf dem bleichen Gesichtchen des toten Lieblings; so stand sie stumm, bis der Schmerz, sie überwältigend, sich in einem Aufschrei löste. »Mein Kind, mein Kind!« schrie sie auf, und die kleine Leiche mit beiden Armen umfassend, sank sie leblos über die Bahre hin. Schwer sank ihr Kopf nach vorn, und das rote Herzblut quoll aus ihrem Munde.
So wurde sie am andern Morgen leblos von den Bediensteten des Hauses gefunden.
Als man Hiller, der sich wieder erholt hatte, das Geschehene meldete, eilte er bestürzt zu seiner Frau und trug sie auf den Armen hinauf in sein Zimmer. Der schleunigst herbeigeholte Arzt konstatierte die Sprengung eines Blutgefäßes in der Brust; nichts Gefährliches, wie er sagte, ein paar Tage Ruhe und es ist wieder alles in Ordnung.
Ruhe! Hiller lächelte bitter bei den Worten des Arztes. Ruhe, ja Ruhe, die wäre das Beste für sie und ihn – aber die Ruhe für – ewig.
Als der Arzt gegangen, meldete der Diener, daß ein Herr Herrn Wismar zu sprechen wünschte.
Hiller runzelte die Stirn. »Wohl ein Kondolenzbesuch? Zudringliche Neugier. Die Leute sollen einen in Ruhe lassen.« Er wandte sich unwillig zum Fenster.
»Soll ich den Herrn abweisen?« fragte der Diener.
Hiller gab nicht sogleich Antwort.
»Wie sieht er denn aus?« fragte er nach einer Pause.
»Sehr fein,« antwortete der Gefragte. »Er sieht dem gnädigen Herrn außerordentlich ähnlich.«
»Mir?« Hiller fuhr herum und starrte dem Diener entsetzt ins Gesicht. Dann besann er sich, und sich wieder dem Fenster zuwendend, sagte er über die Schulter weg: »Ich lasse bitten.«
Gleich darauf trat Wismar ins Zimmer.
Hiller warf ihm einen finstern Blick zu.
»Sorgen Sie, daß uns niemand stört!« rief er dem Diener zu, der die Thüre hinter dem Eingetretenen schloß.
»Wir sind allein,« sagte Hiller, sich hoch aufrichtend. »Was wünschen Sie?«
»Das müßten Sie doch wissen,« antwortete der Gefragte; »vorläufig will ich –«
»Verzweiflung in das Haus der Trauer tragen!« ergänzte Hiller den Satz.
»Nun also, da Sie es wissen.« Wismar zuckte die Achseln und zog die Stirn hoch.
»Sie scheinen an diesem Henkeramt Vergnügen zu finden?« sagte Hiller verächtlich.
»Es gewährt mir wenigstens Genugthuung, da ich dasselbe einem wirklichen Meuchelmörder gegenüber ausüben darf,« gab der andere in demselben Ton zurück.
»Kommen wir zu Ende,« sagte Hiller. »Ihr erbarmungsloses Vorgehen, der traurige Mut, den Sie gezeigt, indem Sie den heutigen Tag benutzen, mich zu zwingen, meine arme, tiefgebeugte Gattin völlig zu zerschmettern, veranlaßt mich zur völligen Aenderung meines Planes Ihnen gegenüber. So hören Sie denn. Sie sollen Ihr Spiel nur halb gewinnen; ich werde meiner Frau meine ganze Schuld gestehen, aber ich werde gleichzeitig die Behörden von dem gemeinschaftlich ausgeführten Betrug benachrichtigen!«
»Warum das?« fragte Wismar. »Sie sollten doch die Aufmerksamkeit der Behörden so sehr wie möglich vermeiden!«
»Was frage ich heute danach, was geschieht und geschehen kann!« rief Hiller ausbrechend. »Ich bin so namenlos unglücklich, daß ich nach nichts mehr frage.«
»Unglücklich durch eigene Schuld.«
»Unglücklich durch Sie!« schrie Hiller auf, »denn Sie sind der Urheber meines Unglücks. Warum bestachen Sie mich mit Ihrem verfluchten Geld? Glauben Sie, daß dies für mich nicht strafmildernd ins Gewicht fällt; und glauben Sie, daß ich Sie schonen werde? O nein, ich werde den Richtern Ihre Scheußlichkeit enthüllen, das Raffinement, mit welchem Sie den armen, hungernden Teufel in Ihre Netze lockten, die nichtswürdigen Mittel, die Sie, der Reiche, anwendeten, den Armen zu verführen, ein williges Werkzeug Ihrer Schurkerei zu werden –«
»Genug,« unterbrach ihn Wismar. »Thun Sie, was Sie wollen. Ich frage nach nichts, nach gar nichts; ich verlange, daß der Komödie ein Ende gemacht wird, und zwar bald. Zeigen Sie meinetwegen unsern Betrug an, aber Sie werden dann nicht verlangen, daß ich schweige. Der Mordversuch am Tulpenstein –«
»Pah!« rief Hiller, »es soll Ihnen schwer werden, denselben zu beweisen.«
Wismar erwiderte nichts; er sah dem vor ihm Stehenden starr ins Gesicht und sagte dann langsam und nachdrücklich: »Und der angebohrte Kahn?«
Entsetzt starrte Hiller dem Sprechenden ins Antlitz; jähe Röte wechselte mit einer fahlen Blässe auf seinem Gesicht, er schwankte und mußte sich an einem Sessel halten, um nicht umzusinken.
Spöttisch lächelnd beobachtete Wismar die Wirkung seiner Worte. »Sie sehen, ich weiß alles; geben Sie das Spiel auf, Sie haben es verloren.«
Noch einmal raffte sich Hiller auf. »Ich weiß nicht, was Ihre Worte betreffs eines angebohrten Kahnes bedeuten sollen,« erwiderte er; »aber ich sehe ein, daß wir zu Ende kommen müssen. Lassen Sie mich meine Toten begraben, bis dahin werden Sie einem armen, gequälten Weibe wohl den einzigen Trost, den sie noch auf der Welt hat, gönnen.«
»Und Ihnen Zeit lassen, einen dritten Mordanschlag auf mich auszudenken,« ergänzte Wismar. »Sei es darum,« fuhr er fort, da ein Blick auf Hillers gebrochene Haltung ihm wohl zeigen mochte, daß er nichts mehr zu befürchten habe; »ich werde warten, aber nur bis zum Tage nach dem Begräbnis. Erfüllen Sie dann nicht, was Sie versprochen, werde ich selbst Ihrer Frau die nötigen Aufklärungen, die sie nun einmal haben muß, geben. Haben Sie mich verstanden?«
Lautlos senkte Hiller den Kopf.
»Um Sie besser überwachen zu können, denn ganz traue ich Ihnen noch immer nicht, werde ich meine Wohnung hier nebenan in einem der neuerbauten Hotels nehmen. Und noch eins, ich brauche Geld, aber glauben Sie nicht, mich mit ein paar tausend Mark abspeisen zu können, ich verlange Auszahlung des mir zukommenden Vermögens.«
»Ich habe Ihr Erbteil, die Summe, die mir von Ihren Brüdern übersendet wurde, für Sie deponiert,« erwiderte Hiller. »Warten Sie einen Augenblick, ich werde Ihnen den Depotschein übergeben. Sie können die Summe jederzeit erheben.«
Er eilte in sein Zimmer, entnahm dem eisernen Geldschrank das Papier und brachte es Wismar.
Dieser prüfte den Schein sorgfältig, dann steckte er ihn in die Tasche seines Rockes.
»Dies also wäre geordnet,« sagte er. »Sehen Sie, wie Sie mit dem anderen zurecht kommen; Sie haben drei Tage Zeit, aber versuchen Sie keine neuen Winkelzüge. Gegen den Mann, der zweimal den Versuch gemacht, mich zu ermorden, kenne ich keine Rücksicht, auch nicht die kleinste. Merken Sie sich das und hüten Sie sich.«
Er verließ das Zimmer, die Thüre krachend ins Schloß werfend.
Hiller brach zusammen; er ließ sich schwer in ein Fauteuil sinken und stützte aufstöhnend den Kopf in die Hände. Ja, er hatte das Spiel verloren. Das Glück begünstigte seinen Gegner, und was er gegen ihn unternahm, traf nur ihn selbst oder die Seinen.
*
Die Toten waren zur Erde bestattet. Zahllos war die Menge gewesen, welche den Särgen gefolgt. Das traurige Schicksal der Dahingegangenen hatte eine allgemeine, echte und aufrichtige Teilnahme erweckt, und tiefes Mitleid für die Hinterbliebenen hervorgerufen.
Still und einsam lag das Landhaus im Abenddunkel.
Helene saß im Parterrezimmer am Fenster und schaute mit thränenfeuchten Augen und zuckenden Lippen auf den See, der ihr ganzes Lebensglück in seinen Wellen verschlungen. Zuweilen hörte sie auch auf die unstäten Schritte ihres Gatten, welcher in dem Zimmer des Oberstockes rastlos auf und abschritt.
Rastlos, ja – die Stunde war da, – die Stunde, in der er vor den Richter treten mußte, dessen Urteil er auf der Welt am meisten fürchtete. Die Stunde, in der er sein Urteil empfangen sollte, in der er alles abbüßen mußte, was er gesündigt und verbrochen. Aber merkwürdig, je näher diese Stunde rückte, die Stunde, vor der er gezittert, lange Jahre gezittert, als es nur eine geringere Schuld zu beichten gab, jetzt sehnte er sie herbei, die Sündenlast war zu schwer geworden, er konnte sie nicht mehr allein tragen. Ein unendliches Verlangen nach Buße und Sühnung überkam ihn. Nur dunkel wollte er es werden lassen, denn er fürchtete eins, Helenens Blick; nicht daß er vor seiner Strenge gezittert hätte, aber er fürchtete, wenn sie ihn anschauen würde, mit den Augen, die er so sehr liebte, dann würde ihm der Mut vergehen, alles zu sagen; und er wollte alles – alles beichten, wollte nichts verschweigen.
Die Abendschatten legten sich dunkel auf Gebirge und Wasser, als er hinabschritt und das fast finstere Zimmer betrat.
Noch immer blickte Helene gramverloren über die in der Dunkelheit leise glitzernden Wellen.
Als ihr Gatte eintrat, hob sie leise den Kopf. »Warum läßt Du mich allein, Benno, heute?« sagte sie klagend, »ich bin so unglücklich!«
»Weil ich Dich noch unglücklicher machen muß,« entgegnete er, »deshalb zögerte ich, zu kommen!«
Sie antwortete nicht, ihr Auge suchte die Dunkelheit zu durchdringen, um in seinen Zügen zu lesen. Was sollten diese Worte bedeuten? »Ich werde Licht bringen lassen!« sagte sie beklommen.
»Nein, laß!« antwortete er, »wenn ich Licht sehe, finde ich nicht den Mut, Dir meine Schuld zu beichten, es muß dunkel um mich sein, dunkel wie in meinem Innern!«
Er sank schwer aufs Knie, seinen Kopf in ihrem Schoß bettend. Sie faltete die Hände auf der Brust und blickte angstvoll vor sich hin.
»Helene,« fuhr er fort, »es war an einem Abend vor wenig kurzen Tagen an einem wunderschönen Abend, wir gingen zusammen durch die Fluren und sprachen von Welt und Schöpfung. Erinnerst Du Dich?« Sie schüttelte leise den Kopf.
Er spürte die Bewegung, wenn er sie auch nicht sehen konnte.
»Ach nein,« sagte er, »ich irre mich, es war nicht in den letzten Tagen, es sind schon Wochen her, es war noch vor meiner Krankheit, ehe ich nach Ilmenau – nach Prag reiste – gleichviel, wir sprachen über die Schönheit der Natur und ich sagte Dir, daß all der Glanz und die Pracht nur Sinnestäuschung sei, Schein und Lüge. Du aber sagtest, daß Deine Welt Dein Haus sei, Dein Kind, Dein Gatte und Dein Vater, und daß in dieser Welt kein Schein herrsche, sondern Licht und Klarheit. Helene, ich kann Dir den Schmerz nicht ersparen, Du warst von einem grausamen Irrtum befangen, als Du das sagtest: der Grund Deiner Welt war Lüge.
»Benno!« sagte Helene leise, »was ängstigst Du mich. Wenn etwas auf Deiner Seele lastet, sprich, brich das lange Schweigen, was Dich schon seit Jahren drückt. Du weißt, daß ich es bemerkt habe, daß etwas auf Deiner Seele lastet, und wenn ich nicht in Dich gedrungen, mir Dein Herz auszuschütten, war es nicht die Furcht, Mitwisserin von etwas zu werden, was vielleicht das Herz einer Frau erschreckt, sondern ein gewisser Stolz, der mir verbot, nach etwas zu forschen, was Du mir vorenthalten wolltest. Aber nun die Stunde gekommen, nun Du Dich entschlossen, zu sprechen, segne ich den Augenblick und den Umstand, der Dich veranlaßt, mich zu würdigen, die Hälfte Deiner großen Sorge zu tragen. Sprich, Benno; was es auch sei, ich werde versuchen, Dich zu verstehen!«
Er drückte krampfhaft ihre Hände, dann hob er den Kopf ein wenig und sagte: »Nenne mich nicht Benno, ich heiße nicht so!«
Als sie darauf schwieg, begann er stockend die Erzählung seines Zusammentreffens mit Wismar, ihre Verabredung, seine Reise nach Kassel, sein Schwanken, Wismars Verurteilung und wie es gekommen, daß er bis jetzt geblieben. Er hatte nichts verschwiegen, nichts beschönigt, mit klaren Worten hatte er seine Schuld eingestanden, aber freilich betont, daß er von dem Augenblick, da er sie gesehen, nicht mehr Herr seiner Handlungen gewesen sei. Hier habe die Liebe einen Strich durch den ganzen Schurkenplan gemacht, seine Liebe zu ihr – und was auch schlecht an ihm sei, dies Gefühl sei lauter und rein gewesen vom ersten Augenblick. Er schilderte weiter die Jahre, an ihrer Seite verlebt, beglückt durch ihre Liebe, aber in steter namenloser Angst vor Entdeckung und Verrat. Lange hatte er gesprochen und noch war er nicht zu Ende. Aber er fand nicht den Mut, fortzufahren, blieb doch noch das Schlimmste zu gestehen.
Mit stockendem Atem und hochklopfendem Herzen hatte Helene zugehört, und jetzt, als sie erfahren, wie schamlos sie durch den Mann betrogen worden war, der ihr bisher als ein Ideal aller Männlichkeit, aller Ehrenhaftigkeit und Rechtlichkeit erschienen war, da zuckte es wohl um ihre Lippen, krampfte sich wohl ihr Herz zusammen, aber kein Wort des Vorwurfs, kein Laut einer Klage kam über ihre Lippen. Sie hob seinen Kopf, der auf ihren Schoß gesunken war, leise empor und fragte mit stockender thränenzitternder Stimme: »Und was gedenkest Du nun zu thun?«
»Was ich schon längst hätte thun müssen,« gab er tonlos zurück, »ich muß Dich verlassen!«
»Verlassen!« wiederholte sie leise und in demselben Ton. »So hast Du mich nie geliebt!«
»Helene!« Hiller durchschauerte es bis ins tiefste Mark, die Liebe Helenens traf ihn härter als ihn ihr Zorn, ihre Verachtung hätte treffen können. Er hatte gewünscht, gefürchtet und gehofft, daß sie ihn von sich stoßen würde, und nun? Er schloß sie fest in seine Arme.
»Ich habe Dich geliebt, Helene!« rief er, »mehr als mein Leben! mehr als die Erde, das Licht der Sonne! so liebe ich Dich noch jetzt, so werde ich Dich lieben bis an das Ende meiner Tage! aber ich muß Dich verlassen, Helene, ich muß, ich muß!«
Helene war aufgestanden und hatte ihre Hand auf seinen Kopf gelegt.
»Du bist mein Gatte!« sagte sie mit leiser aber fester Stimme. »Du hast vor Gott und den Menschen geschworen, bei mir zu bleiben in Freud und Leid, bis daß der Tod uns beide scheidet! Was früher war, kümmert mich nicht, auch nicht Dein Name, Deine Heimat. Ich liebe nicht den Benno Wismar, der mir von meinem Vater bestimmt war, ich liebe Dich und ich habe mich überzeugt, daß Du diese Liebe verdienst. Du bist durch ein Verbrechen, einen Betrug zu all dem gelangt, was Du jetzt Dein eigen nennst, das ist freilich schlimm, es ist furchtbar! Aber seit jener Zeit sind sechs Jahre vergangen, sechs Jahre, die Du an meiner Seite verlebt hast, sechs Jahre, seit welcher Zeit ich alle Deine Handlungen, Deine Gedanken kenne, und wenn jemand durch Lauterkeit seiner Ansichten, Gerechtigkeitsgefühl und Edelmut eine schlechte Handlung sühnen kann, so hast Du gesühnt und ausgelöscht! Was kümmert mich Dein Name, ich liebe Dich und ich lasse Dich nicht!«
Hiller war aufgesprungen, leidenschaftlich schlang sie ihren Arm um seinen Nacken und klammerte sich fest an ihn.
»Helene!« schrie er auf und versuchte sanft sich loszumachen, »Deine Liebe trifft mich schärfer als Dein Haß es könnte! Wir müssen scheiden! frag' nicht weiter, es muß sein!«
»Es muß nicht sein!« erwiderte sie, »laß jenen Fremden kommen und seine Ansprüche erheben, laß Dich nach dem Landesgesetz strafen – aber der Eid, den Du mir geschworen, bleibt für ewige Zeiten! ich lasse Dich nicht, ich halte Dich fest zu Deinem, zu meinem Glück!«
Mit fliegendem Atem folgte er ihren Worten; als sie geendet, schlug er die Hände vors Gesicht.
»Helene!« sagte er mit leiser, zitternder Stimme, »höre mich zu Ende, ehe Du auf Deinem Willen beharrst, höre mich zu Ende, und Du wirst mich von Dir stoßen, wirst Dich schaudernd von mir abwenden! O wie glücklich, wie namenlos glücklich würde es mich machen, wenn ich Deine reine Liebe verdiente, wenn ich wert wäre, auch nur den Saum Deines Gewandes berühren zu dürfen, aber ich bin es nicht, ich bin so schlecht, so maßlos verworfen, daß nur etwas meine Schuld zu sühnen im stande ist, der Tod. Aber ich mag nicht in den Tod gehen als Lügner, ich will nicht durch Betrug und Täuschung mir das Mitleid, die Teilnahme des edelsten, reinsten Wesens erschwindeln, ich mag Dich nicht länger betrügen, ich will mein Recht! ich will meine Strafe! ich will, daß Du mich verachtest! ich will es, um mir einen letzten Rest von Achtung zu verdienen, den Dir vielleicht einst das Bewußtsein aufnötigt, einmal war er doch ehrlich, einmal, wenn auch zu spät für mich, war er doch wahr!«
Er stöhnte tief auf und die Thränen echter ungekünstelter Reue rannen über sein bleiches Antlitz. Helene war in den Sessel gesunken, in dem sie vorhin gesessen, und blickte ihn angstvoll und zitternd an.
»Helene,« fuhr er etwas ruhiger fort, »Du rühmtest vorhin mein Leben an Deiner Seite, meine Wahrheitsliebe, meinen Gerechtigkeitssinn in der Zeit unserer Ehe. Ja, ich habe mich streng bemüht, Recht zu thun und Unrecht zu meiden, ich habe versucht, wahr zu sein, und es ist mir auch zuweilen gelungen, meine Vorsätze auszuführen. Ich war in allen Dingen ein Ehrenmann, nur in dem einen nicht, ich dachte in allen Sachen ehrlich, und in der einen sann ich auf Mord! – Auf Mord!« stöhnte er, als er dem entsetzten Blick Helenens begegnete. »Nie! nie in der ganzen Zeit des Glückes hat mich der Gedanke verlassen, dieses Glück durch Blut zu befestigen. In den Nächten, in denen ich an Deiner Seite lag, habe ich darüber nachgedacht, wie ich einen Menschen töte und wie ich es einrichte, daß dieser Mord unentdeckt bleibt, ich der Ehrenmann, ich der Schuft ohne Treu und Glauben, ich der Mörder, der ins Zuchthaus gehört, denn ich habe den Gedanken zur That gemacht, ich habe gemordet! habe vorsätzlich mit ruhigem Blut mein Opfer in eine Falle gelockt und niedergestreckt. Ja noch mehr, nachdem jener Mann, mein Schuldgenosse bei dem Betruge an Deinem Glück, wie durch ein Wunder meiner Mörderhand entgangen, habe ich – nein! nein!« schrie er auf, »ich kann nicht weitersprechen, ich kann das nicht sagen, das Furchtbare, das Entsetzliche, ich kann es nicht!« Er sank in die Knie, einen Augenblick schien es, als wolle er sein Haupt in den Schoß seines Weibes betten, als er aber mit der Hand ihr Kleid streifte, zuckte er zusammen und kroch fort bis zu einem Stuhl, auf dessen Sitz er seinen Kopf lehnte.
Totenstille herrschte in dem dunklen Gemach, nur durch das leise Stöhnen Hillers unterbrochen. Endlich erhob er sich wieder. Ein Laut, der dem Winseln eines Hundes glich, entrang sich seiner Kehle, er streckte die Hände gegen sein Weib aus, dessen blasses Gesicht durch das Dunkel leuchtete, heiser und rauh fuhr er fort: »Ich muß dennoch zu Ende kommen, ich muß die Last von der Seele haben, ich darf Dir nichts verschweigen, darf nichts beschönigen. Helene, ich bin – ich habe ein zweites Mal versucht, diesen Mann zu töten – ich habe den Kahn angebohrt, auf dem er fahren sollte, und –«
Helene war mit einem jähen Ruck emporgefahren.
»Nein!« rief sie, »nein!« sie streckte wie beschwörend die Hände nach ihm aus.
»Dein Sohn! – Dein Vater!« stieß er hervor, »ich bin ihr Mörder.«
Helene hob die Arme zum Himmel. »Barmherzigkeit! Barmherzigkeit!« rief sie aus. »Gott! Gott, womit habe ich das verdient!«
Sie breitete die Arme aus und taumelte einen Schritt nach vorn, als er sie aber stützen wollte, schauderte sie vor seiner Berührung zurück und lehnte sich an die Kante des Tisches.
Dort stand sie zitternd, bebend, unfähig ein Wort hervorzubringen, bis ihr die Kräfte versagten und sie langsam zu Boden glitt.
Er wagte nicht, sich der Niedergesunkenen zu nähern, gesenkten Hauptes stand er in der Mitte des Zimmers.
Minute auf Minute verrann, kein Laut unterbrach die tiefe Stille.
Ein heller Schein drang plötzlich durch die unverhüllten Fenster, rasch nahm derselbe zu, das Zimmer mit einem unstäten flackernden Licht erhellend.
Helene fuhr auf – sie sah irr in dem Gemache umher – sie strich sich, wie aus einem Traum erwachend, mit der Hand über Stirn und Augen.
»Ist es Morgen?« fragte sie, wie aus dem Schlaf auffahrend.
Hiller schüttelte mit dem Kopfe.
Helene raffte sich auf.
»Ich glaubte, ich hätte geträumt!« sagte sie. »Gott ist nicht so barmherzig!« sie preßte beide Hände gegen die Stirn und blickte starr vor sich nieder.
Das rote Licht, welches das Zimmer erfüllte, nahm mehr und mehr zu, jetzt wurden Hilferufe laut, erst leise, dann gellend und angsterfüllt.
»Feuer!« sagte Hiller, ohne sich zu rühren.
Lauter und lauter wurde das Hilfegeschrei.
Jetzt hörte man Menschen an den Fenstern vorbeilaufen. In einem entfernten Dorf wurde die Sturmglocke gezogen.
»Es sind Menschen in Gefahr!« fuhr Helene auf, »geh! hilf!«
Hiller trat ans Fenster. »Ich wollte, dies Haus brenne und die Flammen schlügen über meinem Haupte zusammen!« murmelte er.
»Hilfe! Hilfe!« gellte es von vielen Stimmen laut und vernehmlich.
Helene richtete sich auf. »Komm,« rief sie, »es ist feige, im eigenen Leid andere in der Gefahr zu verlassen!«
Sie schritt hinaus, Hiller folgte ihr.
Ein neuerbautes Hotel in der Nähe des Landhauses stand in hellen Flammen, das Feuer hatte das leichtgebaute Gebäude schnell ergriffen.
Treppen und Gänge brannten bereits, die entsetzten Gäste, denen der Weg über die Treppe abgeschnitten war, riefen aus den Fenstern um Hilfe.
Wie ein Pfeil flog Hiller, durch die Worte Helenens angespornt, der Unglückstätte zu. Wenige Menschen erst waren zum Rettungswerk erschienen und die meisten eilten kopflos und unthätig von einer Stelle zur anderen.
Mit Hillers Ankunft änderte sich die Situation. Er traf sofort Anstalten zur Rettung der Gefährdeten. Zuerst ließ er Betten und Decken unter die Fenster legen, die der Gefahr am nächsten, er schickte nach Leitern, die im Landhaus lagen, und als diese kamen, war er selbst der Erste oben und trug Frauen und Kinder hinab. Jeder fügte sich willig seinen Anordnungen, und so gelang es ihm in verhältnismäßig kurzer Zeit, das Rettungswerk zu beenden. Als Letzter stieg er aus dem, jetzt ganz in Flammen stehenden Gebäude die brennende Leiter hinab, um unten erschöpft dem Nächstbesten in die Arme zu sinken. Sein Haar war versengt, seine Kleider brannten, aus einer Wunde an der Hand rieselte das Blut. So wurde er zu Helene geführt, die von fern stand und seiner Rettungsarbeit mit einem ganz eigenen Gesichtsausdruck folgte.
Er wagte nicht sie anzusehen oder das Wort an sie zu richten, unwillig wehrte er die Geretteten ab, die sich um ihn drängten und ihm für die Rettung ihres Lebens dankten, mit Recht dankten, denn sie wären vermutlich ohne sein rasches, thatkräftiges Handeln verloren gewesen.
»Sind alle gerettet?« fragte Helene leise.
»Alle!« wollte er eben antworten, da erschallten von neuem laute Hilferufe und ein Mann, mit bereits brennenden Kleidern, erschien an einem der Fenster des obersten Stockwerks.
Hiller sah hinauf. Sein Blut gefror zu Eis, er sah Helene an. »Wismar!« unhörbar zitterte der Name von seinen Lippen.
Helene hatte ihn verstanden, sie verstand auch seinen Blick, sie las in demselben: Es ist mein Feind, der da oben steht; wenn er umkommt, bin ich gerettet; wenn er nicht mehr ist, kann ich ein neues Leben beginnen an Deiner Seite – das Schicksal ist mit mir – sein Tod ist nicht meine Schuld, ich morde ihn nicht, wenn ich ihn nicht rette.
Klar, als habe er zu ihr gesprochen, las Helene den Gedanken in seinem raschen Blick. In ihren Augen sprühte es zornig auf und ihr Blick erwiderte: Ist das Deine Buße und Reue? Kaum daß eine bessere Regung in Deiner Seele Dich zum Bekenntnisse der Wahrheit veranlaßt, willst Du jetzt Vorteil aus dem Tode Deines Gegners ziehen? Auf! Hinauf, und rette den vom sichern Tode, den Du zweimal töten gewollt.
Nur eine kurze Sekunde hatte diese Augenzwiesprache gedauert.
Auch Hiller verstand sofort Helenens Blick.
»Bindet zwei Leitern zusammen!« rief er.
Man bestürmte ihn von allen Seiten, von dem Rettungswerk abzustehen, er gehe in den sicheren Tod.
Er weigerte sich, er legte selbst Hand an, die Leitern festzumachen und aufzurichten.
Man rief Wismar von allen Seiten zu, herabzuspringen, aber er fand den Mut nicht, den Sprung zu wagen, trotzdem er dem Feuertode verfallen war, wenn Hiller auch nur eine Minute versäumte.
Das sah dieser auch ein; so schnell als es seine Kräfte erlaubten, eilte er die Leiter hinauf. Zwei beherzte Männer folgten ihm, blieben aber auf halbem Wege stehen, da die Leiter bereits oben bis zur zehnten Sprosse herab in Flammen stand.
Mutig kletterte Hiller weiter, die brennenden Leitersprossen gaben unter seinen Füßen nach und brachen, er stieg höher und stand bald oben, neben dem Mann, um derentwillen er sein Leben gewagt, neben seinem Todfeind. Wismar starrte ihn entsetzt an.
»Was wollen Sie?« stammelte er, »wollen Sie mich töten?«
»Retten will ich Sie!« gab Hiller zurück. Dabei versuchte er, sich die Situation klar zu machen. Der Rückweg über die Leiter war unmöglich, das ausgetrocknete Holzgerät stand in hellen Flammen, es blieb nur ein Ausweg, Wismar, der nicht springen wollte, an dem mitgebrachten Seil herabzulassen. Er schlang deshalb das Ende des Strickes um Wismars Leib.
Dieser leistete keinen Widerstand. »Retten, retten!« wiederholte er mechanisch, »Sie mich – und um Sie desto sicherer in der Gewalt zu haben, bin ich gestern erst hierher in dieses Hotel gezogen; retten Sie mich? – wunderbar!«
Trotzdem Hiller merkte, daß die Gedanken Wismars sich zu verwirren begannen, antwortete er doch: »Ja, ich will Sie retten, danken Sie es einem Engel, danken Sie es meinem Weibe!«
Er gab ihm das Seil in die Hand, und da sich Wismar noch immer weigerte zu springen, stieß er ihn hinab.
Die Menge unten, die mit fieberhafter Aufregung dem Vorgang gefolgt, brach in lautes Beifallsgeschrei aus, als Wismar schnell und sicher zur Erde glitt. Hundert Arme streckten sich ihm entgegen, als er dem Erdboden nahe kam, und wie im Triumph trug man den ohnmächtig Gewordenen zum nahen Brunnen. Niemand achtete auf Hiller, der auf dem brennenden Balken stand und hinunterspähte. Er rief ein paar Worte hinab, aber nur Helene achtete auf sein Thun und diese stand zu entfernt, um seine Worte zu verstehen. In fliegender Hast eilte sie näher, laut um Hilfe für den Bedrängten rufend. Als aber die Menge sich endlich des Retters erinnerte und Hilfe herbeieilte, war dieser bereits herabgesprungen und lag bewußtlos neben dem brennenden Hause.
Schnell war nun wieder ihm die ganze Aufmerksamkeit zugewendet. Man hob ihn auf und hundert Hände streckten sich aus, ihn nach dem Landhause zu tragen, die übrigen folgten voll Teilnahme entblößten Hauptes dem traurigen Zuge.
Hiller hatte furchtbare Brandwunden davongetragen, außerdem klafften zwei tiefe Wunden an der Stirn und der Hand.
Man trug ihn in sein Zimmer im Oberstock der Villa. Dort legte ein Arzt den ersten Verband an. Seit man ihn aufgehoben, war er nicht mehr zur Besinnung gekommen. Helene saß wachend an seinem Lager und horchte auf seine unruhigen Atemzüge. Der Arzt hatte auf ihre Frage, ob er wohl nochmals zur Besinnung kommen werde, ein recht ernstes Gesicht gemacht und war mit den Worten »Hoffen wir das beste,« gegangen. – Nun saß sie wieder allein bei ihm, wie erst vor kurzem so manche lange Nacht, aber sie hatte die Hand nicht auf seine Stirn gelegt wie einst, – sie blickte ihn auch nicht mehr mit jenem Ausdruck überschwenglicher Zärtlichkeit an, wie ehedem, ihre Augen ruhten auf dem Kranken mit dem Ausdruck banger Sorge, mit dem Ausdruck, mit dem eine Mutter auf den verlorenen Sohn blickt, der ihr krank und siech ins Haus getragen wird.
Trotz der furchtbaren Schmerzen, die Hiller zu erdulden haben mußte, war sein Schlaf ruhig, nur sein Atem ging stoßweise und unregelmäßig.
»O Gott, noch einmal laß ihn erwachen, noch einmal, daß ich ihm sagen kann, daß ich ihm verziehen!« betete Helene. Ihr Gebet wurde erhört – es war gegen neun, als der Kranke die Augen aufschlug. Er wollte sich aufrichten, aber sank sofort wieder mit einem dumpfen Wehschrei in die Kissen zurück.
»Leidest Du?« fragte Helene, seine Hand ergreifend.
Er nickte, dann hob er den Kopf und sagte: »Ich war bei einem Feuer – gelt?«
»Ja!« antwortete Helene.
»Und habe ihn – den, Du weißt schon wen, gerettet – nicht?«
»Du hast viele gerettet,« antwortete Helene sanft, »auch ihn – den Du meinst.«
»Muß ich jetzt sterben?« fragte er nach einer Pause matt.
»Wie Gott will!« sagte Helene leise und wandte den Kopf ab.
Er seufzte nicht mehr, er tastete nach ihrer Hand und nahm sie zwischen seine fiebernden Finger.
»Das ist gut so!« sagte er. »Ich sterbe gern, denn dem Sterbenden vergiebt man eher. – Helene, glaubst Du dem Sterbenden vergeben zu können?«
Helene sank laut aufschluchzend neben dem Bett in die Knie.
»Ich hätte auch dem Lebenden verziehen!« sagte sie weinend.
»Helene – Helene« – er versuchte sich aufzurichten, sank aber wieder mit einem Schmerzensschrei zurück.
»Helene, Du kannst mir vergeben?!« murmelte er. »Gott segne Dich! Gott gebe Dir Kraft, diese Verzeihung auch ernst zu meinen und zu halten. O Helene, ich bin sehr glücklich!«
»Benno! Benno!« schluchzte Helene auf.
»Nenne mich nicht Benno!« sagte er, »dieser Name gebührt mir nicht, er erinnert mich an meine Schlechtigkeit, er mahnt mich, daß ich Deine Güte, Deine Liebe, Deine Verzeihung nicht verdiene!« Er machte eine Pause und sank erschöpft zurück. Dann nach einer Weile sagte er: »Wenn ich nicht verdiene, daß Du mir vergiebst, dann will ich Deiner Verzeihung nur umso froher sein, denn dann verdanke ich alles, was mein Leben an Glück kannte, Dir, nur Dir allein!«
Er richtete sich plötzlich auf. »Ich sterbe!« sagte er. »Helene, Gott segne Dich, ich danke Dir für Deine Treue! Deine Liebe! für das Glück, daß Du mir gewährst, Dich bis zu diesem Augenblick lieben zu dürfen.« – Dann sank er zurück und war tot.
Helene drückte ihm die Augen zu, dann saß sie mit gefalteten Händen vor dem Lager des Toten und blickte unverwandt in das kalte, stille Totenantlitz, während Thräne auf Thräne langsam über ihre bleichen, harmverzehrten Wangen rollte.
»Gott hat es in seiner Gnade erlaubt, daß ich ihm vergeben durfte,« stammelte sie mit zuckenden Lippen, dann sank sie neben dem Lager in die Knie, die Stirn auf die Hand des Toten geneigt.
In dieser Stellung wurde sie nach einigen Stunden noch gesehen. Von den Dienstleuten wagte es keiner, sie zu stören, und erst der Arzt, den man herbeigerufen, betrat das Zimmer, in dem der Tote ruhte.
Es war derselbe Arzt, der Hiller am Morgen den Verband angelegt. Teilnehmend blickte er auf das Antlitz des Verstorbenen und nickte leise, als wollte er sagen, »ich hab's ja gewußt.« Dann trat er an Helene heran und sagte leise: »Wer so stirbt, wie Ihr Herr Gemahl, den dürfen wir nicht beklagen, den müssen wir beneiden, wir Männer. Gegen die That Ihres Gatten erbleicht die tapferste Heldenthat des Soldaten im Kriege! Freilich ist Ihr Verlust unersetzlich und Ihr Schmerz nur zu natürlich – dennoch – meine Pflicht als Arzt gebietet mir, Sie zu erinnern, an sich selbst zu denken –« Er machte eine Pause, als wollte er die Wirkung seiner Worte abwarten. Helene rührte sich nicht.
Der Arzt trat einen Schritt näher. »Gnädige Frau,« sagte er, »ich bitte Sie im Namen des Toten, gönnen Sie sich ein wenig Ruhe, es gilt, Kraft zu sammeln für viele schmerzliche Tage!« Er beugte sich nieder und versuchte, die Kniende aufzurichten. Sie gab noch immer keine Antwort, aber sie leistete keinen Widerstand; willig erhob sie sich.
Der Arzt wollte noch mehr Worte des Trostes an sie richten; als sie ihm aber ihr Antlitz zuwendete, verstummte er und fuhr entsetzt zurück – er blickte in das Auge einer Irren. Aber nur einen Augenblick dauerte der Ausdruck des Schreckens und Entsetzens, der seine Gesichtszüge versteinerte; bald spielte ein wehmütig zufriedener Zug um seinen Mund, und leise flüsterten seine Lippen: »Gott hat Barmherzigkeit geübt; wie hätte sie's auch tragen sollen, die Arme!«
Sanft führte er sie aus dem Zimmer, die Treppe hinab. Willenlos folgte sie ihrem Führer.
Als beide die halbe Treppe hinabgestiegen waren, öffnete sich plötzlich die Hausthür, und Wismar erschien auf der Schwelle. Er kam, sich nach dem Befinden Hillers zu erkundigen, er kam versöhnlichen Geistes; das Bewußtsein, Hiller sein Leben zu verdanken, hatte alle Rachepläne in seiner Brust erstickt und seine besseren Gefühle Oberhand gewinnen lassen; er kam, Hiller die Hand zum Frieden zu bieten, ihm zu sagen, daß er auf seinen Vorschlag, alles beim alten zu belassen, eingehe.
Er kam zu spät. Als Helene ihn erblickte, zog etwas wie ein sonniges Lächeln über ihr Gesicht; dann aber wendete sie den Kopf weg und schauderte zusammen.
Wismar wendete sich an den Arzt.
»Wie geht es dem Kranken?« sagte er, das Aussprechen eines Namens vermeidend.
»Herr Wismar ist tot,« antwortete der Arzt.
»Tot?« wiederholte Wismar schaudernd, »tot!«
In diesem Augenblick richtete Helene ihr Auge wieder auf ihn, und in dem Blick, mit dem sie ihn ansah, lag ein solcher Ausdruck des stummen Vorwurfs, der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, daß Wismar bebend zurücktaumelte, und von den Furien des bösen Gewissens gejagt, floh er entsetzt davon. Niemand hat je wieder von ihm gehört.
Die sterblichen Ueberreste Hillers wurden unter dem Andrang einer vieltausendköpfigen Menge feierlich bestattet. Nicht genug Worte des Lobes konnte der Priester finden, den Verstorbenen zu feiern, der sein Leben hingegeben, um das anderer zu retten. Nah und fern läuteten die Glocken, ihn zu ehren; die Spitzen der Behörden folgten als Leidtragende dem Zuge, der Sarg verschwand unter Kränzen, Blumen und Schleifen. Wer ahnte unter den Tausenden, die sich um die Gruft drängten, wohl, daß hier ein Sünder zur Erde bestattet wurde, kaum wert des ungesegneten Grabes an der Kirchhofsecke.
Helene stand nicht am Sarge ihres Gatten. Sie war noch am Todestage desselben auf dringendes Anraten des Arztes in eine entfernte Irrenanstalt gebracht worden.
Etwa ein Jahr später besuchte der Senior der Familie Wismar, Karl Theodor Wismar, Europa. Sein erster Weg war der zu seines Bruders Grab am Vierwaldstättersee. Ein hoher Felsblock deckte das Grab des Dahingegangenen.
»Benno Wismar« stand mit großen goldenen Buchstaben auf der Stirnseite des mächtigen Granitblocks, und darunter: »Der Herr hat Großes an uns gethan, des sind wir fröhlich.«
Der Amerikaner betrachtete lange das stille Grab, und als ob er ahnte, welch große Lüge der mächtige Stein bedecke, flüsterte er: »Wer hätte dem Toten wohl den Mut und die Kraft zu einer solchen That zugetraut? Verzeihe mir, mein Bruder, ich that Dir unrecht, wenn ich Dich für feig und schlecht hielt!«
Auch die Witwe des Verstorbenen suchte er auf. Er fand sie blühend und voll heiterer Laune, scheinbar so geistig klar, daß er nicht umhin konnte, des Vergangenen zu erwähnen und den Versuch zu machen, tröstende Worte zu ihr zu sprechen, aber sie hörte nicht auf ihn. Sein Name rief keinen Schimmer einer Erinnerung, eines Erkennens auf ihrem Gesicht hervor. Lachend griff sie nach dem Rosenstrauß, den er ihr mitgebracht hatte; sie steckte eine Blume ins Haar und lief lachend davon.
»Wird sie immer so bleiben?« fragte der Amerikaner den alten Arzt, als er sich verabschiedete.
»Keineswegs,« entgegnete der würdige Gelehrte, »ich bin fest überzeugt, daß sie völlig gesund wird. Nur etwas freilich wird sie nie wiedererlangen, die Erinnerung an die Zeit, während welcher sie verheiratet war. Die so kurz aufeinanderfolgenden harten Schicksalsschläge haben dies verschuldet.«
Der Fremde blickte nachdenklich vor sich nieder. »Kommt ein solcher Fall häufig vor?« fragte er dann.
»Sehr selten!« entgegnete der Psychiater, »sehr selten, aber ich glaube bestimmt, daß hier ein solcher Fall vorliegt, alle Zeichen sprechen dafür.«
»Und halten Sie es für ein Glück oder Unglück?«
»Für ein Glück,« entgegnete der alte Gelehrte ernst, »für eine Gnade Gottes; denn nach allem, was jene arme Frau erlebt, würde die Vergangenheit mit ihren Schrecken ewig auf ihrer Seele lasten. So aber wird sie aus der geistigen Nacht zu einem neuen Leben erwachen, kann sie und wird sie glücklich werden.«
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