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Ludwig Nöttle war Unterbeamter bei der Hypotheken- und Wechselbank. Er wohnte im dritten Stockwerke eines jener großen Häuser, die, hinter dem Maximilianeum beginnend, in breiter Straßenzeile sich gegen den Ostbahnhof ziehen und der ehemals so dörflichen Vorstadt Haidhausen ein großstädtisches Ansehen geben, dabei aber dem kleinen Beamten billigere Miete gewähren, als die eigentlich städtischen Bezirke. Das Haus sah so neu und blank aus, daß man noch den Oelgeruch zu riechen glaubte und die Treppenwände darauf anzusehen versucht war, ob sie schon fertig getüncht seien. Hell und sonnig war das Treppenhaus, seine Fenster gewährten eine weite Aussicht nach den Isaranlagen und über den Fluß nach den Türmen der Theatinerkirche und von St. Ludwig, sowie nach den weithin sich dehnenden Baummassen des englischen Gartens. Als Karoline die Klingel zog, öffnete ihr Frau Nöttle selbst, denn die bescheidenen Verhältnisse des Ehepaares gestatteten nur eine zeitweilig kommende Scheuerfrau, keine ständige Magd. Die zarte, schlanke Frau mit dem länglich geschnittenen brünetten Gesicht, den schönen braunen Augen und dem schwarzen Haare bildete einen lauten Gegensatz zu Karoline, der stattlichen Blondine. In ihrem Wesen lag etwas Empfindsames, eine sanfte Bescheidenheit, gepaart mit der Lebenslust der Jugend und dem ehelichen Glückesbewußtsein. Wie sie dastand mit vom Herdfeuer geröteten Wangen, die Hände erst an der weißen Schürze säubernd, ehe sie Karoline freundlich willkommen hieß, war sie ein gar liebliches Geschöpf, dessen sich ein Gatte wohl erfreuen konnte.
»Endlich«, sagte sie, »läßt Du Dich wieder einmal sehen! Warst schon eine Ewigkeit nicht hier!«
Dabei gab sie der Besuchenden einen gar herzhaften Kuß.
»Wie geht's zu Hause? Was macht die Mama?« so fragte sie weiter, Karoline nach einer großen Flügelthür geleitend, die sie öffnete.
»Mache Dir's einstweilen bequem!« sagte sie dann. »Ich muß nur noch nach dem Herde sehen. Bin im Augenblicke bei Dir!«
Das Zimmer, das Karoline betrat, war sauber eingerichtet mit einem grünen Ripssofa und zwei gleichartigen Fauteuils vor dem mit buntblumiger Decke verzierten Tisch, welchen ein Photographiealbum und Nippsachen billigerer Art schmückten. Eine Petroleumlampe von imitierter Bronze thronte einsam auf der Höhe eines Mahagonischränkchens. Ein größerer Schrank von gleicher Art und ein schwarzes Pianino, welches den Kopf Beethovens in Medaillonform trug, vollendeten die Einrichtung. Dazu gesellten sich an den Wänden größere Photographien der Verwandtschaft, zwei Öldruckbilder nach Defregger und zwei auf Konsölchen stehende Alabastervasen. Ein hübscher, aber nicht sehr großer Teppich lag unter dem Tische, auf dem Sofa hing neben weißen Filetdeckchen in der Mitte und an den Enden eine mit Perlen gestickte grüne Schlummerrolle. Schlohweiße Gardinen umrahmten die beiden Fenster. Kein Stäubchen war zu sehen, und nagelneu, wie das ganze Haus, schien auch die Einrichtung zu sein. Der Raum war nicht sehr hoch, hatte aber breite Wände, und so schien die Stube etwas kahl, weil die vorhandenen Gegenstände zu spärlich waren, auch sah man deutlich, daß der belebende Hauch der Benutzung fehlte, die Nüchternheit des Unbewohnten ruhte auf dem Ganzen. Das Haus hatte kein Gegenüber, sondern man blickte auf einen großen, halb sandigen, halb begrasten Platz, von dessen anderm Ende die Häuser weit entfernt herüber sahen. Die der Mittagszeit zugehende Sonne hatte freien Eintritt, und an den Fenstern blendende Spiegelungen bildend, bestrahlte sie das Zimmer bis in den letzten Winkel. Diese grelle Beleuchtung und der weite, aber nicht eben schöne Ausblick steigerten noch den erkältenden Eindruck.
Karoline überkam es wie Verlassenheit, nichts lud sie traulich schmeichelnd ein, nirgend bot sich ihrem Auge ein sanfter Halbschatten, der beruhigend gewirkt hätte. Das grelle Sonnenlicht that ihr weh, sie fühlte sich, wie in einem durchsichtigen Glashause, unberufenen Blicken ausgestellt, und um ihre sichere Stellung war es wiederum geschehen. In dieser nüchternen Helle und unwohnlichen Sauberkeit, das fühlte sie, würde sie nicht das rechte Wort finden, hier verriet sich das geringste Erröten, und selbst ein Flüsterwort schien noch zu laut. Frau Nöttle kam nicht sogleich. Ohne das Mißbehagen zu verlieren, lenkte Karoline doch ihre Gedanken bald nach anderer Richtung. Die sie umgebenden Gegenstände prägten sich allmählich fester in die sinnliche Anschauung, und die Betrachtung ging ohne besondere Regung der Neugier von selbst aus dem Allgemeinen ins Einzelne. Da gewannen die Dinge andere Gestalt. Sie waren Eigentum einer jungen Frau, die sich dessen freuen konnte, daß nicht ein selbstsüchtiges, kaltes »Ich«, sondern ein trauliche Gemeinschaft kündendes »Wir« dem Besitze zu Grunde lag. Karoline ahnte die Seligkeit solchen Frauenbesitzes, die Wonne der Herrschaft von Liebes Gnaden, und Bertrams Gestalt trat vor ihren Geist, Sehnsucht weckend, fragwürdig. Ihr wurde bange, das Weinen kam ihr in die Kehle. Da trat Frau Nöttle ein.
»Du entschuldigst!« sagte sie. »Aber ich muß heute das Essen schon auf halb zwölf Uhr richten, weil mein Mann mit der Bahn nach Rosenheim fährt. Er hat dort für die Bank was zu besorgen, eine sehr wichtige Sache, die man nur einem tüchtigen Beamten anvertrauen kann. Es ist ein ehrenvoller Auftrag, der ihm viele Freude macht, und ich bin froh, wenn er einmal hinauskommt in andere Luft, obwohl es die erste Nacht ist, die er außer Hause zubringt. Wüßt' ich nicht, daß Deine Mutter Deiner bedarf, ich hätte Dich gebeten, bei mir zu schlafen.«
»'s ist freilich nicht dasselbe!« setzte sie mutwillig und doch dabei errötend hinzu. »Aber mir ist ein bißchen bange allein in der Wohnung.«
Karoline war noch nicht im stande gewesen, das rasche, geschäftige Geplauder der jungen Frau zu unterbrechen, als diese fortfuhr:
»Hier scheint die Sonne so arg! Wenn's Dir recht ist, wollen wir ins Wohnstübchen hinübergehen. Dort läßt sich gemütlicher schwatzen!«
»Sehr gerne!« erwiderte Karoline jetzt. »Aber ich störe Dich doch nicht?«
»Nicht im geringsten! Das Essen ist soweit fertig und anbrennen kann nichts«, lautete die Antwort der Frau Nöttle. Ihren Arm in den der Freundin legend, sagte sie dann, eigentümlich lächelnd, mit glänzenden Augen:
»Ich muß Dir etwas sagen!«
Karoline ahnte den Gegenstand solcher Vertraulichkeit, und um so weniger fand sie den Mut, ihr eigenes Anliegen einzuleiten. Die Wohnstube, ein kleiner, schmaler Raum, von einem Ledersofa, einem Tische mit vier Rohrstühlen darum, einem Schränkchen und einem Nähtischchen voll besetzt, an den Fenstern mit einer Jutegardine versehen und an der Wand, außer einem ovalen Spiegel in Mahagonirahmen, nur einige Gipsfiguren von der Art, wie sie die Italiener auf der Straße feilhalten, als Schmuck aufweisend, zeigte sich viel behaglicher, weil allerlei, was trotz der großen Ordnung herumlag, und kleine Spuren der Abnutzung den Beweis des Bewohntseins boten. Frau Nöttle schob den Tisch etwas zurück und zog dann Karoline auf das Sofa. Sich selbst darauf niederlassend, umschlang sie den Hals der Freundin und raunte ihr halblaut ins Ohr:
»Ich bin in der Hoffnung!«
»Ich gratuliere Dir!« antwortete Karoline, der Freundin die Hand drückend.
»Seit acht Tagen wissen wir es ganz gewiß!« fuhr diese mit glückstrahlender Miene fort. »Ach, Karoline!« sagte sie dann, die beiden Hände derselben fassend. »Du bist ein so schönes Mädchen, viel schöner als ich! Aber Du kommst zu wenig unter die Leute, sonst wärst Du schon längst verheiratet!«
Jetzt war der Augenblick gekommen. Karoline raffte sich zusammen und legte auch die Lippen in ein vieldeutiges Lächeln, das eine Frage herausforderte. Frau Nöttle aber bemerkte diese absichtsvolle Miene nicht.
»Ich kann es Dir nicht schildern, wie mir zu Mute ist!« sagte sie mit innigstem Herzenstone. »Es ist nicht bloß Freude, kindische Freude. O nein! Was so wunderbar Schönes, was ganz Heiliges ist über mich gekommen, schon als ich zum erstenmal auf den Gedanken kam, es könnte soweit sein, und jetzt, wo ich den ganzen Tag darüber nachdenke, bin ich ein völlig anderes Geschöpf geworden, als ich noch vor zehn oder vierzehn Tagen war. Es ist ja was Herrliches um die Gattenliebe, aber es steckt doch immer selbstsüchtige Eitelkeit darin und mehr davon, als die Männer ahnen. Ich fühlte es so, und alle aufrichtigen Frauen werden es wohl ebenso fühlen. Wenn ich meinen Ludwig noch so sehr zu lieben meine, im Augenblicke des höchsten Glücks sogar kam, ohne daß ich wollte, der eitle Gedanke: »Wie mußt Du ihm gefallen, wie schön mußt Du ihm scheinen, da er so überglücklich sich gebärdet!« Jetzt aber ist all diese Eitelkeit weg, jetzt denke ich gar nicht mehr an Gefallen und Nichtgefallen, sondern nur daran, daß ich ihm ein Kleinod zu bewahren habe, und jetzt erst begreife ich das Wort: »Er soll Dein Herr sein!« Ich fühle mich jetzt als seine Dienerin, die Wächterin und Verwalterin seines Familiengutes. Kinderlose Eheleute, das kommt mir jetzt vor, wie etwas recht Unschönes, Beschäm … Ich schwatze da zu Dir, dem Mädchen, von Dingen, die Dich langweilen, weil Du nicht mitfühlen kannst. Verzeih'! Aber ich habe in meiner Bekanntschaft gar niemand, mit dem ich mich aussprechen kann. Junge Frauen, wie ich bin, kenne ich nicht, die anderen aber, die schon ein Kind haben, thun so altklug, wie in der Schule die Mädchen von der höheren Klasse gegen die der unteren.«
Karoline hatte erst mit nervöser Unruhe, den warmherzigen Äußerungen zugehört und nach einem Faden, das eigene Wort daran zu knüpfen, gesucht. Als diese aber mit einer wahrhaft andächtigen Miene so innig von ihrer den neuen körperlichen Zustand begleitenden seelischen Empfindung sprach, da wurde es ihr zu Mute, als wäre die Enthüllung ihres Geheimnisses in diesem Augenblicke eine Entweihung, die Beschmutzung einer reinen Stätte, als müßte die Freundin Abscheu vor ihr bekommen. Schmerzlich drückte sie der Gegensatz zwischen ihr, der leichtfertigen Sünderin, und dem von seinem beginnenden Mutterberufe fromm begeisterten Frauchen. So wußte sie nicht, was sie sagen sollte, als letztere die Rede abbrach. Tonlos sprach sie:
»Es freut mich, daß Du so glücklich bist!«
»Ach, da habe ich einen köstlichen Gedanken!« rief jetzt Frau Nöttle. »Wenn es ein Mädchen wird – erste Kinder werden ja meistens Mädchen, und auf das Seltene darf man nicht rechnen, – dann mußt Du Patin sein! Willst Du?«
»Sehr gerne!« antwortete Karoline und gab jetzt ihre Absicht völlig auf, denn diese ehrenvolle Einladung mit einem beschämenden Geständnisse zu beantworten, erschien ihr unmöglich.
Da hörte man das Geräusch eines Schlüssels und das Gehen der Hausthür.
»Um Gottes willen, das ist schon mein Mann, und ich habe noch gar nicht den Tisch gedeckt!« rief Frau Nöttle aufspringend.
Sie war eben an die Stubenthür gelangt, als ihr Gatte eintrat, eine schmächtige, mittelgroße Gestalt, in guter, aber locker sitzender Kleidung, das nicht gerade häßliche, etwas blasse Gesicht von einem durchsichtigen, flaumig blonden Vollbart umrahmt, die braunen Haare kurz geschoren, neben der graziösen Anmut der Gattin, die an ihn heransprang und seinen Hals umschlang, eine recht nüchterne Erscheinung. Karoline, die sich erhoben hatte, dachte im selben Augenblicke an Bertram, der doch ein ganz anderer Mann war, und empfand trotz ihrer peinlichen Stimmung etwas wie Befriedigung.
»Thut nichts, mein Schatz!« erwiderte Herr Nöttle auf die Entschuldigungen seiner Frau, daß der Tisch noch nicht gerichtet sei. »Es ist noch früh an der Zeit. Ich bin eher als nötig vom Bureau gegangen.«
Dann begrüßte er Karoline mit freundlichem Händedrucke, forderte sie auf, Platz zu behalten, und setzte sich neben sie auf einen Stuhl, während die junge Frau das Schränkchen öffnete und demselben das Tischzeug entnahm.
»Vor einiger Zeit erzählte mir meine Frau, Sie hätten in Ihrer Wohnung lästige Nachbarschaft bekommen? Sind Sie dieselbe los geworden?« fragte er.
»Die Dame wohnt noch da!« erwiderte Karoline.
»So! Wir da draußen sind einstweilen noch von solchem Gelichter verschont. Wird vielleicht auch bald anders werden«, versetzte er.
»Das wollen wir doch nicht hoffen!« mischte sich die junge Frau, das Linnen über den Tisch breitend, ein.
»Was ist da zu hoffen oder nicht zu hoffen!« fuhr ihr Gatte fort. »Haidhausen wird immer das Viertel des bescheidenen Mittelstandes sein und an Bevölkerung rasch zunehmen. Dann nistet sich auch bald solches Volk ein. Die vornehmen Quartiere wissen sich derartiger Gäste zu entledigen, in die schlechten Viertel ziehen sie aber deshalb doch nicht. Der Mittelstand, die ehrbar sich durch das Leben sorgende Klasse, hat das Vergnügen, sich von solcher Berührung vergiften lassen zu dürfen.
»Vergiften!« fragte die junge Frau erstaunt. »Kann man nicht hindern, daß diese Leute unter uns wohnen, so kann man doch die persönliche Berührung vermeiden. Wer mit einer solchen Person umgeht, daran ist ohnehin nicht mehr viel zu vergiften.«
»So meinst Du's!« lautete die Entgegnung. »Aber die jungen Mädchen, die im elterlichen Hause die bescheidenste Beschränkung und die strengste Zucht sehen, die jüngeren Frauen sogar, die sich in ihren Liebhabereien Zwang anthun müssen, sie sehen ein solches Dingelchen fein, vornehm, von gemeinen Seelen gar noch recht aufmerksam behandelt, weil ihm das Portemonnaie leicht in der Tasche sitzt, immer heiter, immer mit nichts anderem beschäftigt, als mit dem Vergnügen. Das wirkt ansteckend, und verführt es auch nicht gleich zum Schlimmsten, erzürnen sich doch die braven Frauen darüber, daß der Ehrliche entbehrt und die Sünde jeden Wunsch erfüllt sieht. Dieser Zorn aber erzeugt die Unzufriedenheit, die Begehrlichkeit und führt von da zu allerlei mehr oder minder schlimmen Dingen. Man verabscheut die Person, ließe sich aber gerne ihre elegante Toilette, ihr vergnügtes Leben gefallen. Manches junge Mädchen aber, das zu Hause entbehren mußte, ist nur durch die Beobachtung solcher Wesen aus der Ferne zu gefährlichen Betrachtungen und von da auf Abwege gekommen.«
»Du staunst, Karoline, nicht wahr«, sagte jetzt Frau Nöttle, der das Gespräch langweilig zu werden begann, »was für strenge Sittenpredigten mein Männchen halten kann? Gerade, als ob wir beide es brauchten!«
Karoline zwang sich zu einem flüchtigen Lächeln. Herr Nöttle klopfte seinem Frauchen, das eben Besteck und die in einem hölzernen Ringe befindliche Serviette vor ihn hinlegte, auf den Rücken und sagte:
»Du, kleiner Mutwille, siehst freilich alles von der lustigen Seite an und thust auch gut daran, vorläufig Dir nicht über ernste Lebensfragen den Kopf zu zerbrechen. Es wird auch an Dich noch früh genug kommen. Aber Sie, Fräulein Karoline, sind, wie mir scheint, etwas ernster veranlagt als mein Hanswurst da. Geben Sie mir nicht recht?«
»Gewiß! Gewiß!« erwiderte diese in peinlicher Unruhe.
Frau Nöttle bemerkte ihr Unbehagen und sagte:
»Aber, Ludwig, laß das doch jetzt! Das ist doch kein Gespräch für ein junges Mädchen!«
Herr Nöttle wurde etwas verlegen und sah seine Gattin erst fragend an. Dann meinte er:
»Ich bitte um Entschuldigung, Fräulein Karoline, wenn meine Worte Ihnen unangenehm gewesen sein sollten, aber Sie haben mich gewiß richtig verstanden. Gerade in unseren Kreisen wird man auf solche Beobachtungen hingedrängt, denn sie sind es leider Gottes, in denen die großstädtische Versuchung ihre meisten Opfer findet.«
»Ach was Opfer! Ich bin doch auch keine Prinzessin gewesen, und Du warst auch nicht der Erste, dem ich gefiel. Hat mir mancher schöne Dinge gesagt und den Hof gemacht. Wer sich nicht gerne opfert, wird kein Opfer. Nicht wahr, Karoline? Ich muß jetzt das Bier holen –«
Karoline erhob sich.
»Deshalb laß Dich nicht stören!« fuhr die junge Frau fort. Ich bin gleich wieder hier. Soll ich Dir ein Gläschen mitholen?«
»Nein, nein, ich danke sehr! Auch für mich wird es Zeit, zum Mittagessen nach Hause zu gehen!« entgegnete Karoline lebhaft.
»Dann laß Dich bald wieder sehen!« sagte Frau Nöttle, und zu ihrem Gatten, der sich höflich von Karoline verabschiedete, wandte sie sich mit den neckenden Worten:
»Ich bin gleich wieder hier! Zerbrich Dir indessen den Kopf nicht über die Gefahren, die meiner Tugend drohen. Auch für Karoline braucht Dir nicht bange zu sein, daß sie heil nach der Klenzestraße kommt, Du Tugendwächter, Du!«
Lustig lachend sprang sie mit einer koketten Bewegung gegen den unbeholfen lächelnden Gatten der Thür zu, die sie Karoline öffnete.
Die beiden Damen, Frau Nöttle im schlichten Hauskleide und ohne Kopfbedeckung, den gläsernen Bierkrug in der Hand, gingen zusammen die Treppe hinab. Auf der Straße trennten sie sich. Karoline versprach zwar bald wiederzukommen, allein, weiter schreitend, war sie sich bewußt, daß es anders geschehen würde. Sie war hergegangen, vertraulichen Rat zu finden, und hatte statt dessen nur die Überzeugung gewonnen, daß diese arglos scherzende, dem Leben in voller Herzenseinfalt gegenüberstehende Frau und ihr ernsthaft sich ereifernder Mann von ihr nunmehr geistig geschieden waren. Jedes Wort, das da gesprochen wurde, war ein verwundender Pfeil, sie war die Angeklagte vor ihres Amtes sich gar nicht bewußten Richtern und erkannte nur zu gut, was ihr geworden wäre, hätte sie ihre Schuld geoffenbaret. Der Mann, der sich rein theoretisch so sittenstreng ereifern konnte, hätte seiner Frau nimmermehr die Freundschaft mit einer Gefallenen gestattet. Diese selbst aber hätte auch solche Freundschaft mit der Miene gutherzigen Mitleides von sich geschoben. Wiederum hatte Karoline ein Zeichen, daß seit gestern eine neue Welt für sie entstanden war. Schreckhaft, herzbrechend, aber mit der ganzen Macht der Wahrheit trat es vor sie hin, daß sie nichts mehr gemein hatte mit der ehrlichen Welt. Freilich, viele, unendlich viele, die ihre Lage teilten, mochten diese Gemeinschaft aufrecht erhalten, ihren Fehltritt verbergend und unverletzte Ehrbarkeit heuchelnd. Sollte sie ein Gleiches thun und mit dreister Maske sich panzern gegen die Pfeile, welche, wie heute, so noch öfter von ahnungslosen Schützen gegen ihr Gewissen gerichtet würden? Sie fühlte es setzt schon, daß sie es nicht über sich bringen könne, die Freundschaft braver Menschen zu stehlen, immer zitternd vor einer zufälligen Entdeckung, welche die Schmach verdoppeln würde. Es blieb der Heuchelei genug vor anderen, ferner stehenden Leuten; von der Freundin, die ihre Freundin nicht mehr war, sobald sie die Wahrheit kannte, sich freiwillig zurückzuziehen, schien ihr ehrenhafter, beruhigte ihr Gewissen. Aber was weiter? Wieder stieg das unzüchtige Bild der Courtisane vor ihrem Geiste auf. Wenn sie sich selber aus dem Kreise der Ehrlichen verbannte, wurde sie nicht eben das, wogegen sie sich erst mit dem ganzen Aufgebote des Verstandes gesträubt hatte, eine Genossin jenes Geschöpfes? Da sieht sie alle diese auf und nieder wogenden Empfindungen und zweifelnden Gedanken verdrängt von der einen, mächtigen Frage: »Was soll mit Bertram werden?« und in greller Nacktheit, mit rücksichtsloser Kraft brach aus der Falte des Herzens, in der er längst verborgen gelauert, der Gedanke hervor: »Weniger als je kannst Du von ihm lassen, Neigungen und Hoffnungen, die Dich zum Falle gebracht, mit einem Male von Dir schütteln, das Geschehene als das Abenteuer einer Nacht betrachtend, den Weg zurückgewinnen zur Vergangenheit. Du bist befleckt und mußt es bleiben! Wirst dies Gefühl nicht los, magst Du fernerhin so keusch wie eine Nonne leben, giebst aber jede Hoffnung, den Flecken durch die Ehe wegzuwaschen, auf, um doch nur eine Heuchlerin zu bleiben. Der Mensch, ist er nicht ganz gesunken, will doch einen Platz finden, wo er nicht lügen muß, wo er sich wahr zeigen kann, wie er ist. Nur bei Bertram kannst Du von jetzt ab noch Deine wahre Natur zeigen, nur bei ihm bist Du nicht einsam, nicht Dir selber fremd.« Und sein Bild stand vor ihr mit jenem Lächeln, mit dem er gestern vor ihr gestanden, als sie aus der Betäubung ihrer Sinne erwacht war. Ein Schauder ging durch ihren Leib, aber das Lächeln hatte seinen Schrecken verloren, und es war ihr, als sollte sie die Arme ausbreiten.
Gestern, bei der Heimfahrt, hatte er davon gesprochen, daß er stets des Nachmittags mehrere Stunden zu Hause sei, daß er zu ebener Erde bei einer gutmütigen alten Frau wohne, und sie ihn ohne Gefahr besuchen könne. Sie hatte den Vorschlag sanft, aber entschieden als etwas Unmögliches abgelehnt. Er war ihr abstoßend erschienen und hatte den Zustand des reuevollen Ekels, in dem sie sich befand, gesteigert. Ihr Zartgefühl sagte ihr, daß ein solcher Besuch ein unweibliches Angebot, eine häßliche Herausforderung bedeute. Jetzt begann sie anders darüber zu denken, und die Mutter, die erstaunt darüber war, sie schon wieder zum Ausgehen bereit zu finden, beruhigend, machte sie sich um drei Uhr des Nachmittags auf den Weg nach der in der nahen Rumfordstraße gelegenen Wohnung Bertrams.
Sie mußte ihn sprechen, mußte durch ihn Beruhigung ihrer von Gedanken und Empfindungen hin und her gezerrten Seele finden. Dazu konnte sie nicht bis zum Abend warten, denn das war nicht auf einer Straßenpromenade abzumachen. Über die Gefahr, die sie lief, beruhigte sie sich rasch. Sie kam als Hülfesuchende zu ernstem Gespräche zu ihm, fest entschlossen, abzuwehren, was der Abwehr bedurfte. Als sie vor der Hausthür stand, pochte ihr Herz heftiger, und ein banges Gefühl legte sich bleischwer auf ihre Glieder. Wenn sie nicht die Kraft der Abwehr fand, wenn sie unterlag, dann war der verhängnisvolle Schritt geschehen von dem Fehltritte überraschter Leidenschaft zur bewußt gewollten, in sträfliche Gewohnheit sich wandelnden Sünde. In bestimmter Klarheit trat es ihr vor die Seele: »Du wirst seine Buhlerin!« Da, als ihr besseres Selbst mit aller Macht rief: »Zurück! zurück!« da wuchs auch die Sehnsucht nach dem Geliebten; so nahe am Ziel konnte sie nicht umkehren. Ein Wörtchen nur wollte sie von ihm hören, ein tröstendes, aufmunterndes Wörtchen. Jetzt war sie ihrer Sinne mächtig, jetzt sah sie mit ganzer Klarheit die Gefahr. Sie zu meiden, konnte nicht schwer sein. Sie trat in den Flur und zog die Klingel der Parterrewohnung. Eine kleine, dicke, alte Frau, über einem dunklen Rocke eine rosafarben geblümte Kattunjacke tragend, öffnete ihr.
»Ist Herr Bertram zu sprechen?« fragte Karoline mit kaum verständlich leiser Stimme und hocherrötend.
»Jawohl! Er ist schon zu Hause! Spazieren Sie nur herein, Fräulein!« sagte die Alte in lauter Freundlichkeit und sah das stattliche Mädchen mit verständnisinnig heiterem Blicke an. Gleichzeitig öffnete sie die nächste Flügelthür und rief: »Herr Bertram, Sie bekommen angenehmen Besuch!« Dann winkte sie Karoline mit kräftigen Gesten in die geöffnete Stube, in deren Mitte jetzt Bertram, den grauen Schlafrock mit der grünen Schnur zusammenziehend, erschien, und entfernte sich, noch einmal einen lächelnd prüfenden Blick auf die junge Dame werfend.
»Karoline, welche Überraschung!« rief Bertram, und nachdem er die Thür geschlossen hatte, reichte er der Geliebten erst beide Hände, dann küßte er sie und machte sich sogleich daran, ihr Hut und Jäckchen abzunehmen. Karoline ließ es wortlos geschehen, und erst dann warf sie sich in heftiger Bewegung an Bertrams Brust.
»Ach, Otto!« sagte sie, »mir ist so fürchterlich zu Mute! Ich hielt's nicht aus, ohne Dich zu sehen, zu sprechen!« Sie klammerte sich an ihn und barg ihr Gesicht an seiner Brust, als suche sie dort Zuflucht vor quälenden Gespenstern.
Er streichelte ihr Haar, klopfte ihr schmeichelnd auf den Rücken und sagte:
»Das war recht von Dir, mein Schatz!«
»Recht?« »Das nun eben nicht!« meinte sie ausblickend. »Aber ich konnte mir nicht anders helfen! Ach, Otto, was habe ich gelitten! Und was soll jetzt werden?«
Bertram war diese heftige Erregung des Mädchens etwas unbequem, denn er wußte nicht, welche Rolle er in der Scene spielen sollte. Er hatte seine Wirtin auf die Möglichkeit eines Damenbesuches für die nächsten Tage vorbereitet, denn er hatte den Fall als früher oder später eintretend vorhergesehen, sich jedoch nach seinen bisherigen Erfahrungen den Vorgang wesentlich anders, weniger pathetisch gedacht. Karoline aber war bei dem Anblick des Geliebten in eine sie überwältigende Erregung geraten, die ganze Seelenqual des Tages rang nach Befreiung, alle ihre Herzensangst sammelte sich zu einem Hülferufe, und diese übermächtige seelische Stimmung erschütterte ihre Nerven aufs heftigste. Die klare Absicht, mit der sie zu ihm gegangen, war dahin, da er vor ihr stand, der Herr ihres Schicksals, das einzige Wesen auf Gottes weiter Welt, das ihrem schwankenden Fuße Halt, ihren schwindelnden Gedanken Klarheit geben konnte, und ihre Not auf der einen, die Macht des Geliebten auf der andern Seite wuchsen in ihrem Bewußtsein zur Riesengröße an.
»Beruhige Dich, mein Kind!« sagte Bertram, sich sanft aus der Umarmung ziehend. »Bei einem Täßchen Kaffee wollen wir uns gemütlich aussprechen! Nicht wahr?« Er hob ihr mit einer Hand das Kinn, gab ihr mit der andern einen tändelnden Schlag auf die Wangen und rief dann durch die Thür der Wirtin zu:
»Meinen Kaffee, Frau Bachmann, und eine zweite Tasse!« Dann lud er Karoline ein, sich auf das grüne Plüschsofa zu setzen, während er in das anstoßende Schlafzimmer ging, aus dem er alsbald im Rocke zurückkehrte.
Karoline hatte indessen den Blick durch die von leisem Cigarrengeruch erfüllte Stube gleiten lassen, die in ihrer Geräumigkeit und behäbigen Einrichtung sich als möblierte Wohnung besserer Art darstellte. Bertram selbst schien auf Ordnung zu halten, denn auf dem Schreibtisch an der Fensterecke und nicht minder auf dem Sofatisch war alles in größter Sauberkeit gehalten und nach einer bestimmten Regel aufgestellt oder hingelegt. Nirgend sah man einen unsauberen oder beschädigten Gegenstand, nirgend eine Sache, die nicht an dieser Stelle gehört hätte. Diese Wahrnehmung machte einen wohlthuenden Eindruck auf sie, und als Bertram, sich an ihre Seite setzend, fragte:
»Nun, wie gefällt es Dir bei mir, mein Schatz?« sagte sie lächelnd:
»Sehr gut! Ich hätte nicht geglaubt, daß es bei einem Junggesellen so geordnet aussäh!«
Bertram war froh, sie in anderer Stimmung zu finden, und suchte sie darin festzuhalten, indem er seine Ordnungsliebe als die erste Tugend des Kaufmanns in scherzendem Tone selber rühmte und daran mit der Redegewandtheit des früheren Handlungsreisenden eine heitere Plauderei knüpfte, die durch den Eintritt der den Kaffee in einer Wiener Maschine auftragenden Hauswirtin unterbrochen wurde.
Karoline geriet bei ihrem Anblick neuerdings in Verlegenheit und erwiderte nur halblaut ihre Fragen, ob sie etwa ein Stückchen Kuchen wünsche statt der beigelegten Brötchen, ob ihr die Milch ausreichend scheine, und ob sonst noch Wünsche zu befriedigen seien. Die Alte wollte offenbar ein Gespräch anknüpfen und entfernte sich erst, als sie die Unerfüllbarkeit ihres Wunsches erkannte. Als sie wiederum allein waren, zündete sich Bertram, nachdem er höflich um Erlaubnis gefragt, eine Cigarre an, und seinen Arm um die Taille der Geliebten legend, gab er nochmals seiner Freude über ihr Kommen Ausdruck.
»Du mußt aber jetzt öfter, alle Tage kommen!« meinte er. »Wir wollen es dann uns recht gemütlich machen, daß Du Dich zu Hause fühlst bei mir. Frau Bachmann ist eine zuverlässige Person, die nichts ausplaudert und, wenn Du etwas willst, Dir gern zu Diensten steht, so daß Du meine Wohnung in allem als die Deine betrachten kannst. Ja, wenn Du der Alten helfen willst, mein vernachlässigtes Junggesellendaheim zu verschönern, dann wird sie es mit Freuden annehmen. Willst Du, Karolinchen?«
Sie war jetzt so glücklich, als er sie an sich zog und ihr Kopf sich an seine Schulter schmiegte, und fühlte sich wie geborgen in sicherem Hafen nach heftigem Sturm. Da war ihre Zuflucht, da war ihre Welt, da gehörte sie hin, das wurde ihr jetzt klar, und sie pries den Gedanken glücklich, der sie hergeführt. Die heftige Gemütserschütterung löste sich auf in eine wonnige Stimmung, die alle Zweifel, alle Beängstigungen als eitle Thorheiten erscheinen ließ. Wohl erwiderte sie dem Freunde: »Mich hat nur die Herzensangst hergetrieben.« – »'s ist jetzt vorbei!« schaltete sie lächelnd und mit süßer Zärtlichkeit zu ihm aufblickend ein. – »Öfter zu kommen, das würde doch nicht zum guten führen!« Aber ihr Herz hatte bereits entschieden, sie wußte, daß es sie immer wieder hertreiben würde, dieses weltabgeschiedene, verborgene Glück zu genießen.
Er streichelte ihr die Wangen und sagte: »Wie? Sollen wir uns jetzt noch mit der Abendpromenade begnügen, bei der man kaum zu einem Kusse kommt und die beim kommenden Winter nicht sehr behaglich wird?«
»Du verzärtelter Mann! So wenig liebst Du mich, daß dies bißchen Kälte Dich stört?« neckte sie. »Ich ginge durch Sturm und Schnee, durch Frost und Kälte mit Dir!« setzte sie in einem süß sehnsüchtigen Tone hinzu, und sich aufrichtend, bot sie ihm die schwellenden Lippen. Die frühere Erregung der Nerven machte sich nach kurzer weicher Erschlaffung wieder geltend und wechselte nur die Gestalt, statt schmerzlichen Angstgefühls heiße Wallungen des Blutes erzeugend. Bertram gewahrte es wohl, wie die erst müden Augen leuchteten, die Züge sich belebten, die Wangen sich röteten und über ihr ganzes Wesen ein verjüngender Hauch floß. Er küßte sie und sagte mit einem Blicke, dessen Deutung ihr nicht mehr fremd war: »Damit willst Du Dich zufrieden geben? Das ist Dein Ernst nicht, Schätzchen.«
Sie wehrte seine kühnere Zärtlichkeit sanft ab, und aus seiner Umarmung weichend, sagte sie: »Ich will es und muß es, wir beide müssen es!«
Er wollte lachend sie aufs neue umarmen, sie aber erhob sich vom Sofa, und mit leise bebender Stimme sagte sie: »Du zwingst mich fortzugehen, während ich noch gerne ein Weilchen bei Dir geblieben wäre!«
»Aber, Karoline!« rief er bittend und wies nach dem leeren Sitze.
»Ich sagte Dir schon, die Not, das Bedürfnis nach Trost, nichts anderes führte mich her, und Du sollst meinen Schritt nicht mißverstehen. Deine Braut will ich sein, nicht Deine Geliebte, und – setzte sie leise hinzu – was einmal geschah, ist nicht ungeschehen zu machen, doch kränkt es mich, wenn Du mich daran erinnerst.«
Sie stand vor ihm mit zu Boden gesenkten Augen, zum Gehen gerüstet und doch zögernd. Den Aufruhr im eigenen Innern wollte sie bezwingen mit den streng abweisenden Worten, denen eine lebhafte Empfindung widersprach, die sie mit Allgewalt den Armen des geliebten Mannes zutrieb. Sie wußte, daß Bertram sich mit solcher Abweisung nicht begnügen würde, aber noch wollte sie kämpfen gegen ihn und gegen sich selbst. Als er aufsprang, vor ihr stehend ihre Hand ergriff und sie an sich drückte mit den Worten: »Karoline, wie könnte ich Dich kränken! Trost suchtest Du bei mir, und mit meiner Liebe will ich Dich trösten! Warum kränkt Dich das? Beides sollst Du mir sein, Braut und Geliebte! Kannst Du denn kalten Herzens so viel Liebe mit einer nüchternen Unterscheidung von Dir weisen? Ich könnte es nicht!« da antwortete sie stockend mit abgewandtem Gesicht: »Ich muß es können! Wenn Du mich ehrlich liebst, mach' mir die Pflicht nicht schwerer, als sie ohnehin schon ist! Ich hab' gefehlt, aber schlecht will ich nicht werden!« Ein heftiges Schluchzen überkam sie, und die Thränen brachen in dichtem Strom aus den Augen.
Bertram ließ bei diesem Anblick von ihr. Sie wandte sich um, und an den Rahmen der Schlafzimmerthür sich lehnend, barg sie das Gesicht in das Taschentuch. Erst etwas schwerfällig und ungeschickt, dann, als mit dem Eifer sich die Leidenschaft verband, in einem von Schwüren und Schmeichelworten überfließenden Redestrom bemühte sich jener, sie zu trösten. Anfangs wurde das Schluchzen des Mädchens nur um so heftiger, Ausrufe unterbrachen dasselbe wie: »Ich bin ein unglückliches Geschöpf!« »Wär' ich doch gestorben!« »Meine Mutter!« »Wenn das meine Mutter wüßte!« und der ganze Körper der Gequälten zitterte und zuckte, von leisen Krämpfen geschüttelt. Allmählich aber versiegten die Thränen, und das Ohr lauschte willig und williger den Schmeicheltönen einer Leidenschaft, die, sich selber in Eifer redend, Karoline in ungeahnter Weise offenbarte, welche Macht sie zu üben vermochte, welch heftige Flamme sie bei Bertram entzündet hatte. Endlich, als ihre Hände, der schmale Streifen ihres von Löckchen umspielten Halses, ihre Stirn von Küssen bedeckt und zahllose, stets sich steigernde Schmeichelnamen verklungen waren, glitt ein halbes Lächeln auf ihre Lippen, die eben unter dem Taschentuche hervorlugten. Triumphierend rief Bertram: »Bist Du nun zufrieden, süßer, herrlicher Engel?« Das Taschentuch verschwand vom Gesicht, die thränenschimmernden Augen wendeten sich ihm zu, und mit schalkhafter Miene, aber ernst klingend in der Tiefe des Tones sagte die Besiegte: »Was soll ich nun thun?«
»Dich lieben lassen!« lautete die leidenschaftliche Antwort.
»Und selber lieben!« sagte sie, sich ihm in die Arme werfend, nicht weichlich empfindsam, sondern mit Entschlossenheit. Dabei schüttelte sie kaum sichtbar den Kopf, als wollte sie andere Gedanken durch die Gebärde abweisen.
Als sie die Wohnung Bertrams verließ, trug sie den Kopf aufrecht, ein feines Lächeln huschte zuweilen über die Lippen, ihre schlanke Gestalt schritt selbstbewußt, kräftig auftretend, dahin. Sie war Bertrams Geliebte, war es mit Willen, sich dessen freuend; das Lächeln, das, während sie die Erinnerung wachrief, auf ihre Lippen kam, war von der Befriedigung weiblicher Eitelkeit erzeugt. Er betete sie an, vergötterte sie, und sie wußte jetzt erst mit voller Klarheit, wie schön sie war, welchen Zauber ihre Reize zu üben vermochten. Was sich regen wollte in ihrem Gewissen, es wurde niedergedrückt, erstickt von dem trotzigen Siegesgefühle, das in schwellendem Übermute jeder andern Regung erwiderte: »Was ist mir Sünde? Nun wohl, ich bin eine Sünderin und will es sein! Neues Leben durchströmt meine Adern, und die Welt, sie ist mir jetzt offenbar in ihrer Schönheit. Unwissend war ich, wahnsinnig wäre ich, wollte ich den Zauber, den ich besitze, welken, verblühen lassen, zwecklos, ungenutzt. Jetzt weiß ich, was das Glück, was das Leben ist, und nur Versäumtes reut mich, nicht Gethanes!«
Die nächste Zeit festigte nur diese Stimmung üppig aufblühender Selbstbefriedigung. Um der Mutter nicht aufzufallen, konnte sie ihre Besuche bei dem Geliebten nicht täglich, sondern nur mit dem Zwischenraume von zwei oder drei Tagen machen, und auch dann war sie so klug, mit Bertrams bereitwilliger Übereinstimmung die Tageszeit zu wechseln, bald am frühen Morgen zur Marktstunde, bald des Mittags und dann des Nachmittags oder späteren Abends zu ihm zu kommen. Er änderte diesem Glück zuliebe gern seine bisherigen Gewohnheiten. An den anderen Tagen traf man sich, wie früher, im Kaufmannsladen und machte dann den altgewohnten Spaziergang. Rasch gestalteten sich jene Besuche zu einer zwanglosen Gewohnheit. Karoline bewegte sich in den Wohnräumen des Geliebten wie zu Hause. Frau Bachmann ordnete sich gutwillig dem schönen, Lebenslust atmenden Mädchen, das sie liebgewann, unter und hatte nach solcher Frauen Art ihre Freude daran, daß ihr Mieter ein so stattliches Fräulein zur Liebsten habe. Sie gab diesem Gefühle gelegentlich unzweideutigen Ausdruck in der Form einer gutmütig kupplerischen Vertraulichkeit, die Karoline aber aus sanfte Weise in Schranken hielt. Bertram benahm sich dauernd als ein leidenschaftlicher Liebhaber. Der Eindruck, den Karolinens ganze Art auf ihn machte, war mächtig. Er hatte bisher wohl manches galante Abenteuer erlebt, und demzufolge sich auch am Wirtstische selbstgefällig als Don Juan aufgespielt. Die Abenteuer aber waren durchweg, wie sie gewöhnlich bei Leuten seines Standes zu sein pflegten, Zeitvertreibe mit leichten Mädchen oder auch Frauen, zu deren Eroberung es keiner allzu schwierigen Künste bedurfte. In Karoline begegnete ihm zum erstenmal ein Weib, das nicht mit lachendem Leichtsinn sich wegwarf, ein Weib, dessen Leidenschaft geadelt war von mächtiger Empfindung. Die Art, wie dieses Mädchen liebte und sich lieben ließ, war ihm neu und gab ihm Offenbarungen, die ihn die Geliebte nicht bloß als Spielzeug erscheinen, sondern achten ließen, Ahnungen dessen, was eine Ehe bedeutet. Dazu war ihre Schönheit nicht von der alltäglichen Art, und seitdem sie, hingerissen von seinen Schmeichelworten, mit mädchenhafter Scheu noch, aber doch auch mit der Begierde, des Geliebten Feuer anzufachen, diese Schönheit in ihrer ganzen Fülle ihm erschlossen hatte, blieb er dauernd gefesselt, beglückt von solchem Besitz, dessen Kostbarkeit Karoline ihm gar bald mit wohlberechneter Koketterie stets in neues Licht zu setzen wußte.
Ihre reiferen Jahre hinderten nicht die Entfaltung anziehender Weiblichkeit, sondern gaben ihrer Art nur ein besonderes Gepräge. Sie war noch eben jung genug, um durch eine Leidenschaft sich zu verjüngen und nicht die krankhaften, launischen Gewohnheiten verspätet Liebender anzunehmen. Ihre sanfte Gutherzigkeit beförderte diesen Vorteil. Die Art ihrer Leidenschaft aber war eine bewußtere; in rascherem Verlaufe, als bei der aufblühenden Jugend, brach bei ihr die volle Weibesnatur hervor, schloß sie mit allen Mädchenstimmungen ab, und doch blieb der Zug des Weibes, dem sich eben erst das Geheimnis seines Daseins enthüllte. Was bereits in leisen Spuren von altjüngferlich Herbem sich in ihrer Seele angesetzt hatte, wich rasch zurück oder verwandelte sich vielmehr in einen Zug selbständiger Energie, der ihrer natürlichen Anmut, ihrem ruhigen Wesen eine pikante Zuthat war und, im freien, entschlossenen Blicke sich offenbarend, auch der Erscheinung zu Nutzen kam, die in der froheren, rascheren Beweglichkeit, dem heiteren Zuge um den Mund, der gesunden Röte der Wangen eine neue Blüte bekundete. Trotz ihres selbständigen, in mancherlei Zügen sogar etwas freien Wesens und trotz der Vergötterung, die ihr Bertram zu teil werden ließ, ordnete sie sich ihm bescheiden unter, erkannte sie in ihm den stärkeren, den Beschützenden. Das aber gefiel ihr an ihm, daß er über dem Liebhaber nie den Mann vergaß, und sie sah es sehr gern, wenn er neben der Feiertagsstimmung der Leidenschaft auch zeitweilig einen Werktagston anschlug, der bequeme Eigenliebe mit einer Art der Vertraulichkeit gegen sie paarte, die nichts Geringschätziges, aber Überlegenheit an sich trug. Sie bestärkte ihn selbst in dieser Neigung, indem sie niemals launisch war oder ernstlich widersprach und sich nie empfindlich zeigte, wenn er in verschiedenen kleinen Dingen sich gehen ließ und nicht stets bedacht war, die Miene des galanten Liebhabers anzunehmen. Bertram ließ sich diese Behandlung wohl gefallen, und ohne daß es beide merkten, vollzog sich langsam eine Wandlung ihrer Verkehrsart, welche, ohne der Zärtlichkeit Eintrag zu thun, das Übergewicht Bertrams verstärkte und ihn aus einem Anbeter der Geliebten zu ihrem älteren Genossen machte, der in aller Gutmütigkeit und unter gelegentlichen Rückfällen in die frühere vergötternde Extase doch sein eigenes Ich in den Vorbergrund stellte und mit dem jüngeren Kameraden umging, als seien besondere Rücksichten nicht mehr weiter nötig. Karoline war es wohl zufrieden, daß solche Art doch des Geliebten Leidenschaft nicht minderte, die sie, wenn es ihr beliebte, mit den kleinen Listen, deren Lehrmeister ihr eigener sinnlicher Instinkt war, zu heller Flamme anfachen konnte. Ihre eigene Leidenschaft aber würde stets genährt von dem Zwange, dem sie in ihrem Doppelleben unterworfen war. Wohl hätte die Mutter, wäre sie nicht allzusehr mit der eigenen Kränklichkeit beschäftigt gewesen, gewaltige Veränderungen in dem Wesen ihrer Tochter bemerken können; aber diese that ihr möglichstes, zu Hause die gewohnte Art des stillen, herb gelaunten, alternden Mädchens fortzuspielen, um in Bertrams Armen, der zwingenden Lüge lebig, mit erhöhter Lust ein genießendes Weib zu sein.
Drei Monate hatte sie so sorglos, nicht einmal die Frage, der Zukunft weiter erwägend, in dem verbotenen Paradies gelebt, als sie jählings aus der Sicherheit ihrer heimlichen Sünde aufgeschreckt wurde.
Eines Tages, als sie, eben von Bertram kommend, die Treppe zu ihrer Wohnung erstieg, standen vor den Thüren des zweiten Stockwerks die Frau Postsekretärin und das Dienstmädchen der andern Partei, die auf demselben Flur wohnt: Karoline war schon befremdet über die Art, mit der ihr Gruß von der Postsekretärin erwidert wurde, und hatte auch in der Miene des Dienstmädchens einen höhnenden, frechen Zug erkennen wollen. Als sie eben die Biegung der Treppe zum dritten Stockwerk hinter sich hatte, klangen Worte an ihr Ohr, wie: »Verheirateter Mann – schändliche Duckmäuserin!«
Sie bebte zusammen, blieb stehen und lauschte. Sie hörte nur noch die Frau Postsekretärin:
»Die soll mir nur noch einmal etwas über Fräulein Rieder sagen, über die sie so viel Wesens gemacht hat.« Daran knüpfte die edle Dame einen Kraftausdruck aus der Redeweise der niedersten Volksklassen und schloß die Wohnungsthür hinter sich.
Zitternd, mit ringendem Atem betrat sie ihre Wohnung, sich mühsam erst fassend, ehe sie vor die Mutter trat. Als sie des andern Tages Bertram von der Enthüllung und abscheulichen Entstellung ihres Geheimnisses unter Thränen erzählte, nur den rohen Schimpf, der noch in ihren Ohren gellte, verschweigend, tröstete und beschwichtigte sie dieser, aber sein Gewissen klagte ihn als den unvorsichtigen Urheber des bösen Gerüchtes an. In seiner Freude über Karolinens Besitz hatte er es nach altgewohnter Art nicht lassen können, sich seiner Eroberung am Stammtische des Café Paul zu rühmen. Er bezeichnete zwar seine Geliebte nicht näher, aber im selben Gasthause verkehrte der Kaufmann, in dessen Laden sich die Liebesgeschichte entwickelt hatte, die Spur war also bald entdeckt. Das sich fortpflanzende Gerücht war dann wohl an irgend eine Klatschbase gelangt, welche aus der Bezeichnung Bertrams als eines Mannes in reiferen Jahren mit geschäftiger Einbildungskraft auf einen Ehemann geschlossen hatte. Der Zwischenfall wirkte tief auf Karoline, und es gelang Bertram nicht, die Unruhe zu beseitigen, welche sich ihrer bemächtigt hatte. Immer wieder kam sie darauf zurück, die Quelle, aus welcher die Entdeckung stammte, aufspüren zu wollen, nachdem sie sogleich erkannt hatte, daß ein Vertrauensbruch des Fräulein Rieder nicht erst nach so langer Zeit, sondern wohl schon früher hätte stattfinden müssen, wenn ein solcher überhaupt vorläge. Dazu aber warum so weniger Grund gegeben, als die Courtisane sich nicht über ihre Flurnachbarn zu beklagen hatte. Seit jenem vertraulichen Besuche Karolinens war sie in ihrer Lebensweise viel zwangloser geworden. Graf Etterschlag kam nicht selten mit mehreren Freunden in die Wohnung seiner Geliebten, und es wurden dann geräuschvolle Gelage gefeiert, die sich bis zum dämmernden Morgen fortsetzten. Karolinens Mutter hatte diese schwer belästigende Veränderung schon öfter bitter beklagt, diese aber wußte sie stets von weiteren Schritten bei der Hausbesitzerin abzuhalten. Aber nicht nur die Begierde, die Spuren des Verrats zu entdecken, war es, was Karoline beseelte. Das ekle Wort, das die Postsekretärin über sie ausgesprochen hatte, prägte sich fest in ihre Seele ein als brutale Mahnung. Oft starrte sie brütend vor sich hin, während Bertrams Arm sie liebkosend umschlang; nicht mehr mit lebhafter Lust, sondern zerstreut, zweifelnd nahm sie seine Zärtlichkeiten entgegen, und die Augenblicke lebensfreudiger Leidenschaft wandelten sich zu einem Opfer, das einem unentrinnbaren, fragwürdigen Zwange gebracht wurde, dem nur halb gewollte Betäubung, nicht voller Genug entsprang. Das eingeschlummerte Gewissen regte sich wieder, Bertrams Liebe gab ihr keinen Halt gegen das Gefühl der Schande, das sie zu Boden drückte. Dem eigenen Empfinden hatte sie Trotz bieten, es ersticken können, das Schmähwort anderer ließ sich nicht beiseite schieben. Das Zauberbild, das erhitztes Blut ihr vorgegaukelt hatte, schwand und die nackte Wirklichkeit erschien ihr jetzt selber schandbar, lastervoll. Aus und ein zu gehen mit der Miene der Ehrbarkeit vor den Augen der Leute und zwischen Aus- und Eingang im sicheren Verstecke sündiger Gewohnheit zu huldigen, es war verächtlich, war ein feiger Diebstahl an der Gesinnung der Mitmenschen, deren wohlwollende Achtung sie erlistete, erschlich ohne den Mut des Leichtsinns, der die Folgen seines Handelns sorglos trägt, ohne den Mut der Leidenschaft, der dem Trotz bietet, was ihm widerstrebt. Sie kämpfte nicht, sie duldete nicht um ihre Liebe, sie genoß die verbotenen Früchte mit der schlauen Hinterlist der Heuchlerin, und sie fühlte es wohl, wie solche Heimlichkeit die Liebe nicht hob, stählte zu starkem Empfinden, sondern die Seele langsam vergiftete und beschmutzte. Diese quälenden Stimmungen wollten nicht weichen,, bis eines Tages ein Ereignis eintrat, das sie vor die Notwendigkeit eines thatkräftigen Entschlusses stellte.
Es hatte wieder einmal eines jener lärmenden Gelage bei Fräulein Rieder stattgehabt, welche, da das Zimmer, in dem sie abgehalten wurden, an die Schlafstube der Frau Pauer stieß, deren Nachtruhe empfindlich störten. Zwar hatte sie auch diesmal wieder sich von Karoline beschwichtigen lassen, als aber des Nachmittags, während deren Abwesenheit, die Hausbesitzerin in einer geringfügigen Angelegenheit bei ihr vorsprach, nützte sie den Anlaß und beklagte sich über ihre Flurnachbarn. Durch die frostige Haltung der Frau Sedlmeyer gereizt, gestaltete sie die erst ruhige Klage zu einer heftigen Anschuldigung über die unsittliche Wirtschaft, welche diese in ihrem Hause dulde. Da pflanzte sich Frau Sedlmeyer feuerspeienden Auges vor der Anklägerin auf, und mit einer Stimme, welche auf die Schwerhörigkeit der Letzteren die weitestgehenden Rücksichten nahm, schrie sie:
»Was? Sie wollen mir noch Moral predigen? Kehren Sie gefälligst vor Ihrer eigenen Thür, und danken Sie Ihrem Schöpfer, daß ich nicht schon lange von dem Ärgernis gesprochen habe, das das saubere Fräulein Karoline dem ganzen Hause giebt!«
»Meine Tochter – ein Ärgernis? Träumen Sie?« erwiderte Frau Pauer erstaunt, doch noch weit entfernt, einen Verdacht gegen Karoline zu hegen.
»Na, wenn Sie es noch nicht wissen, dann sollen Sie es von mir erfahren, damit Sie sich merken, daß Sie keinen Grund haben, über das Fräulein drüben zu schreien. Fräulein Karoline ist die Herzallerliebste eines verheirateten Mannes, mit dem sie vielleicht gerade jetzt ein zärtliches Stelldichein hat!«
»Das ist niederträchtig!« keuchte die kränkliche Frau, den hülflosen Körper in heftige Bewegung versetzend. »Wer wagt so etwas von meiner Tochter zu sagen? Wer, wer hat Ihnen diese erbärmliche Lüge hinterbracht? Er – – er wird es bü – ü – ßen müssen!«
Die alte Frau konnte nicht mehr weiter reden, der Atem versagte ihr, und nur die Hände bewegten sich lebhaft, als sollten sie den Lungen neue Bewegung zuführen. Im selben Augenblicke betrat Karoline die Stube. Bestürzt sprang sie auf die Mutter zu mit dem angstvollen Rufe: »Was ist Dir? was ist geschehen?«
Den Arm ausstreckend, mit heftiger Gebärde der Hand auf Frau Sedlmeyer weisend, stammelte Frau Pauer: »Da – da – laß Dir einmal sagen, was die Leute Infames über Dich ausstreuen!«
Sich verfärbend, richtete Karoline einen zornig fragenden Blick auf Frau Sedlmeyer. Die Mutter aber fuhr fort:
»Du – – Du – – hättest ein Verhältnis – – mit einem verheirateten Manne!«
»Ach!« brauste jetzt Karoline auf. »Das ist es, und mit solcher Nachricht überfallen Sie meine arme, kranke Mutter? Ein Glück, daß ich zu rechter Zeit gekommen bin! Woher, Frau Sedlmeyer, haben Sie das niederträchtige Geschwätz? Heraus damit! Ich habe ein Recht, zu wissen, wer mich so verleumdet! Schon lange habe ich gemerkt, daß etwas in der Luft liegt! Wär's mir um den Schrecken meiner Mutter nicht, es wäre mir willkommen, daß ich endlich eine der Verleumderinnen treffe! Heraus damit, wer gab Ihnen die Nachricht?«
Frau Sedlmeyer war von der kühnen, zugreifenden Art des Mädchens unsicher gemacht und stammelte halb unverständliche Redensarten.
»Da haben wir es ja!« fuhr Karoline fort. »Sie hüten sich, jemand zu nennen, wie es immer so geschieht bei verleumderischen Reden! Es ist gut! Sagen Sie nun auch den anderen Leuten, daß sie sich hüten sollen fortzufahren mit solchen Redereien. Es könnte ihnen schlecht bekommen!«
»Ganz so sauber wird die Geschichte doch nicht sein!« erwiderte jetzt Frau Sedlmeyer trotzig. »Man hat doch früher nichts über Sie zu sagen gewußt, und wenn's auch kein Verheirateter ist, eine Liebschaft steckt doch dahinter. Aus der Luft greift man so was nicht! Welche Bekannte wohnen denn in dem Hause in der Rumfordstraße, aus dem man Sie schon öfter und zu verschiedenen Zeiten hat herauskommen sehen?« fügte sie giftig und laut genug, daß Frau Pauer es verstand, hinzu.
Diese sah verwundert und erwartungsvoll auf ihre Tochter. Karoline war einen kurzen Augenblick betroffen, dann sagte sie gefaßt und mit sicherer Schärfe:
»Was soll das? Wem, als meiner Mutter, bin ich Rechenschaft schuldig, was ich in diesem oder jenem Hause thue? Also gut! Ich habe ein Verhältnis mit einem Herrn, der in der Rumfordstraße wohnt, ich besuche ihn; er ist aber nicht verheiratet, sondern mein Bräutigam. Die Verleumdung bleibt daher nach wie vor, denn zwischen dem Verkehr mit einem verheirateten Manne und dem mit einem Bräutigam ist ein gewaltiger Unterschied. Jener konnte die Leute ärgern, über diesen habe ich niemandem Rede zu stehen, als meiner Mutter, und niemanden störe ich damit.«
»Bräutigam! Also doch«, sagte Frau Sedlmeyer spottend. »Die Frau Mutter wußte nichts von einem Bräutigam! Mich geht's ja auch weiter nichts an, ob sich ein solcher Bräutigam, dem man auf das Zimmer steigt, für ein Mädchen schickt oder nicht! Aber unter solchen Umständen wird es doch gut sein, wenn Sie es mit Ihrer Nachbarin nicht allzu streng nehmen. Guten Abend, Frau Pauer!« Nach diesen Worten machte sich die Frau Hausbesitzerin so eilig fort, als könne sie es nicht erwarten, ihren Klatschbasen die neue Wendung mitzuteilen.
»Karoline! Kind! Was hab' ich hören müssen! Was hast Du Deiner alten Mutter angethan!« rief Frau Pauer im Tone tiefsten Schmerzes, mit jammervoll klagendem Blicke.
»Ja, Mutter!« versetzte Karoline, mit etwas unsicherer Stimme zwar, aber entschlossenen Sinnes. »Du magst mich schelten, denn ich habe Dir weh gethan! aber ich konnte nicht anders, ich konnte nicht das Glück abweisen, das sich mir noch unverhofft in meinen Jahren bot. Ich bin die Geliebte jenes Herrn Bertram, den Du einmal gesehen hast, bin es seit Monaten schon! Und, Mutter, wenn Du mich schiltst, mach's nicht zu arg, zieh' nicht Dein Herz von mir, denn, ich sag' es offen, ich kann nicht lassen von meiner Liebe! Mag's Sünde sein oder nicht, mag' ich ein schlechtes Mädchen sein, ich muß Bertrams Geliebte bleiben!«
Sie hatte sich vor den Stuhl der Mutter niedergekauert und sah zu ihr mit erregtem Blicke, das Urteil erwartend, auf. Frau Pauer sah aufmerksam in das Gesicht ihres einzigen Kindes und sagte dann langsam, gefaßt, aber traurig:
»So lange habe ich Dich rein gehalten, Dich bewahrt vor der Gefahr, und jetzt, da ich auf Deine reifere Erkenntnis, Deinen ernsten Sinn wie auf einen Felsen gebaut hätte, jetzt, an meiner Tage Ende, muß ich's erleben, daß mein schönes, gutes Kind zu Schanden wird! Das ist hart, recht hart! Mein Lebtag habe ich den Kopf aufrecht getragen und jedem ins Auge sehen können. Heut' zum erstenmal muß ich mich schämen vor dieser Frau, mich schämen, weil mein Mädel ein schlechtes Ding geworden ist.«
»Mutter! Mutter!«
»Ich kann's Dir nicht sparen, das bittre Wort! Brauchst weiter keine Angst zu haben! Was nutzt das Schmollen und Schelten bei einem Mädchen in Deinen Jahren, auch bin ich alt und krank, habe die Kraft des Zornes nicht mehr, und Du bist mein einziges Kind, mein Einziges, was ich noch fürs Herz habe!«
Die Stimme der Alten wurde weinerlich, als sie fortfuhr: »Es thut weh, recht weh, zu denken, was man so innig liebt, das sei ein beschmutztes, von wüster Sünd' beschmutztes Ding!«
»Mutter!« stöhnte Karoline. »Ich bin noch jung! Ich will leben, will glücklich sein!«
Frau Pauer hielt inne, ein Strahl wehmütiger Güte fiel von ihrem Auge auf die Züge der Tochter, deren blondes Haar streichelnd, sie fortfuhr: »Daran hat er Dich gefaßt, der Teufel böser Lust, an der Meinung, Du versäumtest etwas, hättest nicht gelebt, würdest Du nicht von der süßen Frucht genießen, 's ist wahr, süß ist die Liebe, und des Weibes ganze Welt liegt in diesen Süßigkeiten der Liebe, für die es schön und reizend geschaffen wurde. Glaub' mir, daß ich gern meinem Kinde diese Freude gegönnt hätte und es oft beklagt habe, daß ein so schönes Geschöpf, wie Du, dahinwelken soll, ohne Liebe genossen zu haben. Aber, was ist der Genuß, den Du Dir mit dem Opfer Deiner Tugend nimmst? Das, Karoline, ist ein Glück, das schnell zerrinnt. Wer sich dem Mann so frei hingiebt wie Du, giebt ihm auch die Freiheit, den flüchtigen Bund nach Belieben zu lösen.«
»Er wird mich heiraten!« rief Karoline dazwischen.
»Er wird Dich heiraten!«
»Er wird's!«
»Er wird es nicht, mein Kind! Deiner Sünde fehlt die Schlauheit, die mit goldenen Fesseln festzuhalten weiß, was ihr entrinnen will, und so wirst Du erfahren, was so viele andere täglich erfahren, daß die Männer sich da nicht hinterher binden lassen, wo ihnen der Preis schon im voraus ausbezahlt wurde.«
»Nein, nein, Du irrst, Mutter! Er heiratet mich gewiß!«
»Was hält ihn denn ab, als ehrlicher Mann bei der Mutter um Deine Hand zu fragen?«
»Es sind noch Hindernisse, Verhältnisse – –«
»Ja, ja! Je weniger Du Hindernisse seiner Begierde schaffst, desto mehr wird er für Deine Ehrenrettung zu finden wissen! Und wenn Du von seinem Ernste überzeugt bist, dann, Karoline, ist Deine Schuld um so größer, daß Du Dich nicht bezwangst bis zu dem Augenblicke, der Dir ein Recht auf die Freuden der Liebe gab.«
Karoline richtete sich auf. »Das alles«, sprach sie, »habe ich mir selbst gesagt, es half nichts, es schützte mich nicht vor dem Unabwendbaren. Ich habe gekämpft, habe gelitten, und es ist schließlich doch dazu gekommen, wozu es gekommen ist. Ich hab' es abgemacht mit mir selbst und nur Dir wollte ich's ersparen, daß Du nicht deshalb Dich kümmerst. Da es doch nicht abzuhalten war, Mutter, liebe Mutter, laß mich's auch ferner tragen, wie ich's trage, und bleib' mir gut!«
Sie umarmte die alte Frau, schmiegte ihre Wange an deren runzliges Gesicht und flüsterte: »Es ist so süß!«
Während sie so an die Mutter geschmiegt blieb, sagte diese, die leisen Schauer, welche das Mädchen durchbebten, fühlend: »Meinst wohl, es giebt so manche Mutter, die nicht wissen will, was sie weiß, und sich dabei noch sagt: »Das Mädel ist jung und nicht die einzige, die's so treibt.« Freilich, es sind nicht bloß die, auf die man mit Fingern weist, die üble Liebschaft haben, aber mein Kind wäre mir doch zu gut dazu gewesen. Ich kann's mir wohl denken, daß Du von ihm nicht lassen willst, und ich, ich alte, kranke Frau, was will ich hindern? Die Schand' ist da, sieh zu, wie Du's zum guten Ende bringst!«
»Mutter, Mutter, hast Du kein liebes Wort?« flehte Karoline innig.
Wieder legte Frau Pauer die Hand auf den Scheitel ihrer Tochter und sagte wehmütig: »Daß Dir dieser Mensch in den Weg hat kommen müssen, mein armes Kind!«