Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
«Klingt es prätentiös, wenn man den Menschen monumentales Leid wünscht?» Dies fragte der Holländer am Abend des nächsten Tages, als sie von dem Mord erfahren hatten, und seine Frau antwortete: «Nach meiner Erfahrung ist es überhaupt überflüssig, den Menschen Leid zu wünschen. Das kommt schon von selber.»
Der Holländer zuckte resigniert die Achseln, was seine Frau grundsätzlich übersah. Sie antwortete nur auf klar formulierte Beschuldigungen, genau wie sie sich nur Witze erlaubte, die sich ins Lateinische übersetzen ließen.
«Was sollen wir mit Kitty anfangen, dem armen Mädel?» fragte er dann.
«Sie zu diesem ‹monumentalen Leid› beglückwünschen und – sie in Frieden lassen. Es sind schon genug Leute da, die ihr die nächsten Tage mit ihrer Teilnahme verbittern werden.»
«Übrigens: stellst du dir in Fällen von übermäßigem Glück oder Unglück nicht vor, wie so ein Fall, sagen wir mal, in einem halben Jahr aussehen wird?»
«Frag mich nicht nach Dingen, die du selber weißt!»
«Tja, das ist eben das Malheur bei einer sogenannten harmonischen Ehe – einer zu harmonischen Ehe –, daß man nichts mehr für sich selbst behält. Aber wenn es stimmt – und es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln –, daß die Menschen die Welt durch ihre eigenen Erlebnisse sehen – wozu dann die Annahme verallgemeinern, daß Tod und Unglück, Krieg und Leid etwas Beklagenswertes sind. – Die Welt durch seine Erlebnisse sehen … Stell dir vor, du siehst die Welt durch ein dreijähriges Idyll – was ist eigentlich, alles in allem genommen, das am besten angewendete Leben?»
«Das am besten angewendete Leben ist das, das den größten Umsatz an Gefühlen hat!»
«Dann sei Gott den Philosophen gnädig!»
«Amen!» sagte sie und blies den Zigarrenrauch in Ringen zur Decke. «Die einzigen wirklich Glücklichen sind die, die handeln – handeln! – und alles Gegrübel und alles Übernatürliche den Opferpriestern und Medizinmännern überlassen. Kannst du dir vorstellen, daß normale Menschen einen Gedanken zu Ende denken? – Nein! Gesunde Kinder sind glücklich!»
Seine Frau sah es ihm an, daß der Holländer einen von den Momenten hatte, wo es ihn heftig reizte, einen Kalauer zu machen, und er mit sich kämpfen mußte, um dieser Schwäche einmal nicht nachzugeben. Mit Bezug auf den Mord sagte er: «Das Leben ist eine ärgerliche Falle. Das ist ein Zitat. Wenn denkende Menschen in die Jahre kommen und sich dessen bewußt werden, haben sie unwillkürlich das Gefühl, in einer Falle zu sitzen, aus der es kein Entrinnen gibt.»
«Das hat einer von den Russen gesagt, nicht wahr?»
«Tschechow. Ja, du hast ein ganz gutes Gedächtnis!»
«War nicht schwer zu wissen. Außerdem hab ich seinen ‹Krankensaal 6› heute morgen auf deinem Nachttisch liegen sehen. Die Russen sind glücklicherweise vollkommen frei von unserer unüberwindlichen Lust, überraschende Dinge auf eine verdrehte Art zu sagen. Wir können die Russen wohl eine Zeitlang vergessen, kommen aber immer wieder auf sie zurück.»
«Ich habe mir oft im Zusammenhang mit den Russen überlegt, was die Iren so unwiderstehlich anziehend macht, und ich kann beim besten Willen nichts andres finden, als daß es ihre Primitivität ist. Primitivität, Kindlichkeit und Einfalt – das ist unser verlornes Paradies …»
«Ja, wir weinen ihm nach und würden doch unter keinen Umständen den Preis bezahlen, der es uns wiederbrächte.»
« Au revoir, Madame!»
« Au revoir, Monsieur!»
Patty und Maggie hörten dies Gespräch nicht; und selbst wenn sie es hätten hören können, hätten sie es nicht verstanden; und wenn sie es verstanden hätten, wären sie anderer Ansicht gewesen. Sie hatten nur ein Auge für den Boden und das, was dazu gehörte. Das tägliche Brot. Ein Mindestmaß an Wohlleben: eine Pfeife Tabak und einen Krug Porter oder bei seltenen Gelegenheiten ein Glas Whisky – das war alles, was sie begehrten. Deshalb hat der irische Bauer auch nur selten Zeit, zu den Wolken aufzublicken. Er überläßt es dem Pfarrer, herauszufinden, was dahinter steckt.
Wie so oft schon, saßen die beiden Alten nun dort in der Küche. Auch Bombay war anwesend. Ein paar Stunden erst waren vergangen, seit Patty draußen auf dem Weg die Leiche Barneys gefunden hatte, und keins von ihnen hatte sich auf Barneys Stuhl gesetzt, der nun leer neben dem Herde stand. Es war tief in der Nacht. Eine lautlose Nacht. Obwohl die Tür weit offen stand, vernahm man kein Lebenszeichen, weder von einem Vogel noch vom Vieh. Selbst die Esel blieben stumm.
«Ich will den Pfarrer und den Arzt holen!» hatte Patty gesagt, nachdem sie den entseelten Körper in ein Nebengebäude getragen hatten.
«Dazu ist morgen Zeit genug!» hatte Maggie erwidert. «Er ist ja tot!»
«Und die Polizei!» sagte Bombay.
«Wozu?» entgegnete Maggie. «Die Mörder bleiben doch nicht stehen und warten, und die andern können im Dunkeln nichts ausrichten. Wart, bis es Tag wird!»
Patty erzählte nun von seiner letzten Begegnung mit Barney. Sie hatten früh am Morgen Schafe, die für den Schlachthof bestimmt waren, mit Merkzeichen versehen. Es waren an die hundert Stück; denn Barney arbeitete mit ein paar andern jungen Landleuten zusammen. Nach der Markierung waren die Schafe übers Feld hingesprungen, «wie verschüttetes Quecksilber», und hatten sich zapplig über das Gras hergemacht. Der seltene Anblick tief dahintreibender Wolken hatte beider Aufmerksamkeit gefangengenommen, und vor Pattys innerem Auge stand noch der Wolkenschatten, der schnell über das Feld gehuscht war und über Barney mit seinen hochgekrempelten Ärmeln und dem mit blauer und roter Farbe beschmierten Arbeitskittel.
«Er sah Peadar Phelan schon ähnlich!» fand Patty.
«Aber ihm hat's an Peadars Ausdauer gefehlt!» entgegnete Maggie.
«Na? Peadar wär vielleicht auch ein andrer geworden, wenn er in diesen Jahren hier in Irland hätte jung sein müssen. Wo sollen sie denn die Ausdauer hernehmen, wenn sie von allen Seiten gehetzt werden und nie zur Ruhe kommen?»
Bombay war schweigsamer als gewöhnlich.
«Er war ehrlich und treu!» fuhr Patty fort.
«Das war er!» gab Maggie zu. «Sein Wort war ein richtiges Phelanwort.»
«Das ist ein großes Lob, wenn man die Leute gekannt hat», sagte Patty.
Bombay hatte ein Stück Zeitung in die Hand bekommen und las gedankenlos darin. Dreihundertfünfundzwanzig Insassen zählte das Arbeitshaus in der Stadt drunten. Er hätte nicht gedacht, daß die Zahl so groß wäre. Und die Eier waren auf zwei Schilling sechs Pence für das Dutzend gefallen und die Butter auf zwei Schilling sechs Pence für das Pfund gestiegen. Er las das laut vor.
«Wenn's nur umgekehrt wär! Die Eier sollten steigen und die Butter fallen!» sagte Maggie lebhaft. «Mit Butter ist mir nicht viel geholfen bei unserm bißchen Milch.»
Mir, sagt sie schon! ging es Bombay durch den Kopf.
Eine Weile hatten sie stumm dagesessen, als Maggie plötzlich nach den Armlehnen ihres Stuhles griff und einen Schrei ausstieß, einen Schrei, nicht lauter als das Pfeifen einer Fledermaus, doch zu deutlich, um wegerklärt werden zu können. Die beiden Männer sahen sie fragend an.
«Was fehlt dir denn?» fragte Patty.
«Da war ein Gesicht am Fenster. Machen wir doch lieber die Tür zu!»
«Laß mich!» sagte Bombay und eilte zur Tür hinaus. Dort suchte er erst seine Augen an das Dunkel zu gewöhnen, bevor er die Taschenlampe aufleuchten ließ – ein Verfahren, das sehr zweckmäßig ist, wenn zu befürchten steht, daß einem jemand auflauern könnte. Dann ging er ums Haus herum, durch die Scheune und den Stall, und öffnete die Tür zu dem Raum, wo Barney seinen letzten Schlaf schlief. Da kam es unwiderstehlich über ihn, und er mußte hingehen und das Laken lüften. Barneys Gesicht war bleich und trug einen schmerzlichen Ausdruck. Dann ging er wieder ins Haus. «Niemand da!» sagte er. «Aber wir sollten wohl bei Barney wachen. Das letzte, was wir für ihn tun können.»
«Wozu?» sagte Maggie. Sie hatte dies Wort schon öfters gebraucht, und so kam es mechanisch und eintönig aus ihrem Munde.
«Es hat wohl ebensoviel Zweck, bei ihm Leichenwache zu halten, wie bei irgendeinem andern!» entgegnete Patty. «Wir hätten ihn hier hereinbringen sollen.»
«Morgen abend kommen die Weiber, kommen ja all die Leute!» sagte Maggie, und sie sagte es hart.
«Wie hart sie ist!» dachte Bombay. «Aber vielleicht tut sie nur so.»
«Wie anders als damals bei Peadar Phelans Tod!» dachte Patty gegen Morgen, um die Stunde, da die Nacht sich wie ein dunkler Fittich hob und darunter die Karren mit den Kohlköpfen und die Esel vor den Kohlenwägelchen auftauchten und die Tagesarbeit begann.
Als das Dunkel an diesem Morgen wich, räumte es seinen Platz einem naßkalten und trüben Tag, so leblos wie es die Nacht gewesen war. Es war wirklich, wie der Dichter sagt, als sei der liebe Gott gestorben.
Die drei saßen noch wach, und immer länger wurden die Pausen zwischen den Worten, und das Gespräch, wenn man's so nennen darf, wurde immer zerstreuter. Mitunter warf Bombay einen Blick auf Maggie und war erstaunt über die eigentümliche Gleichgültigkeit in ihren Augen.
Ein paarmal gab es Tee, und bei Tagesgrauen entdeckten sie ein paar Flaschen Porter und teilten sie unter sich. Bombay, der in keiner Hinsicht verwöhnt war, stellte mißbilligend fest, daß die Gläser nach dem Spüllappen schmeckten.
Und einmal verblüffte Maggie die beiden dadurch, daß sie mit klarer Stimme sagte: «Du, Patty, wenn du heute in die Stadt kommst, darfst du nicht vergessen, aufs Schlachthausbüro zu gehen und mir für jeden Schlachttag ein Faß Blut zu bestellen. Ich hab gesehn, wie gierig sie es reinschlabbern … Und ist ein billiges Futter; aber junge Leute müssen nun einmal immer ihren eignen Weg gehen.»
Patty antwortete nicht gleich, schließlich sagte er: «Das ist aber ne lästige Geschichte, das den Berg raufzubringen. Überhaupt ne lästige Geschichte, Fässer mit flüssigem Zeug auf dem Wagen zu haben …»
«Ach was!» gab Maggie zurück. «Wenn ihr Mannsleute das nicht könnt, ich kann es!»
Bei Tagesanbruch stand Patty auf und sagte, während er sich sein rotes Halstuch umband: «Jetzt geh ich aber und hol Vater Parker – um die Zeit kann man ihn schon stören!»
«Wenn wir so lang gewartet haben, können wir auch noch eine Stunde warten!» widersprach Maggie. «Der Tag wird noch lang genug.»
Patty glich einem Mann, der einen Brief bekommen hat, von dessen Inhalt er nur weiß, daß er unangenehm ist, und der deshalb anfänglich das Öffnen gern verschieben möchte, obwohl ihn eine innere Stimme treibt, den Umschlag aufzureißen, damit es endlich überstanden ist. Es wird von Leuten erzählt, die solche Briefe zu verbrennen pflegen. Dieser Tag jedoch ließ sich nicht verbrennen und würde Schweres für sie alle mit sich bringen. Und Patty lechzte darnach, den Umschlag aufzureißen, um den Inhalt kennenzulernen. Aber er setzte sich wieder hin.
Um die Zeit, als der Rauch aus den ersten Schornsteinen kroch, kam Vater Parker. Er trat ein, sprach ein Gebet über Barney und ging gleich wieder fort, um einen schnellen Boten in die Stadt hinunterzuschicken, der einen Arzt holen und die Polizei alarmieren sollte. Denn das Dorf hatte kein Telephon. Nicht einmal der Wirt war hierin mit der Zeit gegangen. Vater Parker hatte eine leichte Lungenentzündung, was seine Bewegungsfreiheit behinderte, aber er kam kurz darauf wieder zur Tür herein, und seine erste Frage war: «Hat Barney intimere Freunde in der Stadt gehabt, denen es schonend beigebracht werden muß?»
«Seine Braut – Kitty!» sagte Bombay.
«Kitty? – Ach, das junge Mädchen …» Der Pfarrer war sich selber ins Wort gefallen, denn er hatte sagen wollen: das junge Mädchen, das mit ihm in der Morgenrotschlucht war. Aber Vater Parker war verständiger als viele andre Pfarrer. Zuweilen benutzte er auch seine beginnende Taubheit und tat, als ob er deshalb nichts wüßte. Er fuhr also fort: «Wer soll es ihr sagen?»
«Ich muß sowieso hinunter!» erklärte Maggie. «Das arme Mädchen! Es wird sie hart ankommen.»
Nach einer Pause, während der er seine Lippen mehrmals wie in lautloser Rede bewegte, sagte Patty in seiner sanftmütigen Art: «Nimm's nicht für ungut, aber ich glaub, es wär doch besser, wenn das jemand andres täte – jemand andres!»
«Willst du mir vielleicht sagen, warum ich nicht gut genug dafür sein soll?»
«Ach, doch nicht, weil du nicht gut genug wärst …»
«Warum denn sonst?»
«Ich kann das nicht so erklären, aber ich weiß, daß es richtiger ist, wenn es ein andrer tut.»
Hier griff Vater Parker ein und sagte: «Ich will es gern tun, obwohl ich heute zwei Messen zu lesen habe. Da muß eben Vater Moran die eine übernehmen.»
«Vater Parker darf mir das nicht übelnehmen … Ich bin ein einfacher Mann … Aber ich glaube, es wär besser, wenn das ein andrer …» sagte Patty.
«Und warum, wenn mir die Frage erlaubt ist?»
«Ich kann das nicht so erklären … Aber ich fühle, daß es richtig ist … Ein anderer sollte das tun – einer, der sie besser kennt.»
«Wer kennt sie denn besser hier oben?»
«Ich, Vater!»
«Hm! Ich weiß nicht, wie gut du sie kennst. Aber ich weiß, es gehört viel Takt dazu, eine solche Botschaft zu überbringen.»
«Eben deshalb!» sagte Patty mit stiller Würde.
Der Geistliche sah ihn einen Augenblick prüfend an, aber es lag, wie er es sich schon im voraus gedacht hatte, nichts von Aufsässigkeit in Pattys Erscheinung, wie er so dastand, immer mit dem Hut in der Hand und dem roten Bart und dem weißen Haar, das wie ein Helm auf dem Kopf saß.
«Mach's, wie du willst. Keiner beneidet dich um diese Aufgabe. Geh hin in Frieden!»
«Nein, das ist kein leichter Gang, wenn man so von Tod und Unglück erzählen soll!» pflichtete ihm Maggie bei.
Patty ging den ganzen Weg zu Fuß hinunter, und unterwegs kam ihm ein vollbesetztes Polizeiauto entgegen. Das brachte etwas Verwirrung in seine Gedanken, die sich darum drehten, wie er Kitty recht schonend von dem Mord unterrichten könnte. Schon einmal war Patty in einer ähnlichen Sache unterwegs gewesen. Ein Kamerad von ihm war bei einer Explosion in einem Steinbruch ums Leben gekommen, und seine Frau befand sich in anderen Umständen. Und da hatte Patty sich entschlossen, nur langsam mit der Wahrheit herauszurücken und hatte der Frau erzählt, daß ihr Mann zu Schaden gekommen sei. Wenn es sich um jemand andres gehandelt hätte, wäre es der Frau sofort klar gewesen, daß man ihr eine barmherzige Lüge erzählte, aber man erwartet ja immer, daß einem selbst das Schlimmste erspart bleibt. Na, Lügen haben meistens kurze Beine, und so war die Wahrheit in Gestalt einer Nachbarin heiser und kurzatmig zur Tür hereingekommen, ehe noch Patty das Haus verlassen hatte …
Aber in diesem Fall hier sagte es Patty eine innere Stimme, daß alle Umschreibungen keinen Zweck hatten, und daß Kitty ein Mädchen war, das sich mit unverbundenen Augen köpfen lassen würde. Aber je näher er der Stadt kam, desto elender wurde es ihm ums Herz, und so trieb er sich zuerst eine Weile unschlüssig herum, bis er schließlich vor der Wohnung des Holländers stand und klingelte. Aber das französische Stubenmädchen, behend wie ein Eichkätzchen, gestriegelt und gebügelt und geschminkt, riß mit der ganzen Lebendigkeit ihrer gallischen Rasse die Augen auf, lächelte Patty strahlend an, hob beide Hände mit einer entzückenden Gebärde des Bedauerns und sagte: «Unmöglich! Die Herrschaften sind nicht vor zehn Uhr zu sprechen, unter keinen Umständen vor zehn. – Von wem darf ich Grüße ausrichten?»
«Sagen Sie nur, es war …» Der Rest ging in einem Gemurmel unter.
Auch Pater Aloysius traf er in dem kleinen Franziskanerkloster nicht zu Hause, und so begab sich Patty schweren Herzens in Holdens Manufakturwarenhandlung, wo die Putzfrauen mit ihrer Morgenarbeit noch nicht fertig waren, und fragte, ob er Fräulein Kitty sprechen könnte.
Bis zu dem Augenblick, wo der Auslieferer zurückkam und erklärte, Kitty wäre beschäftigt und könnte nicht gestört werden, war Pattys Hirn blank wie ein Spiegel gewesen, ohne die leiseste Erinnerung an die Erlebnisse des gestrigen Tages. Die Erschütterung darüber, daß er Barney ermordet mitten auf dem Weg hatte finden müssen, dessen Friede durch Menschenalter anscheinend unzerstörbar gewesen war, hatte den Alten nüchtern gemacht, und in der mit den beiden andern verwachten Nacht waren ihm seine eignen Sorgen völlig entfallen. Er hatte nichts mehr davon gewußt.
Aber nun erhob sich hier eine neue Schwierigkeit: Kitty wollte ihn nicht sehen! Patty verstand augenblicklich, wie tief er sie damit verletzt haben mußte, daß er sich tags zuvor vor aller Welt Augen in diesem Aufzug gezeigt hatte. In den umnebelten Gefilden seines Geistes formte sich diese Erkenntnis zu Landschaften von Scham, Dankbarkeit und Ehrfurcht. Dankbarkeit, weil ein Mensch ihm die Ehre erwies, ihm zu zürnen, ihn also doch nicht verachtete. Ehrfurcht, weil es noch gerade und edle Frauen gab, die Irland vorwärtsbringen konnten – selbst wenn man sie hinter einem Ladentisch suchen mußte. «Aber ich muß sie sehen!» sagte er.
«Dann kommen Sie eben später wieder!» entgegnete der Auslieferer. «Gegen Mittag kommt das Fräulein zur Ablösung hier herunter in die Auslieferung.»
Patty überlegte. Es handelte sich doch auch darum, daß ihm niemand zuvorkam und durch Plumpheit alles zerstörte. «Ich muß Fräulein Kitty sofort sprechen. Es ist jemand schwer erkrankt.»
«Ich kann's ja versuchen und es ihr sagen!» schlug der junge Mann nachgiebig vor.
«Nein, nein!» Patty schrie es beinah heraus. «So was dürfen Sie ihr nicht sagen! Um Gottes willen, nur das nicht!»
«Ja, dann kann ich nichts für Sie tun.»
Patty dachte noch einmal nach und kam endlich zu einem Entschluß. Er beugte sich über den Ladentisch und sagte leise: «Es ist jemand – gestorben!»
Der andere blickte ihn prüfend an und fragte im gleichen Ton: «Doch nicht Mac Cleary?»
«Kommen Sie mit!»
Als Kitty von ihrer Arbeit hinter den großen Büchern aufblickte und Patty allein an der Tür stehen sah, runzelte sie die Brauen. «Haben Sie denn nicht verstanden, daß ich während der Arbeitszeit nicht gestört werden darf?»
Patty hatte es verstanden; aber …
«Sie müssen sofort wieder gehen, bevor Herr Holden kommt. Seit gestern gehört er nicht grade zu Ihren Bewunderern.»
Patty blickte auf: «Ich geh sofort … Aber erst muß ich Ihnen was sagen … Mir tut das leid – das von gestern, und ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie mir geholfen haben …»
«Ja, schon gut! Und nun gehn Sie!»
«Aber ich bin nicht gekommen, um Ihnen das zu sagen …»
«Nun passen Sie aber auf, daß es heute nicht auch wieder schlimm ausgeht!»
«Heute nicht … aber vielleicht später.»
«Also, was ist denn?»
Patty holte tief Atem und stieß hervor: «Barney …»
Sie sah ihn scharf an und wurde leichenblaß. Und dann brach es in einem Schrei hervor.
«Nein!» schrie sie.
Die – wenn man so sagen darf – authentische Schilderung des Unglücks bekam der Holländer erst zwei Tage später, als Patty wieder in der Stadt war und auf der Polizei ein stundenlanges aufreibendes und ihn demütigendes Verhör hatte durchmachen müssen.
Das Gesicht des Holländers versteinerte sich förmlich, als ihm Patty gemeldet wurde. «Setz dich und erzähl mir das Ganze!»
Und Patty setzte sich treu seiner Gewohnheit auf die Kante des Stuhles. Dann erzählte er, und zwar langsam und nach jedem Wort suchend. War es doch ungeheuer wichtig, daß die Darstellung sich streng an die Wahrheit hielt – ohne Ausschmückung und ohne daß etwas fehlte. Und er war ein guter Beobachter und besaß die Fähigkeit, seine Beobachtungen in Worte zu kleiden.
«Und Fräulein Quinn kam hin, um Kitty aufzusuchen?»
«Ja, sie kam, um nach dem armen Mädel zu sehen.»
«Warum? Um sie zu trösten? Das klingt nicht sehr wahrscheinlich … Ihre Liebe reicht nur bis zu den Eseln und Buchfinken.»
«Sie hat das Mädel gescholten, weil sie es nicht mit größerer Fassung trug.»
«Luder!» sagte die Frau des Holländers ruhig und aus vollem Herzen.
«Und als Kitty dann weinte und sie bat, sie sollte sie doch in Frieden lassen, brauste die Quinn auf und schrie: ‹Ist Irland ein Land von Schwächlingen? Sollen sie sterben, wenn es sein muß! Wir beklagen uns ja auch nicht, daß wir sterben müssen, oder sonst was dergleichen.›»
«Und Kitty, das tapfere Mädel … sie nahm das alles so hin?»
«Nicht ganz.»
«Was hat sie gesagt? Ich kann mir nicht denken, daß sie selbst im größten Leid völlig maßlos werden könnte …»
«Sie hat eigentlich nur ein Wort gesagt … Aber das kann ich nicht gut wiederholen …»
«Was soll das heißen, Patty? Wir sind doch keine Kinder!» sagte die Frau des Holländers.
«Sie sagte: ‹Saumensch!› und gab ihr einen Stoß unters Kinn, daß die Quinn rücklings in den Viehtrog mitten auf dem Hofe fiel … Und dann ging sie ins Haus, und die Quinn setzte sich auf ihr Rad, ohne ein Wort zu sagen.»
Selbst Patty konnte nicht umhin, zu lächeln, und der Holländer sagte: «Solange es noch Kittys in Irland gibt, ist das Land nicht ganz verloren.»
«Sie haben im Cumann na mBan doch allerhand gelernt!» bemerkte seine Frau nachdenklich.
Trotz alledem lag eine nervöse Spannung in der Luft.
Eine halbe Stunde, nachdem Kitty Pattys unglückselige Botschaft empfangen hatte, kam sie bleich und gefaßt zu Herrn Holden ins Büro und sagte: «Ich nehm mir heute frei!»
«Das kommt jetzt aber recht häufig vor!» erwiderte Holden mürrisch. «Du weißt doch, daß viel zu tun ist.»
Selbstverständlich wußte Kitty das genau, darum sagte sie: «Barney ist tot.»
Herr Holden fuhr auf. «Oh!» war das einzige, was er zunächst sagen konnte. Er fügte schnell hinzu: «Das tut mir leid!» wußte aber im gleichen Augenblick, daß dies weder ausdrückte, was er hatte sagen wollen, noch das, was er fühlte.
«Er ist heute nacht erschossen worden!» fuhr Kitty fort. «Nun haben sie ihn doch noch erwischt.»
«Oh, oh!» sagte Holden und war fast ebenso bleich wie das Mädchen. «Hast du's Minnie schon gesagt?»
«Nein. Willst du das nicht tun? Du wirst verstehn …»
«Wenn die Polizei die Mörder nicht findet, ich find sie!» fuhr Kitty fort. «Und wenn ich selbst sie niederknallen muß!»
«Die finden sie schon!» Holden wußte nicht, was er sonst sagen sollte.
«Die finden sie schon – nicht!» verbesserte Kitty verzweifelt und einem Weinkrampf nah. Aber sie riß sich zusammen und sagte: «Ich geh jetzt – ich muß allein sein.»
«Selbstverständlich, selbstverständlich!» entgegnete Holden. «Ich wünschte nur, wir könnten was für dich tun.»
Holdens Ehe war glücklich – er sagte: wir!
«Das weiß ich!» erwiderte Kitty und drückte ihm die Hand. «Aber wenn's drauf ankommt, können wir ja nichts füreinander tun.»
Holden stammelte irgend etwas Sinnloses.
Sie gab ihm einen Kuß und sagte mit einem kranken Lächeln: «Du bist lieb!» Dann ging sie.
Es sagt allerhand über zwei Menschen aus, daß Kitty nicht einen Augenblick darüber im Zweifel war, wohin sie gehen sollte. Ohne sich zu bedenken, ging sie den ihr so vertrauten Weg zu Jimmy, und es war eine bittere Enttäuschung für sie, als sie schon unten am Fuß der Treppe hörte, daß der verabschiedete Pfarrer droben und daß er – seinem lauten Reden nach zu schließen – betrunken war. So ging sie langsam die Treppe hinauf und stand eine Weile lauschend vor der Tür. Der Pfarrer erzählte Geschichten, hatte also wirklich einen Rausch.
Sie dachte nach und war schon wieder auf dem Weg nach unten, raffte sich dann aber zusammen. Denn wo sollte sie sonst hingehen?
Drinnen im Zimmer nickte sie den beiden zu, setzte sich still in einen Winkel in der Nähe des Fensters und hörte dem trunknen Geschwätz des verabschiedeten Pfarrers zu:
«Ich weiß nicht, ob ihr den schon kennt? Der alte Aron liegt im Sterben und – hm! wie war es doch gleich? – ja … er sagt zu dem jungen Moses: ‹Wenn ich dir jetzt zehntausend Mark hinterlasse, was machst du damit?› – Wißt ihr, was der Halunke antwortete?»
«Ich zähl sie nach!» würgte Kitty hervor. Sie war nah daran, zu ersticken.
«Ach, du kennst ihn schon! Aber ich weiß einen Schottenwitz, den ihr sicher nicht kennt – ich hab ihn nämlich erst gestern selber gemacht …»
Da erhob sich Kitty und legte ihm die Hand auf die Schulter: «Tun Sie mir den Gefallen und gehn Sie!»
«Gehen? Warum soll ich gehn? Es ist doch furchtbar nett hier! Wenn meine Geschichten dich anöden, hör ich gern damit auf. Ich bin nicht so empfindlich, liebes Kind!»
«Ich will Sie nicht kränken, Vater, aber tun Sie mir den Gefallen und gehn Sie! … gehn Sie! … gehn Sie doch! Es ist was Furchtbares geschehen.» Einen Augenblick sahen sie sich schweigend an, dann warf sie sich schluchzend auf die Knie und legte ihren Kopf irgendwohin auf das unwahrscheinliche Rohr, das Jimmy Malone seinen Körper nannte. «Er ist tot!» schluchzte sie.
Der Pfarrer blickte sich verwirrt um: «Verzeihung! Wer ist tot?»
«Barney!» antwortete Jimmy. «Barney ist tot. – Armes, armes Kind!» Er strich ihr übers Haar, und als der Geistliche ihm einen Blick zuwarf und gleichzeitig eine fragende Kopfbewegung nach der Tür hin machte, nickte Jimmy langsam und ernst. Dann gab er dem Pfarrer über dem Kopf des schluchzenden Mädchens die Hand, die er frei hatte, und bevor der andre ging, schlug er das Kreuz über sie.
Während er draußen die teppichbelegte Treppe hinunterstieg, murmelte er vor sich hin: «Gott tröste sie! Gott sei uns allen gnädig! – Aber … aber … Konnte ich was dafür, daß ich grade in diesem unglücklichen Augenblick Witze erzählen mußte? – Selbstverständlich! Ich kann was dafür, weil ich betrunken bin. Aber abgesehen davon … Das Leben hat mehr Kakophonien als Symphonien, und können vielleicht Kinder was dafür, daß sie spielen, und es kommt grade ein Leichenzug daher? – Nein, das kann ja nicht sein …»
Er fand noch andere schöne Beispiele dafür, wie wenig die Menschen dafür können, daß es hienieden so manchen Mißton und häßlichen Laut gibt; und draußen vor Onkel Toms Hütte sagte er: «Das arme Mädel!»
Und ging vorbei.