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Viertes Kapitel

Zwischenspiele

Johann Preinlinger, unser Werkführer in der Wichsfabrik, war ein absonderlicher Kauz. Schon sein Äußeres tat dies kund. Von einer schrecklichen Leibesgröße, bestand er nur aus Haut und Knochen, und wir vier Angestellten der Fabrik nannten ihn den Kleiderrechen. Obzwar Wiener von Geburt und seinem ganzen Benehmen nach, bildete, er sich ein, französischer Abstammung zu sein, und begründete diese Tatsache damit, daß er das uneheliche Kind eines Pariser Kellners sei. Er war riesig stolz auf diese zweifelhafte Zugehörigkeit zur französischen Nation und bestrebt, sie bei jeder Gelegenheit hervorzuheben und davon zu sprechen. In der Werkstätte, die aus ein paar engen Wohnräumen im dritten Stock eines Zinshauses bestand, mußten wir ihn mit Meister Jean ansprechen, und zwar so, wie Jean geschrieben wird, nicht wie die eigentliche französische Aussprache lautet. Er meinte, das sei Altfranzösisch und besonders vornehm. Den Wiener Dialekt, der ihm angeboren war, bog er in ein schauerliches Hochdeutsch um und spickte seine Reden mit einer Unzahl von Fremdwörtern. Um sich deren immer mehr aneignen zu können, trug er stets ein Fremdwörterbuch bei sich, in dem wir ihn eifrig herumblättern und lesen sahen. Gern hätte er es gesehen, wenn um sein spitzes Kinn ein Napoleonsbart gewachsen wäre, das wollte ihm aber trotz aller Pflege nicht gelingen. Meist trug er sich mit einer possierlichen Eleganz. Selbst bei der schmutzigsten Arbeit legte er seinen hohen Stehkragen und die schwungvolle Krawatte nicht ab. Die blaue Zwilchhose, die er bei der Arbeit zu tragen pflegte, mußte eine ebenso tadellose Bügelfalte aufweisen wie die seines Straßenanzuges.

Den größten Schmerz bereitete ihm sein wienerischer Familienname Preinlinger, der beim besten Willen nicht französisch klingen wollte; wehe, wenn ihn einer seiner Untergebenen so ansprach! Er wurde beinahe Anarchist, weil ihn die beiden Chefs, zwei jüdische Kaufleute, die übrigens keine Ahnung von Wichs- und Stiefelschmierbereitung hatten, Herr Preinlinger nannten!

Mit einem Namensveränderungsbüro stand Meister Jean stets in Verbindung, und er träumte oft von jener schönsten Zeit, da er endlich seinen vulgären Namen mit einem edlen französischen vertauschen durfte. Von solchen hatte er sich schon eine ganze Liste kommen lassen, und seine Gedanken waren nur mit der Wahl beschäftigt.

Trotzdem er verheiratet war und sein hübsches Weib sowie seine zwei herzigen Kinder innig liebte, glaubte er es seinem leichten romanischen Blute schuldig zu sein, daß er jedem weiblichen Wesen, das in seine Nähe kam, auf die graziöseste Weise den Hof machte und eine heiße Liebeserklärung vorbrachte.

Neben dieser Eigenheit hatte Meister Jean einige gute Eigenschaften, die ihn bei seinen Untergebenen beliebt machten. So war er ein lebendiges Witzlexikon, und er sprudelte während seiner Arbeit – sei es nun beim Umrühren des kochenden Terpentins, was in einem mächtigen Kupferkessel geschah, oder beim Verreiben der verschiedenen Ingredienzien in einem Mörser – eine Anekdote nach der anderen heraus. Er konnte es darin mit zehn Geschäftsreisenden aufnehmen, die in dieser Kunst bekanntlich Meister sind.

Da er einen auskömmlichen Lohn hatte, von den Sorgen des Proletariers nicht bedrängt wurde, war er selten schlechter Laune, trotzdem er nicht gesund war, denn ein böser Husten quälte ihn oft in beängstigender Weise. Er schob dies auf das Einatmen der Dämpfe beim Kochen chemischer Stoffe und mochte darin nicht so unrecht haben, stank es doch manchmal in der Küche fürchterlich nach Äther, Schwefel und Phosphor. Eher taten ihm seine schlanken, feinen Hände leid, die, immer von frischen Brandblasen bedeckt, nie gänzlich verheilen wollten, weil das siedende Terpentin ihr geschworener Feind war.

Auch ich hatte bald Finger und Handflächen voll von wässerigen Bläschen, die unangenehm schmerzten, besonders, wenn ich aus den warmen Räumen in die Winterkälte hinaus mußte. Abgesehen von diesem kleinen Opfer, das ich hier der Arbeit bringen mußte, war diese auch sonst nicht ungefährlich. Das Sieden der Wichse und Stiefelsalben geschah auf offenem Feuer, und ein großer Sandhaufen neben dem Ofen war, die einzige Sicherheitsvorrichtung, die man zum Löschen eines eventuellen Brandes getroffen hatte. Viel Vertrauen hatte ich dazu nicht, denn der Sand war unter dem Einfluß der Feuchtigkeit eine feste Masse geworden, die nur mit der Hacke zerkleinert werden konnte. Als ich dies bemerkte, brachte ich meine Entdeckung einem der »Fabrikbesitzer« zu Ohr, der mich aber gegen seine Gewohnheit anschnauzte und mir riet, mich um nichts anderes als um meine Arbeit zu kümmern.

Monsieur Jean, dem ich von meinem Verweis erzählte und den ich auch auf die geringe Wahrscheinlichkeit aufmerksam machte, den Stein wirkungsvoll zum Löschen zu verwenden, meckerte mich an, strich sich seine sechs Ziegenhaare zurecht und sagte: »Musjöh, dös haben wir auch schon gesähn, aba da geschüht nix! Und wenn's ja einmal anfängt zu brennen, was gäht's denn uns an?«

Da mußte ich ihm recht geben. Freilich, was kümmerte es uns dann, wenn wir in Sicherheit waren, ob es droben den Fußboden ankohlte oder die ganze Einrichtung vernichtete! Was wir aber beginnen sollten, wenn wir selbst, was leicht möglich war, Feuer fingen, darauf wußte ich keine Antwort, und ich beruhigte mich mit dem echt wienerischen »Es wird eh nix gschehn«. Mehr Sorge bereitete mir die Arbeit an der Spiritustrommel. In dieser wurde der Spiritus oder Weingeist durch schnelles Umdrehen mittels einer Kurbel zum Sieden gebracht. Nun hatte mir der Werkführer erzählt, daß in der Fabrik, in der er früher beschäftigt war, einmal eine solche Trommel geplatzt war und die Leute, die an ihr beschäftigt waren, nicht unerheblich verletzt hatte. So lebte ich stets in der Angst vor der Wiederholung eines solchen Unglücks, und wenn an mich die Reihe des Spirituskochens kam, so verließ mich das Gefühl der Todesnähe nie, oft glaubte ich den Tod aus der riesigen Metallröhre auf mich springen zu sehen. Ich hütete mich aber wohl, meine Furcht merken zu lassen, um nicht ausgelacht zu werden, denn ich hatte noch nicht die Teilnahmslosigkeit gegenüber der Gefahr, die den älteren Proletariern meistens eigen ist.

Meister Jean unterwies mich auch im Packen der Postpakete, worin er eine große Fertigkeit besaß. In einer Stunde bereiteten wir viele Dutzende von Postsendungen, die wir dann mit Hilfe der »Manipulantin« zur Post brachten. Als mein Lehrmeister beim Einpacken durch das viele Herumhantieren mit den schweren Paketen von starken Hustenanfällen geplagt wurde, nahm ich diese Arbeit für mich allein in Anspruch, wofür er mir sehr dankbar war. Oft redeten wir ihm zu, einen Arzt zu Rate zu ziehen, aber er wollte davon nichts wissen.

»Wer lange hustet, lebt lange«, gab er uns zur Antwort. »Die Doktores sind gleich da mit dem Niederlegen. Ich fihle mich ja ganz respektabel, Musjöh und Madams. Das büßchen Husten hat noch keinem affektionieret.«

Wir schwiegen dann meist, um ihn nicht zu ärgern. Wenn er aber dann hinausging, sagte Frau Dostal, unsere älteste Hilfsarbeiterin, bedauernd und zugleich etwas beleidigt über Meister Jeans Eigensinn:

»Der wird no dö Überfuhr vasaman. Schauts ihm nur an, jeden Tag wird a weniga. Bald wird sei Hosn allani herumspaziern. Und dö roten Fleck in' Gesicht! Dös san unsan Herrgott seine Postmarken für d' Ewigkeit.« Stand er dann wieder bei uns am Tisch, ununterbrochen erzählend, singend und pfeifend, so nannten wir andern Frau Dostal eine Schwarzseherin und dachten an nichts Böses.

Langsam zog die farbenselige Weihnachtswoche in das Grau des Winters ein. Wir hatten alle Hände voll zu tun, um die von den Reisenden eingesandten Aufträge noch vor Beginn der Feiertage zu erledigen. Zu diesem Zweck machten wir alle Abende Überstunden. Meister Jean blieb sogar oft bis mitternachts allein in der Küche, um mit der Fabrikation der feinen Schuhcremen nachzukommen. Nach solcher Nachtarbeit war er dann furchtbar anzuschauen. Die Augen lagen fiebrig glänzend in den braungrau umränderten Höhlen, und ein nicht aussetzender Husten wollte ihm schier die Brust sprengen. Jetzt fühlte er wohl selbst, daß es nicht so weitergehen könne.

»Gleich nach den Feiertagen will ich euch adjös sagen und mich ins Bett akkomodieren«, beruhigte er uns, wenn er unsere über seine Hustenkrämpfe bestürzten Mienen sah.

Trotz seiner erhöhten Kränklichkeit und vermehrten Arbeit war er in diesen Tagen besonders guter Laune. Wie er uns froh und begeistert erzählte, hatte ihm sein Winkeladvokat mitgeteilt, daß seiner von ihm so heiß ersehnten Namensänderung nichts mehr im Wege stehe und nur mehr einige kleine Formalitäten zu erledigen seien. Freilich, gerade jetzt koste es noch einen Haufen Geld, und darum könne er sich auch nicht schonen und müsse froh sein, die vielen Überstunden machen zu dürfen. Er bekäme ja dafür einen so wunderschönen Namen statt seines alten! In ein paar Wochen sollte er nicht mehr Johann Preinlinger, sondern Jean Painlevé heißen, und er schwelgte im Aussprechen dieses neuen Namens. Bald sang er ihn gebieterisch in den kochenden Hexenbrei, bald flüsterte er ihn zärtlich vor sich hin, um ihn endlich triumphierend wie einen Schlachtruf durch die Werkstätte zu schleudern. In seiner Abwesenheit tippte sich Frau Dostal erst auf die Stirn und dann auf die Brust, wobei sie uns bekümmert zutuschelte: »I waß net, wo unsa Masta mehr krank is, da oben oder in sein Brüsterl! I man allaweil, 's war bald gscheiter für ehrm und sei Famüli, wanns ehrm außiblasarn aufn Hernalser Friedhof, denn sunstn kummt er no wegn seiner Französerei aufn Steinhof! Und do außi wünsch i mein größten Feind net! – Nebn uns dö Nachbarin auf anazwanzg hat a Tant, und dera Tant ihrer Freindin da Mann, a kreuzbrava, bamstarka Mann, der in a Staniolpapier eingwickelt ghört hätt...« Das Erscheinen eines Chefs störte sie in der mindestens schon dreimal erzählten Schauermär, in der ein Mann von einer Leiter herabgefallen und durch den Sturz geisteskrank geworden ist, so daß er seine traurigen Tage in der Irrenanstalt am Steinhof verbringen mußte.

Am Weihnachtstage hatte ich mich morgens um eine Stunde früher als sonst an meinem Arbeitstisch eingefunden. Ich wollte die Werkstätte noch schnell einer gründlichen Reinigung unterziehen, bevor das übrige Personal kam, damit ich abends eher zu meiner Mutter heimeilen und mit ihr noch rechtzeitig unsern kleinen Christbaum schmücken konnte. Meiner Gewohnheit gemäß machte ich durch das Rubinglasfenster einen Blick in die Höhe des Lichthofschachtes, in den das Fenster unserer Küche mündete. Zu meinem größten Erstaunen bemerkte ich im schleierigen Dämmer des Wintermorgens in dieser Licht. Wer konnte dort sein? Von den Herren steckte kaum einmal einer seine Nase in die Küche, und außerdem erschienen sie nie vor neun Uhr im Büro. Wohl hatte gestern abends der Werkführer, wie gewöhnlich, noch bei unserem Weggehen gearbeitet, denn ich hatte ihm sein Nachtmahl heraufbringen müssen. Vielleicht hatte er vergessen, das Licht zu löschen, was aber bei seiner sonstigen Pedanterie kaum anzunehmen war. Nun, ich würde ja sehen. Als mir aber die Hausmeisterin, die sonst die Schlüssel in Bewahrung hielt, mitteilte, daß ihr der Werkführer gestern abend keine Schlüssel übergeben hatte, stieg ein bängliches Gefühl in mir auf. Obgleich ich mir zu meiner Beruhigung sagte, daß der Werkführer wahrscheinlich die ganze Nacht hindurch gearbeitet hatte, bat ich doch die Hausmeisterin, mich hinaufzubegleiten. Wir fanden die Tür zur Werkstätte unversperrt. Jetzt war ich überzeugt, daß Meister Jean die Nacht trotz seines schlechten Gesundheitszustandes im Kochen neuen Cremevorrats verbracht hatte, und war empört über solchen Leichtsinn; er hatte doch auf Weib und Kind Rücksicht zu nehmen und nicht in solcher Weise gegen seinen kranken Leib zu wüten! Trotz meiner untergeordneten Stellung wollte ich ihm tüchtig meine Meinung sagen, und ich stellte mir schon in Gedanken das verdutzte Gesicht vor, das er zu meiner Morgenpredigt machen würde.

Da wurde ich plötzlich durch einen Schreckensruf der Hausmeisterin, die mir vorausgegangen war, in die Küche gezogen. Was ich da erblickte, ließ meinen Vorsatz in nichts hinwehen. Neben dem abglühenden Ofen lag unser Werkführer, grauenhaft röchelnd, Kopf und Rücken an den Sandhaufen gelehnt, im Antlitz grauer als die Asche neben ihm. Seine Bluse war vom Blut gerötet, das in Schaumblasen auch an seinem Mund hing; ein dampfiger, lange aussetzender Atem blähte ihm die Brust zum Zerspringen auf. Er schien nicht bei Bewußtsein, denn trotz des konfusen Herumschreiens der Hausbesorgerin öffnete er nicht einmal die Augen. Ich rannte ins Vorzimmer um frisches Wasser und machte ihm mit ein paar Fetzen kalte Umschläge auf die Stirn, während die Hausmeisterin hinuntereilte, um die Rettungsgesellschaft zu alarmieren. Als die Sanitätsdiener mit einer Tragbahre, von dem Arzt gefolgt, in die Küche traten, lag Meister Jean noch immer regungslos auf dem Sandhaufen. Auch bei der vorsichtigen Untersuchung des Arztes zitterte kein Zeichen des Bewußtseins durch seinen Körper. Noch immer vor dem Kranken auf den Knien liegend und ihm die entblößte Brust leicht abwaschend, fragte mich der Arzt nach dem Namen und Beruf des Patienten. Als ich ihm den Namen Johann Preinlinger nannte, war es mir plötzlich, als öffnete Meister Jean seine Augen und blickte mich vorwurfsvoll an: Warum mich selbst in solcher Stunde mit dem verhaßten Namen quälen!

Die Diener legten ihn hierauf behutsam auf die Tragbahre, um ihn die Stiegen hinunter und in den Wagen zu schaffen. Gleich darauf hörte ich von der Straße herauf den schrillen Signalpfiff der Rettungsgesellschaft, der mir anzeigte, Meister Jean befindet sich auf dem Weg zum Spital.

Meine Arbeitskollegen hatten unterdessen in der Hauseinfahrt von dem Unglück gehört, und Frau Dostal meinte mit einem tiefen Seufzer: »Dö Nacht hab i tramt, daß mir a Zahn ausgfallen is, das bedeut immer an Todesfall.«

An diesem Tag sprachen wir nicht viel miteinander. Meister Jean mit seinen lustigen Einfällen fehlte uns. Nur manchmal gab der eine oder andere laut seiner Hoffnung Ausdruck, ihn bald wieder unter uns zu sehen, gesund und seiner französischen Abstammung stolz, wie ein Emigrant aus altem Adel. Nur Frau Dostal schüttelte ein um das andere Mal den Kopf, indem sie bedauernd murmelte: »Mei Tram vom ausgfallenen Zahnt, der Tram – des is a schlechts Zeichen. No a jedsmal is aner gsturben!«

Wir hatten des Weihnachtsabends wegen um drei Uhr Feierabend gemacht und waren eben im Begriff, die Stiege hinunterzugehen, als uns die weinende Frau Meister Jeans entgegenkam. Sie teilte uns unter krampfhaftem Schluchzen mit, daß ihr Mann vor einer Stunde im Spital gestorben war.

»Mei Tram, mei Tram, ös habts ma's net glauben wolln«, sagte Frau Dostal noch zu uns. Darin gingen wir mit kurzem Gruß traurig auseinander, jeder seinem Weihnachtsbaum zu.

*

»Wanns bei mir als Hilfsarbeiter und Laufbursch eintreten wolln, so könnens am Montag anfangen«, sagte unser Schachtellieferant eines Tages zu mir, und da er mir wöchentlich eine Krone mehr zahlen wollte als die »Wichsefabrik«, war ich mit seinem Vorschlag einverstanden und verließ nach dreimonatiger Tätigkeit den Schauplatz, der meine Anfänge als jugendlicher Hilfsarbeiter gesehen hatte.

Die Werkstätte, in der die Kartons erzeugt wurden, bestand aus einem Kellerraum, dessen fünf Fenster sich unter dem Niveau einer engen Gasse befanden. Der Besitzer war neben mir der einzige männliche Arbeiter in der Werkstätte, in der an drei langen Tischen sechs Arbeiterinnen saßen, von mächtigen Pappendeckelgebirgen umgeben. Wasserhelle Kugelaugen mit einer Spur ausgebleichter Brauen darüber, widerspenstiges Blondhaar auf dem Kopfe, das auch wie eine abgenutzte Zahnbürste unter der fleischigen Nase zum Vorschein kam, dazu eine große Schüchternheit im Verkehr mit anderen Leuten, selbst wenn es seine Arbeiter waren, verliehen meinem neuen Brotherrn einen Ausdruck von Sanftmut, der seinen Namen Joseph Wut Lügen strafte. Stundenlang konnte er vor seiner Zuschneidemaschine stehen, ohne einen Befehl an uns zu richten. Zumeist blickte er mit ängstlichem Gesicht auf seine Arbeit, und wenn die übermütigen Arbeitsmädel gar zu großen Lärm machten, richtete er einen wahren Hundeblick voll Kummer und wehmütigen Vorwurfs auf sie, als ob er sagen wollte: »Seht, ich bitte ja vom Morgen bis zum Abend um Verzeihung, daß ich auf der Welt und euer Brotgeber bin! Warum erkennt ihr das nicht an?«

Als er mir das Heften der gefalzten Kartons und das Nageln der Holzteile erklärte, entschuldigte er jeden ungeschickten Handgriff, den ich machte, als ob er der Schuldige wäre. Auch den Arbeiterinnen sah er jeden Fehler nach; hatte ihm aber eine von ihnen durch schlampige Arbeit gar zu großen Schaden zugefügt, so raffte er sich endlich zu einer Rüge an das Personal auf und gab stotternd und leise seinen Unwillen kund. Wir sahen es ihm dann aber an, wie weinerlich ihm zumute war und wie schwer es ihm wurde, sein Recht zu verlangen. Die Folge war, daß nicht er, sondern die Arbeiterinnen die Werkstatt beherrschten, was zu vielen Streitigkeiten unter diesen führte, weil jede die Herrschaft an sich zu reißen versuchte; es konnte sogar geschehen, daß zwischen zwei besonders aufeinander erbosten Rivalinnen ein erbitterter Haarkampf entbrannte und er seine liebe Not hatte, die beiden zu trennen. Meistens geschahen solche Auseinandersetzungen in Abwesenheit des Meisters, Herrn Wuts, denn seine friedliche Gegenwart wirkte unwillkürlich beruhigend auf die heißblütigen Frauenzimmer.

Die Heftmaschine, an der ich arbeitete, wenn ich nicht gerade »liefern« war, stand in einer Ecke des Raumes, und ich kehrte, vor ihr sitzend, meinen Rücken den Arbeiterinnen zu. Wenn ich sie in Bewegung setzte, hatte sie die Form einer kleinen Giraffe und klirrte so laut, daß man in der Werkstätte kein Wort verstehen konnte, wenn es nicht gebrüllt wurde. So konnte ich mit den Mädchen während der Arbeit wenig reden. Nur wenn ich die gehefteten Schachteln zum Bekleben an ihre Tische trug, fiel hie und da eine Frage oder eine Antwort auf einen spöttelnden Zuruf von meinen Lippen; um so besser besorgten dies die Mädchen. Da wurde getuschelt, erzählt, gehänselt, gefragt, erstaunt getan, geschimpft, Leute ausgerichtet mit einer Zungenfertigkeit, die mich verblüffte und schweigen hieß, weil ich doch nie nachgekommen wäre. Sie legten auch ihre Worte nicht auf die Waagschale und erörterten zum Beispiel erotische Fragen und Geschehnisse mit einer Ungeniertheit, die mir reinem Tor die Schamröte in die Wangen trieb. Ich fühlte mich daher mehr zu meinem Meister hingezogen, der gleich mir nichts von der Schlagfertigkeit und Redegewandtheit hatte, über welche die Arbeiterinnen von der ersten »Pickerin« bis zum kleinsten Lehrmädchen herunter in einem so hohen Grade verfügten. Wir beide, so Herr wie Knecht, lebten unter diesen lauten Kindern der Vorstadtwelt wie zwei einsiedelnde Mönche, die zufällig in einen Schwarm andersgesinnter Menschen gekommen waren und die die Sprache dieser nicht verstehen wollten. Nur war es bei mir eher meine Jugend, die mich abhielt, mich mehr mit meinen Arbeitskolleginnen abzugeben, als es unbedingt notwendig war, während den Meister die angeborene Schüchternheit daran hinderte. Im stillen wünschte ich ja sehr, auch so ein geübtes Mundwerk zu besitzen, um überall mitreden zu können. In einem waren wir den alten und jungen Arbeitshummeln über und flößten diesen sogar Respekt ein, das war unser Verhalten den Ratten gegenüber, deren es im Hause ungezählte gab. Besonders in den Kellerlokalitäten, die außer unserer Werkstätte auch noch ein Milchproduktengeschäft beherbergten, machten sich diese Grauröcke unangenehm bemerkbar. Beinahe jeden Morgen gab es vor Beginn der Arbeit eine Rattenjagd, bei der die Arbeiterinnen angstvoll auf die Tische kletterten und von diesen gesicherten Orten aus die kühnen Taten ihres Meisters und Kollegen oft furchtsam aufkreischend verfolgten, wenn sie es nicht gleich vorzogen, sich auf die Gasse zu flüchten. Wir fielen dann mit Besen und Stöcken über die pfeifenden Kellerhasen her, trieben sie entweder in die Löcher zurück oder erschlugen sie, wenn wir dabei Glück hatten.

Aber auch tagsüber rief uns oft der entsetzte Schrei einer Arbeiterin zu Hilfe, wenn sich eine Ratte in einer Papierrolle oder gar in eine Tischlade versteckt hatte, wohin sie der Geruch eines mitgebrachten Frühstücksbrotes gelockt hatte. Gleich wurden dann, wieder unter angstvollem Gezeter, die Tischplatte oder die Fensterbrüstung bestiegen und die kläglichsten Bitten und Beschwörungen an uns zwei Männer gerichtet, damit wir unser Schwert zur Verteidigung der bedrohten Weiblichkeit ziehen mochten. Die Verfolgung der Ratten allein vermochte den Meister aus seiner Stille und Schüchternheit zu reißen. Während ich mehr aus angeborener Freude an der Jagd und in der Erinnerung an die schönen Trapperfahrten meiner Knabenzeit in der Urwaldwildnis des Wienflusses zum Stocke griff, nebstbei vergnügt war über die willkommene Störung meiner langweiligen Arbeit, bekämpfte der Meister die Tiere mit einem wilden Haß, der den vorher noch so sanften und friedsamen Menschen in einen Berserker verwandelte. Er konnte sich am Rattenmord nicht genugtun. Oft ließ er die dringendste Arbeit stehen, um in den Kellergängen einer alten, abgefeimten Ratte nachzustellen, von deren Umherschweifen er gehört hatte. Es schien, als seien diese Tiere die einzigen Wesen, die einen Haß aus der Tiefe seiner Seele locken konnten. Hätte er auch andere Tiere verfolgt, so hätte man glauben können, er wolle sich an den schwächeren Geschöpfen für die Unbill rächen, die ihm die Menschen angetan hatten. Aber er tat sonst keiner Fliege etwas zuleide und gab die Hälfte seines Frühstück- und Jausenbrotes den hungrigen Spatzen.

Trotz unseres Vernichtungseifers nahm die Rattenplage immer mehr überhand. Schuld daran war der Umstand, daß die Gänge des Kellers mit gefüllten und leeren Milchkannen vollgepfropft waren, deren Duft die Ratten der ganzen Gegend anzog. Wenn ich am Morgen den Ballen mit den Papierabfällen in das dazu bestimmte Kellerloch schaffte, so hatte ich Mühe, mich durch die Heere von Grauröcken zu schlängeln, und es kam ein paarmal vor, daß ich im Vorbeigehen im Rahm ertrunkene, Ratten fand, der dort in größeren Töpfen vorbereitet stand.

Eine besonders ängstliche Arbeiterin kündigte eines Tages aus Angst, von den blutdürstigen Bestien gebissen zu werden, und die anderen waren nahe daran, ihrem Beispiel zu folgen.

Den Meister aber hatte ein wahrer Rattenblutrausch erfaßt. Tag und Nacht lag er auf der Lauer, und der Hausmeister erzählte uns, daß er Herrn Wut schon öfters des Nachts mit zwei Knüppeln bewaffnet in den Keller schleichen sah. Er sah auch oft ganz übernächtigt aus, und da er sonst angeblich ein sehr ruhiges Leben führte, mochten auch wirklich seine nächtlichen Jagdausflüge daran schuld sein.

Bald wurde er im ganzen Haus nur der Ratzenpepi genannt. Mir wollte die Geschichte nicht mehr recht geheuer vorkommen. Die Ratten mußten in dem Leben meines Brotherrn einmal eine böse Rolle gespielt haben, sonst würde er sie nicht mit solchem Ingrimm verfolgen, seine Arbeit vernachlässigen und den Schlaf meiden, um nur einige von ihnen erschlagen zu können. Die bloße, natürliche Abscheu vor einem Tier war gewiß nicht Grund genug, aus einem Lamm einen Wolf zu machen!

Als ich ihn aber eines Tages beobachtete, wie er, sich allein glaubend, einer erschlagenen Ratte den Schwanz abschnitt, diesen in Seidenpapier wickelte und in einem Holzkästchen verwahrte, war ich vollends überzeugt, daß hier ein Geheimnis waltete, dem auf die Spur zu kommen ich mir alle Mühe geben wollte. Aber so viel ich auch mit Überwindung meiner Schüchternheit die Arbeiterinnen, einige mit mir oberflächlich bekannte Leute des Hauses und den Hausbesorger ausfragen mochte, keiner von ihnen konnte mir die gewünschte Auskunft erteilen. Am meisten interessierten mich noch die Erzählungen der Hausbesorgerin. Herr Wut sei vor zwei Jahren in »ihr« Haus eingezogen und nicht ein einziges Mal nach Torsperre nach Hause gekommen. »Kan luckatn Kreuzer hab ich von ehrm als Sperrsechserl kriegt«, sagte sie bekümmert. Er lebe unglaublich zurückgezogen, und sie hätte noch nie jemanden zu ihm hinaufsteigen gesehen. Das Essen werde ihm von einem nahen Gasthaus gebracht und auf das Gangfensterbrett vor seiner Wohnungstür gestellt, denn er lasse niemanden zu sich herein. Alle Reinigungsarbeiten in der Wohnung verrichte er selbst, und man könne ihn alle Samstage zum Gaudium der weiblichen Hausbewohner den Fußboden ganz närrisch scheuern hören. Beinahe jede Nacht brenne ein helles Licht in seiner Stube. Daß es mit Herrn Wut eine seltsame Bewandtnis haben müsse, sei auch längst ihre Meinung. »Wissens«, sagte sie zu mir, »was i am allawenigsten vastehn kann, is, daß da Masta ka klans Kind sechn kann. Wann ehrm ans unta d' Augn kummt, wird a kasweiß in Gsicht und draht sie umanand, als wann a 'n Veitstanz hätt! Na, und wann a gar an so an Bambaletschn schrein hört, wird a ganz narrisch. Glaubns mias oda net, da fangat a sölba zan platzn a und scheniert si net wenig vur dö Leut! Der hat dös Spinnate wias in Büachl steht, oda i wüll ka Stund mehr d' Hausmasterin von neunzehna Haus sei!«

Das Gehörte war nur dazu angetan, meine Neugierde zu vergrößern. Mein sehnlichster Wunsch war, einmal einen ausgiebigen Blick in die Wohnung des Ratzenpepi tun zu dürfen. Trotz der spitzfindigsten Versuche wollte mir dies aber nicht gelingen. Der sonst so einfältige Meister war meiner Schlauheit über und vereitelte mir alle, wenn auch noch so klug ausgeheckten Pläne. So mußte ich auf den Zufall hoffen; vielleicht spielte er mir eine günstige Gelegenheit in die Hand.

Vorläufig schien sich aber meine Hoffnung nicht zu erfüllen. Dagegen wurde ich einmal Zeuge seiner Erregung und Angst vor dem Weinen kleiner Kinder. Eine unserer Arbeiterinnen wurde von ihrer Mutter abgeholt, die ein schreiendes, kaum einige Monate altes Kind auf dem Arm trug. Als sie mit dem Kinde die Werkstätte betrat, brach Herr Wut plötzlich in einen Weinkrampf aus, da aber zu gleicher Zeit der Briefträger einige Briefe abgegeben hatte, glaubten die Arbeiterinnen, Herr Wut hätte eine Todesnachricht bekommen und deshalb zu weinen angefangen. Ich aber konnte mir den Anfall nach der Erzählung der Hausmeisterin erklären. Nachdem sich die Arbeiterinnen entfernt und der Meister sich etwas erholt hatte, bat dieser mich, der ich noch mit dem Aufräumen der Werkstatt beschäftigt war, zu meinem großen Erstaunen, ich möchte zu dem Waffenhändler in der Burggasse gehn und ihm Patronen für sein Flaubertgewehr holen. Er wolle den »vermaledeiten Bestien« damit waren die Ratten gemeint – jetzt mit Pulver und Blei an den Leib rücken. Als ich von meinem Weg zurückkam und ihm die Patronen überreichte, zeigte er eine wahrhaft satanische Freude und schrie ein über das andere Mal wie besessen: Jetzt werdens aber dran glauben müssen, dö Hundsviecha, ka anzige derf übri bleibn von den Luadan, den vadammten.« Ich konnte dabei nichts anderes glauben, als daß mein Meister nun endgültig verrückt geworden war, und entfernte mich so schleunig wie möglich. Ich schlief die halbe Nacht nicht und wurde die übrige von den wüstesten Träumen gequält. Die Ratten hatten sich in Tiger verwandelt und wurden von dem Meister und mir mit Kinderpistolen angegriffen.

Am anderen Morgen war ich aus Neugier um eine halbe Stunde früher an meinem Arbeitsort. Ich fand die Hausbesorgerin vor dem Haus den Gehsteig reinigend. Als sie mich erblickte, stürzte sie auf mich zu und rief:

Jessas, dös is gscheit, daß S' scho do san! Sö solln glei zum Herrn Wut auffikumman, denkens Ihnan, dös arme Hascherl hat si gestan bei der saudumman Ratzenschiaßerei den rechtn Haxn brochn. Er is in da Finstern über a Mülliamperl purzelt. Wann ehrm net dö Resi vom Müllimann gefundn hätt, liagat a no unten! Ob a wolln hat oder net, mei Alter hat ehrm an Dokta gholt, der hat zerst a Gsicht gschnitten wia zehn Tag Regenwetta, nacha ham mia 'n Masta in sei Wohnung tragn und ins Bett glegt. Wos glaubns, was der auf sein Kasten und da Kommod stehn hat? Kane Buschkettn oda Fotagrafien, wia unsarana, ka Spur! Denkens Ihna, ausgstopfte Ratzn hat a durtn stehn – solche Trümma, wi an siebnjahrign Kater so groß. Pfui Teufi, solchane grausliche Viecha, mir stoßt's in Kaffee aufi, wann i dran denk, a so a Sauwirtschaft! Wir i ehrm 's Frühstück bracht habe, hat er mia gsagt, i soll Ihna aufischickn, wanns kumman. Gengans halt zu dera narrischen Musi. Vielleicht schickt er Ihnen jetzt statt seiner auf de Ratzenjagd. I bin ehrm nett neidi um das Wildpret. Pfui Teufi!«

Sie spuckte weit über die Straße und wirbelte von neuem den Staub mit ihrem Rüttelbesen auf, während ich verdutzt über das eben Gehörte die Stiegen zur Wohnung meines Meisters hinaufstieg: In der Küche fand ich eine ganze Wand statt mit Pfannen und Kellen mit allen möglichen Jagdgeräten behängt, mit Schlingen, Fangeisen, Schlagfallen, Flaubertpistolen und sogar einem alten Kavalleriesäbel. In der Nähe des Herdes lag ein Haufen Wattebausche, die von geronnenem Blut braun gefärbt waren. Der ganze Raum schien durchtränkt von Kampfer und Naphthalin.

Durch die Zimmertür tretend, bemerkte ich meinen Meister im Bett, den Oberkörper durch mehrere Polster gestützt und den rechten Fuß in einem Gipsverband und durch Unterlage eines Sesselchens hoch gehalten. Ich erblickte auch sofort auf einer Kommode, die mit einer grünen Ripsdecke bekleidet war, sechs oder sieben ausgestopfte Prachtexemplare jener lieblichen Tiere, die die Weibsleute unten in der Werkstatt so schätzten. Die Kunst des Präparators hatte die toten Körper in allen möglichen Stellungen gebannt. Sie machten Männchen, stützten sich mit den Vorderbeinen auf einen Stein, beschnupperten zusammengeduckt einen Leckerbissen; drei von ihnen bildeten eine raufende Gruppe; selbst ihre Glasäuglein funkelten so natürlich, daß man bei einem oberflächlichen Hinschauen die Tiere noch für lebend halten mochte. Die Brettchen, auf denen sie befestigt waren, trugen jedes vorn ein Blechschildchen. Beim schärferen Hinblicken konnten meine guten Augen das Wort »erlegt« und ein Datum eingeritzt erkennen.

Herr Wut beantwortete, meinen Gruß so ruhig, als stünde er vor seiner Maschine. Er zog einen Brief unter der Bettdecke hervor und beauftragte mich, diesen sofort zu seiner Schwester zu tragen, deren Adresse auf der Briefhülle stand. Dann schrieb er mir einige Aufträge für die Kaschiererinnen nieder. Ich spähte indes neugierig im Zimmer umher; auch auf dem Kasten war eine zahlreiche Versammlung ausgestopfter Ratten zu sehen, und auf dem Nachttischchen, in einem wahrscheinlich mit Spiritus gefüllten Gurkenglase schwamm eine Menge nackter toter Rattenjunge umher. Sonst war nichts Merkwürdiges in dem Zimmer zu sehen, und es erweckte im allgemeinen den Eindruck peinlichster Sauberkeit.

Herr Wut hatte die Aufzeichnungen für seine erste Arbeiterin beendet. Mit einem Gruß an diese und ihre anderen Kolleginnen überreichte er sie mir und gab mir zum Abschied die Hand.

Sobald ich die Arbeiterinnen von dem Geschehenen verständigt und wir zusammen darüber ein wenig geplaudert hatten, machte ich mich auf den Weg zur Schwester des Meisters, die in einer Gasse nahe dem Prater wohnte. Als ich das angegebene Haus erreicht hatte, stand ich erst ratlos vor dem Labyrinth von Stiegen, von denen es zu einer Unzahl von Türen ging. Es war ein uraltes, von allerlei Gerüchen durchzogenes und recht schmutziges Gebäude, und ich suchte umsonst nach einem Hausmeister, den ich nach der Türnummer meiner Adressatin hätte fragen können. Auf dem Brief war sie nämlich nicht angegeben. So fragte ich einen Kaftanjuden, der mit ehrwürdigem Bart an mir vorbeihuschte, wurde aus seinem Kauderwelsch aber nicht klüger. Endlich fand ich einen freundlichen Amtsdiener, der mich zur gesuchten Tür führte. Die Frau, welche auf mein Klopfen behutsam öffnete, war vielleicht fünfunddreißig Jahre alt, nicht dick, nicht mager und mit einem prächtigen Schnurrbart bedacht, der ihrem an und für sich nicht freundlichen Gesicht einen noch strengeren Ausdruck verlieh. Auf die Bestätigung, daß sie die Schwester Herrn Wuts sei, übergab ich ihr den Brief, worauf sie mich brummig einlud, ihr zu folgen und vielleicht auf eine Antwort zu warten. Wir kamen durch einen stockdunklen Raum, der, nach dem muffig-sauren Geruch zu schließen, eine Küche sein mußte, in ein armselig eingerichtetes Zimmer. Die Politur der Möbel war größtenteils abgewetzt, und große Sprünge durchzogen an vielen Stellen das Holz. Ich setzte mich auf das Geheiß der Frau auf einen wackligen Stuhl. Sie aber setzte sich, beim Fenster stehend, umständlich eine Brille auf und begann den Brief ihres Bruders zu lesen. Kaum hatte sie einige Zeilen herausbuchstabiert, als sie erregt ausrief: »Jetzn habn dö Luadan in armen Pepi a no am Gwissen!«

Nachdem sie den Brief beendet, fragte sie mich, indem sie die Arme in die Hüften stemmte: »Was sagn S' zu so aner Gemeinheit von die Sauviecher? Ha? Passens auf, dö Bestien wem ihm no amal zgrundrichten, mein Bruadan. Aba da Pepi is a viel schuld an sein Malär, warum muaß a denn imma denan Mistviechan nochrennan! Was amal gschehn is, is gschehn! Wann a no so wild is, die klane Roserl macht a do net mehr lebendig, der arme Narr. Wissens, die Roserl war sei unehelichs Kind mit an Dienstmadl. Weil er no Gsell war und militärpflichti, habens net heiratn kennan, und do habns halt dös Bauxerl aufs Land zu aner Kostfrau gebn. Sei Madl hat sie um dös Kinderl gar net umgschaut. Aba mei Bruada hat 's zum Fressen gern ghabt und is bald alle Monat ins Waldviertel auffigfahrn zu sein Töchterl. Und denkens Ihnan, amol kriegt er a Telegramm von dera Kostfrau, er soll si' glei zammpacken und außikumman, a großes Unglück is gschehn. Der Pepi richt si Hals üba Kopf zamm und fahrt mitn nächstn Zug nauf; was glaubns, was 's ihm erzähln? Sein klan Roserl habn d' Ratzen 's Halserl zerbissen! D' Frau hat in d' Stadt aufs Steueramt müssen, und da Bua hätt derweil aufs Kind aufpassen solln. Der Mistbub laßt aber des drei Monat alte Bauxerl allani in Stall und geht mit seine Freunderln auf Gaudee. Wia d' Frau hamkummt nach a paar Stund, ruafts in Buam, suchts Kindl, in ganzen Häusl ka Spur von die zwa. Endlich gehts in Stall eina, husch – springen glei a paar Ratzen bei ihr vorbei. In an Eck sichts was Weißes, sie rennt draufzu und derkennt zu ihrn Schreckn die klane Rosl, voller Bluat, das Gsichtl und 's Halserl ganz zerbissen, 's hat si nimmer grührt, und wia nacher der Doktor kumman is, hat er a nix mehr tuan könnan. 's war scho tot.

Mei Bruada geht wie bsoffen aufs Gricht, durtn is sei arms Kind zur Bschau glegn. Seit der Zeit hat's 'n packt. Wo a nur kann, macht a Jagd auf dö Rabenviecha, und 's glengan wohl kane dreihundert Stuck, die er scho gfangan hat. Vur zwa Jahr hat ihm a Onkel a paar hundert Kronen gebn; da hat a sie dö Werkstatt eingricht, a grad in an Haus, wo d' Ratzen am hellichten Tag umatanzen! Wann a wenigstens gheirat hätt, aber davon wüll a nix wissen. Seiner Ehmaligen gibt a nämli d' Schuld an den Unglück, der war do des Kind nur a Last, drum hat s' es recht weit weg von Wien in d' Kost geben. Aber jetzn hab i mi ganz vaplaudat, und mei Bruada wart' auf mi. Glei bin i ferti und geh mit Ihnan, mir kennen ja mit da Tramway fahrn.«

Sie nahm aus ihrem Kasten einen altmodischen Hut und eine von Motten zerfressene, pelzbesetzte Jacke, und wir verließen die Wohnung, nachdem sie die Tür versperrt hatte. In der Tramway teilte sie mir mit einer Redseligkeit, die zu ihren harten, verschlossenen Zügen gar nicht paßte, mit, daß sie die Witwe nach einem Postunterbeamten sei und recht kümmerlich von ihrer kleinen Pension leben müßte, wenn nicht der Bruder ihr den Zins und noch außerdem Geld geben würde.

»Der guate Mensch schimpft mi eh allaweil zamm, daß i in so ana Kalluppen wohn, aber wenig Geld, wenig Musik. Und i wüll halt net auf meine alten Tag von dera Wohnung ausziachn, wo i mit mein Gottseligen fünfzehn Jahr gwohnt hab! Segns, mei Bruada is so viel a guata Mensch, und grad ehrm muaß a so a Unglück treffn: manchmal kennt ma scho wirkli an dem durt obn zweifln!«

Von der Haltestelle, wo wir ausstiegen, waren es nur mehr wenige Minuten zur Wohnung des Meisters, für den ich jetzt ein großes Mitgefühl empfand. Während ich an meine Arbeit ging, stieg die Schwester zu Herrn Wut hinauf. Knapp vor Beginn der Mittagstunde kam sie zu uns in die Werkstätte und teilte uns mit, daß Herr Wut einen komplizierten Bruch hätte und in ein Spital übergeführt werden müsse. Der Doktor wolle für eine Behandlung daheim die Verantwortung nicht übernehmen. In der Abwesenheit ihres Bruders werde sie die Beaufsichtigung der Werkstätte übernehmen und einen tüchtigen Zuschneider als Vertreter ihres Bruders aufnehmen.

Am Nachmittag wurde der Meister in einem Einspänner ins Allgemeine Krankenhaus transportiert. Als Frau Scheidl, so hieß die Schwester, in die Werkstätte zurückkam, setzte sie sich zuerst in den Vorraum neben die Schneidemaschine und versenkte sich mit großer Andacht in die Lektüre des Wiener Extrablattes. Aber sie mußte sich dort wohl zu einsam fühlen, denn bald setzte sie sich zu uns herein und begann ohne weiteres aus der Zeitung vorzulesen. Sie fing mit den Tagesneuigkeiten an und hörte mit der fünfhundertachtzigsten Fortsetzung des Wiener Originalromans »Die Greislerstochter vom Spittelberge« auf. Da mein Heftmaschinengeklapper die Vorlesung gestört hätte, leimte ich unterdessen Pappendeckel auf Holzrahmen, wie sie für die Postkartons vorbereitet waren. Am nächsten Morgen stand bei der Zuschneidemaschine ein junger, kräftiger Bursche, wohl um einen Kopf größer als ich und mit scharfgeschnittenem Gesicht, das einen offenen, intelligenten Ausdruck zeigte. Auf meinen befangenen Gruß setzte er die Ölkanne nieder, machte einige Schritte auf mich zu und schaute mich freundlich an:

»Servas, i bin da neuche Zuschneida und haß Ludwig Aschenbrenner. Wia haßt denn du?«

»Alfons Petzold.«

»Is dös a schener Name. Alfons, so haßt ja der spanische König! Bist a Weana?«

»Jo, a Ottakringer.«

»Und i a Hernalser; da müaß ma uns guat vatragn, als Nachbarn. Gel?«

»Ja ja, i hab nix dagegn!«

Und ich schlug in seine braune Hand, in der die meine wie ein Nägelchen in einem Schraubstock verschwand, und mußte die Zähne zusammenbeißen, um nicht vor Schmerz über diesen Druck aufzuschreien.

So schnell diese Freundschaft geschlossen wurde, ich hatte sie nie zu bedauern. Von diesem ersten Händedruck an hing Ludwig Aschenbrenner mit eiserner Treue an mir. Von seiner fröhlichen Erscheinung wird in diesem sonst eher traurigen als lustigen Buch oft die Rede sein.

Aber vorher will ich noch die Geschichte des Ratzenpepi zu Ende erzählen, dessen Rückkehr aus dem Spital weder ich noch Ludwig in seiner Werkstätte erlebten. Diese wurde nämlich wenige Wochen nach seinem Unfall auf Drängen der Gläubiger geschlossen.

Als ich am Abend unseres letzten Arbeitstages von der Schwester des Meisters den Lohn und mein Arbeitsbuch eingehändigt bekam, sagte diese in verzweifeltem Ton:

»Sehgns, jetzt habn ihm die Ratzn sei Gschäft a no ruiniert. Wer waß, was 's ehrm no antun wem, die Kanaillenviecher!«

Jahre waren seither vergangen. Da schleppte ich eines Tages im Dienste einer Buchdruckerei einen mit Drucksorten vollbepackten Wagen eine steile Straße hinauf. Der Junihitze wegen, die auf der Nachmittagsstunde lag, war außer einigen Kindern, die im Schatten einer Holzplanke spielten, kaum ein Mensch zu sehn. In der Ferne leuchteten aus dem glasigen Dunst die Rohziegelmauern einer Fabrik, meines Ziels. Vor einem der letzten Häuser in der Straße, die dann, von Holzplätzen und graugrünen Schutthalden eingesäumt, in ein hügeliges Wiesenland mündete, machte ich halt, um auszurasten, kaufte mir in einem Greislerladen eine saure Gurke und verzehrte diese auf der Wagenachse sitzend. Auf einmal hörte ich vor mir ein schrilles Johlen, Schreien, Lachen. Ein Zug von Kindern kam auf mich zu und tanzte um einen Mann herum, der eine tote Ratte beim Schwänze hielt. Ein blödes Lächeln umspielte sein Gesicht, das von einem blonden Barte wild umwuchert war. Wenn die Rufe der Kinder wie »Ratzenpepi, is dös dei Jausn?«; »Hurra, da Ratzenpepi hat an Hasn gfangt!«; »Ratzenpepi, in Ameisenbach gibt's zwa Meter lange Ratzen!« und so weiter gar zu arg wurden und sie ihn mit der Grausamkeit ihrer Jahre mit kleinen Steinchen bewarfen oder an seinen Rockschößen zerrten, blieb er einen Augenblick stehen, um mit geiferndem Munde eine fast unverständliche Ansprache an seine Quälgeister zu richten; ich konnte aber doch die Bitte daraus hören, ihn doch ungestört heim zu seinem Roserl laufen zu lassen, da diese sehnsüchtig der toten Ratte harre. Er schlürfte weiter und hatte nur einen Wunsch, seine Jagdbeute vor den Gertenhieben der besonders frechen Buben zu bewahren.

Ich hatte in dem verwahrlosten Blödsinnigen meinen ehemaligen Meister Joseph Wut erkannt. Seine Schwester hatte recht behalten: auch er war ein Opfer der Ratten geworden, der Haß hatte seinen Geist zerstört. Nur war er jetzt glücklicher als ehedem, denn er bildete sich ein, daß sein Kind daheim seiner warte; sein Roserl, das in Wahrheit längst in der Ecke eines Dorffriedhofs verscharrt und vermodert lag.

Meine Mutter hatte durch die Fürsprache eines ihr gewogenen Armenvaters eine Stelle als Wartefrau in einer öffentlichen Bedürfnisanstalt erhalten. Diese befand sich auf einem großen Marktplatz in Rudolfsheim, in dessen Nähe eine der bedeutendsten Straßen Wiens ihren gewaltigen Verkehr vorbeischob, weshalb meine Mutter von fünf Uhr früh bis spät in die Nacht viel zu tun hatte. Ohne Rücksicht auf ihr zunehmendes Alter und ihre Gebrechlichkeit nehmen zu dürfen, mußte sie täglich schon nach vier aufstehen und den weiten Weg zu ihrem Arbeitsort zurücklegen, der über die unsichere und angeblich alles mögliche Verbrechergesindel beherbergende Schmelz führte.

In der Anstalt befand sich, eingekeilt zwischen den Blechkabinen, ein winziger Raum, der durch einen engen Schacht von oben etwas Licht und Luft empfing. Hier saß meine Mutter neben einem kleinen Tischchen, wenn sie gerade auf kurze Zeit keine Arbeit hatte; trotz Wasserspülungen und Ventilen war die Luft durchtränkt von den widerlichen Gerüchen, und es war nicht gerade der angenehmste Aufenthalt für eine alte, von Arbeit und Elend zermürbte Frau, wie meine Mutter es war. Trotzdem war sie zufrieden, brachte ihr der Dienst doch für unsere Verhältnisse viel Geld ein. Der ausgesetzte Taglohn war zwar sehr gering, wurde aber durch Trinkgelder meist um das Dreifache erhöht.

Es waren nur die Quälereien der Gassenjungen, die meiner Mutter das Leben sauer machten und sie oft ganz zur Verzweiflung brachten, denn diese suchten sich gerade die Anstalt und ihre Hüterin zum Hauptziel ihrer Streiche aus. Fortwährend rissen sie die Türen auf, warfen Steine und Unrat in die Kabinen, spannten dunkle Schnüre vor die Ausgänge, damit die Leute darüber stolperten. Aber wäre dies der einzige Unfug geblieben! Sie warfen ja auch alle Augenblicke eines der teuren Milchglasfenster ein und ritzten unflätige Worte in die Blechwände ein, so daß meine Mutter oft von dem inspizierenden Kontrolleur zur Rede gestellt und ihrer anscheinenden Unachtsamkeit wegen gerügt wurde. Vergebens versuchte sie die Rangen zu bessern und war sie Tag und Nacht auf der Lauer, um die jugendliche Zerstörungslust mit Besen und Scheltworten zu bekämpfen. Die Buben höhnten ihr nur ins Gesicht und dachten sich neue Streiche aus.

Vor den schulfreien Nachmittagen fürchtete sich meine Mutter wie ein Verurteilter vor dem Dunkelarrest mit Wasser und Brot. Da rückte ihre Landplage in wahren Heerzügen heran, und nur das Erscheinen eines Wachmannes konnte den Übermut der verwahrlosten Jugend dämpfen. Sonntags und in den Abendstunden am Werktage beschützten ich und mein Freund Ludwig, der sich innig an mich angeschlossen hatte, die verzweifelt auf unser Erscheinen harrende Mutter. Dann gab es meist ein kleines Strafgericht in Form von wahllos ausgeteilten Ohrfeigen, Schopf- und Ohrbeuteleien. Es war für Ludwig und mich dieses abendliche Beschleichen und Bestrafen der Missetäter schon eine Art Sport geworden; List wurde gegen List gesetzt, Gewandtheit gegen Gewandtheit. Der herbstliche Nebel kam uns dabei sehr zustatten und auch die Erinnerung an ähnliche Streiche unserer Knabenzeit und die dabei gewonnenen Erfahrungen half uns in trefflicher Weise, die Schuldigen ausfindig zu machen und zu bestrafen. Bald waren wir beide, obwohl selbst noch fast Kinder, bei der Gassenjugend der Marktgegend über alle Maßen gefürchtet. Besonders, als Ludwig eine Horde von Lehrbuben, die ihre jüngeren Brüder an uns rächen wollten, arg verprügelte und in die Flucht jagte, kamen wir in den Ruf grausamster Unerbittlichkeit, was meiner Mutter schließlich auch sehr zustatten kam. Von nun an hielten sich die Rangen meist in respektvoller Entfernung, wenn auch der eine oder andere es sich nicht versagen konnte, uns ein paar kleine Steinchen nachzuwerfen oder mir wegen meines rotblonden Haares folgendes, damals unter der Gassenjugend sehr beliebte Spottlied nachzusingen: Roter roter Ging – Ging – Ging/Feuer brennt in Ottakring / Feuer brennt in Wahring, / bist a roter Haring. Sie sangen das schöne Lied wohl Dutzend Male und schnitten dabei die lieblichsten Grimassen.

Diesmal hatte es der Winter sehr eilig. Schon Ende Oktober flockte der Schnee auf die mißmutig erstaunte Stadt herunter, und in den ersten Novembernächten gab es schon glitzernden Frost an den Fenstern.

Ich hatte eine Saisonbeschäftigung in einer Kunstblumenfabrik gefunden. Für sechs Kronen wöchentlich Entlohnung lief ich zehn Stunden jedes Tages mit einem Platzvertreter alle möglichen Modewaren- und Modistengeschäfte ab, auf dem Rücken drei mächtige Holzschachteln, in denen sich die Muster befanden.

Freund Ludwig dagegen war Kutscher in einer großen Kartonagenfabrik geworden und plagte sich mit einem widerspenstigen Gaul ab, der in jedem Tramwaywagen einen gefährlichen Feind erblickte und von Zeit zu Zeit die abenteuerlichsten Sprünge machte. Jeden Abend trafen wir uns nun pünktlich an einer Straßenkreuzung und gingen dann zur Arbeitsstätte meiner Mutter hinaus, wo wir dann bis zur Stunde der Schließung blieben, um gemeinsam den Heimweg über die unwirtliche Schmelz zu machen. Im Keller der Bedürfnisanstalt hatten wir uns dicht beim Ofen ein warmes Plätzchen gemacht, und so verbrachten wir die Zeit bis zehn Uhr beim Schein einer Kerze meist lesend, wenn wir nicht meiner Mutter eine oder die andere Arbeit abnahmen. Da gab es Messing- und Nickelteile zu putzen oder schadhaften Dichtungen in der Wasserleitung nachzustöbern, welch letztere Beschäftigung ich meist Ludwig überließ, der ein Tausendkünstler war und mit Vorliebe in alle möglichen Berufe hineinpfuschte. So besohlte er sich selbst die Stiefel, flickte höchst kunstgerecht seine Kleider, zimmerte ganze Möbelstücke mit der herrlichsten Holzmaserung und flocht Vogelkäfige aus Draht. Pferde beschlug er wie ein Schmied, und kein Stückchen Holz war vor ihm sicher, denn er schnitzte aus jedem brauchbaren und unbrauchbaren Holz Figuren, die er recht lebensgetreu bemalte. In der kleinen Wohnung seiner Eltern hatte er eine Ecke zu seiner Werkstätte hergerichtet. Da hing über einem roten Holztisch, auf dem eine Unzahl von Leim- und Farbentöpfen stand, ein Sammelsurium der verschiedensten Werkzeuge. Als ich diese einmal voll Bewunderung für meinen vielseitigen Freund betrachtete, sagte sein anwesender Vater, ein von den Sorgen des Lebens ausgepreßter, frühzeitig gealterter Mann, mit einem frohen Aufglimmen in den erloschenen Augen und einem Restchen bewußten Stolzes:

»Ja, der Wickerl, dös is a Kampel! Der baut no amol a Later für d' armen Leut zum heilign Petrus aufi!«

Wären seine Eltern nicht so arm gewesen – als ich sie kennenlernte, war der Vater provisorischer Straßenkehrer mit zehn bis fünfzehn Kronen Wochenlohn, indes die Mutter mit Waschen und Scheuern so viel verdiente, wie der Zins für die Wohnung, zwei feuchte Löcher, ausmachte –, so hätten sie ihren Sohn sicher ein Handwerk lernen lassen, in dem er es ohne Zweifel zur Künstlerschaft gebracht hätte. Er war auch sehr musikalisch, blies meiner Urteilskraft nach meisterhaft Okarina, klimperte auf einer altersschwachen Gitarre alle Lieder, die er nur je gehört hatte, und spielte auf dem Maurerklavier, wie der Wiener die Ziehharmonika nennt, mit der Virtuosität eines Heurigen-Musikers. Sein Luftschloß, an dem zu bauen er nicht müde wurde, war der Besitz einer chromatischen Harmonika, auf der er nach Noten spielen lernen könnte. Um dieses Ziel einst zu erreichen, sparte er sich jede Zigarette vom Munde ab, trank er keinen Tropfen Alkohol und legte er Kreuzer auf Kreuzer in seine Sparbüchse. Hörte er aber dann eines Tages, wie sich seine Mutter ein Paar warme Hausschuhe wünschte oder sein Vater eine neue Pfeife, so ging er hin und gab sein sauer erspartes Geld freudig für diese Dinge aus. Anderen helfen oder Freude bereiten war seine primitive Religion.

Meinen Freund hatte von frühester Kindheit an das drückendste Elend umgeben – er saugte es mit der spärlichen Milch seiner Gebärerin ein. Graueste Not bedrohte beständig sein Leben, und wenn er nicht an den Abfallstätten der Märkte einiges fand, um seinen Hunger zu stillen, so mußte er sich eben hungrig zu Bett legen. In den schmutzigsten Winkeln der äußersten Vorstadt, wo Verwahrlosung keine körperliche Sünde mehr ist, weil die Armut den Leib nicht mehr schützen kann, zwischen Prostituierten allerletzter Sorte und verkrochenen Verbrechern wuchs er auf und wurde trotz alldem ein – Christ im Geist und körperlich ein schöner Jüngling mit athletischem Wuchs.

Da meiner Mutter der lange Weg zu ihrem Arbeitsort immer beschwerlicher wurde, reichte sie bei der Gesellschaft, die die Bedürfnisanstalten von der Gemeinde Wien gepachtet hatte, ein Gesuch um Versetzung in eine unserm Wohnort näher gelegene Anstalt ein, was ihr auch bewilligt wurde. Der neue Ort ihrer Tätigkeit lag im Wildwestbezirk Wiens, in Ottakring, an der Grenze eines Parkes. Hier verdiente meine Mutter allerdings viel weniger als in Rudolfsheim, und das viele Trinkgeld, das dort die demütigende und harte Arbeit einigermaßen belohnte, blieb ganz aus. Die Leute, die hier eintraten, waren ja meist Arbeiter, die schon in der Entrichtung der Gebühr von sechs Hellern meist eine ungerechte Steuer sahen. Auch lag die Anstalt in einer Straße, die nur zur Zeit des Arbeitsschlusses und -beginnes von vielen Menschen belebt, sonst aber sehr einsam war.

Es war Mitte Dezember, als meine Mutter hier ihren Dienst antrat. Der Raum, in welchem sie sich meist aufzuhalten hatte, war eiskalt, da die Gesellschaft für diese passive Geschäftsfiliale keinen Koks liefern wollte. So saß sie, die Füße in wollene Fetzen eingewickelt und den übrigen Körper mit so vielen Kleidungsstücken bedeckt, als sie auftreiben konnte, in ihrer Kabine und erwartete trotzdem vor entsetzlicher Kälte zitternd die Sperrstunde, die mit zehn Uhr festgesetzt war. Meistens war sie dann ganz steif, konnte kaum ein Glied bewegen und klagte über arge Schmerzen in ihrem kranken Arm. Das einzige, was ihr ein wenig gegen die furchtbare Kälte half, war nach ihrer Meinung schwarzer Kaffee mit Rum, welcher Mischung sie immer leidenschaftlicher zuzusprechen begann. Mit Schrecken bemerkte ich die wachsende Vorliebe meiner Mutter für geistige Getränke, und ich versuchte vergebens ihr entgegenzuarbeiten. Machte ich ihr Vorstellungen, bat ich sie auf das liebevollste, doch eher Milch in den Kaffee zu tun statt Rum, oder, wenn sie schon durchaus Alkohol trinken mußte, sich eher ein Glas Wein zu kaufen, So schalt sie mich lieblos und undankbar und hielt mir vor, daß sie in ihrem Alter doch trinken dürfe, was ihr beliebte. Ich schwieg darin traurig, um sie nicht noch mehr zu erregen, und litt furchtbar unter der Vorstellung, meine Mutter immer mehr dem Alkohol verfallen zu sehen. Als ich deshalb einmal meine Mutter überraschte, wie sie aus einem Fläschchen einen Rum trank, wußte ich nicht, was ich aus Verzweiflung über diese schreckliche Entdeckung tun sollte.

Tagelang ging ich verstört, wie unter der Last einer geheimen großen Schuld umher, und ich verbrachte halbe Nächte schlaflos im Ansturm der quälenden Gedanken, die sich alle um die beginnende Trunksucht meiner Mutter drehten. Auf der dunklen Wand der Nacht erschienen mir die Gestalten Betrunkener, die mir im Leben begegnet waren, in ihrer ekelerregenden und bedauernswerten Lächerlichkeit. Wie sie aus Branntweinläden heraustorkelten, angespien, tierische Laute grölend und die nüchterne Welt mit entsetzt aufgerissenen Augen anglotzend, während diese sie verachtete und verspottete. Ich sah sie alle vor mir, diese armen hilflosen Sklaven einer Leidenschaft, die diesen schillernde Wunder vorgaukelt und nichts hält von allem, was sie verspricht. Ich sah sie tiefer sinken als die Tiere und sah sie zum Bett der Mutter herüberwinken. Ich hörte ihr einladendes Geflüster: Komm, schließ dich uns an, auch du brauchst das, was wir vom Alkohol erhoffen: Vergessenheit, Kraft für die alten, verbrauchten Knochen, einen Ersatz für das Glück, um welches uns das Leben betrog. Komm, der Alkohol wartet ungeduldig auf dich! Sieh, er hat Säcke voll Ruhe, Kisten voll Vergessen und Kasten voll der seltsamsten Freuden für dich. Und er verlangt so wenig für seine Schätze. Seine Gaben sind auch uns Armen zugänglich, obwohl viel Reiche nach seiner Gunst streben.

Komm nur, trinke dir die Seligkeit, die er deinem erschöpften, mißbrauchten, traurigen Körper gibt, hinein! Er ist der Gott der Armen und gibt ihnen schon auf Erden den Himmel. Komm darum, du geplagteste unter den Frauen!

So riefen die herumtorkelnden, im Straßenkot kriechenden, von Kindern grausam verhöhnten, von den Erwachsenen verachteten Gespenster vor meiner zerquälten Seele der unruhig schlafenden Mutter zu, die keine Ahnung von dem Leid hatte, das ihr Sohn ihretwegen litt. Sie wäre sogar sehr erstaunt gewesen, hätte sie davon gewußt, hätte doch jeder andere die Sache als ganz harmlos angesehen, da sie sich bis dahin ja stets in den Grenzen des Erlaubten bewegt und keinerlei Ausschreitungen hatte zuschulden kommen lassen. Aber meiner zärtlichen Ängstlichkeit für die Mutter waren schon die paar Tropfen Rum ein böses Vorzeichen, und ich zergrübelte mir den Kopf, wie ich es anstellen sollte, den Alkohol oder wenigstens den Schnaps aus dem Tageskonsum meiner Mutter zu drängen, ohne deren Empfindlichkeit zu verletzen. Hätte ich diese mich zermürbende Sorge einem zweiten Menschen anvertrauen können, um mich mit ihm zu beraten! Eine leichtverständliche Scheu hielt mich aber davon ab, selbst meinem getreuen Ludwig ein Wort darüber zu,verraten. Freilich, meine plötzliche Einsilbigkeit und mein zerstreutes Wesen mochten ihm bald genug auffallen; er hielt aber eine Schwärmerei für eine Kunstblumenarbeiterin für den Grund meiner Veränderung und neckte mich ausgiebig damit. Ich ließ ihn bei diesem Glauben und war ängstlich bestrebt, eine. Entdeckung seinerseits, zu verhüten.

Eine große Scham über dieses beginnende Laster meiner Mutter brannte in mir. Wenn ich des Abends nun mit meinem Freund die Zelle betrat, war es mein erstes, die Luft mit der Nase einzuziehen und so zu wissen, ob sie nicht nach Alkohol roch. War dies der Fall, dann. schaute ich ängstlich auf meinen Freund, ob er es auch gemerkt habe. Doch seine Mienen zeigten nie ein unliebsames Erstaunen, und auch sonst hörte ich nie ein Wort, das mich drauf hätte schließen lassen, er beschäftige sich mit dem Trinken der Mutter. Vielleicht war ihm die Alkoholatmosphäre vertrauter als mir und legte er dieser Leidenschaft auch weniger Bedeutung bei als ich, war er doch neben einem notorischen Säufer, seinem Vater, aufgewachsen, indes sein Schwager, der mit seiner Frau bei ihm wohnte, ein polizeibekannter Quartalssäufer war.

Die Kälte wurde in diesem Jahr immer ärger. Die Mutter wußte nicht mehr, wie sie sich halbwegs vor ihr schützen sollte. Das heißeste Wasser fror unter der scheuernden Hand an den Wänden und Fenstern, die sie reinigen sollte, und meine Mutter kaufte von dem kargen Trinkgeld selbst Holz und Kohle, um sich einigermaßen vor dem Erfrieren zu schützen. Vorstellungen bei den Kontrollorganen erzielten nur ein bedauerndes Achselzucken, und so verbrachte die Mutter die Zeit bis zur Weihnachtswoche in dieser sibirischen Kälte, nicht einmal notdürftig vor ihr bewahrt. Da bekam sie eines Tages Fieber und arge Heiserkeit, gegen die Halsumschläge und heiße Limonade nichts helfen wollten. Als wir sie am Heiligen Abend nach der Arbeit abholen wollten, war sie sehr schwach und fiel in Ohnmacht, und wir brachten sie zu Tod erschrocken nach Hause, wo wir sie ins Bett legten. Wir hatten uns alle so sehr auf diesen Abend gefreut, denn Ludwig wollte ihn mit uns verbringen; seine Eltern waren die ganze Nacht auf dem Fischmarkt beschäftigt und konnten das Christfest erst am nächsten Tag feiern. Nun war alles ins Wasser gefallen, denn der Armendoktor, der nach drei Stunden einen Sprung in unsere kleine Kammer machte, stellte nach flüchtiger Untersuchung eine gefährliche Halsentzündung mit Diphtheriegefahr fest. Nun blieb unser kleines Fichtenbäumchen unangezündet in der Ecke stehen. Ludwig war nicht zu bewegen, nach Hause zu gehen, und wollte mich auch in dieser Nacht, die doppelt traurig war, weil ringsum selbst bei den ärmsten Leuten die fröhliche Weihnachtsstimmung herrschte, nicht allein lassen.

So saßen wir bei abgedämpftem Lampenlicht in der Nähe der Kranken, die, nur halb bei Bewußtsein, seltsame unzusammenhängende Worte sprach und manchmal schmerzlich aufstöhnte. Als hinter den Fenstern der gegenüberliegenden Häuser die Kerzen an den Christbäumen aufleuchteten, zündete Ludwig hinter dem Rücken der Mutter auch eine Kerze an, neben der in einem Flaschenhals ein Tannenreisig steckte, und legte zwei Pakete neben sie. Es waren seine Geschenke für meine Mutter und mich. Diese erhielt ein Paar warme Hausschuhe, indes meine Weihnachtsgabe aus einem hübschen Notizbuch bestand. Nun holte auch ich mein Geschenk für ihn, eine Schachtel Zigaretten, hervor, dann zerlegten wir zwei Heringe und kochten uns einen Tee, den wir mit Zitronensaft tranken. Die Mutter erhielt Milch eingeflößt. So feierten wir Weihnachten.

Da wir in der Stube nicht rauchen wollten, gingen wir zu dem Zweck abwechselnd auf den Gang hinaus, die andere Zeit hockte ich bei der Mutter, um ihr Umschläge auf den Hals und die fieberglühende Stirn zu machen, wie der Arzt verordnet hatte. Ludwig saß beim Tisch und war in die Abenteuer Winnetous versunken.

Um Mitternacht bereiteten wir uns das Bett auf dem alten Sofa und suchten es abwechselnd auf. Aber während Ludwig in ruhigen Atemzügen schlief, bis die Zeit zur Ablösung kam, konnte ich vor banger Sorge um das teure Leben meiner Mutter kein Auge schließen und war froh, als der erste Schimmer Morgenlichts durch das Fenster hereindrang.

Zu meiner großen Freude schien es meiner Mutter besser zu gehen, sie erkannte uns wieder und freute sich über die schönen Hausschuhe und das Schultertuch, das mein Christgeschenk für sie war. Nur reden konnte sie nicht, ohne große Schmerzen im Hals zu empfinden. Auf ihr Geheiß machte ich Tafelöl warm und gab es ihr mit etwas Zucker ein, während ich eine Unschlittkerze auf Leinwand zerreiben und diese ihr um den Hals binden mußte. Sie war der festen Hoffnung voll, dies würde sie bald gesund machen, denn sie schwor auf die bewährten Hausmittel.

So schnell, als sie es sich gedacht hatte, ging es aber nicht, und sie mußte beinahe vierzehn Tage im Bett zubringen. Eine mitleidige Nachbarin, die selbst ein Rudel Kinder und einen Mann zu versorgen hatte, brachte ihr, da ich tagsüber durch meinen Beruf von Hause ferngehalten wurde, aus einer nahen Volksküche das Mittagessen und kochte ihr auch den Jausenkaffee, während abends Ludwig und ich unsere Kochkünste versuchten. Zum Glück war meine Mutter im Genuß eines Krankengeldes, sonst wäre es uns während ihrer Krankheit schlecht ergangen. Meine Entlohnung war ja so gering, daß sie kaum auf die Schuhe langte, die ich im Dienst meiner Firma auf dem Wiener Straßenpflaster zerriß.

Als meine Mutter wieder aufstehen durfte und ihren Dienst aufnehmen wollte, fand sie die Stelle von einer anderen Frau besetzt. Die Firma hatte es nicht der Mühe wert gefunden, die Mutter, die in ihrem Betrieb erkrankt war, davon zu benachrichtigen. Im Büro der Gesellschaft fertigte man sie im Vorzimmer ab, das heißt, der Direktor schickte ihr durch einen Diener den Trauungsschein nebst einem kurzen Zeugnis heraus und ließ ihr sagen, er könne sie nicht mehr brauchen, sie solle in eine Versorgungsanstalt gehen.

Abends fand ich meine Mutter weinend im Dunkel sitzen. Ein durchdringender Schnapsgeruch, der mir entgegenschlug, und ihr unzusammenhängendes Lallen zeigten mir an, daß meine Befürchtungen eingetroffen waren.

Meine Mutter hatte sich berauscht.

*

Diesen Winter hungerten wir wie die Hunde in Konstantinopel. Wohl war die Mutter eifrigst bestrebt, durch Waschen und Scheuern etwas zu verdienen, aber oft verging eine halbe Woche, ohne daß jemand ihrer bedurfte. Es waren meist verwitwete Arbeiter oder auch Eheleute, die tagsüber einer Beschäftigung nachgingen, die sonst meiner Mutter um ein paar Kreuzer die Reinigung der Wohnung und Wäsche übertrugen. Dieses Jahr schienen die Leute aber selbst diese geringe Summe sparen zu wollen, denn wo die Mutter auch anfragte, fast überall wies man sie ab. Auch war dieser Winter in wirtschaftlicher Hinsicht schlecht bestellt. Ein außenpolitischer Einfluß beeinträchtigte den allgemeinen Geschäftsgang. Viele Fabriken arbeiteten mit der Hälfte ihres sonstigen Personals, und die Neubauten waren wegen der grimmigen anhaltenden Kälte eingestellt worden. In jedem Beruf gab es eine erschrecklich große Anzahl von Arbeitslosen. Das Elend der unteren Volksschichten stieg wie sonst nur in Kriegs- und Mißerntejahren. Die Tagesblätter waren voll von den Tragödien des Hungers und Frostes. Vor den Wärmehallen stauten sich breite Massen schutzsuchender Menschen, und vor den Asylen für Obdachlose gab es blutige Kämpfe. Dabei johlte nicht weit davon der Fasching durchs Land und strömte ausgelassenste Festfreude aus den überfüllten Ballhäusern.

Wenn ich so des Abends unserer Kammer zuschritt, wo die Mutter hungernd und steif vor Kälte auf mich wartete, indes auch in mir ein unstillbarer Hunger bohrte, wie beneidete ich die Menschen, die warm bekleidet und wohlgenährt scherzend und lachend in die hellerleuchteten Häuser traten, über denen in verführerischen Worten zu lesen war, daß man dort ausgezeichnet essen und trinken und sich überhaupt recht wohl fühlen könne. Ich blickte nachdenklich und frierend in die mit Pelz und flaumigen Decken ausgeschlagenen Wagen, die vor den lichtüberfluteten Palästen in langen Reihen standen, und sah wohl auch durch die Eingänge in prächtige Hallen, wo feine Damen und Herren in Zylinder und Lackschuhen auf und ab promenierten.

Auf den Plakaten stand: »Gesang und Tanz die ganze Nacht.« Aber plötzlich stieg in meinem Hirn die Erinnerung an eine kleine Notiz in der Zeitung auf: »Ein Obdachloser auf einem Misthaufen erfroren.« Dann griff ich mir wohl schauernd an den Kopf und eilte verworrenen Sinnes meinem Heim zu.

Ende März wurde ich des Saisonschlusses halber entlassen, und nun wußten wir nicht mehr ein noch aus. Jeden Tag wanderte ein anderer Gegenstand unserer armseligen Einrichtung zum Trödler; aber der Erlös reichte meist kaum für das Brot, das beinahe unsere ausschließliche Nahrung bildete. Auch Ludwig war in dieser Zeit nicht glücklicher als wir, denn er hatte seinen Kutscherposten verloren. Ein Vorgesetzter hatte dem Mädchen, das Ludwig liebte, in ungehöriger Weise zu nahen gesucht, und dieser hatte dem Mann eine Ohrfeige dafür gegeben, was ihm die Entlassung eintrug.

So kam die Osterwoche mit schönstem Sonnenschein und fand uns hungernd und unzufrieden mit unserm Schicksal. Tags vorher hatten wir den letzten verkäuflichen Gegenstand, einen alten Vogelkäfig, beim Eisenhändler »vergitscht«. Von den zwei Nickelmünzen, die wir dafür bekamen, war nicht ein Heller mehr übrig und ebensowenig von dem altgebackenen Brot, das wir dafür eingetauscht hatten. Nach einem Rundgang durch die halbe Stadt, auf dem wir nach Arbeitsgelegenheit gesucht hatten, waren wir betrübt und gedemütigt heimgekehrt. Wir saßen uns wortkarg gegenüber, indes die Mutter trübselig den schon ganz grau gekochten Kaffeesud zum sechstenmal aufgoß.

Schließlich raffte sich Ludwig mit einem energischen Hinstoßen seiner Fäuste über die Tischplatte auf und sagte, das Resultat seiner mürrischen Nachdenklichkeit in einem beinahe fröhlich klingenden Ausruf zusammenfassend:

»Jetzn gehn ma Vögel fangen, weil so a schöns Wetter is!«

Ich blickte ihn unwirsch an und brummte: »Mach kane Witz! Muaßt jo a Gas kitzln, daß s' lacht!«

Jetzt grinste Ludwig über das ganze Gesicht. Seine Sorgen schienen alle beim Fenster hinausgeflogen zu sein:

»Wannst a Gstanzln schreibn kannst, manchsmal is mei Spiritus a so vüi wert wia da deinige! Jetzt is d' Masenzeit, wo d' Viecherln zum Paarln anfangen und ganz damisch san vor lauter Liab! So hamli sans, daß mas mit ana Tupfgertn derwischen kann. I kenn an Vogelkrama, der zahlt zwa Schuß für a Mandl. I hab no zwa Kreiza, da kauf i an Vogelleim. Frau Muatta, wann ma Glück habn, gibt's auf d' Nacht backene Roßsafaladi!«

Meine Mutter, an die diese letzten Worte gerichtet waren, schaute ihn entrüstet an.

»Aba, Ludwich, Se wärn doch nich so arme Tierchen fangen, die können doch nichts, dafür, daß wir hungern«, meinte sie bekümmert und fügte besorgt hinzu: »Und wenn euch 'n Gendarm ertappt! Die Schand! Ne, Alfons, das könntn wa noch brauchen! Vielleicht find ich doch noch was zum Verkloppen.«

Und sie suchte mit ihren kurzsichtigen Augen die von der Not geplünderte Stube noch einmal ab. Aber da war nichts mehr zu finden, was sich noch halbwegs zum Verkaufen geeignet hätte. Von dem warmen Federbett der Mutter bis zu den letzten abgegriffenen Heften der Hintertreppenromane war schon alles zum Trödler gewandert.

Unterdessen hatte ich mich mit dem Vorschlag Ludwigs etwas näher befaßt, so abenteuerlich er mir anfangs vorgekommen war. Gar so phantastisch war er ja eigentlich nicht! Ich dachte an einige arbeitsscheue Burschen, die ich kannte und die in Ausübung des verbotenen Vogelfanges einen Haufen Geld verdienten. Und dann: Not bricht Eisen. Sie beschwichtigte auch meine Angst vor der Polizei und gewann mich schließlich ganz für das Unternehmen. So half ich Ludwig, meine ängstliche und gutherzige Mutter zu beschwichtigen und ihre Zustimmung zu gewinnen, und wir erreichten endlich, daß sie mit einem resignierten »Wer nicht hören will, muß fühlen« zu ihrem Kaffeetopf zurückkehrte und uns unserm Schicksal überließ. In Eile beschafften wir den Vogelleim und zogen dann in den Dornbacher Wald. Innen wärmte uns der Jagdeifer, außen die liebe Sonne, die es an diesem Tag ganz außerordentlich gut mit der Welt meinte. Alles hatte ein so frisches Äußeres, glänzte fröhlich in den beginnenden Frühling hinein, und wir wären vielleicht die fröhlichsten Burschen der Welt gewesen, wenn unsere Eingeweide nicht gar so leer und unser Hunger geringer gewesen wäre. Besonders Ludwig wurde immer heiterer und fing einen Marsch nach dem anderen zu pfeifen an, was er meisterhaft verstand.

Im Walde wichen wir bald von den meistbegangenen Wegen ab, und wenn mich mein knurrender Magen nicht an den Zweck unseres Spazierganges gemahnt hätte, hätte ich mich am liebsten mit Blumenpflücken abgegeben, denn der Waldboden war bedeckt mit Leberblümchen und Primeln. So aber schnitten wir uns von einem Erlenstrauch jeder eine biegsame Rute ab und bestrichen sie einen Viertelmeter vom Ende ab mit Vogelleim. Vorsichtig pirschten wir uns durch das nackte Gehölz auf die Meisen zu, die laut und keck feilend vor uns von Ast zu Ast hüpften und uns oft auf Armeslänge nahe kommen ließen, um dann mit einem schadenfrohen Vogelgelächter aus dem Bereich unserer Fanggerten zu entwischen.

Die Sache war lange nicht so einfach, wie es mir mein Freund vorgemacht hatte. Die kleinen gelbschwarzen Teufelchen mit der weißen Halsbinde waren von einer ungeheuren Flinkheit; wenn ich einer von ihnen noch so sicher war, im letzten Augenblick huschte sie kichernd auf einen anderen Zweig. Immer wieder schlug ich ins Leere hinein und fing statt des Vogels ein dürres Blatt oder eine Baumspinne.

Ich war schon in Schweiß gebadet, meine Hände waren ganz zerkratzt, und auf der Stirn trug ich eine tüchtige Beule von einem Sturz davon. Dabei lebte ich in steter Angst vor dem Wachmann, Jagdaufseher oder Finanzer und schwor in meinem Innern, meinen Freund nie wieder auf einer so gefährlichen und schwierigen Exkursion zu begleiten.

Leider konnte ich meinen Unmut nicht an ihm auslassen, da er ein gutes Stück von mir entfernt jagte. Wahrscheinlich hatte auch er bis jetzt nicht mehr Glück gehabt als ich, denn sonst hätte er mir längst in einem Siegesgeheul das Gegenteil erzählt. Plötzlich aber – ich hatte mich eben wütend von einem Sturz über einen Baumstrunk erhoben – tönte die blanke Stimme meines Freundes zu mir herüber:

»Bin der Torero/überall bekannt,/Stolz in der Brust,/siegesbewußt.«

Dann wieder ein Wiener Heurigen-Jodler:

»Geh i ham zu mein Weib,/geh i bald,/geh i glei.,denn mei Weib is so guat,/hat a siadat hoaß Bluat.«

»Wickerl!« rief ich ihm furchtsam durch das Unterholz zu, durch das er geschritten kam, »Wickerl, bitt di, schrei do net so, wann di a Wachta hört, san ma petschiert! Was hast denn, daß d'so lamentierst!«

»Spezi! I hab a Zeiserl gfanga, do kriagn ma wenigstens drei Schuß dafür!« gab er mir, unbekümmert um meine Warnung, jubelnd zur Antwort. Gleich darauf tauchte er vor mir auf und zeigte mir vorsichtig und voll Stolz den kleinen, grünen Vogel, den er in der rechten Hand hielt. Nachdem wir beide dieses Jagdglück genugsam bestaunt hatten, machten wir uns mit der wertvollen Beute, die wir sorgsam in mein Schnupftuch gebunden hatten, auf den Weg zu einem Vogelhändler in Hernais.

Als wir aus dem Walde heraustraten, bemerkten wir, daß sich das Wetter bedrohlich zu ändern schien. Die Sonne war hinter eine graue Wolkenwand gekrochen, und bald war von dem blauen Himmel nichts mehr zu sehen. Die Kirchtürme und Fabrikschlote hatten ihr prahlerisches und eitles Aussehen verloren und blickten nun kläglich dem Unheil entgegen, das sich über ihnen zusammenbraute.

Wir waren noch nicht über die letzten Felder geschritten, als es in großen Flocken herunterzuschneien begann, und es dauerte nicht lange, so waren wir von einem regelrechten Schneetreiben eingehüllt, wie es zu Weihnachten nicht hätte ärger sein können. Obwohl es erst zwei Uhr war, herrschte Dämmerung auf den Straßen. Die Straßenbahnwagen mußten beleuchtet werden, und die aufgeschreckten Laternenanzünder liefen aufgeregt in den Straßen umher.

Der Laden des Vogelhändlers, in den wir wie zwei überzuckerte Konditoreifiguren eintraten, war bis zur Decke mit Vogelkäfigen angefüllt. Da flatterte und schrie es, piepsten, zankten und pfiffen die kleinen Tierchen, daß man kaum sein eigenes Wort verstehen konnte.

Mitten in der Bude saß der etwa sechzigjährige Händler und klaubte die goldgelben Mehlwürmer aus einem riesigen Steinguttopf in eine kleine Holzschachtel. Gerade hatte er die halbzerfressene Leiche eines großen Waldvogels aus dem Topfe gefischt, als wir zu ihm traten. Ohne aufzublicken, fragte er nach unserem Begehr.

»Bitt schön, Herr Buschenberger, i hätt a frisch gfangenes Zeiserl, a feins Mandl, zu verkaufen. Was gebns denn dafür?« sagte Ludwig und streckte seine Hand, in der das eingeschüchterte Vöglein piepste, dem Vogelhändler unter die Nase. Der ließ die Vogelleiche in den Topf zurückfallen, hob seinen mächtigen Quadratkopf und blinzelte kurzsichtig nach dem Vogel, von dem nur das Köpfchen sichtbar war. Nachdem er sich umständlich seine Brille aus einer Lade geholt und auf die Nase gesetzt hatte, nahm er den Vogel aus Ludwigs Hand, griff ihn mit den Fingern ab, blies ihm den Flaum auseinander und spreizte ihm den Schnabel auf, kurzum, untersuchte das zitternde Tierchen auf das genaueste. »Was soll denn der Tschernkstn kosten?« fragte er, während er den Vogel in ein Bauer steckte, wo er mit Zeisigen und Stieglitzen ängstlich herumflatterte.

Diplomatisch antwortete Ludwig: »Was wollns denn gebn?«

»No, vül is des Krepierl net wert, 's is scho grate zwa Jahr alt, und d' Flügl san ganz agstoßn; no, sagn ma halt siebzig Hella, net?«

»Gebens achtzig, Herr Buschenberga! Für dös Viecherl kriagns leicht drei Kranln!«

Nachdem der Vogelhändler den Vogel noch einmal tiefsinnig auf seinen Wert angeschaut hatte, so daß ich schon fürchtete, er könnte uns ihn wegen Ludwigs Mehrforderung wieder zurückgeben, zog der Alte plötzlich entschlossen seine Geldtasche heraus und zählte Ludwig vier blinkende Zwanzighellerstücke in die Hand.

Wir schmetterten nun beide ein hochbefriedigtes »Dank schön« heraus und betraten in fröhlichster Stimmung die Straße. Das Unwetter hatte eher noch zugenommen. Der Schnee lag schon knöcheltief, und immer noch schneite es mit unverminderter Stärke.

Ludwig steckte mir sechzig Heller zu, während er sich von den übrigen zwanzig Dramazigaretten kaufte. Auf meine Weigerung, das Geld zu nehmen, sagte er: »Geh, sei net fad, was mir ghört, ghört a dir. Dei Muatta soll wieda amol a Freid ham. Kauf fünf Stuck Safaladi beim Peppihacker und fünf Deka Kaffee. Auf an Kilo Erdäpfel wird's a no glängan. Dös wird heut a Nachtmahl, wia bein Rothschüld!« Ausgelassen sang er den Grinzinger-Marsch: »Der Rothschild, meine Herrn,/dös wird a Aufsehn wern,/laßt Bratln aufmarschiern,/daß Tisch und Bänk si biagn.«

»Aba, Wickerl«, unterbrach ich seinen Gesang, »wann ma heut alls verhaun, ham ma murgn nix!«

»Murgn?« Er blieb stehen und packte mich begeistert beim Arm. »Murgn, Freunderl, gibt's wirkliche Rostbratln und an Fensterschwitz oder an Tee mit Rum, wannst a kan magst, du fada Zipf!«

»Ja, wo wülst denn dös Geld hernehma? Vogelfangan gehr i da nimma! Daß d' as waßt!«

»I a net«, lachte er, »aba do schau auffi, gschpannst was?«

Ich schaute in die Höhe, konnte aber nichts sehen, was uns hätte Geld bringen können. Nur der Schnee flog mir ins Gesicht, und ich fing schon wieder an, ärgerlich zu werden, daß mich mein Freund immer zum Narren halten wollte.

»Gehn ma gescheita um Arbeit schaun, vielleicht nehmans uns als Schneeschaufler«, meinte ich. Da lachte Ludwig noch mehr, so daß ich ihm zornig erklärte, ich werde halt allein Schnee schaufeln gehen.

»Geh, sei net glei so a Grantnzipf!« antwortete er mir, »was kann denn i dafür, daß d' so langsam kapierst! Schau auffi auf d' Dächer, was da für a Schnee liegt. Wann ma den abraman, kriagn ma mehr Göld in drei Stund, als was bein Schneeschaufeln bei da Gemeinde für an ganzen Tag. Darweilst z' Haus gehst und da Muatta 'n Kaffee und d' Wurscht bringst, mach i an Sprung zum Ziegeldeckamasta in unsan Haus, der leicht ma gern a Seil und zwa Schaufln. Nacha hol i di von z' Haus a, und mir haltn bei dö Hausherrn in da Näh Nachfrag, ob's net ihnare Dächer wolln araman lassn von uns. Wannst schwindli wird, bleibst halt du bei da Bodnluckn stehn und haltst as Seil!«

Diesmal war ich mit dem Einfall meines Freundes sofort einverstanden. Obzwar gefährlich, hatte die Sache doch einen realeren Grund als das Vogelfangen. Man konnte auch nicht so leicht in Konflikt mit dem Gesetz kommen. So war ich gleich bereit, mitzutun, und Ludwig war sehr erfreut darüber. Der Mutter wollten wir nur sagen, daß wir Schnee schaufeln gingen, um sie nicht zu erschrecken.

So trennten wir uns, und ich kaufte sechs Würste, das Stück zu drei Heller, etwas Bruchkaffee und Kartoffeln, um diese Schätze zu Hause der Mutter zur Weiterbehandlung zu übergeben. Sie atmete erlöst auf, als sie mich wohlbehalten heimkehren sah, und die Freude an dem wohlriechenden Bohnenkaffee trübte ihr nur der Gedanke an den armen Zeisig, dessen Gefangennahme sie den großen Genuß dankte. Ich versuchte sie damit zu beruhigen, daß dem Vogel jetzt im Walde ohnehin schrecklich kalt wäre, indessen er bei dem Tierhändler unter so vielen Kameraden ein fröhliches Leben ohne Sorge führen werde. Gleichzeitig erzählte ich ihr auch von dem bevorstehenden Verdienst als Schneeschaufler, was sie sehr beglückte. Nur das Schuhzeug betrachtete sie mit Sorgen; ich würde mich vielleicht verkühlen und krank werden. Sie suchte alte Fetzen und Tücher zusammen, mit denen ich mir die Füße umwickeln sollte; so würde ich vor Verkühlung geschützt sein.

In bester Laune bereitete Mutter nun den Kaffee, indes ich auf Ludwig wartete, der auch bald kam. Wir machten nun noch eilig einen Sprung in die nächsten Nachbarhäuser, wo wir auch wirklich für den kommenden Tag zum Abräumen zweier Dächer engagiert wurden. Heimgekehrt fielen wir ausgehungert über die Würste und Kartoffeln her und verbrachten nun den Abend in fröhlicher und ausgesöhnter Stimmung.

Am nächsten Morgen kroch ich schon um fünf Uhr aus den Federn, zog sämtliche Kleidungsstücke meiner Garderobe an, nämlich: zwei Hosen, drei Westen und zwei Röcke, die die Mutter am Abend vorher wohl zum hundertstenmal einer eingehenden Prüfung unterzogen und geflickt hatte. Die Fetzen für die Füße wickelte ich in Papier, und so betrat ich, die warme Krimmermütze meines Vaters auf dem Kopf und begleitet von Gesundheitsmaßregeln der Mutter, die Straße.

Die Stadt lag wieder in tiefstem Winter. Der Schneepflug schob sich durch die Straße, wo ich in einem kleinen Kaffee meinen Freund traf. Die Besitzerin der Schenke war uns nämlich so wohlgesinnt, daß sie uns manchmal Kredit gab, was wir, wie eben heute, gut brauchen konnten. So watschelte sie auch diesmal gutmütig mit einem Glas Tee auf mich zu, den ich mit etwas Zitronensaft zum Gaudium einiger übernächtigter Burschen und Mädchen trank, die ihrerseits nur in schlechtem Likör ihr Heil sahen. Bald machten wir uns wieder auf den Weg, Ludwig mit einer schweren Seilrolle, ich mit den zwei Schaufeln am Rücken. Das Haus, in welchem wir unsere Kunst versuchen wollten, war in unserer Nähe und stak mit seinen zwei Stöcken wie ein buckliges Waisenkind zwischen den drei und vier Stock hohen Nachbarn.

Der Hausmeister klapperte mit den Zähnen, als er uns auf den Dachboden führte, denn es war arg kalt. Auch fragte er uns einige Male fürsorglich, ob wir wohl auch ganz gewiß schwindelfrei seien, da das Dach sehr steil und mit schlüpfrigem Schiefer gedeckt sei. Ob das Seil auch stark genug sei, uns zu halten? Vom sechsundzwanziger Haus hätt es im vorigen Sommer einen Ziegeldecker heruntergehaut, ein blutjunges Bürscherl, der wie ein faschiertes Schnitzel ausgesehen habe, als sie ihn aufklaubten.

Wir versicherten ihm unsere beste Absicht, wieder heil herunterzukommen, er möge nur keine Angst haben und lieber das Trottoir für den Verkehr absperren, damit der Schnee niemandem auf den Schädel plumpse. Er verließ uns hierauf eiligst, nachdem er noch von Ludwig darüber beruhigt wurde, daß wir beide keine Bandwürmer hätten, da diese Schwindel erzeugen sollten.

Mit den Fetzen an den Füßen banden wir uns die zwei Seilenden um den Leib und schwangen uns, nachdem wir das Seil befestigt hatten, auf das wirklich sehr abschüssige Dach hinaus. Es wäre unmöglich gewesen, sich ohne die Tücher an den Füßen auf dem Dache festzuhalten. So aber hatten wir uns bald in unsere Arbeit hineingefunden, schoben uns vorsichtig Schritt für Schritt vorwärts und warfen den Schnee auf die Straße hinunter, wo er breiig aufschlug. In unserem jugendlichen Leichtsinn machten wir uns wenig Gedanken über die Gefährlichkeit unserer Arbeit, wohl aber litten wir unter dem schneidenden Frostwind, dem wir ausgesetzt waren und der hier auf eine Weise blies, daß man sich in die Eisberge des Polarmeers versetzt glaubte. Es gab regelrechte Kämpfe mit diesem Wind, der uns von allen Seiten packte und uns den aufgewirbelten Schnee in die Augen trieb, um uns vielleicht doch noch in den Abgrund schleudern zu können. Der gefrorene Schnee, so fein wie körniges Mehl, drang zwischen unsere Kleidungsstücke auf die Haut und brannte dort wie Feuer, die Ohren und die Nase waren voll von ihm. Nur schrittweise konnten wir die übernommene Arbeit bewältigen. Von Zeit zu Zeit kam der ängstliche Hausmeister die Treppe heraufgekrochen, um uns durch das Dachfenster zu fragen, wie es uns gehe und ob wir nicht bald fertig seien; wir sollten es nicht gar so genau mit dem Abräumen nehmen. Er schien voll Mitgefühl für unser Ergehen. Nachdem sich gegen Mittag der Himmel etwas aufgeheitert hatte, konnten wir ihm zu seiner größten Freude mitteilen, daß unsere Arbeit beendet sei und er sich davon überzeugen solle. Erschrocken wehrte er ab; er sei ganz überzeugt, daß wir unsere Pflicht getan, wir sollten nur schon einmal von dem verflixten Dach herunterkommen. Bei seiner Frau gäbe es Tee mit Wein, und er sei uns dies schuldig, weil wir ihm viel Scherereien dadurch erspart hatten, daß wir nicht abgestürzt seien.

Wir folgten mit Vergnügen der Einladung dieses menschenfreundlichen Kauzes und traten in die Stube, wo seine Alte uns mit so stürmischer Freude empfing, als wären wir ihre Söhne gewesen, die von einer Reise zum Mond zurückkehrten.

Über meine Weigerung, Alkohol zu mir zu nehmen, schauten mich die beiden Leutchen wie ein Fabeltier an:

»Sö haben kan Schnaps und kan Wein trunkn bei dera Viechsarbeit?«

Und um dieses Vergehen zu sühnen, goß er gleich ein tüchtiges Glas Rum hinunter.

Als wir uns verabschiedeten, händigte uns der Hausmeister den Lohn ein, den sein Herr für uns geschickt hatte. Drei Kronen für jeden von uns.

Infolgedessen traten wir stolz im Besitz dieses Reichtums in eine Pferdefleischauskocherei, wo wir uns ein Gulasch mit Knödeln vorsetzen ließen. Dann gingen wir beherzt an die Arbeit. Ich sage beherzt, denn das Dach, das wir nun zu kehren hatten, stülpte sich in breiter Ausdehnung über ein vier Stock hohes Zinshaus, bei dessen Anblick selbst dem mutigeren Ludwig der »Schiach« anging.

»Servas, wann do aner a Kraxn abischlagt, der kriagt a bisserl mehr wia Schädelweh«, meinte er, nachdem wir uns beim Hausmeister angemeldet hatten, der, höchst vornehm, uns kaum mit einem Blick streifte und einem dreizehnjährigen Buben den Bodenschlüssel mit den Worten überreichte: »Franzel, führ dö zwa aufn Boden, und paß auf, daß den Parteien nix wegkummt von da Wäsch!«

»Na, Herr Hausmeista«, sagte drauf Ludwig, »spendelns uns vielleicht d' Säck mit Ehrnera Nosn zua, wanns an Angst habn, daß ma wos stöhln!«n Des Hausmeisters Nase stach einen nämlich durch ihre auffallende Spitzigkeit in die Augen.

Um zur Bodenluke zu gelangen, hatten wir uns durch einen wahren Wald von Leinwand zu schlängeln, die zum Trocknen über ein ganzes Netz von Stricken hing, und die Frauen, die eben mit dem Aufhängen beschäftigt waren, gerieten deshalb in große Aufregung.

»Jessas na, greifts do net mit enkere dreckigen Pratzn dö Wasch an!« keifte die eine.

»Glaubts ös zwa Hallwacheln, i hab mi für enk die halbate Wochn zum Waschtrog hingstöllt?«

»A Stückerl, wanns ma schmutzi machts, dann kennts was erlebn!« flöteten die andern.

So atmeten wir erlöst auf, als wir draußen auf dem Dach saßen, die letzten Vorbereitungen treffend, von wo wir die noch immer scheltenden Weiber nur mehr wenig hörten.

Die himmlischen Wettermacher waren uns nunmehr wohlgesinnt. Der Wind hatte sich ganz gelegt, und es heiterte sich immer mehr und mehr auf. Gegen drei Uhr ließ sich sogar die Sonne blicken, so daß uns bei unserer eifrigen Arbeit sogar sehr warm wurde. Wir hatten tüchtig zu schaufeln, um vor Beginn der Nacht die riesige Fläche zu bewältigen.

Als die Sonne unterging, fing es plötzlich an wieder grausam kalt zu werden. Die oberste Schicht des Schnees, die unter den warmen Strahlen zu Wasser geworden, gefror binnen kurzem, so daß wir uns nur mit Mühe vorwärts bewegen konnten; als ich, ungeschickter denn Ludwig, einmal trotz aller Aufmerksamkeit zu Fall kam und mich nur zufällig noch an einem Dachfenster halten konnte, packte mich Ludwig entschlossen beim Kragen und ließ mich wie ein Kind in den Bodenraum hinab. Er war vor Schreck ganz blaß geworden und zog es trotz meines Sträubens vor, das Stückchen, das noch zu räumen war, selbst zu besorgen.

Nach einer halben Stunde kam er mir nach, und wir konnten dem Hausmeister die Beendigung unserer Arbeit melden. Zehn Kronen betrug unser Lohn, und wir stelzten frohgemut mit unserem großen Verdienst heim zur Mutter. Als diese das viele Geld sah, rief sie erstaunt aus: »Ne, das könnt ihr mir nun nich weismachen, daß ihr fürs Schneeschaufeln so viel bekommen habt! Wer weiß, was da wieder für ne Lumperei dahintersteckt!«

Doch ließ sie es bei ihrem Zweifel bewenden und freute sich mit uns über die schönen Osterfeiertage, die uns nun bevorstanden. Am nächsten Tag schon, es war der Ostersonntag, gab es einen Osterbraten, wenn es auch nur das Lendenstück eines alten Einspännergauls war.


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