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In der der Münchener Frauenkirche gegenüberliegenden kleinen und bescheidenen Gastwirtschaft »Zur Löwengrube« erschien zu Ende der achtziger Jahre ein Mann, der dort sein einfaches Mahl einnahm. Der Wirt, ein alter Münchener von echtem Schrot und Korn, wie die Stammgäste, Gewerbetreibende aus der Nachbarschaft, untere Beamte vom nahen Landgericht und ein paar junge Akademiker, kannten und ehrten seine Gewohnheiten. Schon eine Viertelstunde vor seinem pünktlichen Eintreffen belegte die Kellnerin den runden Fenstertisch und verbarrikadierte durch allerhand schlaue Vorsichtsmaßregeln den einsamen und bescheidenen Gast vor unwillkommenen Störungen. Er konnte wohl so Mitte der Vierzig zählen; seine stattliche Gestalt war noch völlig schlank. In dem bartlosen, scharfgeschnittenen Gesicht, dessen gewaltig geformte Stirn von einer grau durchsprenkelten Mähne umwallt war, funkelte ein Paar wundervoller dunkler Augen, aus denen wohl je nach den häufig wechselnden Stimmungen, denen er unterworfen war, Hoffnung und Entsagung, Zuversicht und Enttäuschung sprachen. Er war ein stiller, ernster Mann, der mit niemand ein Wort wechselte, niemals eine Zeitung las und ganz seinen Gedanken nachhing.
Der einzige Mensch, dem es erlaubt war, an seinem Tische Platz zu nehmen und mit ihm zu plaudern, war der Buchbindermeister Sebastian Gerum, ein schlichter, in seinem Handwerk wohlerfahrener Mann. Unweit der Gastwirtschaft hatte er seit langen Jahren in einer dunklen Seitengasse einen Laden inne, in dem er neben Schulheften und Glückwünschen zu Geburten, Konfirmationen und Hochzeiten, neben Gesangbüchern und Bleistiften auch ein besonders gutliniiertes Notenpapier verkaufte. Und diese schönen großen weißen Bogen, auf denen sich die fünf Striche wie die Telegraphendrähte ausnahmen, hatten die beiden Männer zusammengebracht.
Herr Professor Richard Assing war Geiger im Orchester des Königlichen Hoftheaters. Bei Herrn Gerum kaufte er seit vielen Jahren das ihm für seine Zwecke: erleichterte Bearbeitungen schwieriger Kompositionen für Klavier und Violine, besonders zusagende Notenpapier, und da er auch seine Bücher dort binden ließ, verdiente der Handwerker ein hübsches Stück Geld. An dienstfreien Abenden um sieben, an Abenden, an denen der Herr Professor im Theater beschäftigt war, nach der Vorstellung um zehn trafen sich die beiden in der »Löwengrube«, und wenn auch die Unterhaltung zwischen ihnen nie besonders angeregt war: aus geringfügigen Kleinigkeiten merkte man doch, daß Herr Assing seinem Gegenüber freundlich gesinnt war und ihm vertraute. Der lauschte andächtig jedem Wort und sah mit rührender und blinder Ergebenheit zu Herrn Assing empor. Herr Assing hatte nur einiges aus seinem Leben dem Zechgenossen erzählt; aber der war damit vollauf zufrieden und rührte nicht mit zudringlichen Fragen an den Schleier, den der andere nicht lüften zu wollen schien.
So trieben sie es fünf oder sechs Jahre in gleichem Einerlei. Nur an einem einzigen Abend beobachteten die übrigen Gäste, wie der Professor nach einer sehr langen und sehr erregten Mitteilung Herrn Gerum mit großer Feierlichkeit die Hand reichte, die dieser mit schwärmerischer Begeisterung ergriff und lange festhielt …
Richard Assing hatte entgegen den Wünschen der völlig unbemittelten Eltern Musik studiert. Er war als blutjunger Mensch aus den engen und bedrückenden Verhältnissen fortgelaufen, hatte sich durchgehungert und gründlich das ganze Elend der Landstraße ausgekostet, bis sich ein wohlhabender Münchener Kaufmann für den ungewöhnlich begabten Jüngling interessierte und ihm die Mittel zum Besuch der Hochschule gewährte. Und plötzlich überraschte der einundzwanzigjährige Mensch die musikalische Welt durch eine Oper, die im Hoftheater unter großem Enthusiasmus aufgeführt wurde und den Namen des jugendlichen Schöpfers über Nacht in hellstes Licht rückte. Es herrschte nur eine Stimme, daß das Werk durch die Phantasie des Stoffes, durch den schier unerschöpflichen Reichtum seiner musikalischen Sprache, durch die verwegene Kühnheit seiner Tonkombinationen, durch die hinreißende Verve seiner Instrumentierung, durch Größe und Adel, vor allem aber durch einen ganz eigenartigen, völlig vorbildlosen Stil Anspruch habe auf die wärmste Beachtung und Anerkennung, und mit herzlichstem Wohlwollen und in spannungsvollster Erwartung verfolgte alle Welt die Entwicklung des jungen Wundermanns. Aber es schien, als ob sich Richard Assing mit diesem einen großen Wurf vollständig verausgabt habe, als ob er alles, was an Kraft und Begabung in ihm steckte, in diesem himmelstürmenden Erstlingswerk erschöpft habe. Jedem neuen Versuch folgte eine Enttäuschung. Er rang und rang, er strebte unablässig den höchsten Zielen zu, aber die Göttin, die ihm einmal ihr gütigstes Lächeln geschenkt hatte, wendete sich grausam und mitleidslos von ihrem jungen Schützling. Die Leute meinten: am Mißlingen seiner neuen Schöpfungen trage wohl hauptsächlich seine Heirat schuld, die er mit der jähen Verliebtheit und raschen Unbedachtsamkeit seiner zweiundzwanzig Jahre geschlossen hatte: die Last, die er sich aufgeladen habe, sei für seine jungen und schwachen Schultern zu schwer und drücke ihn vollends nieder. Von irgendeinem kleinen Provinztheater hatte er eine bildschöne Schauspielerin heimgeführt. Sie schenkte ihm eine Tochter, und nach einem Jahre verließ sie ihn. Nach kurzer Frist war die Scheidung ausgesprochen und diese unselige, aber glücklicherweise nur kurze Episode aus Richard Assings Leben gestrichen, als sei sie nie gewesen. Sein reizendes Töchterchen Constanze gab er einer gutmütigen und zuverlässigen Verwandten in Pflege. Aber auch mit der wiedergewonnenen Freiheit wollte und wollte sich die in seinem Erstlingswerk entfesselte Schwungkraft, wollten sich die großen und erhabenen Gedanken, die damals die Menschen bezaubert hatten, nicht wieder einstellen. Und nur, um die durch Constanzens Erziehung sich vermehrenden Kosten des Lebensunterhaltes zu bestreiten, entschloß er sich endlich nach Jahren vergeblichen Ringens in tiefer Bitterkeit, sich als Geiger im Hoforchester einreihen zu lassen. Seine unbändige Künstlernatur bäumte sich bei jeder Gelegenheit gegen den Frondienst auf und trug ihm bei Vorgesetzten und Kollegen Verdruß und Feindschaft ein. Sein ganzes Sehnen und Drängen, sein Hoffen und Wünschen strebte nur dem einen Ziele zu, das er einmal in glückseliger Jugend erreicht hatte, das einmal ein goldenes Füllhorn über ihn ausgeschüttet hatte: zu schaffen! Gestalten seiner Phantasie zu formen, zu bilden, ihnen Leben einzuhauchen und sie zu beseelen; ihrem Leid und ihrem Glück, ihren Schmerzen und ihren Freuden Töne zu leihen, die die Menschen rühren, ergreifen und beseligen sollten, und in manch feierlich-einsamer Stunde betete er zu der Göttin und bettelte um ihr gütiges Lächeln. Aber die Wirklichkeit zog ihn in den Staub. Den Kopf voll brausender Ideen, das Herz voll stürmischer Sehnsucht, mußte er sich dazu bequemen, auf Herrn Gerums sauber liniiertem Notenpapier gefällige, leicht spielbare Arrangements und Transkriptionen anzufertigen, um mit dem schmalen Honorar für die Erziehung seiner aufblühenden Tochter Constanze Sorge zu tragen.
Die zeigte schon in jungen Jahren eine ganz wunderbare, vom Vater ererbte musikalische Begabung und eine herrliche Stimme, die sich mit der schnell fortschreitenden körperlichen Entwicklung zu einem so berückenden Wohllaut entfaltete, daß Professor Assing Constanzens Ausbildung zur Sängerin beschloß. Das schöne, an Geist und Seele gleich anmutige Geschöpf ergriff und betrieb die Studien mit einem solchen Feuereifer, daß sie nach vierjährigem Unterricht an das Hoftheater engagiert wurde. Das erste Auftreten des achtzehnjährigen Mädchens als Elsa war entscheidend; an diesem Abend ging einer der leuchtendsten Sterne auf, die die deutsche Bühne je besessen hat. Nur einer stimmte nicht in den Jubel ein, mit dem man Constanze Assing überschüttete: ihr Vater. Wohl freute er sich von ganzem Herzen des Glücks, als er aber nach der Vorstellung zur »Löwengrube« schlich, wanderten seine Gedanken zurück zu jenem Abend, an dem vor nunmehr neunzehn Jahren der gleiche Sturm ihn umbraust hatte, eilten zurück zu dem trunkenen Rausch jener seligen Stunden und vor ihm stiegen auf das grausige Erwachen, all die trügerischen Erwartungen und Enttäuschungen, der ganze hoffnungslose Kampf, den er gekämpft, der ihn zermürbt hatte, und mit banger Sorge, daß sich sein hartes Schicksal an seinem Kinde wiederholen würde, blickte er in des Mädchens Zukunft.
Aber Constanze Assing war ein freundlicheres Los bestimmt. Sie behauptete sich nicht allein auf der spielend gewonnenen Höhe, immer höher und höher stieg sie in musikalischer Vervollkommnung, in künstlerischer Reife, im Ansehn ihrer Heimat und der Welt. Mit einer an Tollkühnheit grenzenden Verwegenheit griff sie nach den höchsten und leuchtendsten Früchten, und wenn man meinte, jetzt müßten ihre physischen Kräfte erlahmen, nun habe die Natur auch diesem Mädchen Grenzen gezogen, dann erst überraschte und entzückte sie durch die Gewalt der mit Sturmesgewalt daherbrausenden Leidenschaft. Unterstützt vom schönsten Ebenmaß des Körpers, ging sie als Brünnhilde und Isolde zugrunde, großartig im Kampf, großartig in der Liebe, gewaltig und hinreißend im Tod. Das Publikum vergötterte sie, und da sie sich tadellos führte, nahm auch die Gesellschaft sie auf und erhob sie zu ihrem Liebling. Nicht als die Diva, die man verhätschelte und verzog, sondern als das Mädchen, das man verehrte und hochachtete.
Im Anfang ihrer Laufbahn hatte sie mit ihrem Vater zusammengewohnt, bald aber sahen beide das Unzuträgliche dieses Arrangements ein. Die unvermeidlichen Besuche, die Constanze von der Garderobiere und dem Friseur, von dem Theaterdiener, Geschäftsleuten und Agenten empfangen mußte, wie die täglich viele Stunden währenden Gesangsübungen, die sie zu absolvieren hatte, störten Herrn Assing empfindlich. Constanze bezog in einer der stillen Seitenstraßen, die zum Englischen Garten führen, eine Wohnung, die sie sich gefällig und künstlerisch ausstattete, während der Professor in seinem Quartier weiterhauste, das im Innern der Stadt lag, und in dem er außer dem Buchbinder Gerum niemand empfing. Von seinen kompositorischen Versuchen hörte man nichts mehr; er schwieg, er hatte sich »ausgeschrieben«. Daß er auch die Operntranskriptionen aufgegeben hatte, war leicht erklärlich. Er war der Sorge um Constanzens Unterhalt überhoben und warf von Herzen gern das erniedrigende Handwerkliche von sich, das mit der Kunst nichts gemein hatte. So war seine Stellung im Hoforchester noch das einzige, das ihn mit der Außenwelt verband. Und seine allabendlichen Besuche in der kleinen verräucherten Gastwirtschaft, in der er sich am Fenstertisch mit Herrn Gerum manchmal lebhafter als früher, immer aber leise, unterhielt. In München sagten die Leute: »er spinnt«.
Constanze liebte ihren Vater von ganzem Herzen und sah mit wachsender Sorge seine Vereinsamung und seinen Menschenhaß als notwendiges Ergebnis seines verfehlten und enttäuschten Lebens. Zartfühlend bat sie ihn, doch von den Reichtümern, die ihr jetzt mühelos in den Schoß fielen, seinen ihm wohlgebührenden Teil zu nehmen und sich seine Tage freundlicher zu gestalten. Er wies alles zurück. Constanze aber steckte sich hinter seine alte Haushälterin, die ihn seit seiner Scheidung betreute, und verschaffte ihm heimlich viele Erleichterungen, die er in seiner Weltfremdheit und Unerfahrenheit nicht bemerkte.
An dem Tage ihrer Ernennung zur königlichen Kammersängerin machte Constanze Assing eine Ausnahme von ihren Gewohnheiten und öffnete ihre Tür jedem, der ihr seine Freude an der ihr in so jungen Jahren zuteil gewordenen Auszeichnung aussprechen wollte: den Damen, in deren Häusern sie verkehrte, den Backfischen, die um Autographen bettelten, und den lieben neidlosen Kolleginnen, die mit zuckersüßen Mienen gratulierten. In der ganzen Wohnung roch's feiertäglich nach Blumen und Kuchen. Als sie aber nun zum hundertsten Male von der »allerhöchsten Gnade« und der »Ueberraschung« und »dem Verdienste seine Krone« gehört hatte, wurde sie der Sache überdrüssig und gab der Jungfer den Auftrag, niemand mehr vorzulassen, da die »gottbegnadete Sängerin« auch Nerven und vor allem einen kolossalen Hunger habe. Und da sie sich zur Feier des Tages ihr Lieblingsgericht, Rahmstrudl, bestellt hatte, der neuen Köchin aber noch nicht recht traute, ging sie selbst in die Küche, streifte die Aermel hoch, hantierte und wirtschaftete, gab dem Gebäck die letzte Weihe und schmetterte vor lauter Behagen und innerer Glückseligkeit ein so wundervolles »Hojotohoh!« durchs offene Fenster, daß alle Mägde in den Küchen diesem grandiosen Gratiskonzert lauschten und, wie auf Verabredung, Beifall klatschten. In dem Augenblick, als Constanze durch den Korridor ging, klingelte es, und die Jungfer überreichte ihr eine Karte: der Herr wolle sich nicht abweisen lassen. Unmutig über die aufdringliche Störung las Constanze im matten Schein der im dunkeln Flur brennenden »ewigen Lampe« den feingestochenen Namen »Doktor Sigmund Freystätter«, und laut lachend rief sie dem in der halbgeöffneten Tür wartenden Besucher entgegen, indem sie nach »all den geschwollenen« Redensarten, die sie den ganzen Vormittag über hatte schlucken müssen, in den geliebten Münchener Dialekt verfiel:
»Ja, ist's denn möglich? Der Freystätter Sigmund! Nur einispaziert, alter Spezi! Dös is gscheit,« und ihm beide Hände entgegenstreckend, zog sie ihn durch den Korridor. »Sie schnabulieren mit und kane Sparifankeln gemacht!« Und während das Mädchen im benachbarten Speisezimmer noch schnell ein Gedeck auflegte, trat Constanze mit dem Ankömmling in den einem Garten gleichenden Salon.
Doktor Sigmund Freystätter war, selbst bei nachsichtiger Beurteilung, wahrhaftig kein schöner Mann. Die Figur des vielleicht in der Mitte der zwanziger Jahre Stehenden war schmal und engbrüstig, sein bleiches Gesicht trug alle Merkmale seiner jüdischen Abstammung. Aber aus seinem bleichen Gesichte leuchteten zwei schöne Augen, die von Klugheit, Energie und Güte sprachen.
Sie öffnete eine Rolle, die er ihr mit ziemlich ungeschickter Verbeugung überreicht hatte, und las, während ihr eine leichte Röte ins Gesicht stieg:
»›Traumbilder, Lieder für eine Singstimme, Constanze Assing gewidmet von Sigmund Freystätter.‹ Sapperment, dös wird wohl eine Ehre sein für mich!«
»Vorläufig nur für mich,« sagte er leise. Und er folgte ihr ins Speisezimmer.
Sie hieß ihn, ihr gegenüber an dem blumengeschmückten, zierlich gedeckten Tisch Platz zu nehmen, und forderte ihn mit drolliger Entschiedenheit auf, ihre Kochkünste zu loben. Was er auch mit mehr Höflichkeit als Sachverständnis tat. Und während der Duft der dampfenden Speisen zwischen ihnen aufstieg und sie ihn ermunterte, zuzugreifen, meinte sie:
»Lange genug haben wir uns ja nicht gesehen … Spezi, was treiben's denn jetzt eigentlich?«
»Ich arbeite!« erwiderte er. »Wenn auch noch nicht mit dem gleichen Erfolge wie Sie … aber ich habe Geduld und ich werde mein Ziel erreichen!«
Die feste und helle Zuversicht, die aus seinen Worten sprach, ließ sie aufhorchen, und ihm die Hand über den Tisch reichend, wünschte sie ihm herzlich Glück zum Gelingen seiner Pläne.
»Wissen's noch, Freystätter, wie wir beide ins Konservatorium gingen? Du liebes Herrgöttle von Biberach, 's ist lange her. Ich bin jetzt einundzwanzig, Sie müssen fünfundzwanzig sein. Es war doch eine schöne Zeit! Gelt? All das Hoffen und Verzagen, all der Uebermut und all die Enttäuschungen, all das Lachen und auch die Tränen … es war doch eine schöne Zeit!«
»Ja, es war eine schöne Zeit!« und seine Stimme zitterte ein wenig.
»Wohnen's denn noch bei Ihren Eltern in der Kaufinger Gassen?« Und da er nickte, forschte sie weiter: »Hat der Vater denn immer noch das Geschäft? Im selben Hause? Und die Mutter? Schafft sie noch fleißig mit? Das müssen doch jetzt recht wohlhabende Leute sein? Ich komme ja mit all der Singerei und Theaterspielerei gar so selten in die Stadt; aber wenn ich das nächste Mal zum Vater in die »Hundskugel« laufe, muß ich doch 'mal bei den Gebrüdern Freystätter hineinschauen und mir ein extrafeines Jacketterl kaufen …« So übersprudelte sie ihn mit Fragen, die zu beantworten er keine Zeit und Atem fand. »Ja, Sie hatten's gut … Sie hatten eine frohe und sorgenlose Kindheit, während ich … ach, man soll nicht in alten Geschichten kramen. Kommen Sie, Spezi, reichen Sie der Königlich Bayerischen Kammersängerin den Arm, wir wollen im Salon den Kaffee trinken.«
Und während sie das Getränk zubereitete und der aromatische Duft durch das Zimmer zog, von dessen Wänden das Bild des Bayreuther Musikheroen und ihr eigenes Porträt von Lenbachs Meisterhand grüßten, setzte er sich an den mit Blumen und Notenheften bedeckten Flügel und phantasierte. Und angezogen von seinem wundervollen Spiel, das ihm schon auf dem Konservatorium den ersten Preis eingetragen hatte, verließ sie die gemütliche Ecke, in die sie sich eingekuschelt hatte, trat an den Flügel und folgte willig eine Zeitlang seinen tiefen und reinen musikalischen Gedanken. Und während sie ihn ansah, dachte sie zurück an all die stummen Huldigungen, die er ihr früher, als sie noch unberühmt war, dargebracht hatte, und dachte sich: damals hätte sie's nur ein Wort, ein einziges Wort, einen Augenaufschlag, einen Händedruck gekostet und sie wäre heute die Frau dieses so häßlichen und so begabten Menschen, und daß es besser sei, daß dieses Wort unausgesprochen geblieben war, besser für ihn und für sie. Ihre Finger glitten, während er weiter spielte, durch die ihr gewidmeten »Traumbilder«, und sie war Weib genug, zu fühlen, daß diese Huldigung nicht der Künstlerin galt, sondern der Frau. In der im Zimmer nun herrschenden Dämmerung hörte sie plötzlich seine leise, unbeholfene, flehende Stimme, daß er so das Leben nicht mehr ertragen könne, daß er sie liebe, daß sie ihm vertrauen möge und daß er ihr die Hände unter ihre Füße legen wolle. Als er damals in jugendlicher Vermessenheit um sie geworben, habe sie ihn mit Recht zurückgewiesen, denn er sei nichts gewesen und habe ihr nichts bieten können. Heute käme er nicht mit leeren Händen, denn auch für ihn sei der heutige Tag, ebenso wie für sie, ein Glückstag geworden, der ihn aus der beengenden Dunkelheit ans Licht zöge, der ihn eine Stufe empor trüge, der ihm Achtung und Geltung verschaffe. Er habe in richtiger Erkenntnis, daß es schon mehr als genug Pianisten gäbe, der beabsichtigten Laufbahn eines Wandervirtuosen Valet gesagt und heute die ihm angebotene Stellung des Musikreferenten an einer Münchener Zeitung mit großem Gehalt angenommen. Er war aufgesprungen und stand, durch das Klavier getrennt, ihr gegenüber.
Als er zu sprechen begonnen hatte und all diese so verlegenen und doch so heißen Worte an ihr Ohr klangen, die seine Seele entblößten, empfand sie es nicht etwa als einen Triumph, daß sie eine so große Macht über ihn errungen habe; sie zürnte dem ehrlichen und hochstrebenden Menschen, daß er sie in die Verlegenheit gesetzt hatte, ihm Nein sagen zu müssen. Denn sie liebte ihn nicht. Und während er sprach, überlegte sie, wie sie ihm wohl die bittere Pille versüßen könne. Um so freudiger begrüßte sie seine Mitteilung von der angenommenen Stellung und wußte dem üblen Ding die beste Seite, die humoristische, abzugewinnen.
»Sapristi!« lachte sie ein wenig gezwungen, »da muß man also Respekt vor Ihnen haben, muß man sich gut mit Ihnen stellen? … Da haben Sie, großer Kindskopf, nun geglaubt, sich mir zu nähern und haben sich viel weiter von mir entfernt. Würden wir uns heiraten und würden Sie mich loben, so würden die Leute Sie der Parteilichkeit beschuldigen und Sie würden die Hölle in Ihrer Redaktion haben. Und würden Sie mich herunterreißen, so blühte Ihnen die Hölle hier im Hause. Nein, nein, Spezi, 's ist schon besser, es bleibt alles beim alten. Geben Sie mir die Hand! Begegnen sich im Leben unsre Wege, so sollen Sie an mir den treuesten Kameraden haben, und trennen sich unsre Wege, so können wir beide als alte Leute ohne Reue zurückdenken an unsre Jugend und unsre Freundschaft …«
Sie war allein. Das Mädchen brachte die Lampe. In Gedanken versponnen, blickte Constanze ins Licht.
»Nein! nein, nein! Ich liebe ihn nicht! Soll ich deswegen so jung Großes erreicht haben, um aus Mitleid mit ihm seine Frau zu werden? Constanze Freystätter? In eine ehrenwerte, aber bescheidene, kleinjüdische Familie heiraten? … Ah bah! … getrennte Welten! … Er wird's verwinden! … und wenn nicht, kann ich ihm auch nicht helfen!«
Und um dem schönen Tage nach diesem Mißklang einen harmonischen Abschluß zu geben, ließ sie sich einen Fiaker holen und sagte dem Kutscher: »Nach der Löwengrube 17.« Der vermutete wohl ein galantes Abenteuer, lächelte mit verständnisinniger Nachsicht und setzte seinen melancholischen Gaul in Trab. Sie aber freute sich, während sie durch die um diese Stunde schon menschenleere Theatinerstraße fuhr, wie ein Kind auf die Ueberraschung, die sie ihrem alten einsamen Brummbär in seiner Stammkneipe bereiten würde.
Der Weg führte von der Straße durch einen schlecht erleuchteten Flur und einen mit leeren Bierfässern, Kücheneimern und aufgestapeltem Kleinholz angefüllten Hof, in dessen rechter, ein bißchen glitscheriger Ecke eine zerbrochene rote Laterne den durstigen Wanderer zur Einkehr lud. Und es mußten wohl recht viele dieser menschenfreundlichen Aufforderung gefolgt sein, denn als Constanze in die ihr unbekannte Wirtsstube trat, schlug ihr eine so dichte Tabakswolke entgegen, daß sie die Gäste wie durch einen Schleier sah und daß sie sich dachte: »Sapperment, vier Wochen in der Bude kneipen und Dei' Stimme is flöten!« Die ebenso umfangreiche wie unsaubere Kellnerin, die in jeder Hand sechs schäumende Maßkrüge trug und, um sich Platz zu machen, fortwährend warnend »Soß« »Soß« = Sauce, beliebter Warnungsruf der Kellnerinnen. schrie, blickte mit äußerstem Mißtrauen die elegante junge Dame an und dachte sich dasselbe wie der Kutscher; der vierschrötige Bursche hinter dem Schanktisch dachte sich dasselbe wie die Kellnerin, und der Wirt, der für Damen in jungen Semestern immer etwas übrig hatte, dachte sich dasselbe wie der Schenk, war aber vorurteilslos genug, sich in einem Augenblick, in dem er seine Gemahlin in der Küche beschäftigt wußte, nach dem Begehr des schönen Fräuleins zu erkundigen. Ob Herr Professor Assing schon hier wäre? Und unter allerhand schwarzem Verdacht, daß er »so etwas« dem alten Heuchler doch nicht zugetraut habe, führte der Schwerenöter Constanze zum Fenstertisch, an dem vorläufig nur der Buchbinder Gerum saß. Der fühlte sich natürlich ungeheuer geehrt durch den Besuch der »Königlichen Kammersängerin«, wie er sie immer anredete, und sorgte durch eine gebräunte Kalbshaxe von urweltlichen Dimensionen und eine Maß Pschorr von frischem Anstich für ihr leibliches Wohl. Und Constanze, die sich ganz als Münchener Kindl fühlte, ließ sich lachend Speis' und Trank vortrefflich munden. Der Herr Professor sei noch im Theater, müsse aber in einer Viertelstunde hier sein. »Fräulein Königliche Kammersängerin« habe es heute nicht gut getroffen: an den Abenden, an denen er, wie zum Beispiel heute, den »Troubadour« oder ähnliche »Verbrechen« fiedeln müßte, wäre der Herr Professor nachher »vor lauter Grantigkeit gar nicht zu haben«, während er nach den Wagneraufführungen, in denen sie ja so großartig mitwirke, ganz erfrischt und einige Male sogar schon »schnackelfidel« an den Stammtisch gekommen wäre. Constanze hörte dem gutmütigen und harmlosen Geplauder zu, und während sie sich in der schäbigen, verräucherten Kneipe umsah, dachte sie sich recht traurig, daß das nun die Welt sei, in der ihr Vater lebe, und daß dieser einfache Mann ihr gegenüber sein einziger Verkehr sei. Und mit dem festen Vorsatz, ihm wieder Vertrauen zu sich selbst und zu den Menschen einzuflößen, blickte sie unablässig nach der Tür, durch die Gleichgültige und Stumpfsinnige kamen und gingen …
Als Richard Assing endlich eintrat und durch den Tabaksqualm eine Dame an seinem geheiligten Tisch sah, wollte er entrüstet umkehren und war schon im Begriff, sich einen furchtbaren Eid zu schwören, daß er diese »verruchte Bude« nie wieder betreten würde, als ihm Constanze entgegeneilte und ihm einen so herzhaften und so allgemeinen Neid erregenden Kuß gab, daß er sich mit sichtbarer Freude diese kindliche Liebkosung gefallen ließ und Arm in Arm mit ihr zu seinem Tische schritt. Und dann brummte er etwas von einer »blinden Henne, die auch 'mal ein Korn fände«, und fluchte in schrecklicher Erinnerung an die soeben mitverübte »musikalische Affenschande« hohnlachend, daß »der Zigeuner Gewinn ein Weib mit treuem Sinn«! … Dann begann er, während er zerstreut einen steinharten Kalbsnierenbraten verzehrte, unruhig nach der Uhr zu sehen, so daß Constanze ihn neckte, sie ertappe ihn wohl auf einem Stelldichein mit einer kleinen Ballettratte? …
»Schon ¾11? Begreifen Sie, Herr Gerum, warum er noch nicht hier ist?«
Und als Herr Gerum pflichtschuldigst nicht begriff, wendete sich der Professor zu seiner Tochter:
»Ach so, Du weißt noch nicht!« und er steckte sich eine fürchterliche Zigarre an, »ich hab' einen Fund gemacht, ich hab' einen Schatz gehoben, nach dem ich lange genug gesucht hab'! … Einen Fund … einen Menschen! Vor vier Monaten kam … nicht wahr, Herr Gerum … es sind doch vier Monate …?«
Herr Gerum, der niemals zu widersprechen wagte, bestätigte eifrigst, trotzdem es schon sechs Monate gewesen waren.
»… Vor vier Monaten also kam mit einer sehr warmen Empfehlung des alten Hector Varasseur in Brüssel einer der besten Cellisten, die ich kenne, ein junger Mann zu mir und fragte mich, ob ich nicht geneigt wäre, ihn in die letzten Geheimnisse des Kontrapunktes gründlich einzuweihen. Er sei vor anderthalb Jahren von seiner Heimat Brüssel nach München gekommen, um hier seine Studien zu vollenden, aber er habe beobachtet, daß er auf dem Konservatorium nichts lernen könne … daß sie ihn nichts lehren könnten, was er nicht schon wisse. Was ich ihm bei diesen staatlich angestellten Idioten aufs Wort glaubte. Der frische, liebenswürdige, ungewöhnlich kluge und selten schöne Junge gefiel mir. Wir wurden bald einig. Ich unterrichte ihn natürlich umsonst …«
»Das sieht Dir ähnlich,« warf Constanze lächelnd ein. »War er denn so unbemittelt?«
»Im Gegenteil! Er bekommt von seiner Mutter, einer sehr reichen Witwe, einen Monatswechsel, von dem ich in seinem Alter ungefähr ein Jahr gelebt habe.«
»Wie alt ist er denn?«
»Fünfundzwanzig! Nicht wahr, Herr Gerum?«
Der Gefragte nickte, trotzdem er genau wußte, daß des Herrn Professors Schüler sechsundzwanzig Jahre zählte.
»Und hat er Talent?« forschte Constanze weiter, denn sie begann sich für einen Menschen zu interessieren, dem es gelungen war, so schnell ihres menschenscheuen und mißtrauischen Vaters Neigung zu gewinnen.
»Ob er Talent hat? Er hat die Gabe, mich zu verstehen!«
Seine Stimme nahm feierlichen Orgelklang an, seine Augen blitzten auf in wundervoller unergründlicher Tiefe, Richard Assing sah aus wie ein entthronter König, dem man die lange und schmerzlich entbehrten Huldigungen wieder darbringt. Nach einer kurzen Pause, in der sich Constanze an dem schönen Anblick weidete, fragte sie:
»Und dieses Wundertier kommt heute hierher?«
»Dieser Wundermensch«, verbesserte der Professor, »kommt heute hierher!« Und wieder sah er unruhig nach der Uhr.
»Da ist er schon!« rief Herr Gerum.
»Endlich!« atmete Assing auf.
Meine Tochter … Herr Camille Dupaty!« …
Das mußte Constanze sich sofort eingestehen, daß sie einen schöneren Menschen nie gesehen hatte. Nicht etwa so eine geleckte Modejournalschönheit, die Backfischen grausige Herzenswunden schlägt, sondern einer, den die Götter in verschwenderischer Fülle mit Anmut und Grazie überschüttet hatten, einer von leuchtender und strahlender Schönheit, und Constanzen überflog's plötzlich »Kruzi Türken! … diese Augen! … Auf so etwas muß man doch eigentlich vorbereitet werden … Und wenn dieser Apoll nur halb so viel inneren Wert hat, wie er äußerlich geraten ist, dann kann man dem lieben Herrgott zu diesem Meisterstückl nur gratulieren.« Und unwillkürlich flogen ihre Gedanken zurück zum heutigen Nachmittag und zu jenem häßlichen jüdisch aussehenden Menschen, der ohne sie nicht leben wollte und ohne den sie so gut leben konnte … Sie war doch, weiß es der Himmel, nachgerade an Komplimente gewöhnt, an fade und geistlose, aber auch an graziöse und gedankenreiche. Diese Art war ihr doch neu. Das waren doch nicht die alten abgestandenen Redensarten … Sapperment … das war doch sonnigster Eigenbau! Er nahm sich ja kaum Zeit, Hut und Stock und Mantel abzulegen … er überrieselte sie mit so feingeschliffenen Worten, er überraschte sie mit so ritterlichen Galanterien, daß sie sich wie in einem wohltuend lauen und prickelnden Bade fühlte und sich dachte: »Wenn Du nicht müde wirst zu sprechen … ich werde nicht müde werden, zuzuhören. Wenn ich es nicht schon aus des Vaters Vorbericht wüßte: Du hast Lebensart und Schliff, Du bist ein Kulturmensch, von dem jede Geste und jede Bewegung die gute Kinderstube verrät …«
Und während er aufstand, um sich aus seinem Mantel die Zigarettendose zu holen, dachte sie sich weiter: »Dupaty? … habe ich recht verstanden? … Dupaty? … den Namen muß ich schon gehört haben … aber wo? … Auf der Bühne? … im Probesaal? … in der Garderobe? … im Konversationszimmer? … in irgendeinem Salon? …«
»Woher so spät?« fragte der schon ungeduldig gewordene Professor, für den Herr Gerum bei der über der jungen Dame fraglose Sittlichkeit beruhigten Kellnerin eine neue Maß bestellte.
»Von einem scheußlich langweiligen Herrendiner,« antwortete Dupaty. »Parbleu, wenn deutsche Musiker mit ihrer Gründlichkeit anfangen, Fach zu simpeln, ist an ein Entrinnen nicht zu denken.« Und er hüllte sich in eine dichte Tabakswolke, die aber doch nicht so undurchdringlich war, um nicht ein sehr feines, von ihm ausströmendes Parfüm zu ihr hinüberflattern zu lassen, das Constanzen bewies, daß er die Unwahrheit gesagt und daß er diesen exquisiten Wohlgeruch nicht bei einem »Herrendiner« aufgefangen habe. Und während er immer weitersprach und ohne Namen zu nennen eine sehr belustigende Schilderung der Gesellschaft zum besten gab, dämmerte es langsam in Constanzen auf, und sie erinnerte sich, den Namen Dupatys in Verbindung mit sehr galanten Abenteuern gehört zu haben. Daß er den Münchener Frauen und Mädchen die Köpfe verdrehe, daß er mit einer Verwegenheit ohnegleichen auf sein Ziel losgehe und es immer erreiche, daß er mit einer bis dahin unnahbar scheinenden Frau, deren Mann in großen Geschäften dauernd im Kaukasus festgehalten wurde, sehr erfolgreich »angebandelt« habe, daß die Tochter eines sehr bekannten Arztes plötzlich »wegen angegriffener Gesundheit« auf ein Jahr nach Sizilien geschickt worden sei, und daß es in den Münchener Salons zum guten Ton gehöre, sich von diesem Tausendsassa kompromittieren zu lassen und so den Neid der lieben Freundinnen zu erregen. Und Constanze schloß ihre Gedankenkette: »Warte, Du allerliebster Halunke! Deine Augen sind zwar wundervoll, und von Deinen weißen schlanken Händen gekost zu werden, muß nicht gerade zu den verabscheuungswürdigsten Dingen gehören … aber Du würdest wahrhaftig nicht Deine Leporelloliste vergrößern können, wenn es Dir einfallen sollte, Deine Künste auch an mir zu versuchen! …«
Das Gespräch, das sich dann entspann, und in das sich auch Herr Gerum in gemessenen Abständen mit bedeutenden und tiefsinnigen Aussprüchen wie »Prosit Blume!«, »Prise gefällig« mischte, konnte sich nirgends verankern oder festere Wurzeln schlagen; es sprang willkürlich von der Musik zum Theater, vom Starnberger See zum König Ludwig, von Wagner zu Velasquez, von Egmont zur Oktoberwiese, um endlich wieder an seinem Ausgangspunkt anzugelangen: der Musik.
Das Quartett hatte gar nicht bemerkt, daß sämtliche Gäste ihren mehr oder minder beträchtlichen Rausch schon nach Hause getragen hatten, daß die meisten Gasflammen schon gelöscht, daß die Stühle schon auf die Tische gestellt waren, und daß Kellnerin und Bierschenk in ihren dunkeln Winkeln, vom heutigen Tagesverdienst träumend, ein forsches Duo schnarchten.
»Meine Herren, lassen Sie sich nicht stören, ich habe morgen abend die Isolde zu singen und wünsche allerseits Gute Nacht!« gab natürlich das Signal zum allgemeinen Aufbruch. Und nachdem die Bezahlung der Zeche bei der schlaftrunkenen Ursula unter allerhand Schwierigkeiten erledigt war, schritten die viere unter Herrn Gerums bewährter Strategie durch den dunkeln Hof und Flur auf die im Vollmond flimmernde menschenleere Straße. Von den mit silbernem Glanz übergossenen, in den hellen Nachthimmel starrenden dickbauchigen Türmen der Frauenkirche schlug es langsam und schläfrig zwei.
Dupaty wollte in immer noch vollständiger Unkenntnis der Ortsverhältnisse einen Fiaker für die junge Dame requirieren, stand aber von diesem tollkühnen Plan ab, als ihm Constanze erklärt hatte, daß die Entdeckung des Nordpols mit ungleich geringerer Beschwerlichkeit erkämpft sei, als um diese Zeit in München einen Wagen zu finden. Dupaty bot natürlich der Sängerin seine Begleitung an, da sie doch unmöglich nächtens allein bis zur Schönfeldstraße gehen könne. Ob sie denn keine Furcht habe?
»Furcht?« lachte sie, »ich habe niemals Furcht! … ich setze mich schon zur Wehr gegen den, der mir etwas zuleide tun will,« und im strahlenden Mondlicht sahen sich beide einen Augenblick voll ins Gesicht … Unter scherzenden Gutenachtgrüßen trennte man sich: Richard Assing schritt seiner Gewohnheit gemäß mit den Händen auf dem Rücken durch das Gewirr enger und winkliger Straßen nach seiner Wohnung in der »Hundskugel«, Herr Gerum verschwand in der dunkeln Seitengasse, in der er sein schön liniiertes Notenpapier anfertigte, und Constanze und Dupaty bogen in die Theatinerstraße ein, die in leuchtender Pracht vor ihnen lag.
Die Nacht war kosend und schmeichlerisch, die Luft lind und weich, und der Himmel bestickt mit Millionen flimmernder Sterne.
»Vor allem, Herr Dupaty, muß ich Ihnen danken …«
»Wofür, mein gnädiges Fräulein?«
»… daß Sie sich meines Vaters so annehmen! Er machte heute abend einen so ganz anderen Eindruck, so … ich weiß nicht recht, wie ich's nennen soll … so wieder aufrecht, nicht mehr verzagt …«
»Verehrtes Fräulein, daß ich mich so an Ihren Herrn Vater attachiert habe, ist ja doch nur der reinste Egoismus. Ganz ehrlich gesagt: ich will an ihm profitieren, und ich glaube, man kann aus diesem Mann Vorteil ziehen, wenn man mit scharfen Ohren hört und mit scharfen Augen sieht!«
»Sie meinen doch in künstlerischer Beziehung?«
»Nicht nur in künstlerischer, auch in menschlicher! Er ist ein Kind, das eine Welt von wundervollen Gedanken in seinem Schädel birgt.«
»Das glaube ich!« erwiderte Constanze stolz, und sie reichte ihm die Hand. »Sie studieren hier Musik?« und sie gingen jetzt durch die enge Perusagasse.
»Ja! Sie mögen ja hier an Ihrem Konservatorium sehr tüchtige brave Leute haben, aber ihnen fehlt der Elan, fehlt Phantasie, fehlt Größe, fehlt vor allem die Fähigkeit, Begeisterung zu erwecken, weil sie selber keine empfinden. Den Schneckengang dieser königlichen Musikanten mitzumachen habe ich weder Lust noch Geduld. Das alles, was sie nicht besitzen, finde ich bei Ihrem Vater. Schnell will ich vorwärts kommen, schnell will ich steigen … hoch … immer höher … bis … dorthin!« und er zeigte auf das vom Vollmond überflutete Hoftheater.
Unwillkürlich standen beide still und gaben sich dem zauberhaften Reiz gefangen. In gespenstischer Helle traten Portikus und Fresken des Operhauses hervor, in den Fensterreihen der dem Palazzo Pitti nachgebildeten Residenz funkelte das bleiche Licht, die hohen und spitzen Dächer der altertümlichen Häuser waren mit Silber übersponnen und in unheimlicher Plastik hob sich das Monument in der Mitte des Platzes ab, dessen Steinmosaik flimmernden und glitzernden Diamanten glich. Kein Laut unterbrach die Stille … nur auf der gegenüberliegenden Seite hallte der gleichmäßige Schritt der patrouillierenden Gendarmen.
»Ja, bis dorthin!« hub Dupaty von neuem an, »in einem solchen Kunsttempel mit einem Musikdrama zu vielen Tausenden sprechen zu können, umjubelt, umrauscht, verehrt, vergöttert, aber noch in jungen Jahren, wenn das Leben noch Sinn und Farbe und Reiz hat … das will und das muß ich erreichen,« und mit überzeugter Energie schloß er: »Koste es, was es wolle!«
Er hatte sich warm gesprochen und während er den Strohhut vom Kopf nahm, gingen sie weiter.
»Sind Sie so ehrgeizig oder nur so … eitel?« fragte Constanze.
»Hinausragen will ich über die Menschen … nur nicht in der großen Masse verschwinden oder gar in Vergessenheit versinken … sehen Sie doch Ihren Vater an! … Beneidet will ich sein … Das sitzt so tief in mir … dagegen kann ich nicht an und will ich auch nicht an! … Sie, gottbegnadetes Menschenkind, werden's ja am ersten verstehen: aus der Dunkelheit emporzutauchen zum strahlendsten Licht!«
»Wenn ich Sie also recht verstehe, wollen Sie nur ernten, ohne zu säen? Und wären Sie ein Genie, Sie müßten doch arbeiten, ernst und unermüdlich arbeiten, um zum Ruhm zu gelangen!«
»Fragen Sie doch Ihren Vater, ob ich mich nicht mühe, in die Geheimnisse seiner Kunst einzudringen, ob's mir an gutem Willen fehlt!«
»Ja, mein Vater liebt Sie sehr!«
»Eine sehr löbliche Eigenschaft des Herrn Professors Assing, die er hoffentlich auch auf seine Tochter vererbt!«
»Machen Sie mir meinen Vater wieder hoffnungsvoll und schaffensfreudig und ich will Ihnen eine dankbare und gute Freundin sein! … Sehen Sie nur: wie schön!« Und wieder standen beide still; vor der Münchener Loggia dei Lanzi, der Feldherrnhalle, aus der in silbern-flimmernden Rüstungen die Schwanthalerschen Tilly und Wrede herauszuschreiten schienen. Links von ihnen ragte der italienische Barockbau der Theatinerkirche mit ihrer gewaltigen Kuppel in die leuchtende Nacht, und vor ihnen erstreckte sich bis zum Konstantinsbogen, dem Siegestor, die Ludwigstraße, in der jedes Haus, jedes Dach und jede Tür vom Monde übergossen war mit seinem zärtlichen und träumerischen Licht.
Sie bogen in die Schönfeldstraße ein, in der Constanzens Wohnung lag.
»Maria Joseph,« rief sie ganz erschrocken, »es schlägt schon drei und ich habe morgen so viel zu arbeiten. Ja, mein verehrter Herr Dupaty, arbeiten müssen Sie, wenn Sie ein großer Mann werden wollen! … Haben Sie denn überhaupt Zeit zur Arbeit?« und er hörte aus der leicht hingeworfenen Frage den Spott heraus.
»Ach so,« und er lachte hell auf, »mein schlechter Ruf ist mir auch bei Ihnen vorausgeeilt? Fräulein Assing, glauben Sie nicht die Räubergeschichten, die über mich im Umlauf sind. Die eine Hälfte ist gelogen und die andere ist schauderhaft übertrieben!«
»Sie brauchen sich doch wahrhaftig vor mir nicht zu verteidigen,« warf Constanze heiter ein, »und überdies scheinen Sie auf dem besten Wege zu sein, mir Dinge zu erzählen, die ich nicht kenne, und die mich wahrscheinlich auch gar nicht interessieren!«
»Ich möchte aber, daß Sie, gerade Sie, nicht schlecht von mir denken!«
»Ich denke gar nicht von Ihnen, Herr Dupaty! … ich habe Sie heute abend kennen gelernt und …«
»Fräulein Assing, die Münchener Damen …«
»… Von denen ich nichts hören will! Sie sind ein unabhängiger junger Mann und sind niemand Rechenschaft schuldig über Ihr Tun und Lassen, am allerwenigsten einer jungen Dame, deren Bekanntschaft Sie vor einigen Stunden gemacht haben. Nur einen guten Rat darf ich Ihnen wohl erteilen?«
»Ich bitte inständig: jeden!«
»Brechen Sie niemals in den Frieden einer anständigen Frau … so etwas rächt sich immer! … So, und nun sind Sie von Ihrem Ritterdienst erlöst!«
»Ich wollte, ich dürfte Ihnen immer dienen!« und seine Stimme zitterte ein wenig. »Darf ich Ihnen nicht meine Aufwartung machen?«
»Ich nehme keine Besuche an!«
»Aber Sie werden doch bei mir eine Ausnahme gelten lassen?«
»Ich wüßte nicht: warum? Gute Nacht und schönen Dank für die Begleitung!«
»Gute Nacht!«
Als Constanze am Abend nach diesem nächtlichen Spaziergange kurz vor Beginn des »Tristan« durch das Guckloch des Vorhangs schaute, um nach alter Gewohnheit nach Freunden und Bekannten zu spähen, tauchte dicht hinter dem schönen und geistreichen Kopf des Kapellmeisters in der ersten Parkettreihe Camille Dupaty auf in lebhaftem Gespräch mit ihrem Vater, der sich über die Orchesterbrüstung lehnte, und in unmittelbarer Nähe Doktor Sigmund Freystätter, der, wie die Zeitung in ihrer Morgennummer angezeigt hatte, mit der heutigen Aufführung sein kritisches Amt antreten würde. Und während sich die Logen füllten, das Parkett wie eine unruhige See wogte und einige Klarinettläufe aus dem Orchester aufflatterten, hatte Constanze Zeit, die beiden Männer zu vergleichen, den einen, der ihr gestern nachmittag in seinem stillen und gedrückten Wesen gesagt hatte, daß er sich langsam und unverdrossen zu Geltung und Ansehen in der Kunst emporringen werde, den anderen, der ihr ein paar Stunden später im Mondschein zugerufen hatte, daß er sich Ehre und Ruhm ertrotzen wolle, und sollte er's vom Himmel herunterreißen, und sie fühlte, daß dieser wunderschöne Mensch auch sein Ziel erreichen werde … Das Klingelzeichen machte das aufgeregte Surren im Hause verstummen, und Constanze, die sich auf dem Ruhebett lagerte, ließ sich einlullen in den Zauber der Klänge und ließ sich von den wundersam-traurigen Weisen des Vorspiels hinauftragen zu leuchtenden Höhen.
Am anderen Morgen klingelte Constanze so früh und so heftig, daß die Jungfer erschrocken in das Schlafzimmer eilte und sich besorgt nach dem Befinden des gnädigen Fräuleins erkundigte.
»Das gnädige Fräulein hat wundervoll geschlafen, Du wirst mir einen wundervollen Tee bringen, vor allem aber die Morgenzeitung, und wenn darin nicht eine wundervolle Kritik über gestern abend steht, so soll Dich …«
Aber die Jungfer war schon nicht mehr im Zimmer, und Constanze konnte sich den schrecklichen Fluch, der ihr auf den Lippen schwebte, ersparen. Und während sie im Dunkeln lag, dachte sie sich, daß es doch menschlich wäre, wenn der »Spezi« sie herunterrisse oder mäkelte oder nörgelte und verkleinerte. Du liebes Herrgöttle, menschlich wär's ja doch! Der Korb, den sie ihm da vorgestern mitgegeben hatte, war doch ziemlich schwer, schwerer für ihn als für jeden anderen, denn er ist der Mensch, der sein Leben lang daran trägt. Und ungeduldig schellte sie noch einmal dem atemlos hereinstürzenden Mädchen, das ihr die Zeitung auf die Bettdecke legte und die Vorhänge zurückzog, so daß die Sonne hell ins Zimmer lachte. Durch Erfahrungen gewitzigt, zog sich die Jungfer aus der Kampflinie zurück, Constanze richtete sich vom Kissen auf und las. Und je länger sie las, desto heller leuchteten ihre Augen, desto röter färbten sich ihre Wangen. Einer klassischen, tief empfundenen und tief durchdachten Studie über das gigantische Werk schloß sich eine Besprechung ihrer Leistung an. Sie war an enthusiastische Schmeicheleien, an überschwängliches Lob gewöhnt: so tief in ihres Wesens Kern war keiner eingedrungen wie dieser kleine unansehnliche Mensch, dieser Herold ihres Ruhmes! Er hatte ihr nachgespürt bis in die geheimsten Winkel ihres Herzens, er hatte hineingeleuchtet in die verborgensten Falten ihrer Seele. In flammenden Worten forderte er alle Tonsetzer auf, diesem Mädchen, »das sich auf den höchsten Gipfel tragischer Kunst zu schwingen vermag«, große, ihres Genius würdige Aufgaben zu schaffen. Aus jeder Zeile sprach für den Leser die schrankenlose Bewunderung, die er für die Künstlerin hegte, aus jedem Worte sprach für sie die grenzenlose Liebe, die er ihr selbst entgegenbrachte. Constanze las den ganzen Artikel noch einmal, dann blickte sie lange ins Leere und murmelte dann: »schade!« Er würde sie, wie er's beteuert, gewiß auf Händen tragen, und sie würde an seiner Seite sicherlich ein still umfriedetes Glück genießen, aber unmöglich! … unmöglich! … und sie strich mit der Hand über die Bettdecke … unmöglich! … Dann schlief sie noch einmal ein … Traumbilder gaukelten ihr allerhand Närrisches, Krauses und wohl auch Liebes vor, und sie konnte sich beim Erwachen nur besinnen, daß in dem Traum Herr Buchbinder Gerum eine große Rolle gespielt habe und noch einer: Camille Dupaty …
An diesem Tage schrieb sie diesen Brief:
»Lieber Spezi! Ich danke Ihnen von Herzen. Ich habe die ›Traumbilder‹ studiert und werde sie im nächsten Odeonskonzert singen. Ihre getreue Freundin Constanze Assing.«
Und am selben Tage erhielt sie diesen Brief:
»Liebe Freundin! Ich bitte Sie herzlichst, die ›Traumbilder‹ unter keinen Umständen in Ihr Konzertprogramm aufzunehmen, da ich mich dadurch in meiner Stellung Mißdeutungen aussetzen würde.
Ihr alter Freund
S. Freystätter.«
»Er ist ein Schaf!« sagte sie laut vor sich hin, indem sie den Briefbogen zusammenkniffte, »ein grundanständiger Kerl! Aber … ein Schaf! Er wird's nie im Leben zu etwas bringen! … Armer Spezi!«
Mittags wurde ein wundervoller Strauß dunkelroter Rosen mit Dupatys Karte bei ihr abgegeben. Sie ärgerte sich über diese Dreistigkeit, die sie ja – sie konnte sich darüber keine Rechenschaft ablegen – heimlich doch erwartet hatte …
In der ersten Zeit nach der Begegnung in der »Löwengrube« flatterte Constanzen wohl noch Dupatys Name durch den Kopf; sie wußte nicht recht, was sie von ihm halten sollte. Der günstige Einfluß, den er zweifellos auf ihren Vater gewonnen hatte, zog sie zu ihm hin, seine geleugneten, aber tatsächlichen Liebesabenteuer belustigten sie, seine merkwürdigen künstlerischen Ansichten, nach denen er nur auf das Ziel, auf den Erfolg steuerte, die mühevollen und beschwerlichen Wege aber zu dieser Höhe nicht gehen wollte, stießen sie ab. Und so hätte sie ihn wahrscheinlich ganz aus dem Gedächtnis verloren, wenn nicht die Menschen, wie auf Verabredung, immer wieder ihre Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt hätten. Im Konversationssaal belauschte sie unwillkürlich zwei Kolleginnen, die sich höchst sonderbare Dinge über Dupatys neuesten Liebeshandel zuflüsterten. Sie hörte von einem scharfen Säbelduell, das Dupaty mit einem beleidigten Ehemann im Fürstenrieder Park ausgefochten hatte, Dupaty hier, Dupaty dort … Merkwürdig genug, daß alle diese Gerüchte, die da umherschwirrten, ihm in der Gesellschaft nicht nur nicht schadeten, sondern ihm ganz ungewöhnliches Interesse verliehen. Die Männer, in deren Jagdgründe er nicht eingebrochen war, lächelten über den »verfluchten Kerl«, die Frauen und die Mädchen lächelten auch, als ob sie sagen wollten: »Ja, du lieber Himmel, wenn man so aussieht, kann man sich alles erlauben!«
In einer großen Abendgesellschaft, in der sich das ganze künstlerische, malende und musizierende München zusammenfand, traf Constanze natürlich auch Camille Dupaty. Gleich beim Eintritt in den großen Salon sah sie ihn unter einer rotbeschirmten Stehlampe, umringt von den schönsten Malweibchen und den reizendsten Mädchen. Sie schien als letzte gekommen zu sein, denn der Diener öffnete sofort die Tür zum Speisesaal, und Constanze dachte sich, daß es doch eigentlich ganz nett wäre, wenn Dupaty sie zu Tisch führen würde. Und richtig steuerte er auf sie zu und geleitete sie unter einem Regen artigster Schmeicheleien zur Tafel, deren Mittelpunkt das Paar bildete; denn diese beiden wunderschönen Menschen im heitersten Geplauder boten wahrlich eine erlesene Augenweide. Aber die Gesellschaft, die geglaubt hatte, daß der Rattenfänger vor der berühmten und bewunderten Künstlerin ein ganz besonders leuchtendes Bukett von Galanterien abbrennen würde, kam nicht auf ihre Kosten. In jeder Bewegung, mit jedem Wort und jedem Blick huldigte Dupaty ihr ritterlich und ergeben, als ob er allen sagen wollte: »mit den anderen spiele ich, die verehre ich!« Und Constanze tat diese Achtungsbezeigung wohl, im tiefsten Herzen wohl, und er gefiel ihr.
»Ich habe Sie ja seit dem wundervollen Tristan-Abend noch gar nicht gesehen. Wissen Sie denn, Fräulein Assing, daß ich Sie gar nicht mehr los werde? Daß mich Ihre Stimme, Ihre Gestalt, Ihr Jubel und Schmerz, Ihr Liebesglück und Ihr Liebestod unaufhörlich verfolgen? Das war ja eine Offenbarung … Sie haben mir einen Liebestrank eingegeben … Wo ich bin und stehe, was ich arbeite, denke, spreche und empfinde, durch alles höre ich immer wieder das ›nie wieder Erwachens wahnlos holdbewußter Wunsch‹! Um so singen zu können, mein Gott, müssen Sie schon geliebt haben!«
Und da sie nicht antwortete, fügte er leiser hinzu:
»Oder lieben!« und er sah ihr voll in die Augen.
Constanze, die merkte, daß es höchste Zeit war, dieses gefährliche Terrain zu verlassen, erwiderte heiter:
»Sie irren, Herr Dupaty, ich habe niemals Zeit gehabt zu Liebesgeschichten.«
»Ja, mein Gott,« gab er ihr drollig zurück, »was tun Sie denn eigentlich?«
»Ich arbeite!«
»Sind Sie denn immer noch nicht zufrieden? Sie sind ja mit Ihren einundzwanzig Jahren schon auf der Höhe! Was wollen Sie denn noch?«
»Oben bleiben!« sagte sie ernst und bestimmt. »Haben Sie die Kritik Freystätters über den ›Tristan‹ gelesen?«
»Ja, der Mensch hat Musik im Leibe!«
»Er fordert alle deutschen Tonsetzer auf, mir eine große Aufgabe zu schaffen! Sie sehnen sich ja nach Ruhm. Arbeiten Sie, Herr Dupaty, unermüdlich, unverdrossen! Arbeiten Sie! Ich habe nur Achtung vor Menschen, die arbeiten! In zwei Jahren muß die Partitur Ihrer neuen Oper in meinen Händen sein, und dann will und werde ich Ihnen zu dem Ruhm verhelfen!« Und sie sah ihm voll in die Augen.
»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, Fräulein Assing,« und er sprach mit festester Entschlossenheit, »Sie werden in zwei Jahren mein Werk in Ihren Händen halten.«
Und Constanze fühlte, daß er Wort halten würde; sie stießen mit den Gläsern an. Nach Tisch sang Constanze, von Dupaty begleitet, die schönen »Traumbilder« von Sigmund Freystätter mit lodernder Empfindung. Als sie geendet hatte und sich der Beifall nicht legen wollte, flüsterte er ihr zu:
»Der Mann, der das geschrieben hat, liebt Sie!«
Sie erschrak über seine Hellseherei.
»Gott sei Dank liebt er Sie unglücklich, der arme Narr!« und er lachte laut auf.
Am nächsten Tage lockte die Sonne, die selbst nicht in Florenz und Rom so verführerisch, so berauschend scheinen und so verwirren kann wie an einem Frühlingstage in München, Constanzen ins Freie. Straßen und Plätze, Gassen und Winkel lagen vor ihr in goldigem Glanz, vom wolkenlosen Blau hoben sich in flackerndem Glitzern die alten steilen Dächer ab, in den strahlenden Aether ragten die scharfgezeichneten Umrisse der Kuppeln und Türme, in saftigem Grün leuchteten Baum und Blume und Busch und balsamisch würzig flimmerte die Luft im Sonnenglast. Constanze wollte zu ihrem Vater gehen, um ihn zu bewegen, den herrlichen Tag mit ihr am Starnberger See, in Leoni oder Tutzing zu verbringen. Als sie mit ihrer schönen, schlanken, sich in den Hüften ein wenig wiegenden Gestalt durch die Straßen schritt, freute es sie, zu beobachten, obwohl sie in ihrem kerngesunden Wesen nichts von komödiantischer Eitelkeit besaß, daß die Leute ihr Platz machten, daß fremde Menschen sie grüßten, und daß ihr alle zulächelten, gleichsam, als ob sie ein Besitz der Münchener Bevölkerung wäre. Im Schaufenster jeder Buch-, Kunst- und Musikalienhandlung, an der sie vorüberging, sah sie ihr Bild, von einer gaffenden Menge umringt, und während sie sich durch die um die Mittagszeit sehr lebhaften Straßen drängte, lächelte sie vor sich hin: »Sapperment, Stanzerl, wer dir das vor sechs Jahren gesagt hätte! Vor sechs Jahren, als du in dem Fahnerl, das du dir selbst zusammengeschneidert hattest, auf dem Juchheh des Hoftheaters saßest zwischen den dreisten Studenten und den musikhungrigen Konservatoristen, in der rechten Hand den Klavierauszug, in der linken Hand eine Regensburger Wurst, und mit glühenden Augen und mit klopfendem Herzen hinabstarrtest auf die Wunderwelt dort unten, in der du jetzt selbst als Gekrönte herrschest! Ja, ja, vor sechs Jahren, als du nach dem Schluß der Vorstellung am Bühnenausgang auf die Brettergötter wartetest und selig warst, die Tür des Theaterwagens schließen zu dürfen, in dem du mit Blumen beladen jetzt selbst nach Hause fährst! Ja, vor sechs Jahren!«
Sie war auf den Marienplatz gelangt und stand gebannt von dem wundervollen Stadtbild. Von eitel Sonne übergossen, lag dieser unerhört schöne architektonische Einfall mit den zierlichen spitzen Türmen seines Rathauses, mit Schäfflerbrunnen und Mariensäule, mit den altertümlichen schwerbedachten Häusern, mit den dunklen Schwibbogen, mit dem fröhlich bewegten Treiben, mit den kleidsamen Trachten der Landbevölkerung, welche die stärkende Luft der Berge hineinzutragen schien in die emsige Geschäftigkeit des städtischen Lebens. Und Constanze war stolz darauf, ein Münchener Kindl zu sein.
An der Ecke der Kaufinger Gasse entsann sie sich, daß hier doch ein paar Häuser weiter der Laden der Gebrüder Freystätter sein müsse, und in dankbar-schöner Wallung für all die warmen Abendbrote, die sie dort während ihrer Backfischzeit genossen, beschloß sie, die Firma durch den tollkühnen Einkauf eines Schlipses für ihren Vater zu ungeahnter Blüte zu treiben. Das Haus, in dem Herr Freystätter seit vierzig Jahren Kleiderstoffe und Mäntel, Lodenkragen und Bettzeug, Bänder und Krawatten mit seiner kleinen Frau, namentlich aber mit so großem Profit betrieb, daß er es längst käuflich erworben hatte, war ein Ueberbleibsel aus dem achtzehnten Jahrhundert, ein reichverzierter Barockbau. Ueber der Eingangstür grüßte das Bild der Mutter Maria, welche – der Wahrheit die Ehre – zu Herrn Salomon Freystätter aus Lingenhausen bei Hechingen und seiner Gemahlin Ralchen, geborenen Wurmersheimer (aus der Linie der Wurmersheimer aus Neumarkt bei Ifterdingen) außerordentlich geringe Beziehungen hatte. Trotzdem brannte das »ewige Licht« unter dem Marienbild auch an den Samstagen, an denen alter Ueberlieferung gemäß der Laden des Herrn Freystätter geschlossen blieb. Constanze trat in das Lokal, welches nur im Vorderraum durch die Schaufenster Tageslicht erhielt, während die hinteren, ganz mit bunten Kleiderstoffen und kariertem Bettzeug tapezierten Räumlichkeiten durch ewig singende und ewig stinkende Gasflammen erleuchtet waren. Die kleine Verkäuferin, deren Nasenspitze kaum über den Ladentisch guckte, wollte die elegante Dame eben nach ihren Wünschen fragen, als der erste Verkäufer, Herr Riesenfeld, Constanze bemerkte. Herr Riesenfeld, der ein leidenschaftlicher Theaterbesucher war und im Verein Urania als Uriel Acosta durch sein offenes Bekenntnis »Ich bin ein Jude!« nicht dem geringsten Widerspruch begegnet war, Herr Riesenfeld also, dessen rabenschwarze Locken aufs glücklichste gegen seine zinnoberroten Backen kontrastierten, hatte sich soeben der mühseligen Aufgabe unterzogen, zwei Miesbacher Bäuerinnen ein paar entsetzliche alte Ladenhüter als »Pariser Neuheiten« anzudrechseln. Plötzlich stürzte er in den gleichfalls durch eine Gasflamme erhellten Glasverschlag, das Allerheiligste des »Chefs«, und schrie dem ahnungslosen Prinzipal zu, der seiner Gemahlin (aus der Linie der Wurmersheimer) soeben die heutige Kritik ihres Sohnes vorlas:
»Um Gottes willen, Herr Freystätter, erschrecken's nit … kommen's naus … nur Ruhe! Nur kaltes Blut!«
Das Ehepaar Freystätter, das nach dieser schonungsvollen und zartsinnigen Einleitung mindestens auf eine Feuersbrunst, einen Raubmord oder ein Erdbeben gefaßt war, hatte noch so viel rühmliche Geistesgegenwart, bebend die Worte auszustoßen:
»Was is?« Worauf ihnen Herr Riesenfeld entgegenbrüllte:
»Was is? Was is? So wahr ich lebe … der liebe Gotte soll mich gesund erhalten hundert Jahre … sie is da! Die Assing is da!« und wutsch! war er schon draußen im Laden, und, schnöde den Bäuerinnen den Rücken kehrend, scharwenzelte er um die Diva.
Das Wiedersehen zwischen Constanze und den alten Leutchen, denen man auf Kilometerweite ansehen konnte, daß ihre Wiege nicht im Teutoburger Walde gestanden hatte, war sehr herzlich. Frau Freystätter, ein verhutzeltes kleines Frauchen, wischte von den vor dem Ladentisch stehenden Stühlen mit ihrer Schürze den Staub, der gar nicht da war, und Herr Freystätter, dem gewiß noch nie die schmeichelhafte Einladung zugegangen war, als Modell für »Hermann den Cheruskerfürsten« zu stehen, nahm sogar sein mit einer grünen Girlande gesticktes Hauskäppchen ab, um auf diese nicht übertrieben kostspielige Art seinen Gast zu ehren.
Das Gespräch hüpfte vom Hundertsten ins Tausendste, von Constanzens Triumphen zu den berauschendsten Schlipsen, von dem früheren gemütlichen Verkehr zu den kariertesten Stoffen, von dem Befinden des Herrn Professors Assing zu den dauerhaftesten Bettbezügen, wobei nicht unerwähnt bleiben darf, daß die gute, kleine Frau mehr die Gemütsseite betonte, während Herr Freystätter sich mehr auf dem kaufmännischen Gebiete bewegte, so daß es ihm gelang, im Laufe des Gesprächs Constanzen ein Jackett für ihre Jungfer, eine Lodenpelerine für ihre Köchin, ein Dutzend Schlipse für ihren Vater und sechs Dutzend Taschentücher für nicht näher bezeichnete Personen zu »Ausnahmspreisen« (nach oben) zu verkaufen.
»Na und wie geht's dem Sigmundl?« fragte Constanze. »Potztausend, kann der schreiben! Sind Sie nicht sehr stolz auf Ihren Sohn, Herr Freystätter?«
»Nu ja, er schreibt! Schreibt für die Zeitung! Uns wär's lieber gewesen, wenn er's Geschäft übernommen hätt'! Man kann sich doch auf sei' Leut net verlasse!«
In diesem Augenblick brach Herr Freystätter plötzlich seine Zelte ab, weil er trotz seines eifrigen Gesprächs mit Constanzen beobachtet hatte, daß es der Ueberredungskunst des Herrn Riesenfeld nicht gelungen war, die Widerspenstigkeit der beiden Miesbacherinnen zu brechen, und, fest entschlossen, den Handel zum Abschluß zu bringen, und sollte er die renitenten Landbewohnerinnen auch knebeln müssen, sprang er seinem durch der berühmten Sängerin Gegenwart verwirrten ersten Verkäufer zu Hilfe.
»Fräulein Constanzerl,« flüsterte Frau Freystätter, »i bitt schön, kommen's doch mal mit mir ins Privatkontor, i möcht' Ihne gern 'was sagen!«
Und Constanze folgte etwas erstaunt der kleinen verhutzelten Person in den kleinen Glasverschlag.
»Fräulein Constanzerl, bitt' schön: nehmen's doch Platz. I wollt' schon zu Ihnen kommen …«
»Das hätte mich herzlich gefreut, Frau Freystätter!«
»… aber da Sie doch nun durch Zufall herkommen sind, da will i Ihnen doch lieber gleich hier sagen, was i auf'm Herzen hab'!«
»Das klingt ja ganz feierlich,« scherzte Constanze, aber sie ahnte nichts Gutes.
»Schaun's, bestes Fräulein,« und die dünne Stimme des kleinen Frauchens zirpte wie die eines Heimchens, »i bin halt eine ungebildete Frau und kann net viel' schöne Worte machen … aber dös woas i, mei Sigmund geht vor mir ins Grab!« und zwei dicke Tränen perlten der beinahe Siebzigjährigen über die verwelkten und verrunzelten Züge.
»Mein Gott,« rief Constanze, aufs tiefste erschrocken, »was fehlt ihm denn?«
»Was ihm fehlt? I hab's ja kommen g'sehn und hab's geahnt und hab' ihn gewarnt, und nun hat er sich doch die Flügel verbrannt und kann net mehr fliegen. Es sind einige Wochen her, da ist er ganz verstört nach Haus 'kommen und hat sich in seinem Zimmer verkrochen, und da bin i zu ihm gangen … i bin ja doch halt sei Mutter! … und hab' ihm d' Hand auf'n Kopf g'legt, wie ich's früher gemacht hab', als er noch ein Kind war, und hab' ihn gebeten, mir doch alles zu sagen und sein Herz zu erleichtern. Und da endlich hat er mir's g'standen, daß er Sie liebt, daß er ohne Sie net leben kann und net leben will, und daß Sie ihn abg'wiesen hätten. Der Sig' ist net der Mensch, der das vergißt, der trägt's still und stirbt daran. Da wollt' ich zu Ihnen kommen,« und die dünne Stimme kam herauf aus des Herzens tiefstem Grunde, »und wollt' Sie bitten: sein's barmherzig!« Und leise, kaum hörbar, schluchzte die Stimme: »Er ist mei' einzig Kind!« …
In der tiefen Stille hörte man nur das Ticken der Uhr und das Singen der Gasflamme.
»Frau Freystätter,« begann Constanze und sie streichelte gütig die Hände der vom Leid ganz zerbrochenen kleinen Frau, »er wird es überstehen! Er ist ein so wundervoll begabter Mensch, er wird seinen Weg machen, hoch hinauf, ganz hoch hinauf … in seinem Beruf und in seinen Erfolgen wird er's überstehen! Und« … Constanzens Stimme umschmeichelte und umkoste Frau Freystätters zitterndes Herz, »er muß es überstehen, denn ich kann niemals seinen Wunsch erfüllen … niemals … denn ich liebe ihn nicht! Ich ehre ihn, ich achte ihn, denn er ist ein guter und kluger Mensch, der Ehre und der Achtung wahrhaft wert, einer, auf dessen Treue man sich verlassen kann in jeder Not … aber, liebe Frau Freystätter,« und Constanzens Stimme streichelte zärtlich der kleinen Frau bebendes Herz, »ich liebe ihn nicht! Das Gefühl der Seligkeit, das ein Mädchen für einen Mann hegen muß, dem es sich ganz zu eigen geben will, nein, meine gute, alte mütterliche Freundin, nein, nein, es kann und wird nicht sein!«
Constanze war aufgestanden und schaute voll innigen Mitleids in diese vergrämten Augen, die ein paar Vögeln gleich umherflatterten, welche angstvoll nach Schutz und Hilfe ausspähen.
»Geben Sie mir die Hand, Frau Freystätter,« und sie beugte sich über die welke, ihr dargereichte Hand und küßte sie. Und Constanze fühlte, wie die Hand sich ihr auf den Kopf legte, und wie eine leise, ganz leise Stimme zirpte:
»Gott segne Sie, mein Kind!«
Und als Constanze an der Tür war, hörte sie noch einmal die Stimme, noch flehender, noch bettelnder:
»Und … keine Hoffnung? … keine?«
Herr Salomon Freystätter, der während dieser Zeit die beiden Miesbacherinnen endlich bezwungen hatte, begleitete Constanze Assing zur Ladentür, um ihr den nötigen Respekt zu beweisen, mehr aber wohl noch, um zu beobachten, ob sein Konkurrent gegenüber von der berühmten Kundin genügend Notiz genommen habe, und er genoß den Triumph, zu sehen, wie Herr Meyer Rothsteiner sel. Wwe. & Söhne vis-à-vis wütend die Tür seines Ladens ins Schloß warf.
Als Constanze aus der muffigen Dunkelheit des Ladens in die sonnenüberflutete Straße trat und sie die geschäftige Menge an sich vorübertreiben sah, da dachte sie, daß wohl ein jeder von all denen eine heimliche Sorge, ein verschwiegenes Leid, einen zehrenden Kummer mit sich trüge, und daß das eben Menschenlos sei, unerbittlich und unabänderlich. Auch ihr war das Herz recht schwer. Ihr tat die kleine Frau leid, die mit so unbeholfenen und so ergreifenden Worten um ihres Sohnes Glück gebettelt hatte, der so schwer an seiner Bürde trug. Vielleicht sei es das beste, noch einmal mit ihm vernünftig zu sprechen. Aber sie verwarf sofort den Plan; sie kannte ihn lange genug, um zu wissen, daß jedes noch so zart gesprochene Wort die Wunde nicht heilen, sondern nur vergrößern würde. Als sie so in unfreundliche Gedanken ganz versponnen in die von buntem Leben erfüllte Rosengasse bog, um nun endlich den Vater aus seinem Bau in der »Hundskugel« herauszuholen, sah sie Dupaty von der anderen Straßenseite direkt über den Fahrdamm auf sie zuschreiten, und sie mußte sich wiederum zugestehen, was sie empfunden hatte, als sie ihn zum ersten Male in der »Löwengrube« gesehen, daß er wirklich ein Mensch von seltener Schönheit sei. Wie er in seinem weißen Flanellanzug schlank und elastisch auf sie zuschritt und mit vollendeter Grazie den Panama lüftete, freute es sie, ihn zu sehen. Und verdroß sie gleichzeitig. Denn sie sah voraus, daß er nun nicht von ihrer Seite weichen und sie durch alle Kreuz- und Quergassen bis zu des Vaters Wohnung begleiten würde, und es war ihr ein lästiges Gefühl, vielleicht durch ein so ganz zufälliges und harmloses Zusammentreffen mit diesem bekannten Frauenjäger in der Leute Mäuler zu kommen.
»Ich wette, Fräulein Assing,« begann Dupaty, »wir haben den gleichen Weg. Wie geht es denn Ihrem Vater?«
»Hoffentlich so gut,« erwiderte sie leicht, »daß er mit mir nach Starnberg fahren und sich auf einer Dampferfahrt die Lungen mit frischem Sauerstoff vollpumpen wird.«
Nach einigen Schritten, die sie stillschweigend nebeneinander gingen, forschte Dupaty:
»Wann haben Sie denn Ihren Vater zum letzten Male gesehen?«
»Heute ist Mittwoch … am Sonntag abend in der ›Walküre‹ sah ich ihn im Orchester, und wir haben unsere nur uns verständlichen Grüße ausgetauscht.«
»Er war an den beiden letzten Abenden nicht in der ›Löwengrube‹, und sein wackrer Zechgenosse, der Buchbinder Gerum, den ich soeben in der Weinstraße traf, sagte mir, daß der Professor seit Montag früh bettlägerig sei.«
»Maria und Joseph! Wo fehlt's denn?« stieß Constanze hervor, und sie bebte am ganzen Körper.
»Ich weiß es nicht, Fräulein Assing!«
»Ich bitt' Sie um aller Heiligen willen, verheimlichen Sie mir nichts. Seit Montag früh? Und da hat man mich nicht rufen lassen?«
»Es geschah, wie mir Herr Gerum sagte, auf ausdrücklichen Wunsch Ihres Vaters und des Theaterarztes. Er ist also in bester Pflege. So beruhigen Sie sich doch, Fräulein Assing, Sie sind ja kreidebleich geworden, ein so tapferer Mensch wie Sie und gleich so verzagt, und so grundlos verzagt! Wir sind ja in wenigen Minuten dort!«
Sie kürzten im schnellsten Schritt den Weg durch einige winklige Gäßchen, und so sehr auch Dupaty bemüht war, ihr die bange Sorge fortzuplaudern … sie hörte gar nicht, was er sprach, sie sah gar nicht, wo sie ging, sie wußte kaum, daß er neben ihr war.
Das Haus, in dem Professor Assing seit vielen Jahren wohnte, war ursprünglich ein altes gräfliches Palais, das, einst von rauschendem und verschwenderischem Leben erfüllt, schon längst profanen Zwecken diente. Rahmenvergolder, Antiquitätenhändler und ein Fabrikant von Skulpturen zu kirchlichen Zwecken trieben im weitläufigen Erdgeschoß ihr Wesen, und auf dem sehr weiten, reich mit alten Bäumen bestandenen Hofe, der früher wohl viele Gala- und Staatskarossen gesehen hatte, führten jetzt viel bescheidenere Gefährte, wie Milchwagen und Obstkarren, die einer Schar jubelnder Kinder zu Turn- und Kletterübungen dienten, ihr beschauliches Dasein.
Im zweiten Stock des Rückgebäudes wohnte Constanzens Vater. Sie flog die Treppen hinauf, daß Dupaty ihr kaum folgen konnte, und klopfte leise mehrere Male an die Eingangstür, um nicht durch zu lautes Schellen den vielleicht Schlafenden zu wecken. Frau Schwabenmayr, die den Professor seit einem Menschenalter betreute, öffnete endlich, und als Constanze in die verweinten Augen des alten treuen Gesichtes sah, wußte sie, daß sie nichts mehr zu hoffen habe. Der Herr Professor sei Montag früh an der linken Seite gelähmt erwacht, er habe die Sprache nicht verloren und sei völlig bei Verstande. Nach einigen qualvollen Minuten trat der Theaterarzt, der Herr Hofrat Rabenbauer, aus dem Krankenzimmer, und als Constanze in namenloser Angst auf ihn zustürzte, streichelte er ihr freundlich die Wangen, ohne ein Wort zu sagen.
Constanze verstand. Und da sie fühlte, daß keine Macht mehr ihr den Mann würde retten können, dem sie ihr Leben, ihr Glück, dem sie alles verdankte, war schnell und mit festem Entschluß ihr ganzes Ziel darauf gerichtet, ihm die ihm noch vergönnte Frist zu erheitern und sein Leiden zu stillen. Und mutig, stark und gefaßt trat sie, von Dupaty gefolgt, in das ein wenig verdunkelte Krankenzimmer, dessen dem Auge wohltuende Einfachheit mit dem bescheidenen Wesen seines Bewohners übereinstimmte. Dem Bett gerade gegenüber stand, gewissermaßen als musikalisches Glaubensbekenntnis, Richard Wagners Kolossalbüste, deren geistvolle und energische Züge mit starker Eindringlichkeit zum Beschauer sprachen.
Professor Assing, der in den Kissen hochaufgerichtet lag, machte durchaus nicht den Eindruck eines Schwerkranken. Seine Gesichtsfarbe war eher blühender als sonst. Er lächelte herzlich den Eintretenden entgegen und reichte Constanze und Dupaty die rechte Hand. Und als er sie beide so zusammen an seinem Bette stehen sah, beide Bilder der Jugend, der Kraft, der Schönheit und des Glücks, ging ein gar eigenartiges und seliges Lächeln über sein scharfgeschnittenes, sonst so ernstes Gesicht, und in seinen wundervollen, dunklen Augen leuchtete eine schöne und starke Hoffnung auf. Und Constanze, die seit ihrer Kindheit in diesen Augen zu lesen wußte und deren Sprache bis in ihre verborgensten Geheimnisse kannte, verstand ihres Vaters unausgesprochenen und doch so beredten Wunsch, und einen kurzen Augenblick träumte sie hinaus in die Zukunft.
Constanze lächelte ihrem Vater zu und bat ihn, sich zu ruhen. Da er aber davon nichts wissen wollte und mitteilsamer und gesprächiger war als in seinen gesunden Tagen, setzte sie sich rechts vom Bett, Dupaty links, und beide waren bemüht, durch allerhand Schnurren und Geschichtchen die gute Stimmung des Kranken zu erhalten. Und während Constanze ihm das pudelnärrischste Zeug erzählte, über das der Professor hell auflachen mußte, schluchzte ihr Herz vor Gram und Bitternis und Schmerz, daß sie nun in kurzer Frist Abschied nehmen müsse für immer von diesem geliebtesten Menschen.
Dann ordnete sie mit Umsicht und Verständnis alles Aeußere an, ließ ihre treue Jungfer zur Hilfeleistung rufen, und Dupaty war eifrig bemüht, ihr Samariterdienste zu leisten. Und als sie ihn so zartfühlend und so ergeben sah, den sie eigentlich nur als schönen und eleganten, begabten und liebenswürdigen Tunichtgut kennen gelernt hatte, schmeichelte er sich in ihr wundes Herz, und sie war ihm dankbar und wurde ihm gut.
Nachmittags lag der Kranke eine Zeitlang still und mit geschlossenen Augen, ohne zu schlafen, und plötzlich bat er Dupaty, doch ins Arbeitszimmer zu gehen und ihm das Händelsche »Largo« zu spielen, und während die erhabene, ernste, wundersam-feierliche Weise, von Dupaty meisterhaft wiedergegeben, herüberklang, rief Professor Assing Constanzen zu sich und, seine Hand in ihre beiden legend, sagte er ruhig und gefaßt:
»Constanze, ich werde sterben!« Und als sie ihm »so schwarze törichte Gedanken« wehren wollte, wiederholte er: »Ich werde sterben! Ich lasse Dich nicht allein zurück. Du kannst nie vereinsamen. Du hast Deine Kunst! Stanzerl, ich habe Dir zu danken, nur zu danken, denn Du warst der einzige Sonnenstrahl in meinem Leben! Und Dupaty! Ich habe ihn lieben gelernt, ich vertraue ihm, und ich habe ihn gebeten, meinen musikalischen Nachlaß zu ordnen und herauszugeben, was er vielleicht für wertvoll hält. Hörst Du, Constanze, niemand anders, selbst Du nicht, hat darüber zu bestimmen. Und dann, mein Kind,« und seine Stimme verlor immer mehr an Leben und Kraft, und Constanze mußte ihm die Worte von den Lippen lesen, »dann habe ich noch eine heiße Bitte … wenn Du …«, aber die Besinnung verließ ihn, und er murmelte unverständlich.
Dupaty hatte leise geendet und trat auf die Schwelle. Constanze gab ihm mit namenlosem Entsetzen einen Wink. Richard Assing hatte noch einmal leicht aufgeatmet, dann blieben seine schönen dunkeln Augen groß und starr auf die Büste Wagners gerichtet. Die Abendsonne flutete ins Zimmer und warf ihren letzten Strahl auf das edle Antlitz des Toten. Vom Hofe her schallten jubelnde Kinderstimmen, und aus der Ferne klang ein Leierkasten.
So einsam und still, wie er gelebt hatte, wurde Professor Richard Assing drei Tage später an einem trüben und gewitterschwülen Nachmittag auf dem östlichen Friedhof begraben. Das drohende Unwetter hatte die meisten Orchestermitglieder veranlaßt, unter mehr oder minder gefühlvollen Ausreden Constanzen die Unmöglichkeit ihres Erscheinens mitzuteilen, und von Constanzens Kollegen, die eine Erkältung fürchteten, waren nur zwei zugegen, die darauf rechneten, in den Zeitungen unter den Leidtragenden erwähnt zu werden, und die sich wütend ärgerten, als sie keinen Reporter entdecken konnten.
So schritten hinter dem mit Blumen reichgeschmückten Sarge Constanze, geführt von dem Stellvertreter der Intendanz, der ärgerlich über den geraubten Nachmittagsschlaf seiner Pflicht genügen mußte, einige Familien, in denen Constanze verkehrte, neben der schluchzenden Frau Schwabenmayr der bitterlich weinende Herr Gerum, dann Dupaty, ferner der Wirt »Zur Löwengrube« mit der heulenden Kellnerin, und endlich, ganz zum Schluß nach einer Menge Neugieriger, die »die Assing« in der noch nie gespielten Rolle der trauernden Tochter unentgeltlich begaffen wollten, kam, von niemand beachtet, noch ein Paar: die alte Frau Freystätter am Arme ihres Sohnes. Der kleinen Greisin wurde der weite Weg von der Leichenhalle bis zum Grabe auf ihren doch schon recht wackligen Beinen bitter schwer, aber sie humpelte unverdrossen weiter und der Zufall fügte es, daß sich Camille Dupaty und Sigmund Freystätter, durch die offene Gruft getrennt, gerade gegenüberstanden. Als der Sarg herabgelassen war, sprach der Geistliche, der der Entladung der drohenden Gewitterwolken mit Besorgnis entgegensah, schnell noch einige gleichgültige Worte, die Erde war schon dumpf heruntergepoltert, und gerade wollte die Menge sich nach der recht stimmungslosen Feier zerstreuen, als plötzlich Sigmund Freystätter vortrat und in tiefster Bewegung sprach:
»Der hier zur letzten Ruhe gebettet liegt, war ein reiner und edler Mensch, dem alle Falschheit fremd, dem alle Tugend zu eigen war, dessen schamhafter Sinn allem Edlen sich zuneigte, dessen gütiges Herz für alles Erhabene schlug, und er war ein makelloser und wahrhaftiger Priester der Kunst, der in frommer Andacht zu ihr betete und ihr, trotz aller Enttäuschungen und trotz des Unsterns, der sein Leben begleitete, in keuscher Demut treu geblieben ist bis zu seinem letzten Atemzuge. Ja, keusch und rein, wie Du gelebt und wie Du gestrebt hast, wird Dein Geist weiterleben, und die wenigen, denen das Glück zuteil geworden, Dich zu erforschen und Deines Wesens Kern zu ergründen, werden Dich ehren, werden Dich schätzen und werden Dich lieben immerdar! Richard Assing, Dein Name wird nicht vergehen!«
Tiefe Stille herrschte, nur ein paar vom nahenden Gewitterwind geängstigte Vögel flatterten von Zweig zu Zweig. Und dann schritt Constanze langsam auf Sigmund Freystätter zu, sie schlug den tief herabwallenden schwarzen Schleier zurück und drückte einen langen Dankeskuß auf seine Lippen. Und dachte in diesem unsäglich traurigen Augenblick nicht daran, daß sie ihm mit diesem Kuß eine Gabe gespendet, an der der so fürstlich Beschenkte in stiller, seliger, nie erlöschender Hoffnung seinen Lebensfaden weiterspann.
Constanze hatte zunächst die Absicht, gleich wieder aufzutreten, und hoffte, durch Anspannung der Kräfte und durch Erfüllung der Pflicht über die erste düstre und leere Zeit hinwegzukommen. Aber schließlich schreckte sie doch vor dem Gedanken zurück, im Orchester den Platz, den ihr Vater so lange innegehabt hatte, von einem Fremden besetzt zu sehen. Sie erbat sich einen vierwöchigen Urlaub, der ihr, da ihre Kraft im Repertoire an allen Ecken und Enden fehlte, ungern genug zugestanden wurde; dann dankte sie Freystätter noch einmal schriftlich für seine am Grabe gesprochenen Worte, schenkte Dupaty aus des Vaters Besitz ein Beethovensches Manuskript und fuhr dann mit ihrer treuen Jungfer nach Urfeld, um an dem schönen Walchensee Ruhe zu suchen und Frieden zu finden. Um diese Zeit, Ende Mai, war es dort noch still und einsam, und in dem freundlichen Gasthause, in dem Constanze ein paar nach dem See gelegene Zimmer nahm, waren außer ihr die einzigen Gäste ein altes freundliches Münchener Ehepaar, das Constanzens Trauer ehrte, sich nicht an sie mit lästigen Fragen herandrängte und sich auf artigen Gruß bei den auf der Terrasse genommenen Mahlzeiten beschränkte. Constanzes Wahl war eine sehr glückliche gewesen; in dieser würzigen, stärkenden Luft mußte sie innerlich gesunden. Vormittags lag sie in ihrem Boot auf dem See und weidete immer aufs neue ihr Auge an dem großartigen und lieblichen Bilde, das sich ihr bot, an der tiefblauen, von dunkelgrünen Tannenwäldern umstandenen weiten Wasserfläche, in der sich all die kleinen Ortschaften mit ihren weißen Kirchtürmen widerspiegelten. Dann schaute sie hinauf zu der schroffen Wand des Herzogenstandes, von dessen Gipfel das kleine, vom unglücklichen Ludwig dem Zweiten erbaute Jagdschlößchen grüßte, und blickte hinüber zu der noch ganz mit Schnee überschütteten Karwendelkette, deren Felsen wie spitze Nadeln in den wolkenlosen Himmel ragten. Unendlicher Friede lag über der Landschaft, unendliche Stille umgab sie; außer dem Wasser, das leise und melodisch am Kiel des Bootes murmelte, außer dem Schnappen eines Fisches nach einer Fliege, außer dem fernen Ruf eines Holzers von irgendwoher aus dem Walde unterbrach nichts die feierliche und einlullende Ruhe. Nachmittags, wenn es die Sonne gar zu gut meinte und gar zu blendend auf dem Wasserspiegel leuchtete, flüchtete Constanze in den kühlen Schatten der uralten Tannen, die kaum einem Sonnenstrahl Einlaß gewährten, und träumte in der Hängematte vor sich hin. Die liebste Stunde aber war ihr, wenn sich der Abendfriede über Wasser und Berg breitete und die Dämmerung im Licht des Mondes ertrank, der See und Gebirge, jede Ortschaft und jedes Haus, jede Tanne, jeden Busch und jeden Halm mit Silber überschüttete. Dann saß sie auf einer Bank am See und hörte gern aus der Wirtsstube herüber den Klang einer Zither, wenn ein paar Förster der jungen Kellnerin aufspielten, der ein Paar gar verheißungsvoller Augen im blühenden Gesichte loderten.
Und dann durchwanderten ihre Gedanken weite Strecken zurück zu ihrer Kindheit, zu ihrer Jugend, zu ihren Studien, ihren Erfolgen und drehten sich doch immer nur um den einen Punkt, um den gütigen Mann, der ihr Leben beschützt, und den sie nun verloren hatte. Sie grollte dem Schicksal und sie war ihm dankbar. Grollte ihm, daß es ihr den tiefen Schmerz bereitet, und dankte ihm, daß dieses Leben, das in seiner Verbitterung abgeschlossen war und keinen erwärmenden Sonnenstrahl mehr zu erwarten hatte, nunmehr vor immer zehrenderem Leid, vor immer nagenderem Kummer bewahrt war. Und was sie sich bei seinen Lebzeiten so oft gesagt und ihm ebenso oft gesagt: daß er so ganz und gar den Mut zur Arbeit verloren hatte, daß er, der in seiner Jugend jenes wundervolle Werk geschaffen, so schnell verstummte und sich so kampfesmüde in Bitterkeit und Furcht vergraben hatte. Vielleicht hatte Dupaty im Nachlaß noch etwas gefunden, vielleicht vereinzelte Perlen, die man zu einer Schnur reihen, vielleicht einzelne Blüten, die, zu einem Strauß gebunden, dem längst erloschenen Künstlernamen Richard Assing eine, wenn auch nur kurze Leuchtkraft verleihen könnten. Sie hoffte es, aber sie glaubte selbst nicht daran. Dupaty! Sie hatte die innige Hoffnung aus des Vaters Augen, sie hatte den heißen Wunsch von seinen Lippen gelesen: würde sie ihn erfüllen? Erfüllen müssen, weil sie selbst nicht anders konnte? War Camille Dupaty der Mann, dem sie sich zu eigen geben mußte mit Leib und Seele, ohne den sie nicht atmen, nicht denken, nicht schaffen, nicht leben konnte?
Ein schmetterndes Juhu! und lautes Gelächter aus dem offenen Fenster der Wirtsstube flatterte zu ihr herüber und unterbrach ihre Gedanken und Fragen, die sie nach kurzem Augenblick wieder aufnahm.
Sehnte sie sich, seine Augen wiederzusehen, seine Stimme wieder zu hören? Strebte sie mit allen Sinnen zu ihm? Liebte sie ihn? Gewiß war er ein bildschöner Mensch voll Geist und Grazie, der eines Mädchens Herz wohl verwirren konnte, und für seine ungewöhnliche Begabung bürgten ihres Vaters innige Liebe und blindes Vertrauen. Aber was war er? Der Sohn eines wahrscheinlich reichen Vaters, der in München Musik studiert, bummelt und trotz seiner fünfundzwanzig Jahre noch nicht das mindeste geleistet hatte. Und sie selbst hatte ihr Leben lang eine so hohe und ernste Meinung von der Erfüllung der Pflicht, von unermüdlicher, unverdrossener Arbeit, daß sie sich nicht vorstellen konnte, ihr Geschick in eines Mannes Hände zu legen, zu dem sie nicht mit Stolz hätte aufschauen können. Und dennoch: es gefiel ihr etwas an ihm, es zog sie etwas zu ihm hin, worüber sie sich nicht klar werden konnte. War es geschmeichelte Eitelkeit, daß sie auf ihn, den so Flatterhaften, einen unleugbar starken Eindruck gemacht hatte, daß er ihr – das fühlte sie untrüglich – mit jedem Wort, mit jedem Blick huldigte? Daß er sie ganz anders behandelte wie alle anderen Frauen? Daß sich ihr gegenüber seine gewohnte Siegesgewißheit in ergebenes Werben verwandelte?
Als Constanze, von der zunehmenden Kühle getrieben, aufstand, um ins Haus zu gehen, erlosch gerade das Licht in der Wirtsstube, und gleich darauf sah sie im Schimmer des Mondes den einen bildhübschen Förster, der seinen Arm um der reizenden Kellnerin Nacken gelegt hatte und mit ihr im nahen Walde verschwand.
»Die grübeln nicht und brüten nicht lange und erwägen nicht für und wider, die folgen nur ihrem Gefühl, und vielleicht haben sie recht!« Und Constanze trat ins Haus.
Als sie am nächsten Tage nach dem erfrischenden Bade im See und einem mehrstündigen Spaziergange zum Mittagessen kam, bestellte ihr die Kellnerin, der ihr junges Liebesglück aus den Augen leuchtete, ein Herr sei dagewesen und habe nach dem gnädigen Fräulein gefragt. Und Constanze, die, sie wußte nicht recht, warum, gleich auf Freystätter riet, fragte, ob es ein kleiner, bleicher Herr mit schwarzen Haaren gewesen sei.
»Na na,« meinte das Mädchen, »so schiach war er net, er war schon a ganz a Blitzsaubrer.« Er wäre in Post Walchensee drüben abgestiegen. Sie holte eine Visitenkarte, der sie den beneidenswerten Platz zwischen zwei Knöpfen ihres Mieders angewiesen hatte, hervor, und Constanze las: »Camille Dupaty, mit herzlichsten Grüßen, auf Wiedersehen heute nachmittag«.
Und sie fühlte ärgerlich und gleichzeitig erfreut, wie eine leichte Blutwelle ihre Wangen und Stirn rötete.
Nachmittags stieg sie in ihr Boot und ließ es eine Zeitlang mit dem Winde treiben, als sie plötzlich, ungefähr in der Mitte der gewaltigen Wasserfläche, vom Dorf Walchensee her einen Kahn bemerkte, der mit kräftigem Ruderschlag durch die Wellen schoß und sicher zielend auf sie lossteuerte. Einige Minuten später reichte ihr Dupaty mit herzlichem Willkommen die Hand und bat sie um die Erlaubnis, in ihr Boot hinübersteigen zu dürfen; er würde seines dann an ihrem festbinden. Sie aber wehrte ihm das, und so trieben die beiden schlanken kleinen Nachen, deren Umrisse sich tief im Wasser widerspiegelten, mit ihren Insassen durch die blaue Flut gemächlich nebeneinander fort, und es bot ein anmutiges Bild, die beiden schönen jungen Menschen im leuchtenden Sonnenschein dahingleiten zu sehen.
»Ich zürne Ihnen ernstlich, Herr Dupaty,« begann Constanze, »daß Sie mich hier aus meiner Ruhe schrecken und mich von hier forttreiben, denn Sie werden wohl selbst einsehen, daß ich Ihren Besuch hier nicht dulden kann. Es bleibt also nur die Wahl, daß Sie in einer Stunde Walchensee verlassen oder … ich!«
»Ist das Ihr Ernst?« fragte er ganz betroffen.
»Dieser Ueberfall sieht einem verabredeten Stelldichein verteufelt ähnlich; ich aber habe nicht die geringste Lust, Ihretwillen meinen guten Ruf zu verlieren, und das würde unausbleiblich sein, würde ich Ihre Gegenwart hier oder in der Nähe auch nur eine Stunde dulden!«
»Ich füge mich selbstverständlich Ihrem Wunsche oder vielmehr Befehl, von dessen Notwendigkeit ich allerdings nicht in gleichem Maße überzeugt bin. In einer Stunde werden Sie von meiner Gegenwart befreit sein und deswegen will ich die Zeit nützen. Vor allem also, Fräulein Assing, in Ihres Vaters Nachlaß habe ich trotz sorgfältigster Prüfung und gewissenhaftester Durchsicht nichts gefunden, was irgendwie der Rede wert wäre.«
»O,« erwiderte sie schmerzlich, »Sie rauben mir da eine liebe Hoffnung!«
»Pläne, Entwürfe, ein paar Liedansätze, ein paar Notizen zu Orchesterinstrumentationen, eine Fugenskizze … alles nur flüchtige Einfälle … und würden wir das alles höchstens zu einem schmalen Bande vereinigen, wir würden nur die Ohnmacht des uns beiden so teuren Mannes bezeugen und seinem Andenken wahrhaftig keinen Gefallen erweisen. Ich stelle Ihnen, falls Sie keine andere Verfügung darüber treffen, alle Notenblätter zurück; ich habe sie drüben in Walchensee in meiner Handtasche.«
»Behalten Sie alles, was Sie gefunden haben, zur Erinnerung … er hat Sie sehr geliebt.«
Um sich vor der allzu starken Sonnenglut zu schützen, die blendend über dem See flimmerte, hatte er mit leisen Ruderschlägen, die nur am Kiel das Wasser silbern glänzen und kaum hörbar murmeln ließen, die beiden Nachen in eine kleine Bucht getrieben, welche durch tief herabhängende Weiden, verkrümmte Ulmen und duftiges Fliedergebüsch ein schattiges Ruheplätzchen boten. Die Kähne, die ein wenig im Ufersand festgefahren waren, lagen, von den Fluten kaum bewegt, still nebeneinander, und von der kleinen, einsamen Kirche drüben überm See läutete es den Abend ein. Beide schwiegen, und Constanze fühlte, daß er jetzt ihre Zukunft und ihr Leben entscheidende Worte sprechen würde.
»Ich hatte mir eigentlich vorgenommen,« begann er leise mit einer Stimme, die ihr fremd klang, da sie ganz in Zärtlichkeit und Liebe versank, »vielleicht morgen, übermorgen, vielleicht erst in acht Tagen mit Ihnen zu sprechen. Da Sie mir aber mein Verweilen hier unmöglich gemacht haben und die Zeit drängt, muß ich Ihnen jetzt sagen, was ich auf dem Herzen habe.« Und während er weiter sprach, sah er unverwandt auf seine schmalen Füße, die er gegen die im Boden des Nachens befestigte Leiste gestemmt hatte.
» So kann ich nicht weiterleben, das sehe ich ein, und deswegen bin ich hier. Constanze, Sie sind jetzt beinahe drei Wochen fort von München, und seit jener Zeit führe ich – Sie können's mir glauben – ein qualvolles Dasein. Ich kann nicht arbeiten, ich kann nicht schlafen … Ueberall, wo ich bin, sehe ich nur Sie, höre ich nur Ihre Stimme, spreche ich mit Ihnen, lebe ich mit Ihnen! Ich habe meine Fröhlichkeit verloren, meine Sorglosigkeit, meinen Leichtsinn, das Vertrauen auf meine Jugend, meine Kraft, mein Glück, mein Talent. Ich liebe Sie! Diese Unruhe, dieses Zweifeln und Hoffen und wieder Zweifeln ist unerträglich und reibt mich auf. Ich muß Gewißheit haben. Um die zu erlangen, bin ich hier.« Und indem er sein Gesicht ihr voll zuwandte und ihr in die Augen blickte, als ob er in dem Grunde ihrer Seele lesen wollte, flüsterte er ihr in zitternder Leidenschaft zu: »Gewißheit! nur Gewißheit! Mag sie mich noch so unselig machen und mir allen Lebensmut und alle Lebensfreude rauben … nur Gewißheit geben Sie mir jetzt, nur Gewißheit!«
Die sich durch einen leisen Wind leicht kräuselnden Fluten schaukelten ein wenig die nebeneinander wiegenden Kähne, die ein Libellenpaar umspielte, und nach einer kurzen Pause, die ihm eine Ewigkeit dünkte, sagte Constanze:
»Lieber Freund, ich zweifle nicht an der Ehrlichkeit Ihrer Gesinnung, ich habe aus Ihren Worten die Wahrheit gehört. Ich kann Ihnen in diesem Augenblick nicht das geben, was Sie verlangen: die Gewißheit. Lassen Sie mich mit mir selbst zu Rate gehen. Ich muß mich prüfen, ob das Gefühl, das ich – ich leugne es nicht – für Sie hege, auch stark genug ist, um meine Hand in die Ihre zu legen und Ihnen mein Leben anzuvertrauen. Ich will ganz ehrlich mit Ihnen sprechen. Was mich zurückhält, Ihnen heute mein Jawort zu geben, sind nicht etwa Ihre Liebesabenteuer, von denen München ja ganz voll ist. Ich hab's ja oft genug beobachtet, wie die Mädchen und namentlich die Frauen unserer Gesellschaft förmlich um Ihre Gunst bettelten … und haben sie sich dabei die Flügel verbrannt, so habe ich kein Mitleid mit ihnen, sie hätten sich eben nicht so nah' ans Licht wagen sollen … Nein, nein, das ist es nicht. Warum ich zögere, heute die Entscheidung zu treffen? Nichts für ungut, lieber Freund! daß Sie trotz Ihrer Begabung, die mein Vater ja für ungewöhnlich hielt, noch nichts geleistet haben, daß Ihnen, wie ich fürchte, der Fleiß fehlt, ohne den keine Arbeit gelingen kann, daß Sie nur ruhmsüchtig sind, aber nicht im edelsten Sinne ehrgeizig, daß Sie – ich weiß nicht recht, wie ich's nennen soll, ohne Ihnen weh zu tun – vom Gipfel herabschauen wollen, ohne ihn erklommen zu haben. Lieber Dupaty! ich kenne Ihre Lage nicht, ich weiß nicht, ob Sie in guten oder schlechten Verhältnissen leben – ich lege auch gar keinen Wert darauf; ich frage Sie nur: könnten Sie es über sich gewinnen, die wenig beneidenswerte Rolle zu spielen, der Mann einer, sagen wir, berühmten Sängerin zu werden? nur der Mann Ihrer Frau zu sein? Sie haben mir versprochen, mir in zwei Jahren die Partitur Ihrer Oper zu übergeben … ich halte Sie beim Wort! Und wenn Ihnen der Wurf gelingt, dann, mein lieber Freund, dann …«
»Constanze,« unterbrach er sie lebhaft, und er sah weit hinaus in die Ferne, »ich will Ihnen ein Geheimnis verraten, das nur Ihr Vater kannte. Ich habe schon seit mehr als zwei Jahren gearbeitet … in einem halben Jahr bin ich fertig. Ich glaube, Sie werden Ihre Freude daran haben … und ich auch!« Und er blickte hinauf zu den Gipfeln der Bergwände.
Constanze fühlte in diesem Augenblick, daß über die Kluft, die sie noch trennte, eine Brücke geschlagen sei, sie fühlte, daß ihr die Freude die Wangen rötete, daß ihr Herz ungestüm pochte, sie fühlte, daß sie ihn liebte, und, ihm beide Hände über den Bord ihres Nachens reichend, sagte sie voll jubelnder Innigkeit:
»Eine frohere Botschaft hätte mir niemand auf der weiten Welt bringen können.« Und Constanze Assing und Camille Dupaty tauchten ihre Augen ineinander.
Nach einer kurzen Pause sagte sie:
»Es wird mir hier zu kühl, wir wollen der Sonne nachfahren.«
Ein paar starke Ruderstöße trieben die Kähne in den See hinaus. Schweigend glitten sie nebeneinander, bis sie in die noch durchwärmte Luft kamen; unwillkürlich zogen sie beide die Ruder ein und gaben sich ganz dem erhabenen Schauspiel der untergehenden Sonne gefangen. Die Kalkwände der Karwendelkette loderten in flammendem Purpur, das sich in wundervollsten Schattierungen in Karmoisin, in Violett und Kupfer verlor, während die unteren noch bewaldeten Partien schon in zartem, bläulichem Abendduft verschwammen. Am leuchtenden Himmel segelten ein paar rosa Wolken dahin und spiegelten sich in den kristallklaren Fluten des Sees, Mücken umspielten, Libellen und Schmetterlinge umgaukelten die Boote; durch die tiefe und große Stille des Abendfriedens drang nur die ferne Axt eines Holzers im Walde und das wehmütige Horn des drüben überm See vorüberfahrenden Postillions.
Leise summte Constanze eine Melodie aus den »Traumbildern« und wendete sich dann zu Dupaty:
»Sie haben nun den Schleier von Ihrem großen und schönen Geheimnisse gelüftet, nun lassen Sie mich auch ganz hinter den Vorhang schauen. Ist die Arbeit, die Sie jetzt vollenden wollen, für die Bühne bestimmt?«
»Eine Oper, in der Sie jedenfalls einen wundervollen Sieg erringen werden!«
»Dann werde ich auch Ihnen zu einem ebenso großen Siege verhelfen! Ich will nicht weiter in Sie dringen, Sie nicht nach dem Stoff und der Behandlung ausforschen. Sie werden mir das alles schon selber sagen, wenn Sie die Zeit für richtig halten. Und nun, lieber Freund, noch eine Bitte, die erste, die ich an Sie richte, und an deren Erfüllung mir viel liegt …«
»Dann ist sie schon erfüllt,« warf er ohne Ueberlegen ein.
»Hören Sie zu: Sie müssen jetzt von München fortgehen. Würden wir miteinander verkehren, wie es uns nach dieser Stunde ums Herz ist, so würde das sofort zum bösartigsten Geschwätz Anlaß geben. Sie kennen ja unser liebes München! Und würden wir uns geflissentlich meiden, so würde die Welt das natürlich als einen Bruch, als die Lösung eines Verhältnisses betrachten, das gar nicht bestand, und die Klatschmäuler in den Salons, in den Ateliers und im Hofgarten hätten wacker zu tun. Und deshalb halte ich es für mich, aber ebenso für die Vollendung Ihrer Arbeit für das beste, wenn wir eine tüchtige Strecke zwischen uns legen. Sind wir uns räumlich entrückt, so werden wir auch beide die innere Ruhe finden, die uns die Erfüllung unserer Pflichten auferlegt. Sie können mir schreiben, so oft Ihr Herz Sie dazu treibt, und Sie werden niemals auf Antwort zu warten brauchen … Wollen Sie?«
Er ergriff ihre Hand und küßte sie lange und dankbar.
»Auf frohes Wiedersehen, lieber Freund!«
»Auf frohes Wiedersehen, Constanze!«
Langsam glitten die Boote auseinander, und je mehr sie sich mit jedem leisen Ruderschlag trennten, desto mehr verglich Constanze – sie wußte selbst nicht warum – diese beiden Nachen mit zwei Schicksalen, die, kurze Frist eng verknüpft und verschlungen, sich lösen, um sich dann zu verlieren … in weiter, immer weiterer Ferne …
Als sie bei einbrechender Dämmerung in das schummrige Gastzimmer trat, trieb sie eine unbezwingliche Lust hin zu dem alten Tafelklavier, das dort hinten in der Ecke sein einsames, immer verstimmtes Dasein führte. Sie wollte ihre Stimme wieder einmal hören, die seit drei Wochen – seit ihres Vaters Tode – verstummt war. Sie sang zuerst das Rubinsteinsche Lied »Es blinkt der Tau« und lieh den Schlußworten
»mit dem ersten Kuß in den Himmelsraum
und fest zu glauben den törichten Traum,
daß es ewig, ewig so bliebe!«
jubelndsten Ausdruck und tiefste Empfindung und intonierte dann nach einer kurzen Pause, in der sie gedankenvoll vor sich hingestarrt hatte, »Isoldens Liebestod«. Und herrlich und ergreifend begann die wundersam-hehre Klage von ihren Lippen zu tönen, und immer mächtiger und immer seliger schwang sich ihre Stimme empor, und immer rührender und immer milder erstarb sie:
»in dem wogenden Schwall,
in dem tönenden Schall
des Weltatems wehenden All
ertrinken … versinken …
unbewußt … höchste Lust!«
Der Gesang, der durch das offene Fenster geströmt war, hatte die Förster und die Holzer aus der Wirtsstube ins Freie gelockt, und als Constanze geendet hatte, empfing sie ein so jubelndes, jauchzendes, überquellendes »Juhu!«, daß sie sich über diese unwillkürliche und urwüchsige Huldigung von Herzen freute. Bei der Abendmahlzeit fand sie ihren Tisch und ihren Stuhl umkränzt mit noch taufrischen Alpenrosen, die ein blitzsauberer Jagdgehilfe soeben am Herzogenstand gepflückt hatte.
Wenige Tage darauf war ihr Urlaub zu Ende, und sie kehrte nach München zurück.
Nach München zurückgekehrt, fand Constanze all die Hunderte Briefe vor, die sie sich absichtlich nicht hatte nachschicken lassen, all diese Beileidsbezeigungen, deren hochtönende Worte nicht die Leere des Gefühls verdecken konnten. Der einzige, außer Dupaty, der wirklich innigen Anteil genommen hatte, war Sigmund Freystätter gewesen. Seinen am Grabe gesprochenen Worten hatte er, wie Constanze jetzt erst las, in der Zeitung einen Nachruf folgen lassen, der mit zartestem Verständnis und wahrhaft hellseherischem Blick in die Seele des mit der Welt zerfallenen, an sich selbst verzweifelnden Künstlers hineinleuchtete.
Constanzens erstes Wiederauftreten als Brünnhilde in der »Walküre« fand vor ausverkauftem Hause statt, und das Publikum wurde nicht müde, seinen Liebling zu feiern. Als ihr »Hojotoho! heiahoh!« durch den Saal klang und immer jauchzender, immer schmetternder, immer tollkühner erscholl, da fühlten alle, daß eine schönere, verschwenderischer von der Natur begnadete Stimme unser Geschlecht nicht gehört, und ein schrankenloser, überquellender Jubel zwang die Sängerin, innezuhalten. Und bei der erhabenen und feierlichen Todesverkündung legte der Kapellmeister, der sich auf sein meisterhaft geschultes Orchester verlassen konnte, seinen Taktstock hin, um sich ganz der wundervollen Größe dieser Leistung hinzugeben. Als zum Schluß des Aktes Constanze Assing immer wieder und wieder vor den Vorhang treten mußte, bemerkte sie in den ersten Reihen auf seinem Stammsitz auch Sigmund Freystätter, der mit verklärten Augen zu ihr emporstarrte, und sie nickte ihm herzlich und freundschaftlich zu. Und während der Beifall zu ihr emporrauschte, dachte sie an den, von dem sie auf dem Walchensee Abschied genommen hatte, und sagte sich: »Auch der Abend wird kommen, an dem ich an deiner Seite vortreten und alle Ehren von mir abwenden und auf deinen Scheitel häufen werde. Geduld! auch ›deine Kammer ist bald voll von Sonne!‹«
Das herrliche Wetter, das seit Wochen in München herrschte, lockte Constanzen jeden Nachmittag, wenn sie abends nicht beschäftigt war, ins Freie. Dann ging sie von ihrer Wohnung in der Schönfeldstraße in den nahen Englischen Garten und setzte sich zwischen dem Monopteros und dem chinesischen Turm auf eine versteckt liegende einsame Bank, las »Oper und Drama« von Richard Wagner und ließ ihre Gedanken zurückschweifen zu ihrem Erlebnis am Walchensee. Und träumte dann von seliger und sonniger Zukunft. Von einem idealen Bunde, in dem eins das andere anspornen würde zu immer höherer Entfaltung der Kunst, in dem sie, fern kleinlicher Eifersüchtelei, ihre Kräfte aneinander messen und wetteifern würden in Studien und Erfolgen, im Streben und in Triumphen.
Dupaty hatte sein Wort gehalten und München verlassen. Constanze hatte bisher nur einen Brief von ihm aus Luzern erhalten, in dem er ihr dankte für die Stunde, die sie ihm am Walchensee geschenkt, daß die Sehnsucht nach dem lockenden Ziel seine Phantasie beflügle, daß die Hoffnung auf ein glückliches Wiedersehen ihm die Feder führe, und daß er in Sils-Maria ganz seiner Arbeit und deren Vollendung leben wolle.
Constanze hatte zum Schutz gegen die durch das Laub sich stehlenden Sonnenstrahlen und auch gegen die neugierigen Blicke der Vorübergehenden ihren großen Schirm aufgespannt und sich in ihr Buch vertieft, als ihr plötzlich jemand mit einem leichten Stock auf den Schattenspender klopfte, und als sie erstaunt aufsah, stand vor ihr die kleine, verhutzelte Frau Freystätter mit ihrem lieben, guten, verwelkten Gesicht, und zwar, da es heute Samstag war, in feiertäglichem Staat. Ueber das schwarzseidene Kleid hatte sie ein bißchen viel altmodisch gefaßten Goldschmuck gestreut, und namentlich gegen die Placierung des großen, buntgemalten Medaillons mit den Porträten ihres Mannes und ihres Sohnes auf dem Busen hätte ein strenger Richter manchen berechtigten Einwand erheben können. Aber das Ganze machte doch einen so lieben und freundlichen, einen so milden und abgeklärten Eindruck, aus diesen Augen sprach so viel Herzensgüte, daß Constanze in aufrichtiger Freude der kleinen, verschrumpelten Person beide Hände entgegenstreckte und sie bat, Platz zu nehmen.
»Von Herzen gern tät ich's, mei' Kind, aber i muß mi' sputen … i werd' im Hofgarten erwartet.«
»Oho!« drohte Constanze scherzend, »ein Rendezvous?«
»Ja! und sogar mit ä sehr ä lieben jungen Menschen,« antwortete stolz die Greisin, »mit mei' Sig'! Mei Mann sitzt jeden Samstag nachmittag im Café Karlstor und ärgert sich beim Tarock. Das is' nu' mal sein einzig' Vergnügen, i' glaub auf Ehr' und Seligkeit: würd' i mal an einem Samstag nachmittag beerdigt werden – i' mein' nur so, es ist ja gar net erlaubt – mei' Salomon blieb' bei sei' Karten sitzen und schickete 'nen Stellvertreter, ganz wie's die großen Herren machen. Na, der liebe Gott laß ihm die Freud' noch bis hundert Jahr! Auf Wiederschau, Fräulein Stanzerl!«
»Darf ich Sie denn nicht begleiten?« fragte Constanze.
»Ob Sie dürfen!« und das winzige Frauchen humpelte, sich auf seinen Stock stützend, neben der schlanken schönen Constanze, »bis nach'n Hofgarten wollen Sie mitkommen? Werden Sie sich net genieren, Sie, die berühmte Sängerin, sich dort mit 'ner alten Judefrau sehen zu lassen?«
»Was soll denn der Schnickschnack bedeuten, Mama Freystätter? Glauben Sie vielleicht, daß ich Unterschiede mache zwischen Katholiken, Protestanten und Juden? Mir ist einer so lieb wie der andere!«
»Mir net!« lächelte Frau Freystätter schelmisch, »mir sind die Juden die liebsten!«
Und Constanze mußte herzlich auflachen über dieses offene Bekenntnis und sagte dann: »Bei der Gelegenheit kann ich ja auch mal wieder dem Sigmund Guten Tag sagen. Wie geht's ihm denn?«
»Wie soll's ihm gehen?« und die dünne Stimme der neben Constanze hinkenden kleinen Frau klang wieder, wie damals, gleich dem Zirpen eines Heimchens. »Er trägt's.«
»Er hat sich das beste Heilmittel ausgesucht, das über alles Leid hinweghilft: er arbeitet!«
»Nu ja, er ist ä kluger Mensch – von mir hat er's, weiß es Gott, nicht, den Verstand hat er von sei' Vater; aber«, sie flüsterte es leise und heimlich, »er is auch ä guter Mensch, und das Herz – wissen's, Fräulein Stanzerl, das Herz hab' i' ihm mitgeben! Bitte führen's mi' a bisserl über'n Fahrweg, i bin gar so ängstlich,« und Arm in Arm schritten die beiden Frauen, die junge, schon siegreiche, die in dem ihr entgegenlachenden und leuchtenden Leben das große Wunder erwartet, und die alte bescheidene, die abgeschlossen hatte, die nichts mehr für sich wollte, sondern nur noch für den, dem sie das Leben gab, alles ersehnte, erflehte und erhoffte, und sollte sie die Sterne vom Himmel herunterholen: das Glück!
»Mit der Arbeit allein wird er's net ertragen,« seufzte Frau Freystätter schwer, und leise, ganz leise wisperte sie:
»Er lebt seit damals … von der Hoffnung!«
»Seit damals?« fragte Constanze schnell.
»Nu ja, seit Ihres guten Vaters Beerdigung, wo Sie ihm vor allen Leuten den Kuß 'geben haben. I glaub', der wird ihm sein Leben lang auf den Lippen brennen. Und wenn er auch in mei' Gegenwart so heiter und fröhlich tut: i' weiß ja doch, daß er mir nur sei' Leid verheimlichen will … er meint, i könnt' ihm net in sein wundes Herz schauen. Und i' hab' mir schon bei mir gesagt, daß Sie ihm vielleicht doch von Herzen gut sind und ihn nur net heiraten wollen, weil er ä Jud ist. Liebstes Kind, wenn's das wäre, es käm' mir wahrhaftig bitter an, wenn er den Glauben aufgeben würde, in dem er aufg'wachsen ist. Aber: i' selbst würd' ihm mei Segen zur christlichen Taufe geben, wenn i' ihm damit sein Glück erkaufen könnt'. Schaun's,« und die so leise Stimme bebte plötzlich vor Freude, »Fräulein Stanzerl … da is' ja mei Sig'!«
Alle Stühle unter den alten schattigen Bäumen waren besetzt, die Kleider, Hüte und Schirme der zahlreichen Damen leuchteten in allen Farben, und nur die schlanken Kellnerinnen in den eng anliegenden schwarzen Kleidern brachten einige dunkle Töne in das helle, heiter-sommerliche Bild. »Die Assing!« flüsterte man von Tisch zu Tisch, und des Gewispers und Getuschels und Hälsereckens war kein Ende, als Constanze auf den sichtbar freudig überraschten Sigmund Freystätter zutrat und ihm herzlichst Willkommen bot.
Sie fand nicht gleich den unbefangenen Ton, in ihr zitterte doch noch zu lebhaft nach, was ihr die alte Frau in ihrer Herzenseinfalt da soeben gebeichtet hatte. Aber bald wußte sie doch – während Frau Freystätter sehr umständlich ihre Aufträge der jungen, Constanzen anstarrenden Kellnerin übermittelte – das Gespräch auf allgemeine Gebiete und natürlich bald auf das musikalische zu führen. Sie plauderten von dem bevorstehenden Schluß dieser ziemlich ertragsarmen Saison, sie sprachen von der Neueinstudierung des »Fidelio« und der »Meistersinger« im nächsten Winter, und als Freystätter über die Aussichtslosigkeit des kommenden Jahres und die geringe Schaffenskraft der Tonsetzer klagte, brannte es Constanzen auf den Lippen, Freystätter vorzubereiten und einzuweihen in Dupatys ihr anvertrautes Geheimnis. Aber in dem Bewußtsein, das Vertrauen, das Dupaty ihr geschenkt hatte, zu mißbrauchen und ihm vielleicht mehr zu schaden als zu nützen, hielt sie sich zurück und plauderte weiter mit dem grundgescheiten, musikalisch so begabten, unansehnlichen kleinen Menschen. Und als Frau Freystätter, die sich scheinbar ganz dem Genuß einer Tasse Kaffee mit Schlagobers hingegeben hatte, merkte, daß die beiden angebissen hatten, wie ein paar Fische an der Angel, bemerkte sie plötzlich ganz weit, weit hinten, an einem Tische »die Frau Tannenreuter«, bei der sie sich durchaus mal nach der neuen Köchin erkundigen müsse. Und mit dem festen Entschluß, diese Erkundigung, wenn irgendmöglich, bis zum Untergang der Welt auszudehnen, humpelte die kleine Frau, stolz auf ihre Kriegslist, durch das Gewirr aller ineinander geschachtelten Stühle und Tische und jubelte, daß diese selige Stunde, die der blinde Zufall ihrem »Sig« geschenkt, ihm keine Macht der Erde wieder rauben könne. Und ließ die beiden allein …
Es ist merkwürdig,« begann Constanze, an dem Zitroneneis löffelnd, »ich habe Ihnen immer zu danken, nur zu danken! Mußte Ihnen damals danken für die wundervollen ›Traumbilder‹, die ich schon ganz in mir aufgenommen habe und bei deren Studium sich immer neue Schönheiten mir erschließen, mußte Ihnen danken für die Worte, die Sie damals sprachen, und muß Ihnen heute wieder danken für die Worte, die Sie über meinen Vater geschrieben haben. Es nützt Ihnen nichts, Spezi, ich werde die ›Traumbilder‹ im nächsten Odeonkonzert dennoch singen.«
»Ich habe Sie gebeten, es nicht zu tun.«
»Aus ganz falscher Bescheidenheit und vollständiger Unterschätzung Ihrer und meiner künstlerischen Stellung. Oder halten Sie es nicht für Freundespflicht,« und sie lieh ihren Worten, während ihre Gedanken blitzschnell zum Walchensee zurückeilten, einen sehr bestimmten Ausdruck, »wenn ich als Künstlerin alles tue, um meine Freunde zu fördern und ihnen vielleicht zu Erfolg und Triumph zu verhelfen?« Erwartungsvoll sah sie ihm in die Augen.
»Gewiß,« erwiderte Freystätter, »und ich denke es mir sogar als etwas Köstliches, einen Menschen, dem man wohl will, von dessen Begabung und ernstem Streben man innig überzeugt ist, zum Licht und zum Ruhm zu führen!«
Sie reichte ihm die Hand und sah wieder vor sich die beiden schlanken Boote, die, vom weichen Winde bewegt, sich nebeneinander leise wiegten und schaukelten.
»Ich habe eine Bitte an Sie! Ich habe oft und lange darüber nachgedacht, ob es nicht möglich wäre, eine Biographie Ihres Vaters zu schreiben. Das Material müßten Sie mir natürlich geben. Ich würde Ihnen sehr dankbar sein, wenn Sie mich mit der Ordnung des musikalischen Nachlasses betrauen würden; vielleicht fänden sich doch einige Skizzen oder Gedanken, die ich in das Buch mit einflechten könnte?«
»Mein lieber Spezi, ich danke Ihnen tausendmal für Ihre echte Freundschaft. Alles, was ich von dem Vater selbst weiß, was ich über ihn weiß, stelle ich Ihnen natürlich zur Verfügung; ich glaube schon, daß Sie ein Buch formen könnten, welches dem Leben dieser seltenen Begabung und dieses seltenen Menschen gerecht wird. Weil Sie mit anderen Augen sehen und mit anderen Sinnen empfinden als andere Menschen. In seinem Nachlaß hat sich nichts gefunden, was der Rede wert wäre, seine Kraft war versiegt. Und damit wir gleich ins klare kommen: jetzt stehen die Ferien vor der Tür. Ich trete Mittwoch zum letzten Male als Carmen auf und gehe tags darauf fort. Ich werde die Ruhe der nächsten Wochen dazu benutzen, um alles aufzunotieren, was ich über den Vater in der Erinnerung habe. Sofort nach meiner Rückkehr schreibe ich Ihnen. Dann wollen wir alle Briefe, die ich von ihm habe, die frühere Freunde von ihm vielleicht noch besitzen, ordnen und wollen dem Vater ein Denkmal setzen, und daß es seiner würdig sein wird, dafür bürgen Sie mir, mein alter treuer Spezi.«
Ihre Worte, die, aus innigem Dankgefühl geboren, mit großer Wärme gesprochen waren, umkosten und umschmeichelten ihn, er sah in nicht weiter Ferne Stunden gemeinsamer Arbeit mit ihr vor sich, Stunden glücklichen Zusammenseins, und während er starr auf die Marmorplatte des kleinen Tisches sah, sagte er:
»Was ich natürlich in meiner letzten Kritik über Ihre Brünnhilde nicht erwähnen konnte, Ihnen aber doch sagen wollte: mir ist aufgefallen, daß in den drei Wochen, in denen Sie sich nach dem Walchensee zurückgezogen hatten, Ihre Stimme, wenn es überhaupt möglich war, noch gewachsen ist an innerer Glut, an hinreißender Kraft, an wilder und schrankenloser Leidenschaft. Wer nicht das große Leid kennt, das Sie erfahren haben, müßte glauben, daß Sie in dieser Zeit ein unendliches Glück erlebten, als ob – wie soll ich's nur nennen? – als ob Sie …«, und langsamer und immer schüchterner tropften die Worte von seinen Lippen … »sich zu einer großen und schönen Erkenntnis durchgerungen hätten?«
Constanze empfand in diesem Augenblick Angst vor diesem kleinen, häßlichen Menschen, der mit unheimlichem Scharfblick ihr verschwiegenes und keusches Geheimnis durchdrungen hatte; sie fühlte, daß ihr das Blut bis in Wangen und Stirn, bis unter die Haarwurzeln schoß. Schnell stand sie auf und sagte, seinem forschenden Blick ausweichend, in unbezwinglicher Verwirrung: »Auf Wiedersehen.«
Er blickte ihr lange nach.
Frau Freystätter, die von ihrem durch alte Bäume gedeckten Beobachtungsposten bei der »Frau Tannenreuter« das Paar um so ungestörter beobachten konnte, als diese Dame gar nicht im Café war, und zwar aus dem sehr einfachen Grunde, weil sie nur der Phantasie der Frau Freystätter ihr kurzes Dasein verdankte – Frau Freystätter also humpelte zurück und dann am Arm ihres Sohnes durch die belebten Gassen. Sie störte ihn nicht durch Fragen, denn sie merkte wohl, daß er in Gedanken versonnen und versponnen neben ihr ging. Aber sie konnte nicht wissen, daß der Keim, den jener Kuß damals in sein Herz gelegt, leise, ganz leise zu erstarken, zu sprossen und zu blühen begann in dem süßen und so törichten Wahn, daß des Mädchens Erröten ihm gegolten habe und daß sie sich endlich zu ihm neigte … Und selig lächelnd und träumend schritt Sigmund Freystätter an seiner Mutter Seite nach Hause.
»Sils-Maria, den 4. Juli 1889.
Hotel Edelweiß.
Liebste Freundin! Ich bin seit acht Tagen ohne Nachricht von Ihnen, und wenn ich auch berücksichtige, daß dazwischen die Vorbereitungen zur Reise und diese selbst liegen, lassen Sie mich – ich bitte Sie inständigst – baldigst wissen, durch Eilbrief oder am liebsten durch den Telegraph, wo Sie Ihre Zelte aufgeschlagen haben, damit meine Gedanken zu Ihnen eilen können, damit ich weiß, wie Sie die Zeit verbringen, ob Sie sich erholen, ob und was Sie studieren, mit wem Sie verkehren, kurz, damit ich mit Ihnen leben kann. Denn erst, wenn ich weiß, in welchem schönen Winkel ich Sie zu suchen habe, werde ich innerlich ruhig werden. Und ich brauche zur Arbeit Ruhe. Das Dörfchen, in dem der große Philosoph bis zu seiner Erkrankung allsommerlich geweilt hat – er wohnte neben mir in einem kleinen unscheinbaren Bauernhause – ist, dem Himmel sei Dank, noch jungfräulich und unberührt von dem großen internationalen Reisepöbel, der in dem nahen Sankt Moritz seinen echten und seinen trügerischen Reichtum zur Schau trägt. Das Leben in dem sehr bescheidenen Hotel ist ruhig, die wenigen Deutschen stören mich nicht. Der Wirt, der mich in seinem Aeußern ein bißchen an den Besitzer der »Löwengrube« erinnert, ist ein Ideal. Er hat mir die Erlaubnis erteilt, Klavier zu spielen. Ich habe mir eins aus Samaden kommen lassen, und die Möglichkeit, mir jeden Einfall gleich vorzuspielen und seine Klangwirkung zu prüfen – ich habe mich an diese Methode nun einmal gewöhnt – fördert natürlich die Arbeit wesentlich. Ich kenne keinen Augenblick der Erlahmung, des Zweifels, des Stillstands. Das Ziel treibt mich immer weiter, Constanze, das Ziel winkt, das Ziel! der Lohn! der Preis! Und da die Gegend mit ihren blauen Seen, die Nietzsche »die Augen des Engadin« nannte, mit den in üppigster Blüte stehenden Blumenwiesen und ihren überall hervorlugenden Schnee- und Eisspitzen ein ebenso liebliches wie erhabenes Bild bietet, könnte ich ja wirklich zu den Beneidenswerten gezählt werden, wenn … wenn Sie, Constanze, mir nicht fehlten! Denn das sehe ich jeden Tag und jede Stunde, jede Minute und jede Sekunde seit unserer Trennung am Walchensee immer mehr und mehr ein, daß ich Ihnen gehöre und Ihnen dienen will für alle Zeit. Und sehe auch immer deutlicher, daß ich Sie mir erringen, erobern und erkämpfen muß um jeden Preis! Von Herzen Ihr getreuester
»Mürren, Berner Oberland,
9.7.89. Postlagernd.
Ihren Gruß, liebster Dupaty, aus Sils-Maria fand ich bei meiner soeben erfolgten Ankunft hier vor; er ist mir aus München nachgesendet worden. Sie müssen heute Nachsicht mit mir haben. Die lange Reise, die ich dummerweise ohne Unterbrechung machte, hat mich sehr angestrengt, und ich will Sie trotz der entsetzlichen Hoteltinte und der völlig verrosteten Feder doch nicht auf Antwort warten lassen. Ich bin selig, Sie in glücklichster Stimmung zu wissen. Die Arbeit wird Ihnen gelingen. Ich sage Ihnen das nicht um einer Phrase willen, ich sage es Ihnen, weil ich's im Gefühl habe, daß Sie mit diesem Erstlingswerk den Aufstieg zum Ruhm beginnen werden, daß es Sie zum Ziele aller Ihrer Wünsche führen wird. Vergessen Sie, lieber Freund, nie, daß ich immer bei Ihnen bin, daß ich am Schreibtisch hinter Ihnen stehe und Ihnen am Klavier über die Schulter blicke, daß ich Ihnen bei diesem Einfall zufrieden zulächle und Ihnen bei jenem Gedanken aus vollem Herzen Beifall spende, daß ich mit Ihnen froh bin, mit Ihnen lache und juble bei jeder Seite, um die Sie vorwärts kommen, und daß ich die Stunde nicht erwarten kann, in welcher Sie die Partitur in meine Hände legen. Entspricht die Aufgabe, die Sie mir stellen, meiner künstlerischen Eigenart (woran ich nicht zweifle), so können Sie sich auf mich verlassen. – Der erste Eindruck, der mir Mürren macht, ist überwältigend; was bedeuten da alle leeren Worte einer solchen Größe gegenüber! Und nun noch eine Bitte: ich hatte Ihnen damals auf dem Walchensee die wenigen Notenblätter geschenkt, die Sie im Nachlaß meines Vaters gefunden hatten; ich leihe sie mir heute von Ihnen wieder aus. Sigmund Freystätter, den Sie ja auch flüchtig kennen, will eine Biographie des Vaters schreiben und legt als gründlicher Gelehrter Wert auf das winzigste Zettelchen. Also bitte, schicken Sie mir rekommandiert die paar Blätter hierher oder noch besser, der Einfachheit halber, mit einigen Begleitworten direkt an Dr. Sigmund Freystätter, München, Kaufinger Gasse 34. Er ist ein begabter und gebildeter Mensch, vertrauenswürdig, ehrenwert und ein Charakter. Wäre er nur nicht auf den unglücklichen Gedanken gekommen, sich in mich zu verlieben! Und so hoffnungslos! Der arme Narr! Sie wissen ja, liebster Freund, man kann nicht zween Herren dienen.
Viele, viele Grüße.
Constanze Assing.«
»Sils-Maria, 11. Juli 1889.
Hotel Edelweiß.
Sehr verehrter Herr Doktor!
Auf Wunsch der Königlichen Kammersängerin Fräulein Assing übersende ich Ihnen anbei diejenigen Notenblätter, welche ich im Nachlaß des Herrn Professors Richard Assing gefunden habe.
a) Eine Fugenskizze, datiert 17. Oktober 1871.
b) Entwurf zu einer Orchesterinstrumentation, datiert 18/28. Februar 1873.
c) Zwei Anfänge (Titel »Lieder«), datiert 17. Mai 1879.
d) Entwurf zu einer Ouvertüre (Titel »Heldentod«), datiert 23. März 1882.
Es hätte mich gefreut, wenn ich Sie in Ihrem so pietätvollen wie schwierigen Vorhaben mit reicherer Ausbeute hätte unterstützen können. Ich bitte Sie um Empfangsbestätigung.
Genehmigen Sie, sehr verehrter Herr Doktor, die Versicherung meiner ausgezeichneten Hochachtung.
Ergebenst
Camille Dupaty.«
»Rießerbauer bei Garmisch, 15.7.89.
Sehr verehrter Herr!
Sie haben mir durch die schnelle Erfüllung meiner an Fräulein Assing gerichteten Bitte einen Dienst erwiesen, für welchen ich Ihnen aufrichtigen Dank schulde. Ich werde Ihnen die Papiere, die nur leider so herzlich wenig sagen, baldigst zurückstellen. Sie nennen mein Vorhaben schwierig; ich selbst verkenne das wahrhaftig nicht. Aber ich habe die künstlerische Erscheinung des Mannes geliebt und verehrt und bin fest überzeugt, daß nur widrige Umstände, unberechenbare Zufälligkeiten und vielleicht auch neidische Intrigen diese zweifellos geniale Begabung an ihrer vollen Entfaltung verhindert haben.
Hochachtungsvoll ergeben
Dr. S. Freystätter.«
»Sils-Maria, 18. Juli 89.
Edelweiß.
Geliebte Freundin!
Ich hätte Ihnen von Herzen gern ein paar Tage früher für Ihren lieben mich beglückenden Brief gedankt, aber ich hatte mich so in meine Arbeit verbiestert und wollte nicht von mir früher hören lassen, bevor ich Ihnen nicht von einem großen Abschnitt melden könnte. Heute kann ich es. Der zweite Akt ist völlig beendet und liegt bereits in sauberster Abschrift von meiner Hand vor. Denn es lebt auf der weiten Welt kein Notenkopist, der mir genügen würde. Ich beginne morgen mit dem dritten und letzten Aufzug und glaube, da für ihn schon alle Skizzen vorliegen und eigentlich nur der Ausführung bedürfen, meinem Ihnen damals im Boot gegebenen Versprechen gemäß, bestimmt Ihnen in spätestens einem halben Jahr die Partitur überreichen zu können. Daß dieser feierliche und wundervolle Akt – lachen Sie nicht! – auf den Knien geschehen wird, ist selbstverständlich. Daß zur Ermöglichung dieses Planes vor allem Ihre lieben gütigen Briefe gehören … Du lieber Himmel, ich brauche es Ihnen, Constanze, nicht zu beteuern. Ich liebe Sie! Ich hab's gewußt, daß es so kommen würde und so kommen mußte, als ich Sie damals an jenem Abend in der »Löwengrube« kennen lernte. Ich hab's gefühlt, daß da alles Sichsträuben und Sichwehren und Kämpfen nutzlos ist, und daß ich nicht ruhen werde, weil ich nicht leben kann, bevor ich Ihr Sklave bin. Ich liebe Sie!
P. S. Freystätter habe ich die Notenblätter geschickt und sein Dankschreiben, in dem er mit großer Wärme von Ihrem Vater, meinem geliebten Lehrer, spricht, empfangen.«
»Mürren, 25.7.89.
Postlagernd.
Ich war einige Tage auf einer großen Bergtour, zu der ich mich schnell entschlossen hatte, und bei meiner Rückkehr grüßt mich Ihr Brief, den ich mit vor Freude zitternden Händen und stürmisch pochendem Herzen beantworte. Ach, Sie Glückskind, Sie Sonntagskind, ich fühlte es ja, daß ich Ihrem Stern vertrauen könnte. Nur immer vorwärts, liebster Kamerad, unverdrossen, den Blick nach oben gerichtet und dem Ziel entgegen! Also ungefähr in einem halben Jahr? Wir haben jetzt Juli … das wäre also Dezember? Sechs Monate … 26 Wochen … 182 Tage … und dann! Und dann! Können Sie sich denn vorstellen, Liebster, wenn Sie zum Erbarmen bleich vortreten werden und wenn Ihnen eine tausendköpfige Menge zujubelt? Können Sie sich denn hineinversetzen in das wundervolle Gefühl des tiefsten Glücks, der innerlichsten Herzensfreude, des feierlichen Stolzes? Ich juble, Dupaty, ich juble heute schon! Ich war unter dem Schutz zweier zuverlässiger Führer auf der »Jungfrau« … lassen Sie mich Ihnen nur sagen: wer von da oben einmal heruntergeschaut auf die Welt, kann nie mehr ganz unglücklich werden! Und wie ich so hinaufstieg von der Guggihütte über die Silberlücke und den Rottalsattel, über die Firnfelder und Gletscherspalten und Felsenriffe, über grausige Abgründe und schwindelnde Tiefen … und in schweigendem Ernst immer höher stieg, Schritt für Schritt, und immer den Blick nach oben zu dem in der leuchtenden Sonne brennenden Gipfel, da habe ich unablässig an Sie denken müssen und habe diesen mühevollen und gefahrdrohenden Aufstieg vergleichen müssen mit Ihrem Werk, das Sie auch gewiß zuerst durch freundliche Matten und blühende Halden führte, immer höher, über zauberhafte Gehänge und wildgezackte Grate, immer höher, über eisbepuderte Wände und erstarrte Mulden, immer höher, über zerschrundete Oede, hinauf, hinauf, zum leuchtenden Gipfel! …
Schreiben Sie mir nicht mehr nach hier, sondern nach München, Schönfeldstraße. Mein Urlaub ist am ersten August zu Ende, und ich will morgen langsam und in Etappen nach Hause. Leben Sie wohl, und alle guten Geister, alle Feen und Grazien mögen Sie umschweben, bis auch Sie den »leuchtenden Gipfel« erreicht und das wundervolle, befreiende und erlösende Wort »Ende« unter Ihr Werk gesetzt haben werden.
Constanze.«
Ihr künstlerisches und gemütliches Heim fand sie reich mit Blumen geschmückt, die Köchin, die sich zu einem der größten Mehlspeisgenies seit Erschaffung der Welt ausgebildet hatte, und Frau Schwabenmayr, des Vaters treue Dienerin, der Constanze die Hausmeisterstelle in ihrem Hause vermittelt hatte, bereiteten ihr herzlichen und wohltuenden Empfang, und auf dem Klavier stand ein Gruß aus Sils-Maria, ein mit frischen Alpenblumen gefüllter Korb, den eine halbe Stunde vor ihrer Ankunft ein Eilbote abgegeben hatte. Unter den zahlreichen Briefen, die sich in den letzten acht Tagen angesammelt hatten, unter all den Geschäftsreklamen, Einladungen zur Besichtigung von Galerien und Antiquitäten, zur Teilnahme an Stiftungsfesten, Bitten um Unterstützung für verarmte »blinde, gelähmte und taubstumme« Kollegen, Gesuchen um Mitwirkung in Konzerten zum Besten von Säuglingen, Greisen, Entbindungsheimen, entlassenen Sträflingen, Witwenhorten und des Vereins ehemaliger Pockenkranker des neunzehnten Bezirks … unter all diesem üblichen, sich immer wiederholenden Wust, in dem sich Wahrheit und Lüge, Naivität und Frechheit die Hände reichen, fand Constanze auch einen sehr beschwerten Brief, der ihr Interesse aufs lebhafteste erweckte und sie aufs tiefste ergriff. Unter den vielen, an welche sie sich von Mürren aus um leihweise Ueberlassung von Briefen des Vaters zum Zweck der von Freystätter angeregten Veröffentlichung gewendet hatte, befand sich auch ein alter Jugendfreund Assings, der als Professor an einer mitteldeutschen Universität lebte. Der Vater hatte oft seine unwandelbare Treue gerühmt. Der schickte ihr mit einigen sehr warmen und herzlichen Worten zwei umfangreiche Briefe, die er noch von Richard Assing besaß. Der eine war vor langen Jahren verfaßt, geschrieben, nein gejubelt in dem überströmenden, fassungslosen Glücksgefühl über den mit dem Erstlingswerk errungenen, weit hinaushallenden Triumph, leidenschaftliche, gärende, überschwengliche, himmelstürmende Worte, und dann noch ein zweiter Brief, den er vor fünf Jahren geschrieben hatte, müde, welke, verzichtende, hoffnungsarme Worte, wie ihm der Mut geraubt sei, noch einmal seine Kräfte zu erproben, noch einmal den Flug zur Sonne zu wagen, noch einmal mit geschmolzenen Flügeln ins Meer zu stürzen, im Meer zu versinken, im Meer ewiger Vergessenheit. Die Schlußworte dieses Briefes lauteten: »Wenn ich erst tot bin, werde ich erst leben!«
Heiße Tränen tropften Constanzen aus den Augen, als sie dieses demütig-entsagende Bekenntnis las, und lange starrte sie ins Lampenlicht, an dem sich die durch die offene Balkontür hereinflatternden Motten und Nachtfalter die Flügel versengten. Und je länger sie sann und sann, desto klarer wurde sie sich ihrer Pflicht bewußt, das erloschene Andenken an den Vater wiederzubeleben. »Wenn ich erst tot bin, werde ich erst leben!« murmelte sie vor sich hin. Still und in sich gekehrt also hatte er sein Leben lang sich an die Hoffnung der Auferstehung seines Jugendwerkes geklammert und hatte geträumt, daß dessen Wiederbelebung ihn aus dem frostigen Dunkel wieder dem wärmenden Licht entgegentragen würde; als endlich die rauhe Wirklichkeit ihn nach furchtbaren Kämpfen an der Erfüllung dieser Sehnsucht verzweifeln ließ, hatte er immer noch gehofft, daß nach seinem Tode die undankbaren Menschen sich doch wieder seinem ersten und einzigen Werke zuwenden, sich an seinen Weisen erheitern und erheben würden, und in dieser Hoffnung sank er einsam ins Grab. »Wer«, dachte Constanze, »ist berufener, seinen Wunsch zu erfüllen, wer ist berechtigter und verpflichteter als ich?« Ihr gerades, ehrliches Wesen kannte keine Primadonnenlaunen und verschmähte den Mißbrauch ihrer großen Stellung; aber in diesem Falle war sie entschlossen, ihren mächtigen Einfluß anzuwenden und ihre volle Autorität geltend zu machen. Sie schloß des Vaters Brief in den Schreibtisch und sprach mit unbeugsamer Entschiedenheit laut vor sich hin: »Du wirst nach deinem Tode leben!«
Gleich am nächsten Vormittage wollte sie zu dem Intendanten gehen. Sie kannte den Mann, der mit weit ausladenden Theaterkenntnissen eine ungewöhnliche diplomatische Geschicklichkeit verband. Sie war auf alle seine in die süßesten und artigsten Worte getauchten Einwendungen gefaßt: die Hinweise auf die Mühe der Neueinstudierung der seit langen Jahren im Archiv schlummernden Oper, auf die neue musikalische Richtung und den völlig veränderten Geschmack, der dem Andenken des Dahingeschiedenen eher gefährlich als nutzbringend sein würde. Aber sie rechnete mit all diesen Jonglierkunststücken des Redegewandten, und sie war fest entschlossen, ihren Willen um jeden Preis durchzusetzen und, wenn nötig, Freystätters mächtigen Einfluß in der Presse in Anspruch zu nehmen. »Um jeden Preis!« das sei sie dem Toten schuldig.
Constanze hatte sich einen Strauß von Alpenrosen, die ihr Dupaty aus Sils-Maria geschickt hatte, in den Gürtel ihres Trauerkleides gesteckt, und während sie mit ihrer schönen, schlanken, sich in den Hüften ein wenig wiegenden Gestalt die ihr so vertrauten, stillen, zum Hoftheater führenden Straßen hinunterschritt, fiel ihr Blick auf die Alpenblumen, und ihre Gedanken eilten zu dem Spender, der da in seiner Weltabgeschiedenheit an der Ausgestaltung und Vollendung seines Werkes in fiebernder Glut arbeitete, eilten zu diesem schönen jungen Menschen, der, da ihm, dem noch völlig Unbekannten, die Pforten aller Theater verschlossen blieben, ganz und gar auf ihre Hilfe rechnete. Auf den Schutz und die Förderung, die sie ihm versprochen hatte und die seine Schaffenskraft beflügelte. Und je weiter Constanze ging, desto mehr verlangsamte sie ihre Schritte. Sie setzte sich auf eine Bank am Rande des Englischen Gartens und spann den Faden ihrer Gedanken weiter. Wenn es ihr jetzt gelänge, die Aufführung der Oper ihres Vaters zu erzwingen, so würde es ganz unmöglich, weil ganz nutzlos sein, vielleicht Ende dieses Jahres mit derselben Bitte um Annahme des Dupatyschen Werkes an die Bühnenleitung heranzutreten. Was sollte sie tun? Sie hatte ihm ihren Beistand zugesagt. Sollte sie ihn vertrösten, ein Jahr zu warten, sollte sie ihn, der sich dem Abend seiner Feuertaufe entgegensehnte, mit Ausreden abspeisen, diesen jungen Künstler, der mit allen Kräften emporstrebte, diesen schönen jungen Menschen, den sie mit allen Sinnen liebte? Constanze sah lange hinaus auf die in der Sonne flimmernde Wiese, auf der Kinder sich haschten, und je länger sie sann, desto tiefer empfand sie, daß Camille Dupaty ganz und gar Besitz ergriffen hatte von ihr, desto erschreckender und desto beglückender trat ihr vor Augen, daß sie ihn mehr, tausendmal mehr liebe, als sie ihren Vater je geliebt hatte, daß sie sich nach ihm sehnte, nach seinen Augen und seinen Lippen sehnte, daß sie das Opfer bringen müsse und werde, den Wunsch ihres Vaters später zu erfüllen, und daß nach ewigem und unabänderlichem Gesetze der Lebende das Vorrecht habe vor dem Toten. »Den heißesten Wunsch, den er gehegt, und um den seine erlöschenden Augen mich baten, erfülle ich ihm ja, wenn ich mein Schicksal unlöslich an Dupaty ketten werde.« Ein verträumtes holdes Lächeln flog über Constanzens schöne Züge, und noch lange saß sie auf der Bank und blickte hinaus in die leuchtende und lachende Zukunft.
An einem Samstag nach dem Mittagessen, als Herr Salomon Freystätter, wie seit undenklichen Zeiten, das mit einer grüngestickten Girlande gezierte Hauskäppchen auf dem Kopf, in der Sofaecke sein Nickerchen machte und durch regelmäßige Atemzüge zu erkennen gab, daß er für diese Welt jetzt nicht zu sprechen sei, sagte plötzlich seine Gemahlin Ralchen, geborene Würmersheimer (aus der Linie der Würmersheimer aus Neumarkt bei Iffterdingen), und ihre sonst so leise Stimme klang hell und deutlich durch das stille, altväterlich ausgestattete Zimmer vom Fenster her:
»Salomon!«
Und da sie aus dreiundvierzigjähriger Erfahrung wußte, daß er, ob aus Schwerhörigkeit, Schlaftrunkenheit oder einfacher Niedertracht, darauf nicht antworten würde, fügte sie noch zweimal hinzu, und jedesmal in wohlberechnetem Crescendo:
»Salomon! Salomon!«
Der also Angeredete wurde aus einem unsagbar süßen Traum erweckt, in dem eine kolossale Preissteigerung in Bettzeug und Wollwaren die Hauptrolle spielte, und erwiderte, da er sich plötzlich aus diesem Zauberrausch in die rauhe Wirklichkeit versetzt sah, in nicht übertrieben verbindlichem Ton:
»Was is los?«
»Ich muß mal wegen unserem Sig' mit Dir sprechen!«
»Was is mit'n Sig?« klang es aus der schon ein bißchen schummerigen Ecke, und der Chef des Hauses Gebrüder Freystätter zog sich mit einem undeutlich gemurmelten »Kattun soll er verkaufen … vor allem Kattun« wieder in seine Traumwelt zurück.
Aber Frau Ralchen, welche die strategischen Schliche ihres Gemahls kannte, ließ sich nicht abschrecken, und fest entschlossen, ihn diesen ausschweifenden Branchephantasien zu entreißen, sagte sie so klar und bestimmt, daß Herr Salomon endgültig erwachte:
»So geht's mit'n Sig' nit weiter! Du siehst vor lauter Bändern und Krawatten und Loden gar nix. Du siehst nit, daß er uns langsam vor die Hunde geht!«
Herr Freystätter, der außer zu Bettzeug noch eine heimliche Liebe im Herzen trug: die Liebe zu seinem einzigen Sohn, fuhr erschrocken aus seiner warmen Sofaecke auf und war trotz seiner zweiundsiebzig Jahre mit einem Satz am Fenster:
»Um Gottes willen, was is geschehn?«
»Noch nix,« zirpte Frau Freystätter in ihrer nicht immer ganz prägnanten Ausdrucksweise, »aber damit nix geschieht, muß was geschehen!«
Herr Salomon, durch dreiundvierzigjähriges Zusammenleben mit den Irrgängen der Ralchenschen Dialektik vertraut, munterte seine Gattin auf:
»Nu red' schon!«
»Der Sig' muß heiraten!«
»Und deswegen weckste mich?« polterte Herr Salomon in ehrlicher Entrüstung.
»… damit er wieder zur Ruh' kommt …,« fuhr sie unbeirrt fort. »I hab' lang g'nug geschwiegen und hab' immer gehofft, es könnt' doch noch 'was werden. Der Sig' liebt unglücklich, er findet sich nit mehr zurecht, und lang' erträgt er's nimmer!«
»Liebt unglücklich?« wiederholte verständnislos Herr Salomon, der diesen Artikel nie geführt hatte. »Wen liebt er denn?«
»Die Assing!«
»Die Assing?« fuhr zu Tode erschrocken über den Unterschied des Glaubens Herr Freystätter auf, »ä Christin?«, schmunzelte aber doch wie ein alter Feinschmecker, »nu, nach unserm Tode kann er machen, was er will … die schlechteste hat er sich grad' net herausgesucht!«
»I hab' Dir doch g'sagt,« und aus dem tiefen und zitternden Ernst ihrer Stimme hörte er heraus, wie es um die Sache stand, »sie erwidert sei' Liebe net! Sie hat's ihm g'sagt, sie hat's mir g'sagt, daß sie Achtung vor ihm hätt' und ihm ä gute Freundin wäre und bleiben wollt', daß er aber auf mehr niemals im Leben rechnen könnt'. Und das bricht ihm's Herz,« und die Stimme der lieben, gütigen Greisin erlosch in tiefer Trauer, »und … mir!«
Und Herr Salomon, der mit den zunehmenden Jahren und der abnehmenden Schönheit seiner Gattin mit seinen Liebkosungen immer haushälterischer geworden war, streichelte in diesem Augenblick doch seiner treuen Gefährtin das weiße Haar und sprach dann die Worte, die in ihrer Weisheit seinem Vornamen alle Ehre machten:
»Du kannst se doch nit mit die Polizei zwingen, sei' Frau zu werden!«
»Ae End' muß g'macht werden, rausg'rissen muß er werden. Sie muß ihm aus'm Kopf, sie muß ihm aus'm Herzen. Deswegen will i 'nen Versuch wagen. Leicht wird's net gehen, aber i versuch's. I hab' dem alten Ohlesberger g'schrieben: er sollte mich 'mal heut nachmittag besuchen. Vielleicht weiß der ä hübsches, kluges, gutes Mädel, das er mit unserm Sig' zusammenbringen kann.«
Herr Salomon, der mit scharfem Blick erkannte, daß er die Vereinigung seines Sig' mit dem von seiner Gemahlin erträumten Fabelwesen hier unmöglich abwarten könne, und dem sein Samstagnachmittagstarock schon in den Fußspitzen brannte, sagte, um der ihm uferlos scheinenden Unterredung ein Ende zu machen, mit erkünstelter Barschheit:
»Frauenzimmergeschichten, unglückliche Liebe, Narrischkeiten … wenn Du Dir die Suppe einbrockst, kannst Du sie auch auslöffeln,« und verließ das Zimmer mit dem unabänderlichen Entschluß, sich während der nächsten vier Stunden in seiner Festung, dem Café Karlstor, gegen jeden Ueberfall zu verschanzen und den Herrn Gutmann oder den Herrn Pickenbach oder den Herrn Heuberger zu bemogeln, wenn irgend angängig aber alle drei. Und Herr Gutmann, Herr Pickenbach und Herr Heuberger erwarteten ungeduldig Herrn Freystätter mit denselben frommen Wünschen und ehrlichen Absichten.
Eine halbe Stunde darauf klingelte im ersten Stock an der Tür, an der ein blitzblank geputztes Messingschild den Namen »S. Freystätter« kündete, der wohlbeleibte Herr Ohlesberger. Er verschwand in dem »guten« Zimmer der Frau Ralchen und entnahm der Brusttasche seines schönen schwarzen Rockes eine schöne weiße Liste, in der die Namen von heiratsfähigen Mädchen aus der längst entschwundenen Provinz Judäa und dem noch bestehenden Königreich Bayern verzeichnet standen, wobei allerdings die Töchter der reichen Nürnberger Hopfenhändler, der gütergesegneten Spiegelmanufakturisten und wohlhabenden Bronzefabrikanten Fürths gleich zur engeren Wahl gestellt waren.
Der aber, den die Sache eigentlich am meisten anging, ahnte nichts von all dem bunten Treiben. Er saß in seinem kleinen bescheidenen Zimmer beim Rießerbauer, blickte hinauf zu den im ersten Herbstschmuck leuchtenden Bergwänden und arbeitete an der Lebensgeschichte des Mannes, dessen Tochter er heißer und inniger liebte als je.
Da die Trauer um ihren Vater Constanzen jeder gesellschaftlichen Verpflichtung überhob, lebte sie ganz ihren, besonders in der Fremdensaison angestrengtesten Pflichten und den Fideliostudien, und nützte ihre Mußestunden zu immer lebhafterem, ihr zum Leben immer notwendigerem Gedankenaustausch mit Dupaty. Die anfängliche Sprödigkeit in ihrem Briefwechsel, das gegenseitige Tasten und Prüfen war nach und nach innigster Herzenswärme gewichen; so lebten sie, räumlich getrennt, doch ein gemeinsames Leben. In einem launigen Briefe hatte ihr Dupaty mitgeteilt, daß er in Sils-Maria seine Zelte abbrechen müsse, da das Hotel Edelweiß, in dem er wohne, Oefen habe, aber kein Holz, und das Hotel Alpenrose, in das er Ende August übersiedeln wollte, Holz habe, aber keine Oefen. Er würde ihrem Wunsche und seinem Versprechen gemäß nicht vor der Vollendung seiner Arbeit nach München zurückkehren, sondern ginge direkt nach Berlin, »um in dem Häusermeer unterzutauchen«. Und bald darauf folgte in der zweiten Septemberhälfte aus der Reichshauptstadt die Nachricht, daß er in einer Pension zwei schöne stille Zimmer gefunden habe, in denen er, da die Wirtin sich totaler Taubheit erfreue, nach Belieben musikalischen Unfug treiben könne. Der dritte Akt – und somit das Werk – gehe dem Ende entgegen, und wenn er dann für die gesamte Durchprüfung und Abschrift des letzten Aufzuges noch zwei Monate rechne, so könne er ihr die Partitur für Weihnachten oder Silvester eidlich zusagen.
»Weihnacht! Silvester!« jubelte sie zurück, »könnte ich nur den Zeiger weiter rücken, immer schneller, damit ich endlich das geliebte, mir jetzt schon so teure Werk in Händen halten, mich in seine Geheimnisse vertiefen und seine Rätsel lösen kann.«
Alle Freunde ihres Vaters, an welche Constanze sich von Mürren aus mit der Bitte um Ueberlassung etwaiger Briefe gewendet, hatten ihren Wunsch erfüllt, so daß sie schon ein sehr ansehnliches Material beisammen hatte; Briefe, die aus den verschiedensten Lebensjahren Richard Assings stammten und einen wertvollen Beitrag zur Biographie lieferten. Aber sie hatte sich noch nicht entschließen können, an Freystätter zu schreiben und ihn, wie sie es ihm damals im Hofgarten-Café versprochen hatte, um seinen Besuch zu bitten. Aus seinen in der Zeitung wieder erscheinenden Kritiken ersah sie seine Rückkehr von Rießerbauer, aber es sträubte sich etwas in ihr, ihn zu empfangen. Es widerstrebte ihr, deren Herz und Sinn ganz erfüllt war von der Liebe zu Dupaty, den Mann bei sich zu sehen, der ihre stille und verschwiegene Neigung durchschaut hatte, und es war ihr lästig, seine huldigenden Blicke zu ertragen. Um aber das Werk dennoch zu fördern, entschloß sie sich endlich, ihm zu schreiben und alle Briefe beizufügen, mit dem Bedauern, ihn zu deren gemeinsamer Ordnung jetzt nicht einladen zu können, da die Studien zur Leonore ihre ganze Zeit in Anspruch nähmen. Sie ahnte nicht, welche Grausamkeit sie beging, sie ahnte nicht, daß der, der ihren Brief in seinen zitternden Händen hielt, während der einsamen Sommerszeit von der Hoffnung gelebt und geträumt hatte, sie bald und oft sehen und mit ihr sprechen zu können, daß er sich Luftschlösser gebaut hatte, in die er mit liebevoller Hand Stein um Stein gefügt, herrliche, hohe, strahlende Luftschlösser, die nun jäh in nichts zerfielen, in Schutt und Asche und Trümmer …
Ende November trat sie als Leonore in »Fidelio« auf. So erschütternd und herzbewegend, so machtvoll und ergreifend, so sich der Seelen und der Geister bemächtigend, so mit jedem Atemzug, mit jedem Blutstropfen, mit jedem Pulsschlag Liebe ausströmend, innigste, keuscheste, tapferste Liebe, war dieses hohe Lied wohl noch nie ertönt, und mit fanatischem Jubel dankte man ihrem Genie. Als sie immer wieder und wieder vor den Vorhang treten mußte, wollte sie auch Freystätter, wie stets, einen freundlichen Gruß zuwinken, aber sie bemerkte, daß er geflissentlich fortsah, und das tat ihr weh. Seine am nächsten Tage erscheinende enthusiastische Kritik belehrte sie wohl, daß er das Künstlerische vom Persönlichen zu trennen wußte, aber es schmerzte sie tief, daß diese Freundschaft, in früher, hoffnungsreicher, unschuldiger Jugend geknüpft und, wie es schien, zu starkem, unlöslichem Bunde gefestigt, im Kampf des Lebens zerreißen mußte, weil er mehr von ihr verlangt hatte, als sie ihm zu geben vermochte.
»Berlin W, den 15.12.89.
Pension Grundner,
Landgrafenstraße 17a.
Angela mia! Mon adorée! Sweetest heart! Sie müssen, geliebteste Freundin, diese tolle, ganz und gar regellose Anrede meiner augenblicklichen Stimmung zugute halten, aber mir ist toll und wirbelig im Kopf. Ich habe heute vormittag die vier Buchstaben hingeschrieben, die eine Welt bedeuten von Arbeit und Hoffnung, von Wünschen und Sehnsucht, von brennendem, quälendem, unlöschbarem Durst nach Ruhm, und diese vier Buchstaben lauten: »Ende«. Der Buchbinder hat mir trotz der drängenden Weihnachtszeit die Fertigstellung der drei Akte in drei Bänden für acht bis höchstens vierzehn Tage zugesagt, und dann, dann mögen sie hinausflattern zu Ihnen, Constanze, und mögen guten Willkomm finden. Und dann? … und dann?!
Camille.«
Am Vormittag des Heiligen Abends fuhr Constanze hinaus nach dem Friedhof und legte einen Kranz auf das völlig verschneite Grab des Vaters. Dann kehrte sie zu Fuß in die Stadt zurück. Der Himmel blaute in südlicher Wolkenlosigkeit, die Luft war klar und scharf, der hartgefrorene Schnee knirschte unter ihren Füßen. Sie ging durch das Gewirr breiter Straßen und enger Gassen, vorbei an mit Paketen beladenen Wagen, vorbei an schwatzenden, fröhlichen Menschen, denen die bevorstehende Festesfreude aus den Augen lachte, vorbei an den mit Eisblumen geätzten Schaufenstern, an den würzigen Harzduft ausströmenden Tannenbäumen, an Häusern, Kirchen, Brunnen und Denkmälern, die mit Schnee überschüttet, verbrämt und verschnörkelt, die mit glitzernden Eisnadeln bestreut und besät waren, an all dem Hasten und Drängen und Treiben, an all dem bunten freudespendenden und freudeerwartenden Lärm, und sie kehrte in ihre stille Wohnung zurück. Sie empfand heute die Einsamkeit wie noch nie. Wohl fand sie viele Blumengrüße vor, protzige und geschmackvolle, kostbare und bescheidene, aber das alles galt doch nur der Künstlerin, die im blendenden Licht der Oeffentlichkeit steht. Der eine Mensch auf der Welt, den sie liebte, nach dem sie sich sehnte und dem sie jubelnd in die Arme gestürzt wäre, wenn er plötzlich in der Tür erschienen … der war weit, weit in der Ferne. Um ihn nicht zu einem Gegengeschenk herauszufordern, hatte sie ihm zu Weihnachten nur innige Grüße geschickt; ihre Dienstboten hatte sie reich mit Geld bedacht. Im Zimmer herrschte schon tiefes Dunkel. Sie stand am bereiften Fenster und starrte hinaus auf die menschenleere, im Schnee vergrabene Straße. Auf der anderen Seite hielt im Scheine einer im rötlichen Dunst brennenden Laterne ein mit Kisten, Körben und Paketen beladener Postwagen, dessen Postillion eingenickt war und wahrscheinlich von der Weihnachtsgratifikation träumte. Aus einem Mansardenfenster glitzerte schon helles Kerzenlicht, und von irgendwoher klang von Kinderstimmen das »Stille Nacht, heilige Nacht« zu ihr herüber. Sie trat zurück und wollte sich an den Flügel setzen, um, wie sie es liebte, in der Dunkelheit zu phantasieren, als die Flurglocke scharf anschlug. Sie hatte die Weisung gegeben, ihr jeden Besuch fernzuhalten, und wartete, mit den Fingern auf den Tasten, bis die Störung vorüber wäre. Die Jungfer meldete, ein Eilbote sei draußen mit einer Wertsache, über welche das gnädige Fräulein selbst quittieren müsse. Constanze trat hinaus in den Flur; der Briefträger, ein kraftstrotzender Mann, dem der Reif den blonden, keck aufgezwirbelten Schnurrbart geweißt hatte, übergab ihr ein großes, viereckiges, verschnürtes und versiegeltes Paket, und als Constanze einen Blick auf die Adresse warf, mußte sie sich am Schirmständer festhalten, um nicht zu schwanken. In fliegender Hast unterschrieb sie den Schein und schenkte ein Zehnmarkstück dem ebenso erstaunten als erfreuten Manne, der sich mit aus der Tiefe eines dankbaren Gemütes geschöpften herzlichen Wünschen zum Fest empfahl. Constanzen zitterten die Knie, daß sie nur mühsam den Weg ins Zimmer fand. Das Mädchen hatte schnell die Lampen angezündet und ließ sie allein. Nun endlich hielt sie es in Händen, das heiß ersehnte Werk, das er ihr in zartsinnigster Berechnung am Heiligen Abend beschert hatte, und von dem sein und ihr Geschick abhing. Sie legte das Paket auf den Flügel, ungeduldig löste sie die Siegel, riß die starke Umhüllung in Fetzen, die sie auf den Teppich warf, und zerschnitt in fieberhafter Hast die der Schere widerstrebenden starken Schnüre. Vor ihr lagen drei in grünes Leder gebundene Mappen. Sie schlug die zuoberst liegende auf und las auf dem großen weißen Titelblatt nur das eine Wort »Liebestod«. Sie erschrak – sie wußte selbst nicht, warum – und eiskalt lief es ihr über den Rücken. »Liebestod!« Dann aber warf sie den Kopf zurück und lächelte verächtlich über die törichte Anwandlung. Auf der zweiten Seite stand:
»An Constanze Assing.
Ich lege dieses Werk als heiße Dankesspende
In Deine schönen, güt'gen, treuen Hände.
Camille Dupaty.«
Sie setzte sich in einen tiefen Sessel, rückte die Lampe näher und begann zu lesen. Sie hörte nicht das feierliche Läuten der Weihnachtsglocken von allen Türmen. Sie las. Und je mehr sie sich vertiefte, je weiter sie vordrang in der Dichtung, desto ferner versank für sie die Welt, um so innigeren Anteil nahm sie an dem Geschick der Menschen, um so heller leuchteten ihre Augen, um so stürmischer klopfte ihr Herz, um so willenloser gab sie sich dem Werk gefangen. Der Vater hatte zwar oft genug Dupatys seltene Begabung anerkannt und seinem von Liebe und Haß unbestechlichen Urteil hatte sie vertraut: diese unbändige Kraft, diesen stolzen Adel, diese Größe und Majestät hatte sie doch nicht erwartet. Immer schneller flogen ihre Augen über diese zierlich geschriebenen, wie gestochenen Schriftzüge, immer schneller flogen in ihren Händen die Blätter. Sie hoffte und bangte, litt und kämpfte, jubelte und weinte mit diesen Uebermenschen, die sich in ihrer Leidenschaft und Sinnentrunkenheit emporschwangen zu wundervollster Höhe, die in Zärtlichkeit und Begierde, in glühenden Wünschen und wahnlosem Zauber immer höher und höher strebten und in dem erhabenen, sich immer steigerndenden Schluß gemeinsam litten und duldeten und gemeinsam starben den Liebestod … Constanze ließ schlaff die Arme sinken und schloß die Augen. Tiefe Stille umgab sie. Sie hörte nicht das schwere Ticken der Standuhr, nicht das leise Zwitschern des Rotkehlchens, das in seinem Bauer träumte, nicht das Fallen der im Kamin verglimmenden Scheite. Als sie endlich wieder um sich blickte, erschien ihr die heimliche, ihr so vertraute Umgebung fremd, und wie berauscht starrte sie lange in das Lampenlicht. Und sprach dann unwillkürlich und ohne sich dessen recht bewußt zu sein, laut vor sich hin: »ein Genie!« Und spann den Gedankenfaden weiter und sagte sich, daß, wenn die Musik der Dichtung gleichkäme, Camille Dupaty ein Werk geschaffen habe, das ihn mit raschem Flug zum »leuchtenden Gipfel« emportrüge, zum Weltruhm!
So saß sie lange, lange und sann und sann, sie dachte an den Vater, dessen heißen, unausgesprochenen Wunsch sie erfüllen würde, und auf ihren schönen Zügen leuchtete der Abglanz tiefen und reinen Glückes.
Von der Ludwigskirche kündete die Turmuhr die dritte Morgenstunde, als sich Constanze endlich zur Ruhe begab. Die Traumgötter lächelten ihr zu in dieser Weihenacht.
Am nächsten Morgen flog der elektrische Funke von München nach Berlin:
»Mein geliebter Freund, ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll, ich weiß nur, daß ich sehr, sehr glücklich bin, so glücklich wie noch nie in meinem Leben. Ich verabrede heute mit den beiden Hofkapellmeistern und Burger, dem Solorepetitor, den Sie ja auch kennen, und der wohl der beste Primavistaspieler ist, alles weitere. Gedulden Sie sich noch einige Tage, vielleicht bis Silvester. Und dann! Und dann! Ich umarme Sie, Sie lieber Wundermensch.
Constanze.«
Der erste Festtag vereinigte, wie alljährlich, auch heute die ganze künstlerische Welt im Salon des Generalmusikdirektors Manner zu einem echten Münchener Frühstück, das gewöhnlich morgens begann, am nächsten Morgen endete, sich durch sprühende Lebenslust, überquellende Laune und süddeutschen Frohsinn vor allen ähnlichen Veranstaltungen auszeichnete und sich großer Berühmtheit und Beliebtheit erfreute. Und nicht am wenigsten durch die Frauen und Mädchen, deren Schönheit und Jugend, deren Geist und Herzensheiterkeit dem Feste erst die rechte Weihe liehen. Denn Eduard Manner war nicht nur ein schwärmerischer Verehrer alles Schönen in der Musik, er liebte alles, was schön ist in der Poesie und Malerei und Natur, und er liebte besonders alle schöne Weiblichkeit, die der Rattenfänger durch seine geistreiche, witzige Unterhaltung und seine schönen, ein wenig verschleierten Augen an sich zu fesseln wußte. Mit beiden Füßen im Gewirr des Lebens stehend, war er ein Weltkind, dem kein Hasardspiel zu hoch, kein Wein zu kostbar, kein Weib zu schön, und das den Freudenbecher des Lebens bis auf die Neige leerte.
Als Constanze in die in einen harzdurchdufteten Tannenwald verwandelte Wohnung Manners trat, tönte ihr von dem auf einem mit Girlanden bekränzten Podium aufgestellten Orchester die uralte, urfidele Münchener Bockweise entgegen:
»So lang' der alte Peter,
Der Petersturm noch steht …
So lang' geht die Gemütlichkeit
In Minka nimmer aus.«
Zwei Geiger fiedelten, eine Klarinette trillerte, eine Flöte quiekte es, und alle, alle sangen's im Chor mit. Und in diesem Chor tauchten in den bläulichen Zigarren- und Zigarettenwolken, welche durch alle Räume schwebten, neben schönen und stolzen Frauen die edlen, klugen, gedankenreichen Köpfe von Malern, Dichtern und Bildhauern auf, deren Ruhm durch die Welt hallte, und die sich ebenso wie ein paar lebenslustige Prinzen aus dem Königshause ganz und gar würdelos der harmlosen und anheimelnden Freude dieser Stunden hingaben. Anmutige, zierliche und reizende Mädchen aus den vornehmsten Kreisen kredenzten die schäumenden Maßkrüge, und es bot ein liebliches Bild, all diese prangende, hoffnungsfrohe und glückstrahlende Jugend zu sehen, wie sie in ihrer schmucken, bäuerlichen Tracht, in den schwarzsamtnen, mit silbernen Ketten verschnürten Miedern, den vielreihigen »Kropfketten«, den Defreggerzöpfen und den grellfarbigen seidenen Busentüchern und Schürzen geschäftig von Tisch zu Tisch eilte und immer neue Berge von Kalbs-, Weiß- und Schweinswürsten, von Haxen und Beinfleisch anschleppte. Scherzworte flogen den Mädchen entgegen, Scherzworte flogen zu den Gästen zurück, die Geigen fiedeln's, die Klarinette trillert's, die Flöte quiekt's:
»So lang' geht die Gemütlichkeit
In Minke nimmer aus.«
Constanze, der dieses alljährlich wiederkehrende Fest nicht fremd war, freute sich doch von Herzen über dieses, von helleuchtender Wintersonne überflutete anmutige Treiben, über dieses liebenswürdige, reizvolle und bunte Schauspiel, das ganz und gar erfüllt war von urwüchsiger und doch graziöser Lebensfreude.
Als Constanzens hohe und schlanke Gestalt in dem Gewühl sichtbar wurde, jauchzte ihr wie auf ein verabredetes Zeichen ein Sturm des Beifalls zu. Unter Juhurufen und Händeklatschen umarmte sie Manner und drückte ihr einen herzhaften Kuß auf den Mund. Das Orchester, aus vier gerissenen Burschen bestehend, verursachte einen noch nie dagewesenen disharmonischen Tusch, und als gar ein paar ganz verwegene blutjunge Akademiker Miene machten, Constanze auf die Schultern zu heben und durch die Säle zu tragen, wehrte sie doch diesem jugendlichen Ueberschwang mit dankbarem Lächeln. Der Wirt führte »seine Königin«, wie er sie zu nennen pflegte, in eins der stillen Nebenzimmer, wo er mit ihr in einer aus Tannenbäumen hergestellten Laube Platz nahm, nachdem er für ihr leibliches Wohl gesorgt hatte. Und diesen willkommenen Augenblick des Alleinseins benutzte Constanze, um ihm die Bitte vorzutragen, derentwillen sie überhaupt hergekommen war.
Aus den großen Sälen jauchzte und lärmte es, aus der Ferne klang das Orchester herüber, von vielen hellen und dunkeln Stimmen begleitet:
»Die, die ka Geld mehr ha'n,
Gehn af d' Eisenbahn,
Da kimmen noch mehr z'sammen,
Die a kans ha'n.«
Und währenddessen weihte Constanze mit zuerst ein bißchen zitternder, dann aber mutiger Stimme den Generaldirektor in das wundervolle Geheimnis von Camille Dupaty ein. Manner, der, sobald es sich um die geliebte Kunst handelte, mit Kopf und Herz und Seele bei der Sache war, hörte Constanzen in schweigendem Ernst und immer wachsender Erregung zu, horchte mit leuchtenden Augen und klopfendem Herzen, wie Constanze von der übermächtigen Gewalt der Dichtung sprach, und starrte in tiefer Bewegung dieses schöne, geniale, begeisterungsfähige Mädchen an.
»Dieses Lob aus diesem Munde befiehlt mir, die Sache sofort in Angriff zu nehmen. Liebste Freundin, ich weiß, was Sie wollen, und es bedarf zwischen uns keiner Worte, daß ich Ihren Schützling unter meine Fittiche nehme. Dupaty? Schau! Schau! – – Wir werden also, um keine Zeit zu verlieren, das Werk, dessen Dichtung Sie so schön und so ehrlich entflammt hat, in den allernächsten Tagen prüfen.«
»Ich danke Ihnen!« sagte Constanze, und ihre Stimme zitterte in dankbarer Erregung.
»Natürlich brauchen wir dazu drei bis vier sehr lang ausgedehnte Sitzungen mindestens, denn mehr als höchstens einen Akt Partitur prima vista zu spielen, vermag selbst unser Phänomen, unser Burger, nicht. Na, das findet sich schon, Kollege Danegger, auch so ein rabiater Notenfresser, und ich werden Burger schon ablösen. Bestimmen Sie, wo und wann die Sitzungen stattfinden sollen, ob bei mir, ob bei Ihnen. Ich verabrede dann alles mit den beiden Musikanten. Haben Sie sie nicht gesehen? Sie sind beide natürlich in der Nähe der Fässer. Wir haben diese Woche im Theater keine Proben. Also?«
»Dann ist's mir lieber bei mir. Und nun noch einmal,« und sie legte voll inniger Dankbarkeit ihre Hände in die seinigen, »ich danke Ihnen!«
»Saafst – sterbst …
Saafst net – sterbst ah …
Also saafst!«
tönte es vom »Orchester« her, jedoch konnte ein feines Ohr wohl vernehmen, daß das Quartett, das sich über Tempo und Tonart nicht mehr ganz einigen konnte, Zeit genug gefunden hatte, den Wert einiger Maß Hofbräu zu würdigen.
»Und nun noch eins, was ich für sehr wichtig und sehr richtig halte … Wissen Sie, wen wir zur Prüfung des Werkes dazuziehen wollen? Freystätter! Er ist ein Mensch – na, Sie kennen ihn ja – von wundervollstem musikalischen Empfinden, von treffsicherstem Urteil, über seine Verschwiegenheit ist kein Wort zu verlieren, und er repräsentiert eine Macht in der Presse. Erwecken Dichtung und Musik sein Interesse, woran ich nach Ihrem Bericht nicht zweifle, so kann er uns große Dienste leisten und das Werk vollends in den Hafen des Erfolges bugsieren.«
»Es ist nicht mein Geheimnis,« entgegnete zögernd Constanze, um ein Zusammentreffen mit Freystätter zu vermeiden, »und ich weiß nicht, ob es Dupaty recht ist, wenn …«
Aber ohne Constanzens Widerspruch abzuwarten, stellte sich Manner in die Tür und rief über den in den Sälen herrschenden, in Tabakswolken eingehüllten Jubel hinweg Freystätters Namen. Der hatte sich mit einem berühmten Porträtisten und einem nicht minder berühmten Romancier fest in einer musikalischen Debatte verankert, von der er sich mit Widerstreben losriß, und stand einige Sekunden darauf mit Manner in der Tannenbaumlaube Constanzen gegenüber. Er begrüßte sie mit artigster Freundlichkeit, aber sie merkte wohl, daß seinem Gruß die frühere warme Herzlichkeit fehlte. Es tat ihr in der Seele weh, aber sie war doch im Geist zu sehr mit Dupatys Werk beschäftigt, als sich länger als einen kurzen Augenblick diesem Gefühl hinzugeben. Freystätter, der mit gespanntester Aufmerksamkeit zuhörte, willigte in leicht erregter künstlerischer Begeisterung in Manners Plan und sagte sein Erscheinen zu allen Sitzungen mit tausend Freuden zu. Der Wirt bestellte Champagner, und als die drei Gläser hell zusammenklangen, warf eine reizende, rotlockige, junge Frau, die gerade vorüberging, die übermütige Frage in die Tannenlaube, ob hier eine Verlobung gefeiert würde und ob man schon gratulieren könne. Constanze und Manner leerten ihre Gläser, Freystätter stellte sein Glas unberührt auf den Tisch und sah lange dem Spiel der in der Schale aufsteigenden Perlen zu.
Plötzlich sprang Constanze auf: ihr sei das Herz zum Springen voll, sie wollte etwas singen, gleichviel was … nur singen, nur singen! Manner eilte in sein vorsorglich verschlossenes und vom Tabaksqualm verschontes Arbeitszimmer, setzte sich an den Flügel und intonierte – er wußte selbst nicht warum: »Isoldens Liebestod«. Sobald die ersten Töne herüberklangen, verstummte mit einem Schlage in allen Sälen der lärmende Jubel, und in die tiefe und andächtige Stille drang Constanzens herrliches Organ. Und ergreifender als jemals, erschütternder selbst als sie sie damals an jenem Abend am Walchensee gesungen hatte, begann die wundersam-hehre Weise von ihren Lippen zu tönen, immer machtvoller und glühender, immer jauchzender und jubelnder schwang sich ihre Stimme empor, immer rührender, seliger und verzückter schluchzte sie und verhauchender, verklärter und weltentrückter erstarb sie … Jeder Blutstropfen war aus ihrem schönen Gesicht gewichen. In künstlerischer Begeisterung und tiefinnerlicher Beseligung blickte sie, einer griechischen Statue gleichend, in die Ferne. Ihr Genie hatte alle bezwungen. Kein Beifall … Niemand wagte, die feierliche und erhabene Stille zu unterbrechen. Nur der berühmte Porträtist starrte Constanze lange an und flüsterte dann Freystätter zu, der neben ihm stand:
»Schaun's nur! Schaun's nur! Jetzt endlich hab' i's! … In dieser Ekstase werd' i dös wundervolle Weib malen,« und noch einmal wiederholte er leise und ganz berauscht: »dös wundervolle Weib!«
Den Sitzungen, die während der nächsten fünf Tage bei Constanzen stattfanden und sich jedesmal über viele Stunden ausdehnten, wohnten außer dem Generalmusikdirektor Manner, dem Hofkapellmeister Danegger, dem Solorepetitor Burger und dem Doktor Freystätter auch der Intendant bei, und alle diese kunstverständigen Männer waren sich darüber klar, daß in diesem »Liebestod« ein Werk geschaffen sei, das im Triumph durch die Welt ziehen und den Namen seines Schöpfers lange überdauern würde. Noch enthusiastischer als Manner, der sich in seiner Glückseligkeit über diesen »Götterfund« gar nicht fassen konnte, äußerte sich Freystätter. Sonst in Gesellschaft wortkarg und verschlossen, strömten ihm hier Worte glühender Bewunderung von den Lippen, nur einem Genie hätten Aufbau und Durchführung dieses unerhört kühnen Wurfes gelingen können; wie Assings Einfluß sich unverkennbar durch das ganze Werk zöge, wie der geniale Schüler die Lehren des genialen Meisters verstanden, in sich aufgenommen und verwertet habe, und wie schmerzlich es wäre, daß es Richard Assing nicht mehr vergönnt gewesen sei, die Wiedergeburt seiner eigenen, längst vergessenen Größe in dem Erstlingswerk seines einzigen Schülers mitfeiern zu können.
Constanze trank die Worte von seinen Lippen; sie bewunderte ihn. Bewunderte nicht nur aufs neue die seltenen musikalischen Fähigkeiten, sie bewunderte auch die Unbestechlichkeit seines Urteils, das sich nicht etwa in kleinlicher Eifersüchtelei verwirren und verlieren konnte. Und wie er so in echter Begeisterung sprach und ihm die neidlose Freude über das wundervoll gelungene Werk und das dankbare Andenken an den Vater die Wangen rötete, erschien ihr dieser kleine, häßliche, unansehnliche Mensch schön, und sie sagte zu ihm, indem sie ihm beide Hände reichte und ihm voll Innigkeit in die Augen sah:
»Mein lieber, treuer Spezi, Sie wissen nicht, wie wohl Sie mir getan haben! Mag kommen, was kommen muß … ich werde Ihnen das niemals, hören Sie, niemals vergessen! Wir bleiben einander treu!«
Es herrschte tiefe Stille. Die Anwesenden waren sich der Bedeutung und Wahrhaftigkeit dieses Versprechens bewußt.
»Ich habe nur meine Pflicht getan,« erwiderte Sigmund Freystätter ruhig, aber sein Herz hämmerte und klopfte, als ob es die Wände sprengen wollte. Denn obwohl er mit entsetzlicher Gewißheit fühlte, daß Constanze ihr Herz dem geschenkt, der den »Liebestod«, dieses herrliche Werk, geschaffen … obwohl er sich sagen mußte, daß sie ihm verloren sei … trotz alledem blühte in weiter, weiter Ferne doch etwas in ihm auf, eine leise, so leise, stille zärtliche und süße Hoffnung … »mag kommen, was da kommen muß! …«
Als nach der letzten Sitzung die Herren sich an der Ludwigstraße getrennt hatten, sagte Manner plötzlich zu Freystätter, mit dem er in die Stadt ging:
»Wir haben da etwas Seltenes und Großes erlebt, wir haben ein Genie aus der Taufe gehoben. Nur schade, daß sie ihn liebt! … Der Kunst geht sie wahrscheinlich damit verloren … die herrschte bisher allein in ihrem Leben … bald wird ein anderer, Mächtigerer darin herrschen: der Mann! Und schade, jammerschade für uns, denn eine Frau übt erfahrungsgemäß die gleiche Wirkung nie mehr auf ein Publikum aus, das sie noch in ihrer keuschen, reinen Mädchenhaftigkeit gekannt und geliebt hat. Und ob sie glücklich werden wird? Halten Sie es für möglich oder, sagen wir, für wahrscheinlich, daß eine Ehe Bestand hat, in der zwei gleichwertige, so außerordentliche Begabungen herrschen? … Wer will das Schicksal in seinem Laufe aufhalten? … Wie sagte sie doch zu Ihnen: ›mag kommen, was da kommen muß!‹ … Leben Sie wohl, lieber Freund, herzlichsten Dank und auf baldiges Wiedersehen!«
Während Eduard Manner, dieser lebenskluge, lebensfreudige und sonnige Mensch, dem Schwarzseherei völlig fremd war, der so lachenden und leuchtenden Zukunft des jungen Künstlerpaares ein so unverständlich trübes Horoskop stellte, schrieb Constanze Assing an Camille Dupaty:
»Geliebtester Freund, jubeln Sie mit mir, die Würfel sind gefallen. Ihr herrliches Wunderwerk hat die größte Begeisterung erweckt; diese Musik ist dieser Dichtung würdig! Ja, nun haben Sie den »leuchtenden Gipfel« erreicht, und vor Ihnen liegt im Sonnenschein ausgebreitet die Welt, liegt das Glück. Ich habe mir die Freude nicht nehmen lassen, Ihnen mitzuteilen, was Ihnen ja amtlich bestätigt werden wird, daß die General-Intendantur Ihr Musikdrama »Liebestod« zur Uraufführung angenommen hat. Die Orchesterstimmen werden sofort ausgeschrieben, und dann wird mit der Einstudierung begonnen, Manner dirigiert, ich singe die »Königin«, die übrige Besetzung ist die glänzendste, die Regie wird Wundertaten leisten, alle, alle werden sich die Hände reichen, um dem erhabenen Werke und seinem Schöpfer zu dem verdienten Triumphe zu verhelfen. Die Premiere ist vorläufig auf den 15. März festgesetzt. Ich bitte Sie innigst, nicht früher nach München zu kommen, bevor ich Sie darum ersuche. Ihre Anwesenheit, die Möglichkeit, Sie jeden Augenblick sehen und sprechen zu können, würde mich verwirren, und ich brauche zur Bewältigung der Riesenaufgabe, die Sie mir gestellt haben, innere Ruhe und Kraft. Diese Aufgabe, mein Freund, beweist mir mehr, als ich wohl in Worte fassen kann. Sie beweist mir nicht nur, daß Sie meiner künstlerischen Befähigung auch das Gewaltigste und Kühnste zutrauen; nur wer mein eigenstes Wesen erforscht, mein Herz ergründet, konnte das schaffen, und das beglückt und beseligt mich. Wie stolz würde der Vater sein, hätte er diesen Triumph seines Schülers erleben können; denn er hat Sie sehr geliebt. Mein Herz, Camille, liegt heute vor Ihnen, wie ein aufgeschlagenes Buch, in dem Sie nach Belieben blättern können; auf jeder Seite, auf jeder Zeile, in jedem Satz und jedem Wort werden Sie nur Ihren Namen finden … Der Intendant, Manner und Danegger senden Ihnen die innigsten Glückwünsche und werden Ihnen schreiben. Und nun zum Schluß noch eine Bitte, die Sie mir erfüllen müssen, mir und sich selbst zuliebe: Sie müssen mit Freystätter Freundschaft schließen, warme, herzliche, treue, unlösliche Freundschaft. Er ist doch ein prachtvoller Mensch, den man nicht nur verehren, den man auch lieben muß.
M. 31. 12. 89.
Ihre Constanze.«
»Fräulein Constanze Assing, München,
Schönfeldstraße 49.
Aufgenommen 1. 1. 90
um 9 Uhr 40 Min.
Telegramm aus Berlin 12, 17334. 14 8 10 v.
Je vous aime et je vous adore. Camille.«
An einem der nächsten Samstagnachmittage klopfte es leise an die Tür des Studierzimmers von Sigmund Freystätter, der ganz in seine Arbeit »Richard Assing, sein Leben« vertieft war, und auf seinen Zuruf erschien seine Mutter. Sie war, soweit es die nun einmal gegebenen, ein bißchen ökonomischen Verhältnisse erlaubten, sehr stattlich anzuschauen, und neben dem feiertäglichen Hut mit großen »Bindebändern« und dem schwarzen Samtmantel nahm sich das kostbare Pelzwerk ganz besonders vornehm aus. Mit diesem Pelzwerk hatte es seine eigene Bewandtnis. Salomon Freystätter hatte es ihr vor zweiunddreißig Jahren, als er noch in sein Ralchen verliebt war, von der Leipziger Messe mitgebracht und hatte »in der ersten Rauchwarenhandlung für den Zobel ein Vermögen« ausgegeben, mit welcher Erzählung er allerdings von der Wahrheit ein klein bißchen abgewichen war. Denn er hatte das Pelzwerk nicht in einem soliden Geschäft, sondern in einem Schleuderausverkauf erstanden, und außerdem war es nicht Zobel, sondern Hase. Aber er hatte seinem kleinen leichtgläubigen Ralchen die Geschichte so oft und mit so anmutigen Einzelheiten berichtet, bis die gute alte Seele sie wirklich glaubte und Muff und Kragen in dieser beseligenden Ueberzeugung trug. Wohl hatten die Motten schon hie und da Spuren ihrer Wirksamkeit und Daseinsfreude zurückgelassen, aber Herr Salomon wußte jedes vielleicht noch aufkeimende Bedenken seiner Gemahlin mit den Worten zu ersticken: »Zobel hat immer Motten, die Kaiserin von Rußland hat auch ka feineren Zobel!«
Und diese kategorische Behauptung war um so erstaunlicher, als Herrn Freystätters Beziehungen zum russischen Hofe doch eigentlich nicht übertrieben starke waren.
»Sig'! hör' mal, mei Jung,« begann Frau Ralchen, »was sitzt Du hier über die Bücher? Klapp se zu! Wir haben prachtvolles Frostwetter, geh' a bisserl aus, es wird Dir gut tun.«
Da ihr Sohn ihr erwiderte, daß ihm die Arbeit keine Zeit lasse, fuhr sie stärkeres Geschütz auf:
»Wenn Du's schon nicht Dir zuliebe tun willst … tu's Deiner alten Mutter zu Gefallen, die a bisserl mit Dir laufen möcht!«
Und wenige Minuten darauf humpelte Frau Freystätter mit ihrem Sig', auf dessen Arm sie sich stützte, mit listigem Lächeln, in scheinbar harmlosem, Haushalt und Geschäft berührendem Geplauder durch die Dienersgasse nach dem Café Maximilian zu, wo sie sich ein bißchen erschöpft in einer Nische niederließ. Ihr Sohn wurde von einigen Theaterleuten und Journalisten begrüßt, die hier ihr Stammquartier aufgeschlagen hatten, und vertiefte sich dann am Tisch seiner Mutter in die französischen und englischen illustrierten Zeitungen. Deshalb konnte er nicht bemerken, daß Frau Ralchen unverwandt nach der Eingangstür blickte und jeden Eintretenden einer Prüfung unterzog, als ob sie nicht die Frau eines Manufakturwarenhändlers wäre, die sich hier mit einer Tasse Kaffee gütlich auseinandersetzen wollte, sondern ein Beamter der Kriminalpolizei, der einen steckbrieflich verfolgten Raubmörder zu verhaften hätte. Doch plötzlich, beim dritten Stück Kuchen erhellten sich ihre schon ein bißchen verdüsterten und enttäuschten Züge, und sie sagte in höchstem Erstaunen:
»Sieh nur, Sig', eben kommt der Herr Ohlesberger.«
Aber Sig', der den Herrn Ohlesberger nicht einmal dem Namen nach kannte, bekundete nur durch ein unverständliches Murmeln, daß er gebührende Kenntnis von dem welterschütternden Ereignis genommen habe.
»Möchte nur wissen,« fuhr Frau Freystätter mit unerschrockener Beharrlichkeit fort, »wer die beiden Damen sind, die er da bei sich hat. Von hier sind sie net, sonst müßt' ich sie doch aus 'm Tempel kennen. Jedenfalls Mutter und Tochter …,« und da »mei Sig'« sich in einen musikalischen Artikel der » Revue des deux mondes« versenkt hatte, wiederholte Frau Ralchen mit Nachdruck und Ueberzeugung: »sogar ä sehr ä hübsches Mädchen!«
Kurze Zeit darauf, nach einer nur den Verschwörern verständlichen Augensprache, erkundigte sich Herr Ohlesberger, der ganz zufällig mit seinen Damen in unmittelbarer Nähe des Freystätterschen Tisches Platz genommen hatte, nach dem Befinden der äußerst geschmeichelten Frau Ralchen und des in seiner Lektüre gestörten Herrn Doktors und gab auf Frau Freystätters scheinbar sehr neugierige Fragen willig Auskunft über »Nam' und Art« der Damen. Und Mama Freystätter hörte sehr interessiert zu, obgleich die Heuchlerin schon alles längst von Herrn Ohlesberger erfahren hatte.
»Die kennen Sie nicht?« flüsterte er mit einer Wichtigkeit, mit der man vielleicht Staatsgeheimnisse zu verraten pflegt, »das ist doch Frau Reiffenberger aus Fürth, wissen Sie, von den reichen Reiffenbergers … Spiegel en gros … Ihnen gesagt, Frau Freystätter … ein Geschäft! Das Mädchen, übrigens das einzige Kind, ist reizend und so gebildet … Nu, der alte Reiffenberger hat sich's was kosten lassen. Erst war sie in Lausanne und dann in London … wissen Sie … sie kann doch den ganzen Schiller aus'm Kopf hersagen, ich glaube, sie kann sogar Klavier spielen … Wenn's den Herrschaften übrigens recht ist, würde ich die Damen bitten, an Ihrem Tische Platz zu nehmen, und wir könnten 'ne gemütliche Ecke machen!« Frau Freystätter war es »eine besondere Ehre« und ihrem Sig' war es höchst gleichgültig; er ahnte nicht, daß ihm das Netz über den Kopf geworfen und zugezogen werden sollte.
Die erste Begrüßung war ein bißchen kühl, da keine der weiblichen Parteien sich durch zu großes Entgegenkommen etwas vergeben wollte. Aber als Ralchen Freystätter, deren genealogische Kenntnisse der jüdischen Familien der Königreiche Bayern und Württemberg sich eines wohlbegründeten Ansehens erfreuten … als also Ralchen Freystätter herausgefunden hatte, daß ihr verstorbener Schwager Moritz eine geborene Frankfurter aus Nürnberg geheiratet hatte, die eine angeheiratete Cousine von der Frau Feuchtenwanger war, welche in zweiter Ehe mit Leopold Guttmann, einem Onkel von Frau Reiffenberger, ihr Glück gefunden hatte, als also endlich die so nahe Blutsverwandtschaft zwischen den Dynastien Freystätter und Reiffenberger unwiderleglich nachgewiesen war, wurde es wärmer am Tisch, und Herr Ohlesberger, eine optimistische Natur, bestellte sich den zweiten Kognak. Und das Quecksilber im Barometer kletterte und stieg und schnellte in die Höhe und zeigte endlich auf »schön« und »beständig«, als Frau Reiffenberger, die Einkäufe halber in München war, erklärte, ihren ganzen Bedarf an Kleiderstoffen, Unterröcken und noch intimeren Bekleidungsstücken bei S. Freystätter in Firma Gebrüder Freystätter decken zu wollen.
Währenddessen unterhielt sich Doktor Sigmund Freystätter mit Fräulein Ella Reiffenberger. Sie war in Fürth allgemein als »die schöne Ella« bekannt, und es wäre wirklich parteiisch, ihr die Berechtigung dieses schmückenden Titels nicht bedingungslos zuzuerkennen. In einem von schwarzer Haarflut umrahmten Gesicht, das regelmäßig geschnitten war und von Gesundheit strotzte, brannte ein Paar sehr lebhafter dunkler Augen und leuchteten Zähne, die durch Vollständigkeit und Fehlerlosigkeit jeden Zahnarzt hätten zum Lebensüberdruß und Selbstmord treiben können. Nur ihre Gestalt, welche zu Mehlspeisen, Marienbad und voraussichtlich reichem Kindersegen neigte, zeigte die Eigentümlichkeiten ihrer Rasse. Sie hatte in der Fürther Hopfen- und Bronzewarenbranche schon manches Unheil mit ihren schönen Augen angerichtet. Da sie aber ein »Schöngeist« war und sich in den Kopf gesetzt hatte, nur einen ihrer Bildung ebenbürtigen Mann, und zwar in München, zu beglücken, war sie trotz ihrer dreiundzwanzig Jahre noch die »schöne Ella Reiffenberger«. Da ihr Partner in der Unterhaltung mit jungen Damen keine Uebung besaß, trug sie die Sturmfahne der Konversation voran. Nach wenigen Minuten war sie bei Schopenhauer, Wagner, Ibsen und Nietzsche angelangt und sprach von diesen Herren wie von ein paar Fürther Dinernachbarn. Und als sie sah, daß Freystätter über diese dreisten Keckheiten hell auflachte, glaubte die schöne Ella Eindruck gemacht zu haben auf den gelehrten Kritiker und ritt nun mutig und mit lockerm Zügel von Zola zu Bismarck, von Goethe zu Edison, von Heine zu Makart, von Metaphysik zur Vererbung, von Naturtrieb zu Spiritismus, bis sich schließlich Freystätter königlich amüsierte über das wirre Kunterbunt, das in diesem Spatzengehirnchen durcheinander wirbelte. Herr Ohlesberger, dessen Pflicht und Beruf es war, durch den Rauch seiner Sonntagszigarre das junge Paar zu betrachten, kniff mit bezahlter Rückantwort sehr befriedigt das linke Auge zu, und Frau Freystätter telegraphierte mit zugekniffenem rechtem Auge nicht minder befriedigt zurück.
Aber mitten in diesen lieblichen Garten aufblühender Hoffnung trat, wie es nun einmal seine verdammte Gewohnheit ist, das Schicksal, »roh und kalt«. Da die Quellen der Unterhaltung zwischen den beiden älteren Damen über Dienstmädchen, Fleischpreise, Wetter und »faule Kunden« zu versiegen begannen, fragte Frau Ralchen, um das Gespräch zu verallgemeinern, ob die Herrschaften schon im Hoftheater gewesen wären. Und weil die schöne Ella in der Fürther Harmonie schon die »Jungfrau von Orleans« gelesen und von den Bergen und geliebten Triften mit fabelhaftem Erfolge gerührten Abschied genommen hatte, fühlte sie sich in theatralibus mit vollem Recht in ihrem Element und übernahm für sich und gleichzeitig für die Urheberin ihrer Tage die Antwort, mit der sie sich direkt an Doktor Freystätter wendete:
»Wir waren gestern in der ›Carmen‹. Was Sie übrigens, Herr Doktor, an der Assing finden, und warum Sie die in Ihren Kritiken immer so in den Himmel heben, verstehe ich nicht. Da sollten Sie mal unsere Merlini im Stadttheater sehen … kein Vergleich! Nicht wahr, Mama? Erstens ist sie viel schöner und zweitens singt sie viel besser, nicht wahr Mama? Und dieses Spiel von der Assing! Das muß ja eine ganz gewöhnliche Person sein!«
Sigmund Freystätter sah die schöne Ella kalt und fremd an, Frau Freystätter sah Herrn Ohlesberger angstvoll und hilfeflehend an, Frau Reiffenberger sah alle begriffsstutzig und verständnislos an, und in der Ecke des Saales wurde es, trotzdem die offenen Gasflammen eine tüchtige Hitze ausströmten, plötzlich eisig kalt. Und bei dem baldigen allgemeinen Aufbruch war das Barometer, das zuerst auf »schön« und »beständig« geklettert war, auf »Regen und Sturm« gefallen, und Herr Ohlesberger, der einmal auf ein Freibillett Constanze gehört hatte und seit diesem Gratisgenuß für sie schwärmte, murmelte vor sich hin: »Der Teufel soll die Assing holen!«
Am gleichgültigsten war dieser Nachmittag für Sigmund Freystätter; er setzte sich, ohne an die Episode zu denken, an den Schreibtisch und nahm seine Arbeit »Richard Assing, sein Leben und sein Werk« wieder auf.
Am lustigsten war dieser Nachmittag für Herrn Salomon, denn es war ihm gelungen, die Herren Gutmann, Pickenbach und Heuberger beim Tarock um drei Mark 92 Pfennige übers Ohr zu hauen, und dazu gehörte bei diesen ebenbürtigen Gegnern wirklich eine ungewöhnliche Begabung.
Am traurigsten aber war dieser Nachmittag für Frau Ralchen, das gute verschrumpelte Frau Ralchen mit dem Zobelkragen; denn sie sah das Schiff, das sie schon wohlbefrachtet mit ihrem Sig' am Steuer im sicheren Hafen glaubte, wieder hinaustreiben auf das unermeßliche Meer, und sah es verschwinden in weiter, weiter, nebelhafter Ferne.
»München, 29. Januar 90.
Geliebter Freund! Für Ihren lieben, herzlichen Brief nehmen Sie lieben und herzlichen Dank. Sie verwöhnen mich viel zu sehr. Ich habe ja doch schließlich nur meine Pflicht getan, die Pflicht, einem so wunderbar begabten Menschen die steinigen Wege geebnet zu haben. Und ganz heimlich will ich's Ihnen verraten, was Sie ja seit jenem Abend am Walchensee wissen: ich tat es nicht allein für Sie, ich tat's auch für mich. Aber nun bitte ich Sie auch inständigst, werden Sie nicht ungeduldig! Ich kann mich in Ihre Lage versetzen, ich fühle mit Ihnen, daß vor banger sehnsüchtiger Erwartung jeder Nerv Sie schmerzen, jede Fiber Ihnen beben muß; ich begreife, daß Sie herfliegen möchten, um Stunde für Stunde Ihr Werk wachsen zu sehen, daß Sie eingreifen, prüfen, beleben, raten und verwerfen möchten. Aber glauben Sie es mir, Camille, es ist besser für Sie, besser für das Werk, für mich, für uns alle, wenn Sie nicht den nüchternen Werdeprozeß mitansehen, der Sie enttäuschen, niederschlagen und an sich selbst irre werden ließe, wenn Sie nicht all diese notwendigen und unvermeidlichen Wiederholungen anhören, nicht all diese tausend kleinen winzigen Einzelheiten beobachten, aus denen mosaikartig Stein für Stein sich der Bau zusammenfügt. Sie sind ein Neuling und kennen nicht die Geheimnisse dieser Scheinwelt, dieser Trugwelt … Noch ist der Körper leblos, erst, wenn wir ihm Blut zugeführt und Leben eingeatmet haben, dann kommen Sie, und Sie werden mit offenen Armen empfangen werden. Und schließlich ist Ihr Werk ja in besten Händen. Das ganze gewaltige Hoftheater gehört seit Wochen, gehört auf viele Wochen Ihnen, Camille, nur Ihnen! Gehe ich die endlosen steinernen Korridore entlang, so tönt mir aus jedem Zimmer der »Liebestod« entgegen, aus jedem Saal höre ich die Chor- und Soloproben, aus jedem Raum klingen Geigen und Celli, Kontrabässe und Bratschen, zittern Harfen und jubeln Flöten, schallen Hörner und Trompeten, dröhnen Posaunen und Tuba und rasseln die Pauken. In den Ateliers oben im zweiten Stock wird Tag und Nacht fieberhaft an den Dekorationen gemalt (und welche Märchenwunder, die sie ja doch nur in unserem München fertig bringen), in den Kostümsälen regen sich Hunderte von Händen, in den Ballettsälen probieren Tänzer und Tänzerinnen, in dem Regiezimmer berät der Regisseur mit den Vorständen der Maschinerie und der Beleuchtung, auf der Bühne welche Fülle bunten Lebens; welche ungeheure Summe von Phantasie und Intelligenz, von Geduld, Erfahrung und Fleiß, von Begeisterung, von Anspannung aller geistigen und körperlichen Kräfte gehört doch dazu, einem Werke, das dem Kopfe eines Wundermenschen entsprungen, lichtvolles, warmes, farbiges, blühendes Leben zu geben! Und über dem Ganzen schwebt mit genialem Blick und unerhörtem musikalischen Empfinden Eduard Manner! Die Glut, die von ihm ausgeht, strömt, wenn er sich für eine Sache einsetzt, auf alle über und erwärmt alle. Ich könnte mich trotz seiner grauen Haare und trotz seiner sechzig Jahre wahrhaftig in ihn verlieben, wenn ich nicht … In meine Rolle, Camille, lebe ich mich immer mehr ein. Und je tiefer ich grabe, je weiter ich vordringe, desto größere musikalische und dichterische Schönheiten erschließen sich mir. Um so fassungsloser stehe ich, wie ich Ihnen schon schrieb, vor dem Rätsel, daß ein Mensch, der mich erst seit so kurzer Zeit kennt, so tief in meines Wesens Kern zu dringen vermochte, um so wunderbarer und unbegreiflicher, daß Sie mich geahnt haben! Denn Sie haben ja, wie Sie mir am Walchensee berichteten, schon beinahe zwei Jahre früher an dem Musikdrama gearbeitet, bevor Sie mich kennen lernten. Es ist ein Wunder, ein wundervollstes Wunder! Ich kann die Aufgabe, die Sie mir stellten, und die ich bewältigen muß – und sollte sie auch mein Schwanengesang werden – nur mit einem Bergriesen vergleichen, von dessen Höhe sich zauberhafte Aussichten vor mir ausbreiten und sich bei jeder Biegung und jedem Schritt immer neue, immer großartigere, immer erhabenere Wunder entschleiern. Hinauf! hinauf zum leuchtenden Gipfel! Am 15. März wird im Münchener Hoftheater, dieser Wiege des Ruhmes, einer der Größten, die je gelebt haben, ein Werk emportauchen, das leben und blühen, begeistern und rühren wird, solange es Menschen gibt, die Liebesglück und Liebesleid verstehen …
Ich habe vorgestern im dritten Odeonskonzert trotz seines lebhaften Widerspruchs die ›Traumbilder‹ von Sigmund Freystätter gesungen und habe eine tiefe und innige Wirkung erzielt.
Und wissen Sie, Camille, wie er selbst darüber in der Zeitung schrieb?
»Constanze Assing sang die ›Traumbilder‹. In den Händen dieser begnadeten Künstlerin wird auch bescheidenstes Metall zu leuchtendem Golde.«
In dieser häßlichen und unscheinbaren Hülle lebt doch ein echt-bescheidener Sinn, schlägt doch ein vornehmes und adliges Herz.
Mit tausend Grüßen
Constanze.«
»Berlin
W, 1. Februar 90.
Pension Grundner,
Landgrafenstraße 17a.
Constanze! Ich halte Ihren Brief in meinen Händen, ich lese ihn wieder und immer wieder, ich hämmere mir jedes Wort in Kopf und Sinn, und ich danke Ihnen auf den Knien für Ihre Güte. Könnte ich jetzt bei Ihnen sein, was Sie mir vielleicht sehr vernünftig, jedenfalls aber sehr grausam verwehren, ich würde Sie umklammern, Constanze, und würde Sie an mich reißen und würde in Ihre Augen sehen und Sie küssen, küssen, küssen! Sie predigen mir Geduld, und ich habe sie verloren. Ihre plastische Darstellung der Vorbereitungen hat mich ganz toll gemacht. Ich sehe alles vor mir, und wenn ich danach greifen will, verflüchtigt sich's in undurchdringlichen Schatten, ich höre alles, und wenn ich es erhaschen will, verklingt's in nebelhafter Ferne. »Geduld!« Verlangen Sie Geduld von einem, der verdurstet, der nach einem Trunke lechzt und verschmachtet. Sie müßten mich nur in meinem Zimmer herumlaufen sehen, hunderte Male vom Fenster zur Tür, von der Tür zum Fenster, in dieser lieblosen Umgebung mit den gräßlichen Tapeten, auf denen sich das blödsinnige Muster immer wiederholt, mit den verschossenen Samtmöbeln und gehäkelten Decken, mit den fürchterlichen Oeldrucken des Kaiserpaares, diesen schwersten Majestätsbeleidigungen, den scheußlichen Bronzen aus angestrichenem Gips, in dem ganzen jämmerlichen, erbärmlichen Plunder, der die Augen beleidigt und die Nerven noch mehr erregt. Aber was wollen die öden, leeren, dahinschleichenden Tage bedeuten gegen diese ewig dauernden Nächte, in denen ich vor Aufregung keinen Schlaf finde. Um mich zu ermüden, hatte ich mich schon einige Nächte zum Bummeln verurteilt; aber – ich schwöre Ihnen – das Berliner Nachtleben ist eine Ausgeburt der Hölle, von der sich jeder Mensch von Bildung und Geschmack mit Grausen abwenden muß. Und da es noch immer kein Schlafmittel gibt, das von heute bis zum 15. März wirkt, und da Sie mich nicht aus meiner Gefangenschaft erretten wollen, ich sie aber nicht länger ertragen kann, so bin ich fest entschlossen, mich selbst zu befreien. Erschrecken Sie also nicht, Constanze, wenn ich Sie plötzlich überrasche. Auf Wiedersehen, sweetest heart, auf baldiges Wiedersehen.
Camille.«
Einige Tage später hatte sich Constanze nach der fünf Stunden dauernden ersten Bühnenprobe auf das Sofa gelegt, um ein wenig zu schlummern, als plötzlich schrill und laut die Flurglocke ertönte und unmittelbar noch einmal anschlug. Constanze, welche der Jungfer die Weisung gegeben hatte, niemand vorzulassen, wurde ganz unwillkürlich an den ungeduldigen Eilboten erinnert, der ihr am Weihnachtstage Dupatys fürstliches Geschenk überbracht hatte. Sie schloß lächelnd die Augen und überließ sich ihren Träumereien. Die trugen sie schnell zu ihm, der in maßloser Ungeduld und banger Sehnsucht der Erlösung harrte, die sie ihm nicht gewähren wollte. Denn, was sie ihm natürlich nicht zugestehen wollte, gestand sie sich selbst doch ein: daß alle die Bedenken, mit denen sie ihn von der Einstudierung seines Werkes fernhielt, doch nur Vorwände seien, um sich gegen ihn zu schützen … und gegen sich selbst, gegen den Aufruhr der Sinne, den der Mann, den sie liebt, in ihr entfachen würde, gegen die wilde und unbändige Leidenschaft, die in ihr loderte und die seine Nähe zu einem Flammenmeer entzünden würde … Sie starrt in das vom winterlichen Dämmerlicht schon ein wenig erfüllte Zimmer, dann schließt sie die Augen und sieht ihn vor sich mit seinem edel geschnittenen Antinouskopf und sieht seine strahlenden Augen auf sich gerichtet und gibt sich widerstandslos der süßen Träumerei gefangen … und starrt schlafbefangen wieder in das wachsende Zwielicht und sieht ihn in den grauen Schatten über dem Teppich leicht auf sich zuschreiten und sieht, wie er vor ihr niederkniet und fühlt, wie er mit glühenden leidenschaftlichen Küssen ihre Hände bedeckt, und hört, wie er ihr zuflüstert, ganz leise und ganz heimlich:
»Constanze, länger konnt' ich's nicht ertragen!« und hört ihre eigene Stimme, die, ganz in Seligkeit und hingebende Zärtlichkeit getaucht, ihm geantwortet:
»Camille, endlich … endlich bist Du da.«
Die Vision will nicht weichen, und im liebkosenden Traum streichelt sie ihm innig die Locken. Langsam, ganz langsam verfliegt das Nebelbild, im allmählich zurückkehrenden Bewußtsein schlägt sie müde die Augen auf und starrt … und starrt … und sieht im Dämmerlichte die beseligende und beängstigende Wirklichkeit. Und sieht den, den ihr der Traumgott vorgegaukelt, vor sich auf den Knien.
Sie springt auf … sie ist ihrer Sinne und ihres Willens wieder mächtig … sie streckt ihm über den Flügel, der sie von ihm trennt, beide Hände entgegen, die er lange in den seinigen hält. Die Jungfer bringt die Lampen, die behagliches und besänftigendes Licht spenden, und er lacht ihr zu:
»Sie hatten nicht geglaubt, Constanze, daß ich meine Drohung wahr machen würde. Jetzt bin ich hier, und keine Macht der Erde kann mich von hier vertreiben!«
Aber so willig sie beide wohl in diesem lang ersehnten Augenblick ihrem Herzen, ihren Wünschen und Verlangen gefolgt wären, sich über ihre Zukunftspläne auszusprechen … sie waren nicht allein, ein Drittes, Mächtiges schwebte zwischen ihnen, ihre Kunst! Und Camille überschüttete sie mit Fragen nach den Fortschritten der Einstudierung, und Constanze wurde nicht müde, ihm zu antworten, ihn vorzubereiten und einzuweihen und ihm in ehrlicher und reiner Bewunderung Glück zu wünschen zu diesem Werk, zu diesem Sieg. Dann stand sie auf und sagte, indem sie ihn langsam zur Tür begleitete:
»Sie müssen mich jetzt verlassen, ich habe heute abend in einem Wohltätigkeitskonzert zu singen und muß mich vorbereiten.«
Und während bis jetzt die Künstlerin mit dem Künstler gesprochen hatte, sagte an der Tür, an der sie beide standen, das Mädchen zum Mann in tiefem Ernst:
»Es ist selbstverständlich, Camille, daß Sie mich nicht mehr besuchen. Ich würde Sie nicht empfangen. Machen Sie es also sich und mir nicht zu schwer. Ginge es nur nach mir, nach meinem Wunsch und Gefühl: ich möchte Sie täglich bei mir sehen. Aber ich muß nun einmal mit den Menschen rechnen, die mich auf Schritt und Tritt beaufsichtigen und jetzt schon mutmaßen, daß meine Begeisterung für den ›Liebestod‹ nicht ganz allein der Bewunderung für das Werk, sondern auch für dessen Schöpfer entspringt. Ich stehe allein, und um meinen Ruf zu verderben, dazu – ich weiß es – achten Sie mich wohl doch zu sehr.«
Er küßte ihr die Hand und sie fuhr fort:
»Wir werden uns täglich auf der Probe sehen, wir werden uns oft bei gemeinsamen Freunden treffen, mein Haus muß Ihnen vorläufig verschlossen bleiben. Ist der Sieg errungen, dann willige ich von Herzen gern darein, daß alle Welt von unserem Bunde erfährt. Und«, fügte sie lächelnd hinzu und sah ihm warm und voll Innigkeit in die Augen, »wissen Sie, Camille, wohin wir unsere Hochzeitsreise machen? An den Walchensee! Gute Nacht! Gute Nacht und süße Träume!«
Als am nächsten Vormittag Camille Dupaty kurz vor der Probe im verdunkelten Parkett des Hoftheaters erschien, klopfte er dem Generalmusikdirektor, der schon am Pulte saß, auf die Schulter, und der forderte in seiner impulsiven Weise das Orchester auf, durch einen Tusch den »Schöpfer des ›Liebestod‹« zu begrüßen. Aber an dieser Ehrung ließ sich die Korporation nicht genügen; sämtliche Mitglieder erhoben sich von ihren Plätzen. Denn sie alle, die ebenso ausgezeichnete Musiker wie strenge Kritiker waren, wollten der Bewunderung Ausdruck geben, zu welcher sie dieser unbekannte junge Musikant hingerissen hatte; sie alle erfüllte es mit Stolz, daß er ein Schüler Richard Assings gewesen, der ja lange genug ihr Kollege war, und dem sie trotz aller seiner Verbitterung und all seiner Schroffheiten doch ein dankbares und ehrenvolles Andenken bewahrten. Und einer, der alte Kammermusiker Zirnbauer, ein echter Münchener, der sich durch sein Violinspiel, seine Grobheit und seinen Durst auszeichnete, reichte seine Tabaksdose dem ebenso alten Kammermusiker Mayrhofer hin, der noch gröber und noch durstiger war, und flüsterte ihm zu:
»Woaßt, Gustel, i hob doch noch damals in dem Assing saner Oper ›D' Helden‹ mitgespüllt. Dös muß man sag'n, gut einbleut hat er's dem Dupaty, wie man's macht. Manches im ›Liebestod‹ könnt' er schon selbst ausgetüfftelt hab'n.«
»A scheene Musi is schon im ›Liebestod‹; dös muß man schon sag'n,« erwiderte der andere, indem er sich ein hübsches Paket Tabak in die Nase steckte. »Hätt's dem gor net zug'traut, dem Hallodri, dem Schürzenjäger, dem Schlankl.«
Während dieser und ähnlicher Urteile, zu denen die Herren im Orchester die entstandene Pause benutzten, war Dupaty auf der Bühne erschienen, hatte sich dem gesamten Personal, das er noch nicht kannte, vorstellen lassen, hatte mit vollendeter Artigkeit die Damen begrüßt, wobei er sehr klug und vorsichtig Constanzen in keiner Weise auszeichnete, warf den Chor- und Ballettdamen, die natürlich alle sofort für den »bildsaubren Kerl« schwärmten, liebenswürdige Worte zu, erzählte dem technischen Personal, den Zimmerleuten, Maschinisten und Inspizienten schnell einige saftige Anekdoten und nahm dann am Regietisch Platz. Und alle waren angenehm enttäuscht; sie hatten sich einen hochfahrenden, nervösen, kribbligen Musiker vorgestellt, dem sein schneller Ruhm den Kopf verdreht hätte, der schikanieren, protestieren und durch zahllose Einwendungen den Fortgang der schwierigen Arbeit aufhalten würde, und fanden einen liebenswürdigen, heiteren jungen Mann, mit dem sich gut leben ließ, und der eher den Eindruck allzu großer Unsicherheit machte als allzu großen Selbstbewußtseins. Die Kollegen und Kolleginnen, die sich verpflichtet hielten, Constanzen Freundlichkeiten über den Komponisten zu sagen, rühmten in den Pausen und Zwischenakten immer aufs neue die Schönheiten des Werkes, die fabelhaften Klangwirkungen im Orchester, die auf einen erfahrenen Musiker und nicht auf einen Anfänger schließen ließen, und prophezeiten dem »Liebestod« einen Triumph.
Jede Probe enthüllte neue ungeahnte Schönheiten, entschleierte neue orchestrale Wirkungen, offenbarte neue bis dahin noch schlummernde Kräfte, erhöhte die grenzenlose Bewunderung vor dem jugendlichen Dichterkomponisten. Alle vom Generalmusikdirektor bis zum letzten Beleuchter wetteiferten, den stolzen Bau zu vollenden, zu schmücken und zu krönen, und wenn wirklich hie und da, was ja begreiflich war, durch die nunmehr Monate währenden, anstrengenden Proben der Eifer nachlassen und erlahmen mußte: die alle belebte, anfeuerte, ermutigte, begeisterte, war Constanze, die mit ihrem ganzen Sein in dem Werk aufgegangen war und des Geliebten Sache vollständig zu ihrer eigenen gemacht hatte. Mit nachtwandlerischer Sicherheit überschritt sie alle Klippen und Abgründe, mit schrankenloser Unerschrockenheit ergriff und bewältigte sie die in ihrer Partie aufgehäuften musikalischen Probleme, mit großartigster Erhabenheit, mit feierlichster Loslösung von allem Irdischen starb sie den Liebestod …
Zu ihrer eigenartigen, künstlerischen Gewissenhaftigkeit gehörte es, schon lange vor der Hauptprobe in Kostüm und Maske aufzutreten, um etwaige Fehlgriffe noch rechtzeitig zu beseitigen und sich auch mit allen Aeußerlichkeiten in den Charakter ihrer Rolle zu versenken. Und da geschah etwas sehr Merkwürdiges, was den Fortgang der Probe völlig aufhob. Als Constanze zum ersten Male, in einen langen schwarzen Mantel gehüllt und sehr bleich geschminkt, die Bühne betrat, als eine wilde Mähne ihr edles, scharfgeschnittenes Gesicht umwallte und sie furchtbar drohend den Arm hoch erhob:
»Haltet ein! Laßt diesen Frevel nicht gescheh'n!«
wichen Solisten und Choristen scheu und entsetzt zurück, Manner ließ den Taktstock plötzlich sinken und starrte mit weit geöffneten Augen auf die Bühne, die Orchestermitglieder erhoben sich von ihren Sitzen, und alle blickten wie versteinert die Künstlerin an. Eine Weile herrschte tiefe Stille.
»Gespenster,« flüsterten sie oben auf den Brettern.
»Der Geist von Richard Assing geht um,« murmelten sie unten im Orchester.
Und sie hatten recht. Denn Constanze, die ihrem Vater eigentlich nicht ähnelte, glich dem Verstorbenen in dieser Maske so erschreckend, so furchtbar, so erschauernd, daß man an eine Wiederkehr der dahingeschiedenen Seele aus dem Geisterreich gemahnt wurde. Einer Prophetin glich Constanze, einer Seherin, die weit, weit in die grausige Zukunft blickt. Lange noch standen sie alle unter diesem Bann, und allen klang es noch nach, dies schaurige, Mark und Bein erkältende:
»Haltet ein! Laßt diesen Frevel nicht gescheh'n!«
Aber nicht nur in den beteiligten oder dem Theater nahestehenden Kreisen wuchs das Interesse für das Werk, über dessen dichterische und musikalische Schönheiten Wunderdinge erzählt wurden: in den parfümierten Salons und verräucherten Brauhäusern, in den Restaurants, den Cafés, den Wirtschaften und »Beiseln«, am Hofe und an der Börse, in den Ateliers, Foyers der Theater, den Hörsälen und den Offizierskasinos surrte und schwirrte es von Camille Dupatys »Liebestod«. Die nun einmal nicht zu vermeidenden Indiskretionen einzelner Mitglieder des Theaters, die sich bei nachrichtenhungrigen Reportern beliebt machen wollten, hatten allerhand übertriebene Gerüchte über die »märchenhafte Inszenierung«, allerhand törichten Kulissenklatsch und -tratsch in die »Bildblattln« lanciert; das Münchener Publikum aber legte, mit dieser armseligen Sudelpresse vertraut, auf deren Tatarennachrichten keinen Wert. Was das Interesse der Intelligenten und Kunstfreundlichen in hohem Maße erregte und gesteigert hatte, waren die zwei vorbereitenden Artikel, die Sigmund Freystätter in seiner Zeitung veröffentlicht hatte; denn sein reifes Urteil wurde geschätzt und geachtet. Und in diesen beiden Aufsätzen hatte er, der immer Gerechte und Maßvolle, mit lodernden und flammenden Worten, mit prachtvollem und überzeugendem Enthusiasmus auf die Dichtung und dieses neuerstandene Genie hingewiesen, während er über die Musik erst nach der Aufführung zu berichten versprach, daß alle Welt aufhorchte und dem großen musikalischen Ereignis mit immer wachsender Spannung entgegensah. Und was vollends die Erwartung zu fieberhafter Ungeduld gesteigert hate, war die Nachricht, daß »der Assing«, dem vergötterten Liebling der Münchener, in einer gewaltigen Rolle Gelegenheit geboten sei, ihr Genie in strahlendstem Glanze leuchten zu lassen.
Camille hatte in den Wochen anstrengendster Proben mit rühmenswerter Entsagung Constanzens Wünsche geehrt und ihre Schwelle niemals überschritten; aber er hatte es sich nicht nehmen lassen, täglich einen Strauß dunkelroter Rosen, Constanzens Lieblingsblume, in die Schönfeldstraße zu senden, und Constanze dankte für diese reizende und sie innig erfreuende Aufmerksamkeit, indem sie niemals unterließ, mit ein paar Rosen im Gürtel auf der Probe zu danken. Aber diese bittere Entbehrung, welche sie sich und ihm auferlegt hatte, diese wuchtende Last, deren Bürde sie wohl beide zu gleichen Teilen trugen, hatte bewirkt, daß die Verleumdung sich nicht an sie heranwagte und auch nicht der leiseste Hauch ihren makellosen Ruf trübte. Während Camille, schon jetzt der Löwe des Tages, in den ihm von früher vertrauten Salons sich verhätscheln, umschwärmen und bewundern ließ, hatte Constanze, um ihre Kräfte für die bevorstehende Entscheidungsschlacht zu schonen, alle Einladungen abgelehnt. Nur zu dem Diner hatte sie ihr Erscheinen zugesagt, zu dem der Intendant den Komponisten, den Generalmusikdirektor Manner, die Solisten und sämtliche Kammermusiker nach der Probe geladen hatte, und trotzdem sie nach der Hauptprobe, die völlig der ersten Aufführung glich, sich sehr erregt und angegriffen fühlte, wollte sie doch aus Liebe für Dupaty und aus Kollegialität gegen alle Mitwirkenden ihr Wort halten.
Als sie im Flur den Pelz ablegte und vor dem Spiegel die Rosen im Gürtel ordnete, stand plötzlich Camille, der in demselben Augenblick gekommen war, hinter ihr. Sie drehte sich nicht nach ihm um, sie sah ihn nur im Spiegel und hörte, wie er ihr schnell und leidenschaftlich zuflüsterte:
»Constanze! übermorgen nach der Aufführung darf ich zu Ihnen kommen? Nur auf einen Augenblick? … Darf ich?«
Und sie lächelte ihm zu … Der erste, den sie in der sehr zahlreichen Gesellschaft sah, war Freystätter, und sie verstand die wohlüberlegte List des Hausherrn, der auf diese Weise Dupaty mit dem einflußreichen Kritiker bekannt machen und ihnen beiden Gelegenheit zur Aussprache geben wollte. Der Intendant begrüßte aufs herzlichste die Künstlerin, die bei ihrem Eintritt mit minutenlangem Beifall empfangen wurde, und stellte dann die zufälligerweise in der Nähe stehenden Herren einander vor:
»Herr Camille Dupaty … Herr Doktor Freystätter.«
Beide reichten sich mit artigster Verbeugung die Hand und wechselten einige Worte, die Constanze nicht verstehen konnte. Manner war zu ihr getreten und sprach mit ihr; aber zum ersten Male schenkte sie dem glitzernden Geplauder dieses geistreichen Menschen keine Beachtung. Sie konnte den Blick nicht von den Männern wenden, die sie beide liebten, und sie verglich sie miteinander; den einen in seiner siegreichen Schönheit, dem sie ihr Herz geschenkt und dem sie sich zu eigen geben wollte, mit dem anderen in seiner gedrückten Häßlichkeit, dem sie nie mehr als ein guter und dankbarer Kamerad sein konnte. Als der Intendant Constanzen zur Tafel führte, mußte sie lächeln über des Wirtes diplomatisches Arrangement, das an einem der kleinen runden Tische, an denen gespeist wurde, Dupaty und Freystätter ihr gegenüber vereinigt hatte. Und wie überall in den beiden Sälen bildete natürlich auch an diesem Tische die Generalprobe das einzige Gespräch, deren ungeheure und überwältigende Wirkung noch in allen nachzitterte. Darüber herrschte nur eine Meinung, selbst unter den alten Orchesterleuten, diesen »Zwiderwurz'n« und professionellen Besserwissern, die an allem nörgelten und alles zu verkleinern suchten, daß hier ein glücklichster und seltenster Zufall zwei Menschen zusammengeführt hatte, deren Genius sich aufs wunderbarste miteinander verschmolzen, daß der Mann, der dieses Werk erdacht, und die Frau, die es verkörpert, ein Paar sei, dem die Vorsehung ihr gütiges Lächeln geschenkt. Und daß es etwas Natürliches, ja Unabwendbares sei, daß ihre Herzen einander zufliegen, und daß sie sich in heißer, unendlicher und nie versiegender Liebe einander angehören.
»Sie lehren an Wunder glauben,« wendete sich Manner zu Constanzen, indem er das Austernmesser hinlegte. »Sie haben sich auf den höchsten Gipfel tragischer Kunst geschwungen … ein Mehr ist nicht möglich! Ich habe sie alle gehört … diese Großen … die Größten … ich habe wundervollste Stimmen gehört und Menschendarstellungen gesehen, die mich hingerissen haben … so schrankenloses, lauteres, leuchtendes Gold sah ich noch nie! … Man steht da vor etwas, was man nicht begreifen und nicht fassen kann … das man nur anstaunen und dem man sich willenlos gefangen geben muß. Es ist etwas ganz Unverständliches um diese Art der Wandlungsfähigkeit … ein Rätsel, ein Phänomen … wie es möglich ist, sich so in eines anderen Charakter zu versenken, ihm in die geheimsten Verästelungen der Seele nachzuspüren, so in ihm aufzugehen, so überzeugend … was sage ich! … so überwältigend, so berauschend und dämonisch … so rührend, so ergreifend, so versöhnend!«
»Liebster Freund,« wehrte ihm lächelnd Constanze, »Sie heben mich so hoch in die Wolken, daß mir die Rückkehr zur Erde zu schwer wird. Das wußte und fühlte ich gleich, als ich das Werk las, daß diese Aufgabe meiner künstlerischen Art nicht nur entspricht, daß sie sie ausschöpft bis zum Grunde! Daß ich für diese Frau, für deren Liebe und Leid, für ihr jubelndes Glück und ihren jauchzenden Tod die richtigen Töne finden werde. Sie werden sich entsinnen, wie ich bei Ihrem Frühstück von dem Werke sprach, und Sie werden mir die tiefe und innige Begeisterung nachgefühlt haben, die mich ergriffen hatte und völlig berauschte!«
»Ich weiß, ich weiß!« erwiderte ihr Manner, der mit seinen schönen, ein wenig durch des Lebens Hast verschleierten Augen Constanzen anblickte. »Dupaty! Sie sind ein Glückskind, ein vom Himmel gesegnetes Sonntagskind, ein Liebling der Götter, die Sie für Ihr Genie eine solche Fürsprecherin finden ließen!«
Dupaty erhob sein Champagnerglas, senkte es tief vor Manner und leerte es dann auf einen Zug. Und alle folgten seinem Beispiel.
»Herr Dupaty! Fräulein Assing hat mir berichtet,« sagte Freystätter, der bis dahin wohl in Gedanken ganz versonnen geschwiegen hatte, mit etwas zögernder und leiser Stimme, »daß Sie den größten Teil Ihres Werkes schon geschaffen hatten, bevor Sie die künstlerisch ganz eigenartige Macht ihrer Persönlichkeit kennen gelernt hatten. Und das erscheint mir das wunderbarste …«
»Ganz recht, ganz recht,« warf Constanze ein, »er hatte mich geahnt!«
»… das allerwunderbarste,« fuhr Freystätter fort. »Hätten Sie Fräulein Assing von Kindesbeinen gekannt, ihr künstlerisches Wachstum mit liebenden und zärtlichen Augen und geschärftesten Sinnen verfolgen und alle Wandlungen ihres Charakters beobachten und alle Geheimnisse ihres Herzens ergründen können und hätten aus allen diesen Zügen und Eigenheiten die Gestalt der Frau geschaffen, die in Ihrem ›Liebestod‹ zugrunde geht … es bliebe noch gerade genug Geniales … daß Sie ihr aber völlig fremd waren und mit einem Instinkt ohnegleichen, mit einer beispiellosen Divinationsgabe die Künstlerin vorausgesehen haben … das ist ein Problem, über das ich ebenso oft als vergeblich nachdenken mußte.«
»Ich glaube, Herr Doktor,« erwiderte Dupaty, der gierig diese Schmeicheleien einsog, der jedes bewundernde Wort förmlich an sein Herz drückte, und dessen leuchtende und unstet flackernde Augen bewiesen, wie dieses Lob tief in seines Wesens Kern drang, »ich glaube, Sie überschätzen mich. Ich habe aus Sage und Geschichte, aus Erinnerung und … eigenem Erleben die Gestalt der Frau gewoben, habe ihr Schicksal gebildet und geformt, auf die Höhe und in die Tiefe geführt und bin mir selber eigentlich gar nicht klar gewesen über die Wirkungsmöglichkeiten. Als ich Fräulein Assing sah, war ich selbst erstaunt und verwundert über die Plastik der Gestalt, die diese begnadete Künstlerin vor mir erstehen ließ. Daß die Vorsehung sie geschaffen, daß ich sie fand, daß sie mir ihr Genie geliehen, das ist nicht mein Verdienst, das ist ein überschwängliches Glück, das mich beseligt, und für das zu danken mir die Worte fehlen.«
Er hatte das mit so liebenswürdiger und herzgewinnender Bescheidenheit gesagt, daß Constanze ihn lange und innig anblickend mit den Augen küßte und Freystätter, alle Schüchternheit vergessend, ihm in aufrichtiger Herzlichkeit erwiderte:
»Gleichviel, ob Sie sich dessen bewußt waren, was Sie schufen: Sie haben es geschaffen, und dafür wird Ihnen übermorgen München, wird Ihnen bald die Welt danken!«
Und Manner reichte gleichzeitig Constanzen und Dupaty über den Tisch die Hände und rief in tiefer Bewegung und hinreißender Begeisterung:
»Ach, Kinder! das Leben ist doch schön!«
Die vier Gläser klangen hell und harmonisch zusammen … und als Constanze mit Freystätter anstieß, sagte sie:
»Prosit, mein lieber treuer Spezi!« und lieh ganz unbewußt diesen Worten eine solche Herzenswärme, daß sie ihm, wie ein süßer zauberischer Klang aus der Jugendzeit ertönten, aus der holden kindischen Zeit, da er sich zu ihr neigte, da seine Liebe keimte und blühte und wuchs … und er erhob sein Glas und rief ihr zu:
»Prosit, mein liebes Stanzerl!«
Dupaty fragte verwundert und nicht ohne Schärfe:
»Wie meinten Sie, Herr Doktor?«
»Ich rief Fräulein Assing, wie ich sie in der Jugend genannt habe!«
»Das ist ein bißchen lange her,« erwiderte unüberlegt Dupaty, der ein paar Glas Sekt schnell heruntergegossen hatte.
»… und ich glaube,« erwiderte Freystätter kalt, »daß nur Fräulein Assing selbst das Recht zusteht, mir diese Harmlosigkeit zu gestatten oder zu verbieten.« Und einen Augenblick, nicht länger während als einen Atemzug, kreuzten sich die Blicke der beiden Männer, wie ein paar scharf geschliffene Toledaner Klingen.
Constanze sah Dupaty mißbilligend und mit leichtem Stirnrunzeln an, als ob sie sagen wollte: »Erstens hast Du noch nicht das Recht, mir Ritterdienst zu leisten, und zweitens ist es unklug von Dir, gerade diesen Mann zu reizen.« Und es herrschte einen Moment verlegene Stille an dem kleinen Tisch.
Als Retter in der Not erschien der alte, immer »grantige« Kammermusiker Zirnbauer, der plötzlich aufstand und mit vollen Backen kauend sagte:
»I' mecht' nur a mal ergebenst fragen, weswegen denn eigentlich auf der drüberen Seiten alles zwamal serviert wird, und bei mir nur amal und dös knapp!«
Alle lachten und tranken dem urwüchsigen Münchener Original zu, das »ka Scheniren net kennt«.
Mitten in das Gelächter klingt scharf der Anschlag an ein Glas, der Lärm verstummt; Freystätter ist hinter seinen Stuhl getreten und spricht, bleich bis in die Lippen:
»Der Kunst, der wir alle dienen, der keuschen, jeder Unehrlichkeit und jedem Verrat abholden Priesterin, der Kunst, die das Leben verherrlicht und verschönt, die Menschen veredelt und erhebt, tröstet und beglückt, die alle Erdenschwere von uns nimmt: ihr weihe ich mein Glas!«
Der kleine schmalbrüstige, unansehnliche Mensch, an dessen Wiege wahrhaftig nicht die Grazien gestanden haben, wächst mit jedem Wort, seine häßlichen Züge veredeln sich, und er ist schön in diesem Augenblick echtester Begeisterung. Alle erheben die Gläser und trinken ihm jubelnd zu. Dupaty senkt vor ihm das Glas, sie stoßen miteinander an und der schon ein wenig bedrohte Friede ist wiederhergestellt.
Gleich nach Aufhebung der Tafel fuhr Constanze nach Hause. Plötzlich war starker Schneefall eingetreten. Durch die mit weißer Watte ausgepolsterten Straßen glitt Constanzens Wagen, und in der lautlosen Stille, die sie umgab, versank sie in Träumerei. Als sie vor ihrem Hause aus dem Wagen stieg, erschrak sie heftig, denn sie sah mitten im Schnee einen großen Fleck Blut … aber es war nur ein rotes Tuch, das jemand verloren hatte.
Auf Vorschlag des Kammermusikers Zirnbauer, der sich durch seinen Beschwerdetoast in großes Ansehen gesetzt hatte, tappten sämtliche Herren, nachdem sie die Damen in Fiaker und Schlitten wohl verfrachtet hatten, durch den gleichmäßig rieselnden Schnee, um durch eine Maß Hofbräu den würdigen Abend würdig zu beschließen, nach der »Löwengrube«, wo es jetzt nach dem unantastbaren Urteil des sachverständigen Primgeigers den besten Tropfen gäbe.
Aber auf eine so große und so plötzliche Invasion war die Wirtschaft doch nicht vorbereitet. Die Kellnerin verlor die Zahltasche, der Bierschenk verlor die Fassung, und der Wirt verlor den Kopf. Bis dann endlich nach langwieriger strategischer Ueberlegung durch Zusammenrücken der Tische, durch Herbeischaffen von leeren Fässern, welche die fehlenden Stühle ersetzen mußten, und durch Oeffnen des Nebenzimmers, das eigentlich Eigentum des Gesangvereins »Keuchhusten« war, Platz gemacht war für die ebenso stattliche als lustige Gesellschaft, die sich in ihren besternten Fracks und mit den über die Hemdenbrust quellenden, buntfarbigen Ordensbändern seltsam genug ausnahm in dieser alten, verräucherten, nach kaltem Zigarrendampf, Rettichen, Bier und zweifelhaftem Fett stinkenden, aber doch urgemütlichen Kneipe. In der war alles geblieben, wie es einst gewesen: die roten, befleckten Tischtücher mit den schmierigen Bieruntersätzen, mit dem Salzfaß, in dem sich die Konturen kräftiger Daumen abzeichneten, mit der fettigen, geschriebenen, orthographisch nicht ganz einwandfreien Speisenkarte und an der Wand dem Oeldruck des Königs Ludwig, der in hellblauer Uniform und zinnoberroten Backen die schwärmerischen Augen immer noch nach oben richtete, um das banale Treiben seiner bierseligen Landeskinder nicht ansehen zu müssen. Ja, alles war geblieben, wie es einst gewesen. Nur daß die Kellnerin noch älter, der Bierschenk noch gröber und der Wirt noch dicker geworden war. Ja, alles war geblieben, wie es einst gewesen.
Da stand auch noch am Fenster der runde Tisch, an dem Richard Assing viele Jahre seinen Abendtrunk zu sich genommen hatte; und nach alter Gewohnheit hatte die Kellnerin den Stuhl noch immer für ihn umgelegt, trotzdem es doch höchst wahrscheinlich war, daß er ihn nie mehr benutzen würde. Ja, alles war geblieben, wie es einst gewesen. An dem runden Tisch saß noch, dem leeren Stuhle gegenüber, unter der laut singenden Gasflamme ein kleines Männchen und schien auf die säumigen Zechgenossen zu warten. Und drehte die Daumen umeinander und starrte ins Leere. Und dieses Männchen war der Buchbinder Gerum. Niemand aus der übermütigen Gesellschaft schenkte dem einzelnen Gaste Beachtung. Der Wirt schleppte die Maßkrüge herbei, die der Bierschenk gottsjämmerlich gefüllt hatte, weil er mit der schon etwas vorgerückten Stimmung der »Kaveliere« rechnete; die Kellnerin holte aus ihrer Schürze von recht zweifelhafter Sauberkeit die hellen zähen Wassersemmeln und dunkeln alten Schwarzbrotschnitten und schrie dazu unaufhörlich, ob die Herren »an Kas« oder den feinen, »den Fromasch-Kas« wollten; der Kammermusiker Zirnbauer, der beim Diner lebhaften und lauten Protest gegen die unzureichende Atzung ausgesprochen hatte, verlangte eine saure Leber, welche Bestellung unliebsame Störung verursachte bei dem gesamten Küchenpersonal, das aus einer verschlafenen Magd bestand; der Qualm der Zigarren und Zigaretten drängte zur geschwärzten Decke, und die Fidelitas stieg. Nur der alte Buchbinder Gerum saß stumm und scheinbar teilnahmslos in der Ecke am Fenster. Einer aus dem Orchester, der Hoboist Hindelang, der sich durch seine klavieristischen Ulkereien in den Künstlervereinen »Allotria« und »Hölle« eines großen Ansehens erfreute, setzte sich an das im Nebenzimmer unter einem Stoß schmutziger Servietten, Bierfilze und Bestecke schlummernde Pianino und begann die wiegenden Walzer aus der »Fledermaus« mit dem hehren Schlußgesang aus dem »Liebestod« in so lustiger und geistreicher Weise zu verweben, daß alle in lauten Jubel ausbrachen und selbst Dupaty, der sich vor Lachen schüttelte, die Tränen über die Wangen liefen. Und plötzlich sprang Eduard Manner, trotzdem er Königlicher Generalmusikdirektor war und sich »hoher und höchster Orden« erfreute, ganz würdelos auf einen Tisch und schrie über den ganzen Lärm hinweg:
»Ein Hoch dem Schöpfer des ›Liebestod‹ … Camille Dupaty hoch … hoch … hoch!«
Alle fielen mit mehr oder minder melodischen, stark angefeuchteten Stimmen ein, und brausender Jubel erfüllte den stickigen, niedrigen Raum. Und plötzlich riefen einige: »Pst! Ruhe! Ruhe!« und nach und nach trat – man wußte eigentlich noch gar nicht warum – tiefe Stille ein, und alle blickten nach dem runden Tisch am Fenster. Dort stand das kleine Männchen, der Buchbinder Gerum; er war sehr bleich und sagte dann:
»Meine Herren! verzeihen's mir viele Mal', daß i Ihne in Ihrer Gemütlichkeit störe. I bin net so g'scheit wie Sie, und scheene Worte kann i net machen. Aber schaun's, wann i Ihne so alle anschaug', wie Sie so fröhlich beisammen sind, dann muß i immer an anen denken, der doch aach amal zu Ihnen g'hört hat, und der nun nimmer da ist: an meinen hochverehrten Freund, den Herrn Professor Richard Assing. Er war a seelensguter Mann, er war a g'scheiter Mann, und er war a sehr a unglücklicher Mann. Der Herr, den's da eben haben hochleben lassen … der is sei Schüler g'wesen … den hat er g'liebt wie sein eigen Kind, und dem hat er vertraut, mehr wie seinem eigenen Kind. Und da moan i halt,« und seine Stimme zitterte, »daß wir in dieser Stund' aach an ihn denken, und daß wir ehm a stilles Glas weihen!«
Herr Buchbinder Gerum schluckste, und die Tränen stürzten ihm aus den Augen. Alle hatten sich erhoben, und unter tiefer und feierlicher Stille leerten sie die Krüge. Manner ging zuerst auf den kleinen Handwerker zu und schüttelte ihm herzlich die Hand, dazu gesellten sich viele andere und unter ihnen auch natürlich Camille Dupaty, der die Bekanntschaft mit diesem »Demosthenes aus dem Kleistertopf« erneuerte. Und es war sehr eigenartig anzuschauen, wie dieser hochragende, schöne und siegesgewisse Jüngling herablassend mit dem kleinen, häßlichen, bescheidenen Männchen sprach.
Draußen rieselte und flockte der Schnee. Endlich trennten sich die lustigen Zechbrüder und patschten mit aufgestülptem Mantelkragen und umgekrempelten Beinkleidern durch das sich auftürmende, blendend weiße, glitzernde und knirschende Gebirge.
Nicht Zufall war's, sondern Absicht, daß Doktor Freystätter den alten Buchbinder durch das Gewirr der winkligen und schlafenden Gassen nach Hause begleitete.
»Ich habe eine Bitte, Herr Gerum,« sagte Freystätter, während die stöbernden Schneeflocken ihm den Schnurrbart weißten, »Sie haben, wie ich soeben hörte, den Herrn Professor Assing ja genau gekannt?«
»Dös glaab' i!« erwiderte der Alte.
»Ich arbeite nämlich an einer Biographie Assings, wissen Sie, das ist so eine Lebensbeschreibung …«
»Versteh' schon … versteh' schon!«
»… und da würde ich Ihnen sehr dankbar sein, wenn Sie mir mal gelegentlich so von ihm erzählen wollten, was er so an den vielen Abenden, die Sie mit ihm zusammen waren, mit Ihnen gesprochen hat … so einzelne Züge, kleine Erlebnisse … kurz, was Ihnen so grade einfällt. Ich kann alles gebrauchen!«
»Ja wissen's, Herr Doktor,« brummte Herr Gerum, indem er Freystätter mißtrauisch ansah, »viel is dös net … viel g'sprochen hat der Herr Professor net … da war's schon besser, wann Sie sich an den Herrn Dupaty wenden möchten. Aber wann mal der Weg Ihne grad' bei mir vorbeiführt, und wann i recht nachdenk … a bisserl könnt' doch am End' für Ihne abfallen! I bin jetzt z' Haus. Gute Nacht, Herr Doktor, angenehme Ruh!«
Herr Gerum sperrte die alte knarrende Tür auf, hinter der er verschwand.
Sigmund Freystätter achtete nicht auf das immer dichtere Schneegestöber, in Gedanken ganz versonnen strebte er seiner Wohnung zu, und immer wieder und wieder klang es ihm ins Ohr: »Prosit, mein lieber, treuer Spezi!« … »Prosit, mein liebes Stanzerl!«
Vom Turm der Frauenkirche schlug es drei.
Daran ist nicht zu rütteln, daß es am 15. März, am Tage der ersten Aufführung des »Liebestod«, in keinem Hause der lieben Stadt München – weder in der Schönfeldstraße, wo Constanze wohnte, noch im Hotel zu den »Vier Jahreszeiten«, in dem Camille logierte, – daß also in keinem Hause solche Aufregung herrschte wie in dem Hause Kaufinger Straße, in welchem Herr Salomon Freystätter sein Manufakturwarengeschäft betrieb. In den geheiligten Räumen, in denen die Bettbezüge und die Kleiderstoffe, die Lodenmäntel und Krawatten der Käufer harrten, in denen die Jacketts und Roben über üppige Formen vorspiegelnden Rohrpuppen mit blödsinnigen Gesichtern hingen, herrschte wegen des Samstags feiertägliche Stille, um so lebendiger aber gestaltete sich das Leben im ersten Stock, in dem Herr Salomon und Frau Ralchen ihre Residenz aufgeschlagen hatten. »Mei Sig« hatte nämlich nebst seinem nur für seine Person gültigen Passepartout von der Intendantur noch ein Parkettbillett erhalten und hatte seine Mutter eingeladen, sich von diesem exponierten Platz aus nach einer größeren Pause der staunenden Mitwelt zu zeigen und sich bewundern zu lassen. Man kann mit Fug und Recht von einer »größeren Pause« sprechen, denn Frau Ralchen, die keine Freundin von der »Kummedispillerei« war, hatte das letztemal das Hoftheater vor vierunddreißig Jahren mit ihrem allerhöchsten Besuche beehrt, und zwar auf ein Freibillett. Von seiner Mutter hatte »mei Sig« wahrhaftig nicht die Liebe zu den »weltbedeutenden Brettern«, zur Musik und Poesie geerbt, denn Frau Ralchens Kenntnisse beschränkten sich auf »Lumpazivagabundus« und den »Vetter aus Bremen«, und sie hatte in den vier Jahrzehnten ihrer Ehe nicht die geringste Lust verspürt, diese doch immerhin recht bescheidenen Kenntnisse zu erweitern. Für sie war also der heutige Tag von entscheidender Bedeutung; schon am frühen Morgen hatte sie sich mit der auf denselben Glauben eingeschworenen Köchin Veilchen in ihre Kemenate zurückgezogen, um mit ihr die wichtige Toilettenfrage zu besprechen und fürchterliche Musterung in ihrem Kleiderschrank zu halten. Und das gab zu stundenlangen Hakeleien zwischen Herrin und Dienerin Anlaß. Veilchen bestand mit aller Energie auf der hellgrauen, baumwollenen Atlasrobe, in der Frau Ralchen vor vierzig Jahren leichtsinnig das »Ja!« vor dem Rabbiner in Neumarkt bei Ifterdingen gesprochen hatte, während Frau Ralchen mit ebenso großer Energie, die sich heute merkwürdigerweise zu argen Verbalinjurien steigerte, für das Schwarzseidene mit den grünen Punkten eintrat. Ja, es muß gesagt werden, und da nützt kein Beschönigen und Bemänteln: Frau Ralchen war heute schlecht gelaunt, viel mehr noch, sie war gereizt, war empört, war fuchsteufelswild, ja sie war geradezu giftig. Und die Frau möchte ich sehen, die sich an diesem Tage nicht in derselben Gemütsverfassung befunden hätte. Der Zufall hatte sie nämlich gestern auf ihrem Spaziergange mit dem Hofkürschner Herrn Moritz Silberstein zusammengeführt, und als sie ihn beauftragte, ihr den Zobelkragen »doch ä mal a bisserl zu modernisieren«, hatte dieser Rohling ihr kaltlächelnd geantwortet:
»Frau Freystätter, was tun Sie mit dem Stuß? Auf den alten Hasen legt man ka gutes Geld drauf!« Im ersten Augenblick hatte sie geglaubt, daß Herr Moritz ( recte) Moses Silberstein sich in lange angesammeltem Rachegefühl zu dieser sinnlosen Verleumdung hätte hinreißen lassen; denn sie hatte ihm in ihrer Maienblüte »mal ä Korb gegeben, weil er nix war, dafür aber Plattfüß hatte«. Aber nach und nach dämmerte es doch in ihrem kleinen Gehirn auf, daß nicht der einst abgewiesene Freier der Schuldige war, sondern ihr eigener Gemahl, Herr Salomon Freystätter. Und diese furchtbare und niederschmetternde Erkenntnis, daß der Mann, dem sie eheliche Treue geschworen und gehalten hatte, sie vierzig Jahre lang getäuscht und belogen, daß die ganze Geschichte mit dem Zobel der russischen Kaiserin eine niederträchtige, schreckliche Lüge gewesen: das hatte das gute kleine Ralchen außer Rand und Band gebracht und in dieser zu Explosionen geneigten Stimmung wirtschaftete sie den ganzen Vormittag herum. Und um ihr die gute Laune vollends zu rauben und diesen Tag zum »schwarzen Samstag« zu gestalten, hatte ihr heute morgen Herr Ohlesberger auf einem großen blauen Briefbogen mitgeteilt, daß es ihm gelungen, »die schöne Ella Reiffenberger zu verloben, und zwar mit Herrn David Rothstein von Meyer Rothstein sel. Wwe. & Söhne« … »ausgerechnet mit dä Konkurrenz von vis-à-vis«!
Zunächst wollte sie durch ein raffiniert schlechtes Mittagessen ihren frevlerischen Gatten strafen, aber da sie es doch selber hätte mitessen müssen, stand sie von diesem teuflischen Plan ab und beschloß, ihre Kräfte nicht zu zersplittern, sondern zu einem grausigen Sturmangriff zu sammeln.
Der Bösewicht, der die höchst seltene »Neigung zu Gewitterbildung« bei seinem Ralchen bemerkte, witterte Morgenluft und zog sich unter Verzicht auf sein Mittagsschläfchen in der schummerigen Sofaecke nach dem Café Karlstor, wo er unter dem Schutz seiner Spießgesellen Gutmann, Pickenbach und Heuberger jedenfalls bis zum Schluß des Theaters sich zu verankern fest entschlossen war.
Frau Ralchen hatte unter dem Beistande des verschwiegenen Veilchen nach dreistündigen Anstrengungen ihre Toilette beendigt und präsentierte sich ihrem Sig, der schon ungeduldig auf sie wartete, so stattlich in ihrer schwarzseidenen, grünpunktierten Robe, über die sie wieder ein bißchen viel Goldschmuck gestreut hatte, daß er zufrieden lächelte und ihr die alten verrunzelten Backen streichelte.
Als er ihr in den Fiaker half, fragte er sie, ebenso besorgt wie ahnungslos, warum sie denn bei dieser Hundekälte nicht ihren Pelzkragen umgelegt habe … Frau Ralchen aber erwiderte mit einem Stolz und einer Hoheit, um die sie die Wolter und die Ristori zu beneiden allen Grund gehabt hätten:
»Mei Sig, Dei' Mutter trägt ka Hasenfell!« … Und durch die gleichmäßig niederrieselnden Schneeflocken fuhren sie nach dem Hoftheater.
Trotzdem es erst sechs Uhr war, also eine halbe Stunde bis zum Beginn fehlte, herrschte vor dem Musentempel schon regstes Leben, das sich von der sonstigen Verschlafenheit, deren sich der Max-Josef-Platz erfreut, wesentlich unterschied. Zu Fuß und zu Wagen strömten die Menschen zum Portikus, und da alles wie am Schnürchen ging, hielt sich der berittene Gendarm, der Napoleon den Ersten bei Leipzig markierte, sonst aber keine Aehnlichkeit mit dem Korsen besaß, für durchaus berechtigt, um doch einen Beweis seiner Gegenwart zu geben, die Kutscher furchtbar anzuschnauzen, die in angeborener Respektlosigkeit vor der heiligen Hermandad mit meist dem Reiche der Zoologie entnommenen Liebenswürdigkeiten antworteten. Im hohen, säulengetragenen Vestibül, in welchem der baumlange Portier mit Dreispitz, Bandelier und Stab den Komtur aus dem »Don Juan« kopiert, tummeln sich die Menschen. Die Herren wischen sich die Flocken aus den Bärten, reinigen die beschlagenen Brillengläser und trampeln sich den an den Sohlen festgebackenen Schnee ab; die Damen lösen die Kopftücher von den bepuderten Frisuren, die meisten Billettinhaber strömen, einem unerforschlichen Naturtriebe folgend, nach der falschen Seite, die Zettelverkäufer rufen die Textbücher zum »Liebestod« aus, durch die unaufhörlich auf- und zuklappenden Eingangstüren dringt eisige Luft, und da viele die Passage verengen, die keine Plätze mehr erhielten, aber durch umgeschnallte Operngläser den Anschein erwecken wollen, als ob es ihnen gelungen sei, dem seltenen Schauspiel beiwohnen zu können, wird das Getöse immer lauter, das Gedränge immer stärker und für Frau Freystätter immer beängstigender. Sigismund bugsiert die kleine Frau durch die überfüllten Korridore; es gelingt ihm, dem bekannten Stammgast, an der Garderobe bevorzugt zu werden; Frau Ralchen wirft noch einen letzten befriedigten Blick in den Spiegel, humpelt an ihres Sohnes Seite in den Saal und nimmt in der zweiten Parkettreihe Platz.
Der Riesenraum mit seinen vier Rängen ist, soweit die noch spärliche Beleuchtung erkennen läßt, noch ziemlich leer. Nur auf der obersten Galerie drängt sich schon Kopf an Kopf, all diese musikhungerigen Konservatoristen mit den noch bartlosen Gesichtern und den langen Mähnen, all diese hoffnungsreiche, vorwärtsstürmende, darbende Jugend, von denen jeder einzige nach dem sonnigen Ziele strebt, mindestens ein Richard Wagner oder Camille Dupaty zu werden … Der eiserne Vorhang ist noch heruntergelassen.
Frau Ralchen studiert mit vorgehaltener, langstieliger Lorgnette, die sie von ihrer Urgroßmutter väterlicherseits geerbt hat, den Theaterzettel.
Aber sie kann nicht lesen; sie erschrickt plötzlich so heftig, daß Sig sie besorgt fragt, was ihr denn fehle?
»Was mir fehlt? Mei' linker Gummischuh fehlt mir. Hab' ich ihn verloren oder hab' ich ihn überhaupt net angezogen? Wahrscheinlich verloren! Der ganze Tag war heute schon so vermurkst!«
Auf beiden Parkettseiten strömt das Publikum herein, die Damen in hellen Toiletten, die Herren in Frack und weißer Binde, der große Kronleuchter flammt auf, was, wieder einem unerforschlichen Naturtriebe zufolge, ein allgemeines kindliches »Ah« hervorruft, durch die geöffneten Logentüren fällt grelles Licht von den Korridoren her in den Saal, langsam und geräuschlos schiebt sich der eiserne Vorhang auseinander, hinter dem eine für den »Liebestod« gemalte, in Grün und Gold phantastisch gehaltene Gardine sichtbar wird. Lakaien legen in den hell erleuchteten Hoflogen die Zettel über die Brüstung, im Orchester tauchen einzelne Köpfe unter den mit grünen Schirmen bedeckten Lampen auf, die Billetteure in blauer Livree mit silbergestickten Kragen weisen, die Nummer der Reihe rufend, die Plätze an; von der Galerie fliegt ein Zettel herunter und flattert umher, bis er endlich sein Ziel im Schoß einer entrüsteten Dame erreicht; aus dem Orchester steigt der Lauf einer Klarinette; das Parkett wogt wie eine unruhige See; man lacht, man plaudert, man grüßt nach den Rängen; in der linken Orchesterloge zeigt sich der Intendant, der mit artigstem Lächeln seinen besternten Kollegen die Sessel zurechtrückt. In einer Loge verabredet eine vornehme Dame mit elegantem Fächerspiel ein Stelldichein mit einem ihr gegenübersitzenden Herrn. Der Kronleuchter spiegelt sich in den scharfgeschliffenen Operngläsern. In den Seitenlogen neben der großen Hofloge werden die feinen aristokratischen Gesichter der obersten Hofbeamten sichtbar, über dieser Loge im dritten Stock drängen sich die Schauspielerinnen und Schauspieler, deren charakteristische Köpfe jeder kennt. In den Logen rechts und links von der Bühne erscheinen die Prinzessinnen in großer Toilette, in goldstrotzenden Uniformen die Prinzen. Durch die Pulte des nunmehr vollzählig versammelten Orchesters drängt sich der Generalmusikdirektor Manner, mustert von seinem erhöhten Sessel das überfüllte Haus und grüßt einige schöne Frauen im ersten Rang. In der hinter der Galerie noble liegenden »Wolfsschlucht« bilden die berühmten Maler, Dichter und Bildhauer eine viel beachtete Gruppe, im Parkett überall die Direktoren, Kapellmeister, Regisseure und Kritiker von den auswärtigen Bühnen … Jeder und jede von allen, die da lächeln, plaudern, kokettieren und grüßen, wollen bemerkt, beachtet, bewundert sein; jeder und jede sucht die Aufmerksamkeit der Reporter zu erregen, um morgen in der Zeitung unter den Anwesenden genannt zu werden … Das Wehen der Fächer, das Rascheln der Zettel und Textbücher, das Stimmen der Instrumente, das Räuspern, Scharren, Summen, Surren und Flüstern der zweitausend Zuschauer vereinigt sich zu einem eigenartigen Tongewirr.
Noch erregter, gespannter, bunter und fieberhafter pulst das Leben hinter dem Vorhang. Aus den Seitenkulissen strömen in Mänteln und Rüstungen der weibliche und männliche Chor, die Tänzer und Tänzerinnen, die zur Verstärkung der Statisten befohlenen, in Widderfellen steckenden Soldaten, die verständnislos und mit blödem Lächeln den Mummenschanz anglotzen; ein Friseur mit dem Kamm im Haar zupft den herabwallenden Bart des Bassisten zurecht; vor einer Solistin kniet, am Saum des Gewandes nestelnd, die Obergarderobiere. Sie trägt eine riesige schwarze Perücke, hat starke Brauen, und aus dem verwelkten und verlebten Gesicht leuchten ein paar noch begehrliche Augen; ihre ganze Brust ist mit Stecknadeln besät, so daß sie wie in einem Küraß erscheint. Der Hauptinspizient mit dem Regiebuch und mit dem Bleistift hinterm Ohr gibt noch Weisungen. »Achtung! Vorsicht!« eine Versenkung geht auf, das Licht aus dem Souterrain leuchtet herauf, die »Bahn« wird geräuschlos geschlossen. In der Seitenkulisse hält ein Feuerwehrmann mit der Axt im Arm Wache, unbeweglich, wie gemeißelt steht er da. Der Beleuchtungsinspektor mit einer schwarzseidenen, schirmlosen Kappe auf dem Kopf, der Maschinendirektor drängen sich durch die Menge, durch die offenen Kulissen weht von den Korridoren und Garderoben herüber ein durchdringender, aus Parfüm, Schweiß, Schminke und Staub gemischter Geruch; der Vorhangzieher steht, des Winks gewärtig, mit den Tauen in den roten Händen. Alle die Hunderte haben jetzt ihre auf den Proben bestimmten Stellungen eingenommen und blicken nach dem Intendanten, der, umgeben von seinen Regisseuren, die Truppen noch einmal vor dem Beginn der Schlacht mustert. Es wird stiller. Man hört nur noch leises Flüstern. Eine abergläubische Choristin spuckt dreimal aus. Im Korridor geht auf Filzschuhen ein Arbeiter in schmieriger Bluse mit ein paar Maßkrügen vorüber … und endlich steht die ganze geschminkte Welt regungslos und harrt auf das Aufgehen des Vorhangs.
»Bühne frei!« ruft der Hauptinspizient.
Das Klingelzeichen meldet dem Souffleur und dem Generalmusikdirektor, daß alles bereit sei. Die Glocke tönt schrill durch den Saal … das Haus wird verdunkelt … durch eine von einem Spätling geöffnete Logentür fällt noch schnell ein gelbes Licht. Die Rampenlichter beleuchten grell die untere Hälfte des Vorhangs. Der Generalmusikdirektor Manner klopft an sein Pult, winkt seinen Getreuen freundlich und ermutigend zu, hebt unter feierlicher und atemloser Stille den Taktstock, und die ersten sehnsüchtigen und schluchzenden Geigentöne zittern durch den Raum. Das nur wenige Minuten währende Vorspiel verhaucht mit dem langsamen Aufgehen des Vorhangs in ersterbender Klage, und in schärfstem Gegensatz tobt das erbitterte, jähzornige und aufrührerische Volk in wilder, stürmischer Meeresbrandung gleichendem Tumult. Immer wütender schäumt die Empörung auf, immer fesselnder rast der Orkan …, und plötzlich hört man eine Stimme, die gellt und saust und peitscht, grollt und donnert, eine Stimme wie eine entfesselte Naturgewalt, wie eine elementare Verheerung, ein Weib mit wildflatternder Mähne drängt sich durch das Volk, das scheu vor dem Weibe zurückweicht. Sie steht allein und mit hoch erhobenem Arm, erschreckend, furchtbar erschauernd und markerschütternd klingt es von ihren Lippen:
»Haltet ein! Laßt diesen Frevel nicht gescheh'n!«
Einer Prophetin gleicht sie, einer Seherin, die weit, weit in die grausige Zukunft blickt … Constanze Assing ist aufgetreten. In der ersten Sekunde ist das Publikum von Schauder erfaßt und völlig erstarrt: ein leises, allmählich wachsendes Murmeln rauscht durch das Haus empor bis zur Decke, und dann unterbricht ein schrankenloser, überquellender Jubel minutenlang die Handlung; die Galerie rast und trampelt, und in dem Enthusiasmus ertrinken Orchester und Chorgesang. Constanze steht in demütiger Haltung und läßt mit gesenkten Augen den Sturm über sich ergehen. Langsam legt sich der Orkan. Die Wogen der Erregung glätten sich. Mit ehernen Schritten schreitet das Drama fort. Hinter Constanzen verschwinden alle Mitwirkenden. Jeder Ton, der ihrer Kehle entströmt, jede Bewegung, jede Miene, jede Stellung dieses genialen Mädchens ist ein vollendetes Meisterwerk. Eine kurze Zeit, während der sie die Bühne verlassen hat, tritt eine leise Schwankung und Ermüdung im Publikum ein; hie und da ein Flüstern, Husten, Räuspern, das Rascheln der Zettel und Textbücher. Aber in dem sich machtvoll steigernden Finale, das Constanze mit tollkühner Energie über den ganzen Chor hinwegleitet und beherrscht, reißt sie die Zuschauer mit, und unter fanatischem Jubel sinkt der Vorhang. Die Mittelgardine teilt sich; mit den Solisten erscheint die Künstlerin und nach vielen brausenden Rufen an ihrer Seite Camille Dupaty. Aus dem Gesicht des bildschönen Menschen ist jeder Blutstropfen gewichen; nur die wundervoll glühenden Augen strahlen und mehr als je gleicht er in seiner marmornen Blässe dem Antinous. Alle Operngläser sind auf ihn gerichtet. » Sauve qui peut!« murmeln hinter ihren Fächern die Aristokratinnen im zweiten Rang … »Sapristi!« flüstern die Damen im Parkett … »Kruzi Türken!« die Madeln auf der Galerie …
Das Publikum bleibt während der ersten kurzen Pause auf seinen Plätzen; in aller Augen spiegelt sich die Begeisterung, die das Werk entfacht hat.
Frau Ralchen sieht ihren ins Leere starrenden Sig nur verstohlen von der Seite an und wagt es nicht, ihn durch Fragen und Bemerkungen zu stören, denn auch sie, die nie in ihrem Leben über die kleinsten Interessen hinausgeschaut, die in ihrem engumgrenzten Dasein nur ihre Pflicht als Gattin und Mutter kannte und ausübte, die nur dem Gewinn nachjagte; auch sie fühlt, wenn auch vielleicht in dämmeriger Ferne, daß in dem Werke des Mannes, der es erdacht, und der Frau, die es verkörpert, ihr etwas Großes, Unfaßbares entgegentritt.
Der Sieg, den schon der erste Akt errang, steigert sich im zweiten zum Triumph. Das Orchester verrichtet unter Manners Zauberstabe Wundertaten. Aufrührerische Disharmonien, die den Akt einleiten, lösen sich auf in süße Melodien, die verklingen, verhallen, verlöschen. Silbernen Quellen gleichende Tonwellen fließen heran, Glühwürmchen und Johanniskäfer durchschwirren die mit berauschenden Düften erfüllte Luft, und eine Weise ertönt, die aus Mondschein und Nachtigallenschluchzen gewoben scheint. Alles in dieser Musik zittert und bebt, flutet und flattert, bangt und hofft, jauchzt und liebt. Constanze sieht den Mann, der leichenblaß sie von der Kulisse aus anstarrt; sie denkt an den Mann, den sie liebt mit allen Sinnen, und dem sie sich zu eigen geben will; mit jedem Atemzuge, mit jedem Schlag des Herzens strömt ihre Stimme Bangen und Hoffen, seligstes Jauchzen und hingebungsvollste Liebe aus. Sie führt ihn, der diesen Zauber ersonnen, und führt sich selbst zum »leuchtenden Gipfel« … Sie hat die Menschen aus den dumpfen und beklemmenden Niederungen des Alltagslebens in den befreienden und strahlenden Aether der Kunst erhoben; sie hat sie unterjocht und bezwungen: sie hat's erreicht, daß sie an den glauben, dem ihr Herz gehört … Um den Zuschauern zu beweisen, daß sie hinter dem Werke zurücktreten und alle Ehren auf das Haupt des Schöpfers häufen will, erscheint sie trotz des lärmenden und fieberhaften Protestes der Galerie nicht an seiner Seite. Und während sie in ihrer Garderobe liegt und niemand, selbst nicht Dupaty, der leise an der Tür klopft und seinen Namen ruft, Zutritt gestattet, um ihre Kräfte für den letzten Akt zu sparen, strömt in höchster Erregung das Publikum hinaus und füllt die Korridore und Foyers. Denn wohl der Stumpfsinnigste und Teilnahmsloseste ist sich bewußt, einem künstlerischen Ereignis von unübersehbarer Tragweite beizuwohnen, der Taufe eines musikalischen Genies, das von der Welt geliebt und geehrt und dem man die einsamen Höhen, auf denen die Unsterblichen weilen, gönnen wird.
Jemand, der es »aus bester Quelle« wissen will, erzählt der sich um ihn scharenden Gruppe, daß Constanze Assing und Camille Dupaty sich lieben, und daß die Verlobung bereits morgen veröffentlicht werden wird. Die Nachricht, die bald von Mund zu Mund fliegt und vom Parkett durch alle Ränge klettert, bis sie oben auf der Galerie mit der kleinen Ausschmückung anlangt, daß das Künstlerpaar schon längst heimlich verheiratet ist, … diese Nachricht ernüchtert und erkältet die Frauen. Sie bezeichnen Dupaty nur noch als »ganz hübschen Kerl«.
Die Logentüren stehen offen, Ränge und Parkett sind leer; nur ganz vereinzelt eine alte Dame, die das im Zwischenakt helle Licht zur Lektüre des Textbuches benutzt. Nur die Galeriebesucher wanken trotz der mörderischen dort oben herrschenden Hitze nicht von ihren Plätzen, die sie sich mühselig genug viele Stunden vor dem Beginn der Aufführung erkämpft haben.
In der zweiten Parkettreihe sitzt Frau Ralchen, während ihr Sig, der sich an die Brüstung der Intendantenloge lehnt, sich mit einem Pariser Kritiker unterhält. Sie hat ihn während des zweiten Aktes oft und lange angeschaut, sie hat gesehen, wie er nicht nur in künstlerischer Begeisterung nach der Bühne starrte, sondern wie seine Augen in leidenschaftlicher Liebe an Constanze Assing hingen. Sie hat ihm bis in den Grund seines Herzens geblickt … denn sie ist seine Mutter … Und hat mit namenloser Bangigkeit gefühlt, daß die Funken, die heimlich so lange unter der Asche brannten, in lodernden Flammen zum Dach hinausschlagen und das Haus in Schutt und Trümmer begraben müssen. Sie denkt zurück an die Stunde, in der sie in dem dunklen Glasverschlag hinter ihrem Laden Constanze angefleht hat, ihren geliebten Jungen zu beglücken, sie denkt zurück an die Stunde, in der sie auf dem Spaziergang im Englischen Garten mit bebendem Herzen die Bitte wiederholte, und sinnt und grübelt vor sich hin, und urplötzlich sieht sie ihn, den sie unter ihrem Herzen getragen, den sie bang erwartet, den sie geliebt, gehegt und gepflegt, der der einzige erwärmende und beglückende Sonnenstrahl ihres armseligen Pflichtenlebens war … sieht sie ihn vor Constanzens Hause im von seinem Blut geröteten Schnee liegen. Der Angstschweiß tritt ihr auf die Stirn, und sie ruft hilfeflehend seinen Namen.
»Was fehlt Dir denn, Mutter?« fragt der schnell hinzueilende Sig.
»Ach, nichts!« beherrscht sich die gute alte verschrumpelte Frau mit ungeheurer Willenskraft, »ich hab' mir's überlegt … ich hab' mei' linken Gummischuh doch z' Haus gelassen,« und mit einem Blick, aus dem eine Welt von Zärtlichkeit und Liebe aufleuchtet, streichelt sie ihm die Wangen.
Der dritte Akt ist bis auf einige geringe Intermezzi ein einziger, großer erhabener Zwiegesang zwischen Constanze und ihrem Partner, den sie durch ihre Leidenschaft mitreißt. Mit geröteten Wangen, mit klopfenden Herzen und fliegendem Atem lauschen alle diesem Paar, das sich in Sehnsucht und Sinnentrunkenheit emporschwingt zu wundervollster Höhe, das in Verzückung und Begierde, in glühenden Wünschen und wahnlosem Zauber immer höher und höher strebt. Und als diesen Uebermenschen nirgends mehr Rettung winkt, befreien sie sich von den Fesseln, in welche sie das Schicksal geschmiedet, und finden in den wild aufschäumenden Meereswogen jauchzend und trunken den Liebestod.
Der Generalmusikdirektor senkt in tiefer Ergriffenheit vor Constanze den Taktstock, wie man die Fahne senkt vor dem Sieger; er bringt ihr seine Huldigung dar und denkt zurück an das, was er vor wenigen Tagen zu ihr gesagt hat, daß man da vor etwas stünde, was man nicht begreifen und nicht fassen könne, das man nur anstaunen und dem man sich willenlos gefangen geben müsse.
Hand in Hand mit Camille Dupaty erscheint Constanze, umbraust von Jubel und Begeisterung. Wohin sie blickt, freudige und ekstatische Menschen … die Prinzessinnen und Prinzen in den Hoflogen, die Aristokratinnen im zweiten Stock, die Damen im Parkett, die Künstler in der Wolfsschlucht, die Kollegen und Kolleginnen im dritten Rang, die Gäste von auswärts, die Intendanten, Direktoren, Regisseure, Kapellmeister und Kritiker: sie alle stehen und weichen und wanken nicht und klatschen und rufen und wehen mit Taschentüchern, Fächern und Theaterzetteln und jubeln dem Paare zu. Die Orchestermitglieder klopfen stehend mit den Bogen an die Pulte und nun gar die Galerie! Da ihre Hände und Kehlen nicht ausreichen, um ihrer Begeisterung Luft zu machen, nehmen sie ihre Füße zu Hilfe und trampeln, daß ängstliche Leute für die Haltbarkeit des Baues fürchten. Und als sie, sich auf den Geliebten stützend, und sich immer wieder und wieder verneigend, den Ovationen standhält, fällt unwillkürlich ihr Blick auf drei Plätze, und blitzschnell fliegt ihr Leben an ihr vorüber: auf den Platz, auf dem ihr Vater saß, der ihre Jugend behütete, auf den Platz, auf dem sie Freystätter sieht, mit dem sie auf dem Konservatorium in herzlicher Gemeinschaft gestrebt, und auf die Galerie, von welcher aus sie – 's ist gar nicht so lange her – mit pochendem Herzen auf die Wunderwelt heruntersah, in der sie jetzt als Königin herrscht. Dankbar und herzlich grüßt sie hinauf zu der stürmisch jubelnden Jugend, dankbar und herzlich grüßt sie den »Spezi« …
Als sich ihr Wagen, eine alte, schwerfällige, ausrangierte Hofkutsche, durch die am Bühnenausgang wartenden Enthusiasten durchgezwängt hat und geräuschlos durch den gleichmäßig fallenden Schnee gleitet, summen und surren, gaukeln und tanzen die bunten Bilder des Abends an ihr vorüber; ihre Gedanken eilen zurück zu jenem stillen, träumerischen und friedlichen Abend am Walchensee, als Camille ihr in den nebeneinander sich wiegenden Booten das Geheimnis des emporwachsenden Werkes anvertraute, und sie verweilen an den soeben verlebten Stunden, in denen dieses Werk gekrönt wurde. Und tiefinnigste Dankbarkeit durchströmt sie wohlig und warm. Das rote Tuch, das sie letzthin vor ihrem Hause im Schnee fand und das sie für Blut hielt, ist verschwunden, und sie muß, während sie in den Hausflur tritt, lächeln über die Sinnestäuschung. Die Jungfer, die sie im Wagen begleitet hat, sorgt leise für einen kleinen, aus Tee, Biskuit und Obst bestehenden Imbiß und läßt Constanze allein.
Sie streckt sich auf die Chaiselongue; die altmodische doppelte Messinglampe auf dem Schreibtisch, die jahrzehntelang dem Vater bei seinen Arbeiten geleuchtet, wirft mattes und heimliches Licht ins Zimmer. Nur das Ticken der Wanduhr, das Fallen eines Holzscheites im Kamin und das Tropfen des Oels in der Lampe unterbricht die tiefe und wohltätige Stille. Sie hat das Gesicht in dem Busch dunkelroter Rosen vergraben, mit dem Camille sie wie alle Tage auch heute gegrüßt hat. Ob er kommen wird, wie er's erbat … erflehte? … um ihr in einem kurzen Augenblick zu danken, aus tiefstem Herzen zu danken, fern der bunten neugierigen Welt ihr allein, ganz allein zu danken mit einem Blick, einem Händedruck? … Sie sinnt und sinnt und träumt und sehnt sich nach ihm, und unter der nachklingenden Erregung der letzten Stunden beben ihre Nerven und klopfen ihre Pulse und mit allen Sinnen neigt sie sich ihm zu … sie horcht … sie lauscht … nur die Wanduhr tickt und das Oel tropft leise und langsam. Es klingelt draußen an der Flurtür. Sie richtet sich jäh auf und lehnt sich enttäuscht zurück. So zaghaft läutet er nicht. Es ist wohl der Mann, der den Garderobenkorb aus dem Theater abliefert. Sie sinnt und sinnt … sie starrt in das dämmerige Zimmer und schließt die Augen und sieht ihn vor sich mit seinem edel geschnittenen Kopf und sieht seine strahlenden Augen auf sich gerichtet und gibt sich der süßen Träumerei hin und starrt wieder in das Halbdunkel und sieht ihn genau wie damals an jenem Nachmittag, in den grauen Schatten über den Teppich leise auf sich zuschreiten und sieht, wie er vor ihr niederkniet, und fühlt, wie er mit glühenden, leidenschaftlichen Küssen ihre Hände bedeckt, und hört, wie er ihr zuflüstert, ganz leise und ganz heimlich:
»Constanze, ich liebe Dich!«
Und hört ihre eigene Stimme, die, ganz in Seligkeit und hingebende Zärtlichkeit getaucht, ihm zumurmelt:
»Camille, endlich … endlich!«
Sie lächelt zu ihm herunter, sie streichelt ihm liebkosend die Locken … blutrot flimmert es ihr vor den Augen … sie kämpft gegen den Aufruhr der Sinne, gegen die wilde und unbändige Leidenschaft, die in ihr lodert und die seine Nähe zu einem Flammenmeer entzündet … sie fühlt das immer ungestümere Klopfen und Hämmern ihres Herzens … sie fühlt die Blutwellen, die jäh und heiß durch ihre Adern stürmen und ihr die Sinne rauben … ein Lied aus der Kinderzeit verschmilzt sich in ihren Ohren mit dem Schlußgesang aus dem »Liebestod« … in weiter, weiter Ferne versinkt die Welt … auf dunkelroten Rosen gebettet und eingelullt von ihrem betäubenden Duft taucht sie hinab, und berauscht von dem Triumph, den sie ihm und sich selbst errang, beseligt in dem einzigen Bewußtsein, ihn zu lieben und von ihm geliebt zu werden bis zum letzten Atemzuge, sinkt sie ihm willenlos in die Arme.
Ueber dem Hause in der Schönfeldstraße funkelt in dieser Nacht der Venus leuchtender Stern …
Ob es Tag ist oder Nacht, ob Morgen oder Abend … sie weiß es nicht. Ob Winter oder Sommer, ob Herbst oder Frühling … sie weiß es nicht. Die Glocken von der nahen Ludwigskirche rufen zum sonntäglichen Vormittagsgottesdienst. Sie hört sie nicht … hört nicht, daß Jungfer und Köchin im Korridor flüstern, daß die Hausmeisterin, die alte Frau Schwabenmayer, auf dem Hofe einen Teppich ausklopft … sie denkt nicht an den strahlenden Glanz des gestrigen Abends … nur ein Gedanke, nur ein Gefühl beherrscht sie, daß sie ihn liebt, daß sie nun sein eigen ist und es bleiben wird, was auch immer kommen mag … sie sinnt und sinnt und lächelt und starrt ins Dunkel … ein Traum umfängt sie … an des Vaters Hand spaziert sie als Kind durch den Englischen Garten und pflückt eine Blume, die sie einer alten humpelnden Frau schenkt, welche ihr am Arm Camilles begegnet … und Sigmund Freystätter wirft einen Schneeballen und trifft damit Camille ins Herz … und mit einem jähen Aufschrei schüttelt sie den grausigen Traum von sich. Die Jungfer öffnet leise die Tür und fragt besorgt, ob dem gnädigen Fräulein etwas fehle. Sie zieht die dunkeln Vorhänge von den Fenstern … wie alle Morgen … nach dem beharrlichen Schneegestöber der letzten Woche leuchtet endlich wieder strahlende Wintersonne ins Zimmer. Aber Constanze kann heute das helle Licht, die grelle Wirklichkeit nicht vertragen und wendet sich ab. Sie sieht nach der Uhr … die zeigt auf halb zwölf … sie wolle heute nicht aufstehen und wolle ungestört bleiben … und schließt die Augen … Das Mädchen bringt ihr das Frühstück und legt auf die Bettdecke einen Buschen dunkelroter Rosen, deren süßen Duft Constanze gierig einsaugt. Sie fragt, ob der Strauß von demselben Gärtnerburschen abgegeben worden sei, der immer käme … nicht der Bote habe ihn gebracht, erwidert die Jungfer, sondern Herr Dupaty selbst.
Constanze richtet sich lebhaft auf.
»Hat Herr Dupaty gesagt, wann er wiederkommt?«
»Herr Dupaty wartet im Salon!«
Und nach einer kurzen Viertelstunde, in der sie mit fieberhafter Hast ihre Toilette beendigt, stürzt sie jubelnd Camille in die Arme. Der schwenkt sie einmal in der Luft umher, wie man ein Kind wirbelt; jauchzend und lachend schmiegt sie sich an seine Brust; sie fühlt sich so sicher und geborgen, so umhegt und geschützt gegen jede Gefahr … ein paar Tränen feuchten ihr die Augen.
»Warum weinst Du denn?« fragte er leise und streichelt ihr das Haar.
»Es ist zu viel des Glücks,« flüstert sie und sieht ihn voll Liebe an.
Die geübte und jeder Situation gewachsene Jungfer, welche die seltene Gabe besitzt, nie zu fragen und sich nie zu wundern, hat im Eßzimmer das Frühstück für zwei Personen serviert. Und als sich Constanze und Camille gegenübersitzen und den Tee schlürfen, lachen sie beide gleichzeitig hell auf.
»Wie ein junges Paar auf der Hochzeitsreise!« scherzt er.
»Bald! Bald!« erwidert sie und reicht ihm über den Tisch die Hand.
»Wann?« drängt er.
»Im Sommer … in den Ferien … am Walchensee … in Urfeld …,« gibt sie zurück.
»Muß ich denn wieder in der Post Walchensee hausen?« spottet er.
»Nein, dann darfst Du in demselben Gasthof wohnen wie ich und darfst sogar das Zimmer mit mir teilen!« antwortet sie ihm mit drolliger Würde.
»Sehr liebenswürdig von der Gnädigen!« verbeugt er sich.
»Das will ich meinen!« lacht sie in glücklichem Uebermut.
»Und die Verlobung wird heute über acht Tage veröffentlicht … am 23ten … an Deinem Geburtstag … abgemacht?«
»Abgemacht! Das wird ein gefundenes Fressen sein für alle die Ratschweiber!«
»Na … was sagst Du denn zu der Kritik Deines ›Spezis‹?«
»Ich habe sie noch nicht gelesen!«
»Noch nicht gelesen?« lacht er aus vollem Halse, »Menschenskind, noch nicht gelesen? Heute morgen um halb sieben hat sie mir der Hausknecht auf die Bettdecke gelegt.«
Er steht auf, zündet sich eine Zigarette an, tritt hinter Constanze, biegt ihren Kopf zurück und drückt ihr einen langen Kuß auf die Lippen. Und zwischen immer neuem Bitten und Gewähren fragte sie ihn:
»Zeig' sie mir … schnell, schnell!«
»Er bringt vorläufig nur eine Vornotiz und verspricht die ausführliche Besprechung für morgen abend.«
Er gibt ihr die Zeitung, und sie liest, während er rauchend umhergeht. Tiefe Stille herrscht. Nur das Rotkehlchen springt in seinem Bauer von Stange zu Stange und zwitschert hell, weil die Sonne doch gar so schön durchs Fenster scheint. Constanze liest mit gespanntester Aufmerksamkeit … sie lächelt … sie runzelt die Stirn, mehrere Zeilen scheinen sie zu erstaunen und unangenehm zu berühren. Dann aber rötet sich ihr Gesicht, ihre Augen leuchten immer glücklicher und überfliegen immer schneller die Worte. Sie legt das Blatt hin … dann ergreift sie es, um noch einmal die eine Stelle genau durchzusehen, den Sinn zu prüfen und sich den Inhalt einzuprägen, und blickt mit ein wenig zugekniffenen Augen einen Moment ins Leere.
»Wundervoll! Nicht wahr?« fragt er lebhaft.
»Ja, sehr schön!« antwortet sie etwas gedehnt und nachdenklich.
»Bist Du am Ende nicht zufrieden? Donnerwetter … bist Du anspruchsvoll!« und er lacht auf, indem er die Zeitung zur Hand nimmt und laut liest: »›Vor Constanze Assing, dieser erhabensten Priesterin der Kunst, dieser leuchtenden Siegerin senken wir in stummer Bewunderung die Fahne …‹ Ist Dir das noch nicht genug? Du verwöhnte Prinzessin? Noch immer nicht genug?«
Constanze steht auf, sieht ihm voll Innigkeit in die Augen und streichelt ihm lächelnd die Locken:
»Hätt's der Vater nur noch miterlebt: Dein Glück, Dein überschwängliches Glück … Vergiß das nie, Camille, daß es ein Glück, wie es nur wenigen Künstlern beschieden ist, und denke immer an meinen Vater, der nach einem einzigen großen Siege in Groll und Verbitterung einsam dahinlebte, und der sich nicht mehr aufraffen konnte zu einer neuen Tat … vergiß es nie! … Ja, hätte er's nur noch erlebt: Dein Glück und unser Glück! Wenn ihm auch die Kräfte fehlten, es noch auszusprechen: aus seinen Augen habe ich seinen heißen, innigen Wunsch gelesen, daß ich Dein werde! Er hat Dich geliebt wie mich, und er hat Dir noch mehr vertraut als mir! Ich erfülle seinen Wunsch … ich bin Dein, ich liebe Dich!« und sie reicht ihm die Lippen zu langem Kuß.
Constanze wirft sich im Salon in einen tiefen Fauteuil, in dem sie sich ganz vergräbt, und auf dessen Lehne mit der Zigarette im Munde Camille sich setzt.
»Tu mir den einzigen Gefallen, Schatz,« plaudert sie heiter, »und komm' nicht auf die unglückliche Idee, mir irgend ein Schmuckstück zu schenken … nichts will ich haben, nicht einen Ring, nichts … nichts … Nur eine Bitte hab' ich an Dich,« fährt sie etwas ernster fort, »und die mußt Du mir erfüllen. Schenk' mir das Manuskript vom ›Liebestod‹! Endlich, nachdem alles glücklich vorüber ist, möchte ich einen Blick werfen in die geheime Werkstätte, möchte ich mit eigenen Augen sehen, wie das Werk entstand, wie es sich herausschälte aus den ersten Anfängen, möchte alle die Skizzen und Entwürfe und Notizen durchblättern, möchte sehen, was Du gefeilt hast, was Du verworfen und verbessert hast … mit einem Wort, den ganzen Werdeprozeß mit allen Einzelheiten verfolgen können. Gelt, Schatz, Du machst mir die Freude?«
»Mein Herz, leider Gottes kann ich Dir gerade diesen Wunsch nicht erfüllen, beim allerbesten Willen nicht.«
»Warum nicht?« neckt sie ihn, »hast Du, Scheusal, das Manuskript vielleicht einer Deiner paar Dutzend früheren Geliebten geschenkt?«
»Das nun grade nicht,« lacht er, »ich besitze es nicht mehr … ich selbst habe es vernichtet!«
»O, wie schade,« murmelt Constanze.
»Ja, daran ist nun nichts zu ändern. Es ist mir zur Gewohnheit geworden, jedes Blatt, nachdem ich den Einfall skizziert, verbessert und schließlich den Notensatz in der letzten Fassung festgestellt habe, abzuschreiben und dann den Entwurf zu zerreißen oder in den Ofen zu stecken. Es gibt viele Komponisten, welche die erste Niederschrift sorgfältig hüten, wie ein Kind, eine Geliebte oder einen kostbaren Schatz. Mir sagt dieser Wirrwarr von Noten und Strichen und Notizen, dieses ganze Sammelsurium von Plänen und Skizzen gar nichts … im Gegenteil: all das verwirrt mich und stört mich und hemmt mich in der Arbeit, und deshalb fliegt's, kaum geboren, wieder in den Orkus.«
»Es tut mir leid … so muß ich mich eben mit der Abschrift begnügen … Und nun – es nützt Dir alles Brummen und Maulen nichts – muß ich Dich fortschicken. Meine Friseuse wartet nämlich seit drei Stunden, und was die Ungnade dieser Damen bedeutet, könnt Ihr Männer ja doch nicht ermessen. Beliebt es meinem Ritter, also um sechs Uhr wieder anzuklopfen … es wird ihm aufgetan werden.« Und ganz leise: »Du, sag's mir ins Ohr, was Du mir damals aus Berlin schriebst: › Angela mia! Mon adorée! Sweetest heart!‹, es klingt so lieb … nenn' mich noch einmal so!«
Er wiederholt's heimlich, ganz heimlich, und sie halten sich lange umschlungen. Sie begleitet ihn in den schummerigen Flur, fährt mit beiden Händen durch den Stoß uneröffneter Glückwunschdepeschen, welche die große chinesische Schale bis zum Rande füllen, und flüstert ihm dann zu:
»Du darfst übrigens schon um halb sechs kommen. Du brauchst nicht eine halbe Stunde länger zu darben … und … ich auch nicht!« kichert sie leise und schließt hinter ihm sacht die Tür.
Die Friseuse ist ob des langen Wartens sehr wortkarg und läßt Constanzen Zeit, Freystätters Kritik noch einmal aufmerksam zu lesen. Und wieder stockt sie bei derselben Stelle, und wieder blickt sie mit ein wenig zusammengekniffenen Augen ins Leere. Und geht dann nach dem Abschied von Friseuse und Jungfer mit der Zeitung in der Hand in den Salon, sie stellt sich an den Flügel und liest die gleichen Zeilen wieder laut vor sich hin:
»… Dieses Werk ist ein Wunder, das wir nicht begreifen, nicht fassen, das wir nur anstaunen können, und dem wir uns willenlos gefangen geben müssen. Denn unfaßbar ist es und wohl ohne Beispiel, daß die Welt einem Jüngling, dem das Leben sonnig und warm gelacht, dem seine Jugend doch nur wenige Jahre rastloser Studien gestattet, eine Schöpfung verdankt, die in ihrer Größe und Erhabenheit, ihrem weihevollen Ernst und ihrem Eindringen in die verborgensten Schlupfwinkel des unermeßlichen musikalischen Gebietes das Lebenswerk eines reifsten Meisters hätte sein können. Eines Mannes, den das Schicksal durch alle Himmel und alle Höllen gejagt, der nach Schmerz und Leid, nach Bitternissen und unermüdlichsten Studien in diesem ›Liebestod‹ sein künstlerisches Glaubensbekenntnis, sein unsterbliches Vermächtnis hätte niederlegen wollen. Die anfeuernden Anregungen, die der unvergeßliche Meister Richard Assing seinem Schüler Camille Dupaty schenkte, haben hier die goldensten Früchte gereift. Seien wir dem Schicksal dankbar für diese gnädige Fügung, seien wir dankbar dem Lehren Spendenden und dankbar dem Lehren Empfangenden.«
Kopfschüttelnd und in Gedanken ganz versponnen, ging Constanze lange auf und ab. Dann setzte sie sich entschlossen hin und schrieb:
»M. 16.3.90.
Mein lieber Spezi! Herzlichst bitte ich Sie, mich noch heute um vier Uhr zu besuchen. Ich muß in einer sehr ernsten Angelegenheit mit Ihnen sprechen.
Ihre dankbare Constanze Assing.«
Sie übergab der Jungfer den Brief zur sofortigen Besorgung, kleidete sich an und ging in den hellen Sonnenschein. Da der Verführer aber allzu viel Menschen hinausgelockt hatte und Constanze fürchtete, überall erkannt und begrüßt zu werden, schlenderte sie gemächlich durch die einsame und verschneite Königinstraße. Als sie in eine Allee des Englischen Gartens einbiegen wollte, kam aus einem Hause ein kleiner Mann, welcher unter dem Arm ein paar ungebundene Bücher trug und sie sehr untergeben grüßte. Constanze dankte und ging weiter. Aber plötzlich wendete sie sich um und fragte:
»Herr Buchbinder Gerum?«
»Dös bin i schon,« erwiderte der, während er sich mit einem nicht ganz zweifellosen Sacktuch den Schnurrbart säuberte.
»Ja, Herr Gerum,« und sie gab ihm herzlich die Hand, »das freut mich aufrichtig, daß ich Sie endlich einmal wiedersehe!«
»Mir is es a net z'wider,« meinte Herr Gerum und glaubte damit ein besonders feines Kompliment gedrechselt zu haben.
»Ich habe mir schon so oft Vorwürfe gemacht, daß ich mich gar nicht mehr um Sie kümmere. Es war das eine Undankbarkeit, die ich einsehe, und die ich bereue. Denn Sie waren doch der einzige Freund und Vertraute meines Vaters!«
»Na, der einzige wohl nu grad net … der Herr Dupaty war aa noch da!«
»Gewiß! Sie und Herr Dupaty!«
»Das gnädige Freilein san heut' wohl schnakelfidel? Dös muß ja gestern ane Mordsgaudi im Hoftheater g'wesen sein.«
»Es ging alles wie am Schnürl … Wie würde sich der Vater mit Herrn Dupatys Erfolg gefreut haben!«
»Freili,« knurrt Herr Gerum, und die Tränen treten ihm in die Augen, »dös hätt' den Herrn Vater selig schon diebisch g'freut … denn der Herr Dupaty war ehm arg an's Herz g'wachsen.«
»Wollen Sie sich den ›Liebestod‹ nicht auch 'mal anschauen?«
»Möcht schon … denn a bisserl von der Musi versteh' i schon. Aber wie soll unser aner bei dör Hetz nach die Billetten a Platzerl kriegen?«
»Ich werde Ihnen einen extrafeinen Sitz zur zweiten Aufführung schicken. Herr Gerum, besuchen Sie mich doch 'mal nachmittags zur Jause … so auf ein Tasserl Kaffee!«
»No, a Maßl war mir schon lieber!«
»Also,« lachte Constanze herzlich, »nach dem Kaffee a Maßl … Warten Sie mal … Montag und Dienstag geht's nicht, Mittwoch ist die erste Wiederholung … zu der bekommen Sie Ihr Platzl. Wäre Ihnen Donnerstag so gegen vier recht? Dann wollen wir mal vom Vater plaudern, und dann müssen Sie mir viel, viel von ihm erzählen. Aber jetzt muß ich laufen, sonst frieren wir hier ja beide an.«
Sie reicht ihm die Hand.
»Grüß Gott, auf Wiedersehen, Herr Gerum!«
»Küß d' Hand, auf Wiedersehen, gnädiges Fräulein!«
Frau Ralchen humpelte ein bißchen müde vom Vormittagsspaziergang die blitzblank gebohnte Treppe zu ihrer Wohnung hinauf, als ihr Constanzens Jungfer, welche den Brief in der Hand hielt, folgte.
»Zu wem wollen Se, mein Kind?«
»Zu Herrn Doktor Freystätter.«
»Geben Se den Brief her, ich werd's besorgen.«
»Ich soll ihn persönlich abgeben.«
»Scho recht … ich geb' den Brief meinem Sohn.«
Frau Ralchen kennt die Handschrift nicht, schnuppert an dem parfümierten Kuvert und legt es im Eßzimmer auf den Teller von »mei Sig«, mit dem sie heute das Mittagsmahl allein einnehmen wird. Herr Salomon ist nämlich von einem Fabrikanten ins Hotel geladen, und jede Stunde, die er außerhalb seines Hauses verbringen kann, ist ihm in der letzten Zeit äußerst wertvoll. Denn Frau Ralchen, die der bewährten Anschauung huldigt, daß die Rache kalt genossen unbedingte Vorzüge vor allzu überhudelter und hitziger Ahndung besitzt, hat bis zur Stunde das fürchterliche Geheimnis bewahrt und den Verbrecher noch nicht in der Zobelfrage zur Rechenschaft gezogen. Hat aber ihren völlig erkälteten Gefühlen äußerlich dadurch scharfen Ausdruck gegeben, daß sie das buntbemalte Medaillon, welches Herrn Salomons Züge trägt, von seinem so beneidenswerten Platz auf dem seligen Busen dauernd verbannt hat. Herr Salomon aber fühlt seit Wochen die entsetzliche Spannung, und um die unvermeidliche elektrische Entladung möglichst hinauszuziehen, vermeidet er nach Tunlichkeit das sonst so reizvolle Alleinsein mit seinem Ralchen aus der Würmersheimer Linie (aus Neumarkt bei Ifterdingen).
Als Sigmund Freystätter, der seit dem frühen Morgen an der großen Kritik über den »Liebestod« arbeitete, auf vieles Rufen endlich zu Tisch kam, küßte er nach altem Brauch seiner Mutter die Hand und setzte sich wohlgelaunt hin, denn er fühlte innerlichst, daß ihm die Arbeit gelänge. Frau Ralchen, die absichtlich ein bißchen sehr langsam die Suppe aus der altmodischen Terrine schöpfte, beobachtete ihren Sohn scharf. Sie sah, wie er beim Anblick des vor ihm liegenden Briefes erbleichte, sie bemerkte, wie seine Hand beim Lesen zitterte, wie er vor sich hinstarrte und ihn noch einmal las, und wie ihm plötzlich das Blut in den Kopf schoß. Eine Weile löffelten sie beide ihre Suppe. Die salzte sich Frau Ralchen ein bißchen, da sie einsah, daß das dreiundsechzigjährige Veilchen den Jahren stürmischer Verliebtheit doch schon zu entwachsen anfing, und begann:
»Der Brief ist doch von der Assing?«
»Kennst Du denn die Handschrift?« fragte »mei Sig«.
»Die Handschrift kenn' i net, aber i kenn' Dei G'sicht. Mei Jung, was willste mit Deiner alten Mutter Versteck spielen? Wozu willste den Kopf in den Sand stecken? Die Spatzen pfeifen's von allen Dachln, daß der Dupaty ihr Liebster ist, und daß sie bald heiraten werden. Wozu also quälst Du Dich?«
Er gab ihr den Brief, sie setzte sich die schwarze Hornbrille, die immer neben ihrem Kuvert liegen mußte, auf und las ihn, die Worte vor sich hinmurmelnd: »in einer sehr ernsten Angelegenheit mit Ihnen sprechen«. Sie blickte ihn lange über die Brille an und sagte dann nur sehr langsam und gedehnt:
»Ach so!«
»Was meinst Du denn, Mutter?«
»Was ich mein? Ich mein, mei' geliebter Sohn, daß … daß … na also, wenn Du mir folgst, gehste net hin. Schau mal, Sig', i hab's gestern abend im Theater wieder bemerkt – und mei' Herz ist mir zentnerschwer g'worden –, daß Du net Herr werden kannst dieser unseligen Leidenschaft. Und daß Du nur der Hoffnung lebst, sie könnt' sich doch noch a mal anders b'sinnen. Sie hat's Dir selbst g'sagt, zwamal hat sie's mir g'sagt, daß es nix und niemalen 'was zwischen Euch werden könnt'. Und nun klammerste Dich wieder an diesen Brief wie an anen Strohhalm und glaubst, sie hätt' sich endlich anders b'sonnen und wollt' Dir's heute sag'n. Geh net hin! Laß net mit Dir spiele! Das müßt' Dir doch Dei' Stolz verbiete … Laß sie den Herrn Dupaty heirate … sie paßt zu dem und net zu Dir … sie würde Dir ja doch net g'höre, wie Du Dir das so einbildest, sie würde ja doch nur der Oeffentlichkeit g'höre … geh' net hin!«
»Nein, Mutter,« entgegnete er mit lebhaftem Kopfschütteln, »so wie Du Dir die Sache denkst, ist sie doch nicht … ›in einer sehr ernsten Angelegenheit sprechen‹, so schreibt Constanze nicht, wenn sie mir nicht etwas über ihr und mein Leben Entscheidendes sagen wollte. Weißt Du denn, Mutter, was sie mir einmal gesagt hat?« – und seine Stimme hob sich und seine schönen und klugen Augen belebten sich, »mag kommen, was da kommen muß, wir bleiben einander treu!« Und fest entschlossen fügte er hinzu: »Ich gehe doch hin!«
»… und wirst zurückkommen mit zerbrochenen Flügeln!« zirpte und zitterte und bebte die kleine Stimme.
Lange ward's still im Zimmer; beide aßen, ohne ein Wort zu wechseln, und mißachteten völlig Veilchens rituelle Kochkünste, die in einer mit Rosinen und Mandeln durchspickten Apfelspeise ihren Höhepunkt erreichten.
Frau Ralchen bezog wieder ihr altes Standquartier am Fenster; aber während sie sonst nach vierzigjähriger Gewohnheit durch den Spion jedem Vorübergehenden nachblickte und jedem ein bißchen am Zeuge flickte, saß sie heute teilnahmslos da mit ihrer Häkelei und starrte vor sich hin. Und wäre selbst Ihre Majestät die Kaiserin von Rußland plötzlich vor dem Hause erschienen, was ja immerhin der Wahrscheinlichkeit entbehrte, und hätte ihr zugerufen, daß sie der Frau Ralchen Freystätter ihren eigenen allerhöchsten Zobelkragen hinaufbringen würde … es hätte keinen Eindruck auf sie gemacht. Denn ihre Gedanken wanderten mit ihrem Sig' Schritt für Schritt über den Marienplatz, durch die Wein- und Theatinerstraße, sie durchquerten mit ihm den Residenzplatz, sie liefen mit ihm durch den Hofgarten und eilten mit ihm durch die Arkaden, sie jagten mit ihm durch die Königinstraße und verlangsamten sich endlich in der Nähe des Hauses in der Schönfeldstraße, in welchem der Sohn seine Begnadigung zu erreichen hoffte, und in welchem sein Todesurteil zu hören die Mutter sicher war. Und da die heißen und unruhigen Gedanken noch vor der festgesetzten Zeit dem Ziele zugestrebt waren und es erreicht hatten, umkreisten sie noch einmal ein paar verschlafene Seitenstraßen, um endlich mit dem vierten Glockenschlage, der von der Ludwigskirche herübertönte, haltzumachen im ersten Stock vor einer Tür und zu erfahren, ob diese Pforte zum Paradiese führe oder zur Hölle.
Das gnädige Fräulein läßt den Herrn Doktor bitten, einen Augenblick Platz zu nehmen,« bestellte die Jungfer und führte Sigmund Freystätter in den Salon. Er hatte diesen künstlerisch und reizvoll ausgestatteten Raum nicht wiedergesehen seit jenem Tage, an dem er ihr die »Traumbilder« gebracht und hier am Flügel ihr sein Herz ausgeschüttet hatte. Der Raum lag schon im Schummerlicht des Märznachmittags, das die einzelnen Gegenstände, die Gemälde und Statuen, Nippes und Blumen nicht mehr deutlich erkennen ließ, nur vom Klavierpult leuchtete dem ungeduldig wartenden Manne das eine Wort entgegen: »Liebestod«. Und es überlief ihn doch einen Moment kalt. Aber so schnell, wie es gekommen war, war's auch verflogen, als ihm ihre warme, so wohlklingende Stimme entgegentönte:
»Grüß Gott, liebster Spezi, ich dank' Ihnen tausendmal, daß Sie gekommen sind, und weiß das Opfer um so höher zu schätzen, als ich Sie gewiß mitten aus Ihrer großen Kritik über den ›Liebestod‹ herausgerissen habe.«
Die Jungfer brachte die Lampen, Constanze und Freystätter saßen sich in den tiefen Fauteuils gegenüber.
»Sie haben mir geschrieben, daß Sie mit mir noch heute in einer sehr ernsten Angelegenheit sprechen müßten. Da war's ja selbstverständlich, daß ich die Arbeit liegen ließ; arbeite ich heute nacht durch, so wird sie morgen früh beendigt sein,« sagte er und sah sie erwartungsvoll an.
Und Constanze ging, um das Gespräch nicht auf immerhin mögliche Abwege zu leiten, direkt auf ihr Ziel los, indem sie sagte:
»Und bevor Sie sie beendigen, liebster Freund, muß ich mit Ihnen sprechen!«
Was war das? durchfuhr es ihn: so hat sie also nur den Kritiker zu sich gerufen und nicht den Menschen? Nur den, dem sie etwas abschmeicheln will, und nicht den, dem sie alles schenken will? Er hatte ihr schon den goldenen Lorbeer gereicht, und sie wollte noch mehr für sich erbitten? Er fühlte, wie ihm das Blut zum Herzen strömte, und er mußte an die alte, kleine Frau denken.
»Aber ich habe ganz vergessen, Ihnen eine Zigarette anzubieten. Sie wollen nicht rauchen? Schade! Es plaudert sich besser. Ich habe Ihren Vorbericht über den ›Liebestod‹ gelesen … ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, mein lieber, alter Spezi, was ich bei Ihrer Anerkennung, was sage ich, bei Ihrer Bewunderung empfunden habe. Denn daß die nur der Künstlerin gilt und nicht der Freundin … ich kenne Sie, und ich weiß es. Ihr Lob hat mich sehr stolz und sehr glücklich gemacht. Für mich also bitte ich nichts … nichts … ich bitte für einen anderen, für Herrn Dupaty!«
Also nicht einmal für sich bittet sie, durchzuckt es ihn, sie bittet für den Mann, den sie liebt … und trotzdem ein Zittern ihn überläuft, hat er doch die Willenskraft, sich zu beherrschen und sie ruhig und fragend anzublicken.
»Es ist selbstverständlich, daß Herr Dupaty von dieser Unterredung nichts ahnt,« hub Constanze wieder an, »und ebenso selbstverständlich, daß er nie etwas davon erfährt. Nicht wahr, Spezi, das versprechen Sie mir?«
Freystätter verbeugte sich ohne ein Wort der Erwiderung.
»In Ihrem Bericht ist mir eine Stelle aufgefallen, die mich gleich bei der ersten Lektüre stutzig machte. Ich habe sie dann wieder und immer wieder gelesen. Der erste unfreundliche und peinliche Eindruck hat sich nur verstärkt: Sehen Sie: ich habe die Stelle blau angestrichen. Wollen Sie sie nicht noch einmal durchsehen?«
»Ich kenne diesen Bericht und verantworte jedes Wort, das ich schrieb,« erwiderte Freystätter kalt.
»Ich meine den Passus,« und Constanzens Stimme nimmt feierlichen Klang an, »der von meinem Vater spricht, der von dem Verhältnis des Meisters zum Schüler handelt. ›Eine Schöpfung,‹ heißt es da, ›die das Lebenswerk eines reifsten Mannes hätte sein können. Eines Mannes, den das Schicksal durch alle Himmel und alle Höllen gejagt, der nach Schmerz und Leid, nach Bitternissen und unermüdlichsten Studien in diesem ›Liebestod‹ sein künstlerisches Glaubensbekenntnis, sein unsterbliches Vermächtnis hätte niederlegen wollen.‹ Und Sie schließen: ›Die anfeuernden Anregungen, die der unvergeßliche Meister Richard Assing seinem Schüler Camille Dupaty schenkte, haben hier die goldensten Früchte gereift.‹«
Sie legte das Blatt hin und machte eine kleine Pause, nur um ihm Zeit zu einer Frage oder Erwiderung zu lassen. Dann fuhr sie fort:
»Ich bin überzeugt, daß Tausende gedankenlose Leser über diese Sätze hinwegeilen werden, ohne daß ihnen etwas besonders auffiel. Aber ich bin ebenso fest überzeugt, daß Tausende, die schneller denken und die Verhältnisse kennen, diesen Worten nachgrübeln und nachspüren und ihnen den Sinn unterlegen werden, den auch ich herausgelesen habe. Kein Mensch weiß besser als Sie, wie ich meinen Vater geliebt und geehrt habe, und wie schmerzlich ich ihn vermisse, und ebenso weiß ich, daß Sie die tiefste Verehrung für den Verstorbenen hegten. Aber ich habe die unabweisliche Empfindung, als hätte Sie dieses Gefühl zu weit getrieben, als hätten Sie dem Lebenden zu Ehren des Toten unrecht getan. Sie sagen: es sei etwas Unfaßbares und Beispielloses, daß dieses Werk ein sonniger und werdender Jüngling geschaffen habe, dieses Werk … ich zitiere wörtlich: … ›welches das Werk eines Mannes hätte sein können, den das Schicksal durch alle Himmel und Höllen gejagt und der nach Schmerz und Leid sein unsterbliches Vermächtnis hätte niederlegen wollen‹. Mit wenigen Strichen gezeichnet, steht das verfehlte Leben meines Vaters vor mir, vor jedem, der ihn gekannt hat. Und dieser ganz direkte Hinweis muß jeden stutzig machen. Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll: es klingt aus Ihren Worten etwas heraus, als ob Sie an der selbständigen Schaffenskraft des Herrn Dupaty zweifelten, als ob Sie ihn für keinen Schöpfer, sondern einen gelehrigen Nachahmer und Anlehner halten, als ob er den ›Liebestod‹ unter meines Vaters Anregung geschrieben, als ob mein Vater ihn unterstützt und ihm geholfen habe … als ob … als ob er ihm die Hand geführt habe! Wenn Sie mir nicht glauben, wir wollen zum Beispiel Manner fragen; auch ihm werden Ihre Worte einen bitteren Beigeschmack hinterlassen und werden seine Begeisterung für Dupatys Genie herabstimmen!«
»Ich teile Ihre Ansicht nicht: die Frau beherrscht das Gefühl, den Mann der Verstand!«
»Und unter dem Gewicht Ihres Namens werden Tausende sich beeinflussen lassen, und das wird immer weitere Kreise ziehen, und das Urteil wird zur Verurteilung werden und wird an Herrn Dupaty haften bleiben. Und mit dieser Etikette wird er sein ganzes Leben hinschleppen müssen, daß er ein Nachempfinder sei und kein Schöpfer!«
»Darf ich mir die Frage erlauben, ob diese von Ihnen so lebhaft gerügten Worte in gleichem Maße Herrn Dupaty mißfallen haben?«
»Er ist so überglücklich in seinem Triumph und noch ein solcher Neuling, daß ihm die Zweideutigkeit Ihrer Worte …«
»Ich muß mir doch etwas mehr Vorsicht in der Wahl Ihrer Ausdrücke ausbitten,« sagte Freystätter erregt und das Blut schoß ihm wieder in den Kopf. »Was Sie da herausgelesen oder hineingeheimnissen wollen … ich habe es nicht geglaubt und habe es nicht geschrieben. Ich habe von Lehren und Anregungen gesprochen und nicht von Unterstützungen und Anlehnungen. Ich habe den mächtigen Einfluß betont, den ein Meister auf seinen Schüler ausüben kann, und ich werde in meiner morgen erscheinenden Besprechung dieses psychologisch interessante Thema noch näher beleuchten.«
»Und um Sie daran zu verhindern, habe ich Sie hergebeten. Ich möchte Sie bitten, grade dieses Gebiet nicht wieder zu berühren, und die Worte, die nun einmal zu schweren Mißdeutungen Anlaß geben müssen, zu mildern und so abzuschwächen, daß auch nicht mehr der leiseste Zweifel bestehen bleiben kann!«
»Ich werde das schreiben, was mir meine Ueberzeugung vorschreibt, und nur das!« sagte er entschlossen.
»Und wenn ich Sie bitte,« steigerte sie lebhaft, »bei unserer alten Freundschaft herzlichst bitte …,« und sie wollte ihm die Hand über den Tisch hinweg reichen.
Er aber schien das nicht zu beachten, und mit ein wenig zitternder Stimme erwiderte er ihr:
»Ich kann mein Leben für jemand opfern … meine Ueberzeugung nicht!«
Es trat eine tiefe Pause ein; sie waren nicht mehr allein … ein Drittes, wenn auch Unsichtbares, schwebte zwischen ihnen … Constanze Assing! so horche doch und lausche … Hörst du nicht die leise, zirpende Stimme, die dich anfleht:
»Fräulein Stanzerl … i bitt' Ihnen, tun's mei Sig' net zu weh!«
Aber Constanze hörte diese leise, aus einem angstvollen und gequälten Mutterherzen auftauchende Stimme nicht. Seine Kälte, seine feste Entschlossenheit reizten Constanze. Und immer klarer und immer bewußter wird es ihr, daß Eifersucht ihm die Feder geführt hat, um den Geliebten vor ihr, vor der Welt herabzusetzen, und in immer wachsender Erregung, die sie nicht mehr bemeistern kann, ruft sie:
»Und werden Sie auch dann Ihr Vorhaben ausführen, wenn ich Ihnen sage, daß Sie mit jedem Worte, mit dem Sie Herrn Dupaty treffen, genau so mich verletzen?«
Sie hat den Todesstoß geführt. Sie hat ihn mitten ins Herz getroffen. Er hat dem Gerücht nicht geglaubt, weil er ihm nicht glauben wollte … jetzt ist's furchtbare Gewißheit geworden, jetzt hat sie es ihm gesagt, daß sie den andern liebe, jetzt ist sie ihm verloren für alle Zeit; er hält sich am Stuhle fest. Und in immer auflodernderem und unbezwinglicherem Zorn stößt sie hervor:
»Jawohl! mit jedem Wort! mit jedem verdächtigenden Wort!«
»Fräulein Assing!« schreit er auf; sie stehen sich gegenüber, und ihre Blicke kreuzen sich feindselig und haßerfüllt. Und leise, so leise weint die Stimme der kleinen, alten Frau:
»Nun ist's geschehen! Du hast Dir den besten Freund geraubt und mir den besten Sohn! Du hast ihm zu weh getan!«
Nach einer kurzen Pause:
»Herr Doktor Freystätter, wir haben uns nun wohl nichts mehr zu sagen?«
»Wir haben uns nichts mehr zu sagen!«
Und hinter ihm fällt die Tür ins Schloß.
Sie stürzt in einen Sessel und starrt vor sich hin; so hat seine Eifersucht, seine unselige Leidenschaft diese Freundschaft kurz und klein geschlagen, in Trümmer, in Scherben. Diese Freundschaft, die so zart und lieb erblühte, einem Rosenstrauch gleich im Frühling, und von dem nun nichts übrig bleibt als ein in Winterskälte erfrorener und entblätterter Stamm … Sie starrt vor sich hin. Dann aber richtet sie sich auf und murmelt:
»Ich habe den Freund verloren, den ich schätzte, aber ich war es dem Manne schuldig, den ich liebe!«
Und währenddessen wankt Sigmund Freystätter fassungslos und seiner Sinne kaum mächtig durch die Straßen, und Schmerz und Groll überwältigen ihn. Daß sie seine Liebe nicht erwidert … er hätt's vielleicht in rastloser Arbeit vergessen, hätt's vielleicht im Strom des Lebens bezwingen können; daß sie ihn aber der Verleumdung fähig hält, daß sie ihn verachtet, das erträgt er nicht … Und nur ein einziger Gedanke beherrscht ihn noch: »wenn die alte Frau nicht mehr lebte, ich tät's! … tät's in der nächsten Stunde! …« Um sich das kochende Blut zu kühlen, geht er auf großen Umwegen durch den im Schnee leuchtenden Englischen Garten zu seinem stillen, friedlichen Elternhaus, und von irgendwo, vielleicht aus einer dunkeln Ecke des Treppenflurs, hört er es wispern und zirpen:
»Ich habe es Dir gesagt, Du wirst zurückkommen mit zerbrochenen Flügeln!«
Er zieht seinen Hausrock an, schraubt die Lampe auf und setzt sich an den Schreibtisch. Der verheerendste Sturm, den ihm das Leben bringen konnte, ist über ihn dahingebraust. Jetzt ruft die Pflicht. Er versucht seine Gedanken zu sammeln; aber immer wieder und wieder kehren sie zurück zu jenen Worten: »als ob mein Vater ihn unterstützt und ihm geholfen habe … als ob er ihm die Hand geführt habe!« Und immer wieder und wieder zerlegt und zergliedert und wägt er diese Worte und spürt ihnen nach und späht und sinnt, und immer wieder richtet sich sein Blick auf das vor ihm stehende Bild von Richard Assing. Lange, lange sieht er forschend und fragend ihm in die Augen … Und rafft sich endlich auf und schreibt weiter die Kritik über den »Liebestod«.
Dupaty, der Constanzens Vorschlag, eine halbe Stunde früher zu kommen, um nicht unnütz »darben« zu müssen, vollständig begriffen und gebilligt hatte, fand Constanze bei seinem pünktlichen Erscheinen auf der Chaiselongue noch völlig unter dem Nachklang der Erregung, und da sie ihm auf alle seine schmeichelnden Bitten den Grund ihrer tiefen Verstimmung nicht nennen wollte, glaubte er, der sich in derartigen Dingen eine bedeutende Erfahrung angeeignet hatte, an eine Weiberlaune, die man hinnehmen müsse. Nachdem er sich die unvermeidliche Zigarette angezündet hatte, die eigentlich den größten Teil seiner Nahrung ausmachte, setzte er sich an den Flügel und begann zu spielen, und da er das Instrument mit vollendeter Meisterschaft beherrschte und unter seinen schlanken Fingern alle Wunder aufblühten, alle Engel jauchzten und alle Teufel frohlockten, ließ Constanze sich einspinnen in den Zauber seiner Kunst und lauschte. Mit inniger Liebe blickte sie aus ihrer im Dunkel liegenden Ecke zu ihm, dessen jugendliche, strahlende und siegreiche Schönheit, vom Schein der Lampe erhellt, in wundervoller Plastik hervortrat. Und sie freute sich von Herzen dieser Schönheit, die nun auch ihr gehörte für immer. Während er dem Flügel das Duett aus dem »Liebestod« entlockte, diesen herrlichen Zwiegesang, in dem zwei Herzen sich ganz den Wonnen ihres Glücks hingeben und nur Liebe, heiße, selige, unwandelbare Liebe ausströmen, malte sie sich ihre Zukunft aus, und die lag vor ihr wie eine blumengeschmückte, sonnige Landschaft, durch welche sie an seiner Seite wandern würde. Und wie sie sich in ihrer Kunst stützen und raten, fördern und helfen würden, wie sich ihre Begabungen ergänzen, verschmelzen und sich aneinander emporranken würden. Dann gab sie sich wieder seinem Spiel gefangen und summte leise die erhabene und rührende Weise mit, die er erdacht hatte. Ruhiger, stiller und friedlicher wurde es in ihr, aber plötzlich kehrten ihre Gedanken doch wieder zurück zu dem Freunde, den sie opfern mußte, weil er es so gewollt. Weil dieser sonst so besonnene Mann den Kopf verloren, weil er sich rächen wollte an ihr und an dem da drüben, der ihm sein Glück geraubt hat. Was er nun wohl schreiben würde? Ob er sich nun in Trotz und Haß immer weiter verlieren oder ob er nicht durch die Erfüllung ihres Wunsches wieder den Weg zu ihr zurücksuchen und sich mit dem bescheiden würde, was sie ihm bieten konnte? Dann würde sie mit tiefinniger Freude seine Hand ergreifen und würde ihm in treuer Freundschaft beweisen, daß das wohl allzu rasche Wort nur ihren Lippen und nicht ihrem Herzen entsprang. Ja! ja! so mußte es kommen, und so wird es kommen! Wie von einem Alp befreit, sprang sie auf, umhalste Dupaty, der über diesen nicht ganz so früh erwarteten Wetterumschlag dankend quittierte, und unter Küssen und Liebkosungen rief sie:
»Weißt Du was, geliebtes Scheusal? … einmal … einen einzigen Tag nur möchte ich vom Theater, von Rezensionen und Gratulationen verschont sein, möchte ich von Garderobiere und Friseuse und Jungfer und Köchin, möchte ich von dem ganzen Wirrwarr nichts wissen, möchte ich ausgehen können, ohne angestarrt und begafft und gegrüßt zu werden, möchte mit Dir allein sein, irgendwo in einem stillen Winkel, wo uns niemand kennt und niemand belästigt, wo wir ganz unberühmt sind, aber ganz glücklich. Ich mach' Dir einen Vorschlag, dessen Genialität Du, wenn nur noch eine Spur von Gerechtigkeitsgefühl in Dir ist, anerkennen mußt. Wir fahren morgen früh irgendwohin und sehen uns die Berge mal in voller Schneepracht an. Willst Du?«
»Also Partenkirchen?«
»Abgemacht. Morgen früh mit dem ersten Zuge und abends mit dem letzten wieder nach Hause.«
An diesem glückseligen Abend blieben sie noch lange zusammen.
Schon lange vor der verabredeten Zeit stand sie im Pelz am Fenster und starrte hinaus, als ob sie ihn dadurch schneller herzaubern könnte. Im grämlichen Zwielicht des heraufdämmernden Märzmorgens lag die Straße, nur die auf der Seite drüben flackernde Laterne warf einen rötlichen Kreis auf das Trottoir. Im Nebeldunst tanzten die Schneeflocken. Still und schweigsam lag die Straße. Nur ein auf dem Fahrdamm vorüberschlitternder Bäckerjunge pfiff sich eins, ein Milchwagen mit einem müden und abgetriebenen Gaul zockelte vorüber, und die immer emsige Hausmeisterin, die alte Frau Schwabenmayer, reinigte mit einem Besen den schneebedeckten Bürgersteig. Und als sie diese gute Pflichtenseele sah, die sich durch viele Tücher und Schals gegen die Kälte geschützt hatte, diese treue Frau, die ein Menschenalter ihrem Vater gedient hatte, mußte sie an ihn zurückdenken, an seine auf dem Hof gelegene Wohnung in der Hundskugel, an sein kurzes Schmerzenslager, an seinen Dank: wie er sie den einzigen Sonnenstrahl seines Lebens genannt, wie er ihr sein Vertrauen, seine Liebe zu Dupaty gestanden, und wie er ihr gesagt hatte, daß er ihn, ganz allein zur Ordnung seines musikalischen Nachlasses bestellt habe. Und wie er dann, während auf dem Hofe Kinder spielten und ein Leierkasten von fernher klang, sie mit nur noch flackernder Stimme und verlöschenden Augen um das bat, was ihr heute Leben, Zukunft und Seligkeit bedeutete: das Glück.
Constanze sah nach der Uhr, die grade auf sieben zeigte, und ungeduldig öffnete sie das Fenster, ob sich denn der verwöhnte Prinz, der ihr für einen beglückten Geliebten viel zu säumig erschien, nicht endlich zur Erfüllung seiner Ritterpflicht bequemen würde. Und schmiedete den teuflischen Plan, den Herrn für seine Saumseligkeit »darben« zu lassen. Als sie aber am Ende der Straße zwei gelbe Lichter auftauchen sah und der Wagen mit den dampfenden Pferden vor ihrer Tür hielt, flog sie die Treppen hinunter, ihr Racheplan war verflüchtigt, und sie bot ihm ihre frischen Lippen zum Morgengruß. Während sie durch die langsam erwachenden Straßen fuhren, wurde er nicht müde, sich auf die von ihr angeregte Art nach ihrem Befinden zu erkundigen, und sie wurde nicht müde, ihm dankend zu antworten. Er wischte die bereiften Fenster ab, und an ihnen zog die liebe und ihnen vertraute Stadt vorüber, die sich den bierseligen Schlaf aus den Augen rieb und dem neuen Tage entgegenstrebte, mit seinen Pflichten, seinem Freud und Leid. Sie sahen in noch trübe beleuchtete Magazine, deren in den Fächern aufgestapelte Schätze durch Vorhänge gegen den Staub geschützt waren, sie sahen in Wirtschaften, in denen unter einer rötlich brennenden Gasflamme eine verschlafene Kellnerin ein paar Fiakern den frischen Anstich kredenzte, sahen junge Ladnerinnen, die zur Arbeit eilten, und denen vielleicht noch eine Walzermelodie oder eine Schmeichelei vom gestrigen Sonntagabend im Ohr klang, und sahen Schulkinder mit den Tornistern, die sich um einen Maronenverkäufer scharten oder ihre jungen Kräfte im Schneeballwerfen maßen. Und beide mußten lachen, als sie im Schaufenster einer Musikalienhandlung ihre Bilder sahen und zwischen ihnen den »Liebestod«. Als der Kutscher mit seinen Gäulen, deren Wiege wohl kaum in Arabien gestanden hatte, in die Kaufinger Straße einbog, streckte Constanze den Kopf zum Fenster heraus, und vor ihr tauchte das Haus auf, dieser alte, reichverzierte Barockbau, über dessen Eingangstür unter dem Bilde der Mutter Maria das »ewige Licht« brannte, dieses Haus, in dem sie frohe, harmlose Jugendtage verlebt hatte. Und sie sah im Vorüberfahren, wie Herr Salomon Freystätter hinter dem Ladentisch mit dem gestickten Hauskäppchen auf dem kahlen Schädel furchtbare Musterung hielt unter Bettbezügen und Wollwaren, und sah hinauf zum zweiten Stock und zu dem dritten Fenster, hinter dem beim Lampenlicht schon oder noch »mei Sig« die Kritik vollendete, die sie für immer vereinigen oder für immer trennen sollte. Sie kannte das Zimmer aus ihren Mädchenjahren. Wie oft hatte sie dort dem nun verlorenen Spezi Solfeggien vorgesungen und Passagen und Triller und Koloraturen, wie oft hatte er sie am Flügel begleitet, wie oft hatten sie sich dann die Köpfe heiß gesprochen! Ja, sie kannte dieses Zimmer mit der Beethovenschen Kolossalbüste, die sie ihm vergangene Weihnachten geschenkt. Sie sah alles wieder vor sich: die hohen Regale, in denen die meisten Bände auf dem Kopf standen, sah den Flügel, Tische, Stühle und Fensterbrett mit Zeitschriften und Notenheften bedeckt, die Stickereien, in denen Frau Ralchen zügellos-buntfarbige Orgien feierte, und immer noch klangen ihr im Ohr die Verzweiflungsschreie der kleinen Frau, die jede Woche reinmachen lassen wollte, und die jedes Jahr mit List und Schlauheit einmal dazu kam. Ja, ja … vorbei! vorbei! Sie hatte sich an Camille angelehnt und sich so in seinen Pelz eingekuschelt, daß er glaubte, sie sei ein bißchen eingedöselt, und sie deshalb nicht stören wollte. Als der Wagen langsam und geräuschlos an der Michaeler Hofkirche vorüberglitt, sah sie die Gläubigen in das Gotteshaus eintreten und mußte zurückdenken an die Zeit, in der auch sie diesen Weg gefunden, »halb Kinderspiele, halb Gott im Herzen«, und welch ein sündiges Weltkind nun aus ihr geworden war. Und ein halb wehmütiges, halb verschmitztes Lächeln umspielte ihren Mund bei dem Gedanken, wenn sie jetzt dort niederknien würde auf den eiskalten Fliesen, um dem aufhorchenden Priester ihre so schöne und so süße Sünde zu beichten.
Als sie ihm endlich im gutgeheizten Coupé gegenübersaß, spähte sie ängstlich nach allen Seiten, ob nicht irgendein ganz überflüssiger Mensch sie bemerkt habe, und lachte hell auf:
»Weißt Du, wie mir das vorkommt? Als ob wir durchbrennen wollten!«
Ein Zeitungsverkäufer rief die Morgenblätter, die soeben von auswärts angekommen wären, aus, und Camille packte sich die Taschen voll und gab dem Manne ein so reiches Trinkgeld, daß dieser sich verpflichtet hielt, dem »Herrn Grafen« zu danken.
Während der Zug sich langsam in Bewegung setzte und Camille die Zeitungen durchblätterte, sagte Constanze:
»Was bist Du doch für ein Kind! Einen Tag nur, einen einzigen Tag wollten wir uns freimachen von all dem Getriebe, und nun mußt Du, eitler Prinz, gleich am frühen Morgen schwelgen in Deinem gedruckten Ruhm. Dich hat der Theaterteufel gepackt,« lachte sie, »und Dich läßt er auch nie mehr los!«
»Gleich, gleich, Schatz!« murmelte er und las gierig weiter. Der Zug durchquerte das Netz der Schienenstränge, zwängte sich vorbei an Signalstangen, Wärter- und Weichenstellerbuden, an Maschinenhäusern, in denen die im Halbkreis gruppierten Lokomotiven zur Abfahrt gerüstet standen, an den langgestreckten Betriebswerkstätten und Wohnungen des Bahnpersonals, an den großen Brauereien, an qualmenden Schloten und Fabriken, deren noch hell erleuchtete Fenster einen Einblick in die überfüllten Arbeitssäle gestatteten, an den aus allen Richtungen einlaufenden Vorort-, Schnell- und Expreßzügen, deren Wagendecken mit Schnee überschüttet waren, rollte durch eiserne und gemauerte Bahnübergänge, polterte vorüber an Plakatstangen, an langen, gleichförmigen Straßenzügen, den Ausläufern der Stadt, an Kirchhöfen, Niederlagen von Grabmonumenten und Gärtnereien, bis er endlich freies Feld gewann und, durch nichts mehr behindert, in schnellem Tempo dahinsauste.
Constanze hatte die Füße auf die gegenüberliegenden Polster gelegt. Camille hatte sich in die Lektüre vertieft, und sie konnte aus seinen leuchtenden Augen, die so schön waren, und die sie liebte, sehen, daß er mit dem Ergebnis zufrieden war.
»Wissen Sie, mein Herr, daß Sie sehr unhöflich sind gegen eine sehr liebenswürdige junge Dame, der Sie ewige Liebe und Treue gelobt haben?« neckte sie ihn.
»Eine Sekunde noch, Liebling … nur noch eine Sekunde!« Da aber diese Sekunde sich zur Minute ausdehnte und dieser sich noch verschiedene anreihten, trommelte sie in drolliger Ungeduld so lange auf die roten Samtkissen, bis er lachend die Zeitungen beiseite warf und sich in einem nicht eben kurzen »mündlichen Verfahren« Verzeihung erbat, die sie ihm von Herzen gern gewährte.
»Also, mein gnädigstes Fräulein,« sagte er voll Mutwillen, »ich ersuche Sie höflichst, in mir zu sehen und zu respektieren ein ›ursprünglichstes Genie, das seine eigenen und neuen Bahnen geht!‹«
»Wer hat Dir denn diesen haarsträubenden Blödsinn eingeredet?« spottete sie und fuhr ihm durch die Locken.
»Alle! ausnahmslos alle die kritischen Päpste aus Berlin, Wien, Dresden und so weiter und so weiter!«
»Das freut mich innig,« und sie betonte jedes Wort in tiefem Ernst, während sie ihm voll Wärme und Stolz in die Augen sah, »freut mich mehr, als ich Dir sagen kann!«
Er erbat sich die Erlaubnis, im Korridor eine Zigarette rauchen zu dürfen, »nur eine einzige, da er sonst schon vor Starnberg unbedingt aus dem Leben geschieden sein würde«, und während er draußen auf- und abging, sann Constanze vor sich hin, und ihr schon ein wenig beschwichtigter Groll gegen Freystätter erwachte aufs neue. Also unter all den ernsten und ersten, den gewissenhaft prüfenden und unbestechlichen Sachverständigen, die Camilles Wunderwerk kritisch gewürdigt hatten, war der frühere »Spezi« der einzige, der sich zu dieser ganz unverantwortlichen Verdächtigung hatte hinreißen lassen … Ah bah, über Bord mit ihm!
»Wo sind wir denn eigentlich?« fragte sie mit absichtlicher Heiterkeit, um ihren schnell emporgeloderten Unmut zu verbergen.
»Ich habe keine Ahnung,« entgegnete er, und da die Fenster von der immer zunehmenden Kälte schon mit Eisblumen überzogen waren, hauchte Camille die Scheiben so lange an, bis sie beide einen Ausblick gewannen. In wildem Galopp sauste der Zug dahin. Sie waren wie geblendet und konnten sich erst nach und nach an die leuchtende Helle gewöhnen. So weit sie schauen konnten, sahen sie nur Schnee: glitzernden, flimmernden Schnee. Er bedeckte die vorüberfliegenden Tannen- und Buchenwaldungen, er begrub Wärterbuden und Felder, Bahnhöfe und Stationsgebäude, Ortschaften und Brücken, über die ganze unermeßlich scheinende Landschaft breitete er ein großes, weißes Leichentuch. Nur hier und da guckte eine Kirchturmspitze oder der Giebel eines schneebedachten Gehöftes hervor; auf den Drähten der Telegraphenstangen froren ein paar Sperlinge, die sich ausnahmen wie Notenköpfe auf liniiertem Papier. Und eintönig fielen und wirbelten und tanzten die Schneeflocken. Einen Augenblick durchdrang die Sonne den grauen Himmel: eine weiße, fahle Sonne, die sich aber sofort wieder versteckte in der richtigen Erkenntnis, daß sie kontraktlich nicht verpflichtet sei, dieser weißen Orgie ihr Licht zu leihen. Undurchdringliche Nebelschwaden lagerten über dem zugefrorenen Starnberger See. Immer schneller jagte und sauste der Zug auf dem abschüssigen Terrain. Wie ein junges Füllen, dessen Ungeduld und Tatendrang sich nicht zügeln läßt, durchquerte er die sich auf beiden Seiten auftürmenden Schneewälle, und deutlich konnte man das Knirschen und Aechzen der Räder in den gefrorenen Schienen vernehmen. Die rote Mütze des Vorstandes leuchtete eine Sekunde auf einer kleinen vorüberfliegenden Station aus der blendenden Weiße auf, und unwillkürlich verglich Constanze diese Mütze mit dem roten Fleck, den sie damals vor ihrem Hause für Blut gehalten hatte und der doch nur ein unschuldiges rotes Tuch gewesen war.
Mit militärischem Gruß bat der Schaffner um die Billette, und während er sie abknipste, fragte ihn Constanze, ob's denn auch noch Schnee im Gebirge gäbe?
»Dös will i moanen … geschnieben hat's … und dös fest ah noch … o mei … so sakrisch viel Schnee hat's scho seit zwanzig Jahr'n bei uns in die Berg' nimmer geb'n.«
»Sapristi!« jubelte Constanze, »ist das fein!« Sie klatschte in die Hände, und trotzdem das Verdienst Camilles an diesem vom lieben Gott wundervoll inszenierten Ausstattungsstück doch eigentlich ein recht bescheidenes war, wurde ihm dennoch die Belohnung in der üblichen Form zuteil.
Sie saß ihm wieder gegenüber und summte leise vor sich hin.
»Von wem hast Du eigentlich Deine ganz ungewöhnliche Begabung? Ist Deine Mutter so musikalisch?«
»Nein!« antwortete er einsilbig, »von der habe ich's nicht!«
»Von Deinem Vater?«
»Ich weiß es nicht!«
»Hast Du ihn so früh verloren?«
»Meine Mutter lebt von einer Rente, die ihr ein römischer Kirchenfürst ausgesetzt hat!«
Und da Constanze merkte, daß sie da eine wunde und schmerzende Stelle berührt hatte, bog sie natürlich schnell von dem gefährlichen Wege ab und leitete das Gespräch auf die Kritik, die Premiere und die erste Wiederholung, und daß sie nicht vergessen dürfe, dem Buchbinder Gerum ein Billett zu schicken, und daß sie im zweiten Akt bei der Stelle: »Du hast mir Liebe und Treue versprochen … Du hast mir jetzt das Herz gebrochen« doch ein wenig mehr retardieren würde, und daß sie …
»Was seid Ihr Frauen doch alle so inkonsequent,« unterbrach er sie lachend. »Da wolltest Du Dich einen Tag loslösen, nur einen einzigen Tag loslösen, da machtest Du mir Vorwürfe, daß ich die Zeitungen durchfliege, und Du selbst springst mit beiden Füßen mitten hinein in all …«
»Ja, Du hast recht,« erwiderte sie ernst, »vollständig recht! Was uns tiefstinnerlich beschäftigt, was uns beglückt und uns das Leben verschönt, wir werden's nicht los … wir nehmen's überall mit. Die Menschen schleppen doch alle eine Kette mit sich … wir auch, Du und ich, aber bei uns ist's zum Glück eine goldene!« Und sie reichte ihm die Hand.
Die Lokomotive pfiff und paffte und fauchte, der Zug hielt, die Räder knirschten, die Coupétüren der mit Rauhreif überzuckerten Wagen wurden geöffnet … sie waren am Ziel. Die Kutscher der zahlreichen buntlackierten Hotelomnibusse schrien die Namen ihrer Gasthöfe mehr abschreckend als verlockend in die kalte Winterluft, und bald ratterten Constanze und Camille in dem schlecht gefederten Hotelwagen nach Partenkirchen, das mit seinen Bauernhäusern, Villen, Gärten und Aeckern wie in weiße Watte eingebettet vor ihnen lag. Man hätte doch meinen sollen, daß die Herren da oben, von dem Ausschütten der Bettfedern ermüdet, nun endlich mal ein bißchen verschnaufen würden. Aber ohne Rast fielen die Flocken und wirbelten und tanzten und haschten sich, bis die eine hier, die andere dort, die auf einem Fenstersims, die auf einem Brunnen, die auf einem schneeüberschütteten Grabhügel sich zur Ruhe setzte. Der in allen Fugen krachende und quietschende Omnibus, dessen Fenster klirrten und klapperten, hielt vor dem Gasthof »zur Post«, und in dem gut geheizten, aber seit vielen Jahrhunderten nicht mehr gelüfteten Speisesaal machten sich's beide bequem und wärmten ihre Füße am flackernden Ofenfeuer. Die Kellnerin, ein blutjunges Ding, das ein bißchen blaß ausschaute, lächelte bei Ueberreichung der Speisekarte Constanze und Camille sehr eigenartig und mit einer gewissen Vertraulichkeit an, und auch Constanze fiel es ein, daß sie dieses Gesicht schon 'mal gesehen haben müsse.
»Ja wissen's denn net mehr, gnä' Frau, i war doch vergangen Sommer in Urfeld und hab' Ihne oft g'nug bedient?«
Die Augen leuchteten nicht mehr so verheißungsvoll und so lachend ins Leben.
Wie's ihr denn ginge, fragte Constanze und reichte ihr die Hand.
»Ja, wie soll mir's gehen … I sag Ihne, gnä' Frau, lassen's sich net mit de Mannsbilder ein – die Tröpf' … die miserablichten, die ganz verdächtigen … dös Kind ist bei mei Mutter in Minke in Kost und Pfleg', und im Mai ist d' Hochzeit! Ja mei', schlecht san's alle, die …«
»Na, das ist aber doch schön von ihm, daß er Sie heiratet?«
»Na, na, na,« protestierte die Cenz lebhaft, »der is net … i heirat' schon an andren!« und sie ging in die Küche, um die Speisen zu bestellen.
»Sapperlot,« lachte Camille herzlich auf, »einen andren! Dazu gehört doch eine große Vorurteilslosigkeit!«
»… oder eine große Liebe!« ergänzte sie. »Urfeld!« träumte sie selig vor sich hin, »der Walchensee! Weißt Du noch: als unsere Boote nebeneinander schaukelten in der kleinen Bucht unter Weiden, Ulmen und Flieder, als Du's mir damals sagtest, daß Du mir gut wärst, da entschied sich unser Schicksal … weißt Du's noch?« Und während sie aufsprang und ihm um den Hals fiel, jubelte sie: »Jetzt, Liebster, machen wir mal einen Geniestreich, wir lassen uns 'nen Schlitten anspannen und fahren an den Walchensee und wollen dort in Erinnerungen schwelgen und wollen glücklich sein!«
Im Hausflur, in dem sich das Postbureau befand, gab Constanze ein Telegramm auf an ihre Jungfer, daß sie an den Walchensee führe und erst spät nach Hause käme. Und der junge Postassistent, der im langen Winter nur alten verschrumpelten Bauernweibern ihre höchst fragwürdig duftenden Pakete abnehmen mußte, war von Constanzens Erscheinung so geblendet, daß er sich ganz vertattert in den Worten verzählte … und zwar zu seinen Gunsten.
Constanze und Camille bummelten durch die in weißer Einsamkeit menschenleere Dorfstraße, guckten in die Auslagen der Krämer, Holzschnitzer und Antiquitätenhändler, und namentlich zog Constanzens Aufmerksamkeit ein stattliches Schaufenster auf sich, in dem Lodenmäntel, Bettzeug und grellseidene Schürzen ausgestellt waren, und über der Ladentür stand in roten Buchstaben: »Filiale von Gebr. Freystätter, München«. Und plötzlich stand wieder dieser unansehnliche, jüdisch aussehende, kleine Mensch vor ihr, der in seiner unseligen Eifersucht … Ach was! Wozu an ihn noch denken … sie hatte ihn aus ihrem Leben gestrichen.
In tollem Uebermut formte sie einen großen Schneeballen und warf ihn dem ahnungslosen Camille ins Gesicht. Der ließ sich nicht lumpen und gab das Geschoß zurück, welches sein Ziel auf ihrem Herzen fand. Von hüben und drüben flogen die Bälle, von hüben und drüben tönten die Jauchzer, und es war ein liebes und lebensfrisches Bild, diese schönen jungen Menschen zu sehen, wie sie, in ihren schweren Pelzen dastehend, mit von Kälte und Seligkeit geröteten Wangen sich zujubelten, wie die Kinder. Die Dorfjugend starrte sie beide mit aufgesperrten Mäulern an, und hinter einem blinden Fenster erschien der verrunzelte Kopf einer alten Bäuerin.
Der Schlitten stand bereit: ein bequemes und elegantes Gefährt, vor dem drei mit Schellen behängte Braune, wiehernd und tatenlustig, der Abfahrt warteten. Constanze und Camille hüllten sich ein, so daß nur die Nasenspitzen unter ihren Pelzmützen hervorlugten, der Kutscher knallte, der Wirt dienerte, die Kellnerin knixte, und der Postassistent starrte dem Schlitten noch lange nach.
Die Gäule gaben das gemächliche Tempo, zu denen der Fuhrmann sie in der Dorfstraße zwang, auf, sobald sie die Chaussee gewonnen, und auf einen kurzen Pfiff des Lenkers stürmten sie dahin. Trotz des Schneewirbels, der ihnen in die Augen flog, starrten die Insassen des Schlittens überwältigt in das wunderbar-erhabene Bild, das sich voll majestätischer Größe und furchtbarer Einsamkeit vor ihnen entrollte. Nun endlich sah Constanze die heimatlichen Berge, deren Schönheit sie von Jugend an in sommerlicher Pracht, in anmutiger Lieblichkeit und strahlendem Sonnenglanz bewundert hatte, in strengem und unerbittlichem Ernst, sah sie zum ersten Male in dieses gewaltige Geheimnis der Natur. In Schnee begraben Gehöfte, Hütten und Stadel, in Schnee versenkt die im Sommer mit Blumen bunt bestickten Wiesen, die sich im warmen Winde wiegenden schweren Kornfelder und wohlbestellten Aecker, die Weidenplätze der Herden, verschwunden Baum und Busch, zu Eis erstarrt die sonst so fröhlich herunterstürzenden Wasserfälle und murmelnden Quellen, verschwunden, unter der Schneelast nach Luft und Atem ringend, die an den Bergwänden hinaufkletternden Tannenwälder, überschüttet von Schnee die schwerbedachten Sennhütten, erstorben Jodler und Zitherklang und Alphorn und in undurchdringlichen Wolken verborgen die Spitzen der Bergriesen. Nur das Schnaufen der mit Rauhreif übersponnenen dampfenden Gäule und das Läuten ihrer harmonisch abgestimmten Schellen unterbrachen das große feierliche Schweigen. Und immer dichter stürmen und tanzen, wirbeln und fallen die Schneeflocken, all diese zartgeformten, glänzenden und glitzernden Kristalle, Millionen Sternen gleichend, die der Erde zuhasten.
»Das müßtest Du mal in Tönen malen,« flüstert Constanze.
»Wer das könnte!« murmelt Camille und schaut in die Ferne.
»Du kannst es! Du allein! Wer den ›Liebestod‹ erdacht und erschaffen hat, kann alles!«
Der schweigsame Kutscher zeigt mit der Peitsche nach rechts.
»Ach Gott, sieh nur!« ruft Constanze erschrocken. Bis an die Brust im Schnee steht wenige Schritte vor der Straße ein Edelhirsch. Der Hunger hat ihn von oben heruntergetrieben, und im Tal späht er nach Nahrung. Majestätisch den mit vielzackiger Krone geschmückten Kopf aufrichtend, steht der König des Waldes unbeweglich und furchtlos da und schaut mit seinen schönen hellbraunen Lichtern seine Feinde, die Menschen, an: ein Bild der Grazie und Hoheit, des Stolzes und des Mutes.
In der nun aufsteigenden Straße ließ der Kutscher die Gäule verschnaufen.
»Ja, glauben Sie denn, daß wir's bis zum Walchensee schaffen werden?« fragte Camille, dem die Sache doch ein bißchen fragwürdig schien.
»Mit die drei Rösser net … da müssen's schon in Klais einen Vorspann nehmen … mir san gleich da!« und durch eine Zigarre redseliger gemacht, erläuterte er: »Hier hört nemli die Poststraßen auf Mittenwald af … die muß von Staats wegen g'säubert werden. Aber bei der auf Walchensee gibt's dös net … Do kann's scho sakrisch viel Schnee geb'n!« Und er trieb die Gäule wieder an.
»Wollen wir lieber umkehren?« fragte Camille.
»Nix da … ich will an meinen … an unsern Walchensee … Was kann uns denn passieren?«
»Steckenbleiben!« lachte er hell auf.
Vor dem einsamen Gasthaus machten sie halt, um die Gäule füttern und noch zwei vor den Schlitten spannen zu lassen.
»Pfüat Gott! und angenehme Fahrt!« verabschiedete sich der Wirt, die fünf Pferde zogen an und trabten in die weiße unendliche Oede. Der Wind pfiff und heulte und ächzte und jagte den immer dichter fallenden, mit Eisnadeln vermischten Schnee dem Paare ins Gesicht. Und aus dem Wind wurde Sturm, und aus den Flocken wurden Ballen und Klumpen, die in wagerechten Strichen gegen die Gäule rasten. Und aus dem Sturm wurde Orkan, und aus dem Orkan wurde eine Windsbraut, welche mit schrankenloser Gewalt die Schneemassen aufwirbelte und mit wildem Ungestüm zu Schneewällen und Schneebergen auftürmte, mit tollem, immer wachsendem Brausen die sich an der Straße hinziehenden Ebereschen zersplitterte und ihre kahlen Aeste durch die Luft trug und hart am Wege ein mit Eiszapfen umpanzertes Heilandsbild umknickte. Der Kutscher bekreuzigte sich. Die Pferde stiegen hoch im Geschirr auf und scheuten zurück vor dem weißen Graus. Von den Bergen donnerten, rollten und polterten mit furchtbarem Getöse die Lawinen, die uralte, stolze Tannen entwurzelten, Steine und Geröll in die Tiefe rissen und dem in rasender Hast dahinstürmenden Wild ein weißes Grab bereiteten.
Und unwillkürlich ergriff Constanze, wie schutzsuchend, Camilles Hand und flüsterte:
»Ich habe keine Angst … Du bist ja bei mir!«
Dann mußte sie doch lachen, als sie ihn und sich selbst ansah, denn Pelze und Mützen waren mit Schnee überschüttet und das Haar so gepudert, daß sie ihm zumurmelte:
»Schatz, so werden wir also als alte Leute aussehen!«
Der Kutscher stapfte schweigend neben den Gäulen her, um ihnen die immer schwerer werdende Last zu erleichtern, denn der Schnee hatte sich an den Hufen festgebacken … woran dachte er? … an die Gefahr, an das Trinkgeld, an den Schatz, an nichts? …
Endlich glitt der Schlitten durch Wallgau, einen stattlichen Ort mit buntbemalten behäbigen Häusern. Alles Leben war erstorben, die Menschen schienen sich in die Keller verkrochen zu haben, um den weißen Greuel nicht zu sehen und den Sturm nicht hören zu müssen. Nur ein Hund kläffte dem Gefährt nach, und eine Henne pickte auf einem mit Schnee überschütteten, gefrorenen Misthaufen melancholisch nach einem Korn.
»Jetzt kimme mir in d' Waldung, jetzt kann's nimmer so schlimm wer'n,« orakelte der Kutscher und blickte aufwärts in das Gestöber. Und wirklich erhellte sich der Himmel ein wenig, der Wind legte sich und mit ihm das wilde Schneetreiben. Josef Hillemeyer war ein guter Rosselenker, aber ein schlechter Wetterprophet. Denn gerade in der Waldung, die er für einen sicheren Hafen gehalten hatte, tobte der Sturm vom nahen Walchensee herüber mit einer heftigen Gewalt. Es schien, als ob er in der kurzen Rast, die er sich gegönnt hatte, neue Kräfte gesammelt hätte zu neuem Angriff, und als ob er, in furchtbar drohendem Trotz entfesselt, alles verheeren wollte, was sich ihm auf seiner brausenden Fahrt in den Weg stellte. Das Krachen des Sturmes, das Pfeifen und Sausen, das Pulvern und Stäuben der aufgewühlten Schneemassen, das Knacken und Fallen der Tannen, das Fliegen der Aeste, das Summen in den Telegraphenstangen und das jähe Auflodern einer in Brand geratenen, armseligen Hütte, die knatternd in dem weißen Meer ertrank, machten die Gäule wild, und trotzdem sie bis in die Knie im Schnee wateten, rasten sie mit fliegenden Nüstern und mit dampfenden und zitternden Leibern das nun abschüssige Terrain dahin. Der Sturm ließ sich nicht mehr genügen, den Schlitten nur nach vorn anzugreifen, er fiel ihm von rechts in die Flanken, er überfiel ihn von links, er packte ihn im Rücken und versuchte immer aufs neue, das Fahrzeug in den sich auftürmenden Schneemassen zu begraben. Und plötzlich flatterten von irgendwoher zwei Raben auf und begleiteten krächzend den Schlitten. Constanze lehnte sich angstvoll an Camille:
»Ich bin wahrhaftig nicht abergläubisch, aber Dohlen sind mir von jeher entsetzlich gewesen, Du wirst es sehen, sie bringen uns Unglück,« und da er sie beruhigen wollte, wiederholte sie in tiefem Ernst: »… sie bringen uns Unglück … sie tragen ja schon Trauerlivree … ich werde bald …«
Der Sturm trug ihre Worte fort. Und durch die blendende und wirbelnde, jagende und schwirrende Weiße sah sie immer diese zwei schwarzen Punkte, diese wütend schreienden Vögel, die den Schlitten umflatterten und ihn umkreisten. Constanze schloß die Augen. Trotzdem die Last des Schlittens durch den sich in ihm immer höher aufschichtenden Schnee immer wuchs und wuchs, stürmten die Gäule, wie von Furien gepeitscht, die sich nun jäh senkende Straße herunter, und Josef Hillemeyer schien die Herrschaft über seine fünf Braunen zu verlieren. Und während der Orkan das Gestöber seitwärts trieb und der Schlitten in rasender Jagd weiter hinabsauste, sahen der Kutscher und die Insassen ganz plötzlich in einer Entfernung von zweihundert Schritten den unendlichen, sich nach Urfeld in Nebel und Schneetreiben verlierenden Walchensee, der sich in wildem Kampfe gegen den daherbrausenden Sturm wehrte und aufbäumte, und dessen Uferrand nur von dünnen und treibenden Eisschollen bedeckt war. In heller Jagd rasten und flogen die Pferde ihrem Ziele entgegen, dem sicheren Untergang. Josef Hillemeyer war abgesprungen, hatte mit der rechten Hand den Halfter des einen Gaules gepackt und ließ sich mit der linken an der Mähne des wütenden Tieres mitschleifen … jetzt nur noch hundert, nur noch achtzig Schritt. Camille packte und riß die Zügel zurück. Die Gäule zerrten verzweifelt und bäumten sich und stiegen hoch auf im Geschirr und standen endlich einige Schritte vor den aufgeregten Wellen zitternd und keuchend still. Krächzend flogen die Raben den Bergen zu. Die drei wechselten kein Wort … sie fühlten, daß ihnen der Tod gewinkt hatte. Während der Kutscher und Camille die noch angstvoll fliegenden Tiere zu beruhigen versuchten, mußte Constanze zurückdenken an jenen lichten Sommerabend, an welchem die Boote leise und friedlich nebeneinander schaukelten, und wendete sich schaudernd ab von diesem See, diesem treulosen Freund, den sie so liebgewonnen hatte, und der dem geliebten Mann und ihr in seinem tiefsten Grunde den Liebestod bereiten wollte.
Zehn Minuten später hielt der Schlitten vor dem Gasthause »zur Post« in Walchensee.
Da sie völlig erstarrt waren und die Gaststube nicht geheizt war, mußten sie mit dem Bauernzimmer fürliebnehmen, und während die Kellnerin dem Wirt Mitteilung von der Ankunft der »noblichten« Gäste machte und Grog und Tee bestellte, fiel Constanze plötzlich Camille um den Hals und weinte bitterlich. Daß sie beide, die sich kaum gewonnen hatten, sich schon wieder hätten verlieren sollen … und daß sie einer Laune willen leichtsinnig mit seinem und ihrem Leben gespielt hatte.
Der Wirt trat ein und meldete dienstfertig, daß das große Eckzimmer im ersten Stock schon geheizt und für die Herrschaften hergerichtet würde. Constanzens Gesicht überflog eine leichte Blutwelle. Und auf Camilles Entgegnung, daß sie sofort mit fünf frischen Pferden wieder zurückfahren wollten, erklärte der Wirt, unter keinen Umständen und gegen gar keine Bezahlung seine Rosse dazu herzugeben. Die Herrschaften sollten sich bis morgen gedulden. In wenigen Stunden würde ein jäher Umschlag eintreten … es gäbe Tauwetter … dann könnten sie über den Kesselberg und Kochl leicht die Bahn erreichen. Und da der Wirt sich jedem Zuspruch und Vorschlag gegenüber ablehnend verhielt, blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Nacht dort zu bleiben und gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Constanze diktierte Camille ein aufklärendes Telegramm an ihre Jungfer, trotzdem sie deren Eigenart, sich über nichts zu wundern und über nichts zu plaudern, kannte, und während Camille die Depesche am Postschalter aufgab, griff sie nach der vor ihr auf dem Tische liegenden fettfleckigen Münchener Zeitung, und ihr erster Blick fiel auf die Worte: »… das Lebenswerk eines reifsten Meisters hätte krönen können, eines Mannes, den das Schicksal durch alle Himmel und alle Höllen gejagt, der nach Schmerz und Leid und Bitternissen in diesem ›Liebestod‹ sein unsterbliches Vermächtnis hätte niederlegen wollen.« Zornig warf sie das Blatt beiseite. Bis hierher, bis in diese weltabgeschiedene Einsamkeit verfolgt sie das häßliche, das zweideutige und verleumderische Wort. Sie starrte hinaus in das abnehmende Schneegestöber, und dann blickte sie, unwiderstehlich angezogen, wieder in die Zeitung und las wieder, als ob sie sich gar nicht davon losreißen könnte, die verhaßte Stelle: »denn unfaßbar ist es und ohne Beispiel, daß ein Jüngling …«
»Nein!« sagte sie laut vor sich hin, »Unbedachtsamkeit ist's nicht gewesen, sonst hätte er Einsehen gehabt und meine Bitte erfüllt. Die Absicht war's, zu verdächtigen und zu verletzen. Dafür gibt's keine Verzeihung … nie mehr im Leben werde ich mit ihm ein Wort wechseln!« Sie ballte das Blatt zusammen und warf es in die Ecke, damit Camille es nicht fände und vielleicht noch einmal lesen sollte. Und dann kam nach der Erregung der letzten Stunden, in denen sie dem Tode ins Gesicht gesehen hatte, eine große Ruhe, ein tiefinnerlicher Friede über sie. Was konnte ihr das Schicksal wohl weigern? … es lag vor ihr wie eine blumige Wiese … sie liebte ihn und wurde wiedergeliebt … sie und er hatten das Höchste in ihrer Kunst erreicht … sie waren jung, gesund und sorglos … es lebe das Leben!
Als sie mit Camille in heiterem Geplauder das bäuerische, aber wohlschmeckende Mittagsmahl einnahm und sich den Tiroler »Spezial« trefflich schmecken ließ, trat mit einem lauten »Grüß Gott«, dem gleich ein schmetterndes Juhu folgte, mit der Axt über der Schulter ein Holzer ein, ein sehniger, magerer, langer Mensch. Aus dem ärmellosen Lodenmantel steckte nur das von Wind und Wetter zermürbte Gesicht, in welches die Zeit zahllose Krähenfüße gekritzelt hatte. Unter der großen Hakennase wurde der weiße Schnurrbart sichtbar, von dem die glitzernden Eisstückchen herunterhingen. Der ganze Mensch troff von Wasser und Schnee. Er nahm am Ofen Platz, steckte sich die Pfeife an und rief dem Wirt zu:
»Xaverl, laß dös Feuer in der Kuchl löschen … der Föhn kimmt … drüben im Karwendel schaut's scho damisch daher.«
»Also gibt's wirklich Tauwetter?« fragte Constanze lebhaft.
»Dös scho … dös will i moanen … dös wird morgen a sakrische Sintflut geb'n.«
»Ja, glauben's denn, daß wir morgen weiterkommen?« rief Camille.
»Dös scho! Mir tät d' Zeit mit so a blitzsaubrem Madel hier a net lang wer'n.« Und er zwinkerte lustig mit den Augen.
Camille ließ Constanzens Verehrer Wein geben, der ihm die Zunge löste. Da aber die Späße des Alten doch ein bißchen gar zu anzüglich wurden, traten Constanze und Camille ins Freie und schlenderten langsam im Schnee an den wenigen Bauernhäusern und geschlossenen Villen vorüber und am Ufer des noch immer stürmischen Sees entlang.
»Siehst Du … hier war's … ganz bestimmt hier,« sagte sie, »wie war damals alles so schön … wie blühte da alles … und jetzt so öde, so tot. Hier schaukelten sich unsere Nachen, hier hattest Du die kolossale Unverschämtheit, mir Deine Liebe zu gestehen, und hier beging ich die nicht minder kolossale Dummheit, Deinen Schwüren zu glauben!«
Er schritt lachend neben ihr her.
»Aber … der Wahrheit die Ehre … Du hast die Bedingung erfüllt, die ich stellte, glänzend erfüllt. Du hast den ›Liebestod‹ geschrieben. Gestatten Sie, mein Herr, daß ich Ihnen meine Verehrung ausspreche.«
In unbändiger Lebenslust und Seligkeit schmetterte sie über den See ein paar Töne, über welche höchstwahrscheinlich alle Karpfen, Felchen und Aale sehr verdutzte Gesichter machten. Und ein Delegierter der Fischdynastien steckte eine Sekunde seinen nicht übertrieben intelligenten Kopf aus den Wellen, nach dem Ruhestörer zu fahnden.
Langsam schlenderten sie Arm in Arm zurück; Constanze summte vor sich hin und fragte:
»Was ich schon so lange von Dir wissen möchte: erzähl' mir mal endlich, wie Du auf den Stoff des ›Liebestod‹ gekommen bist? Ich meine, ob Du ihn plötzlich fandest oder ob Du lange, lange darüber nachgegrübelt hast? So sprich doch, Du maulfauler Kerl!«
»Das läßt sich so mit zwei Worten nicht sagen!«
»So sag's mit vielen!« ermunterte sie ihn, während sie durch den Schnee tappten.
»Ich hatte den Plan schon lange entworfen, habe dann gefeilt, gemodelt, verbessert … so ging's mit der Dichtung und ebenso mit der Musik.«
»Hast Du meinem Vater das Gedicht vorgelesen?«
»Einzelne Teile, glaube ich.«
»Und was sagte er zu der Musik?« forschte sie lebhafter.
»Sie befriedigte ihn sehr. Wird das Verhör noch lange dauern?«
»Verhör! Verhör! Du bist ein Schaf! Ich meine: hat mein Vater Dir Aenderungen vorgeschlagen?« drängte sie immer schneller, »hat er Dir Ratschläge gegeben? hat er Dir in der Instrumentation Fingerzeige gegeben? oder hat er Dich in Stimmführung, in Verteilung von Licht und Schatten vielleicht zurechtgewiesen?«
»Niemals!« antwortete er und sah sie betroffen an. Und zeigte nicht übel Lust, seinen Arm ein wenig verstimmt aus dem ihren zu lösen. Aber sie ließ es nicht geschehen und sagte mit großer Wärme:
»Das freut mich unbändig, freut mich mehr, als ich Dir sagen kann!«
»Warum willst Du denn das eigentlich so gerne wissen?«
»Ach nichts … nichts!«
Der Himmel hatte sich aufgeklärt, Sturm und Schnee hatten nachgelassen, von den Dächern tropfte es leise und über dem Karwendel schimmerte es rötlich.
Aus dem Bauernzimmer scholl ihnen Zither- und Gitarrenklang entgegen. Die in der Mitte der Decke hängende Petroleumlampe warf ein schummeriges Licht über den Raum, dessen von Tabaksqualm, Bierhefe und üblem Fett erfüllte Luft selbst bei nachsichtigster Beurteilung nicht übermäßig ozonreich zu nennen war. Auf der Ofenbank malträtierte der Wirt die Zither, während der Holzer musikalischen Unfug auf der Gitarre trieb. An einem der Tische in der Nähe des Küchenfensters saß Josef Hillemeyer im eifrigen und lustigen Gespräch mit einem jungen schmucken Förster, der seinen Arm um die Hüften der blitzsauberen Kellnerin gelegt hatte und ihr ab und zu recht verdächtige Dinge ins Ohr zu tuscheln schien. Und als Constanze schärfer hinblickte, erkannte sie ihn als den, welcher der hübschen, nun in Partenkirchen bedienenden Kellnerin zu illegitimen Mutterfreuden verholfen hatte. Sie fragte den Wirt, der seiner Zither einen Augenblick Ruhe gönnte und an Constanzens Tisch getreten war, um Camille seinen »Schmalzler« anzubieten, ob denn der Hillemeyer das nicht wisse, daß der junge Förster sein erfolgreicher Vorgänger gewesen sei?
»Ob er dös woas? ja freili woas er's,« lachte der Wirt, »und dös gibt alleweil d' größt' Gaudi zwischen die beiden … O mei, gnä' Fra, bei uns am Land san's net so hakli, wie die in der Stadt … Hier draßen woas man's von die Madln und bei Ihnen drinne woas man's net …,« und er kehrte nach diesem philosophischen Exkurse zu seiner Zitherpflicht zurück.
»Diese Menschen«, flüsterte Constanze, »haben doch ein ganz anderes Gemütsleben … ist es Roheit oder Vorurteilslosigkeit? … haben sie recht oder wir? … Kannst Du denken, Schatz, daß ein Mann aus unserer Sphäre mit dem Verführer des Mädchens, das er heiraten will, freundschaftlich verkehren wird?«
»Nein,« lächelte Camille, »aber er wird ihn totschießen!«
Beide schwiegen und hingen glückseligen Gedanken nach …
Bald füllte sich das Zimmer mit einigen Forstgehilfen von Einsiedel; Schnadahüpfle flatterten auf, und der »Kanari« schmetterte von der Decke seine fröhlichste Weise.
Constanze sah als echtes Münchener Kind mit innigem Behagen dieses heitere Bild aus dem Gebirgsleben. Plötzlich ertönte von der Ofenbank her der Schuhplattler, der schmucke Forstgehilfe drehte sich händeklatschend und Juhu schreiend um die blitzsaubere Kellnerin. Constanzen kribbelte es in den Füßen, sie sprang auf, zog den hellauflachenden Camille ins Zimmer und tanzte mit dem anderen Paar um die Wette. Und es war ein herzerfreuender Anblick, diese beiden schönen jungen Menschen zu sehen, denen überschäumende Lebenslust und sonniges Glück aus den Augen leuchtete. All das Werben und Verwehren, all das Girren und Locken, all die Schamhaftigkeit und Begierde, welche in diesem bäurischen Tanz verborgen liegt, tauchte mit anschaulichster Sinnlichkeit empor. Die genagelten Schuhe dröhnten, die Fensterscheiben klirrten, der »Kanari« schmetterte, Gitarre und Zither wimmerten und unter den Juhus der auf Stühlen und Tischen postierten Zuschauer flog Constanze mit einem jauchzenden Holdrio Camille in die Arme.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, ein paar Scheiben zersplitterten ins Zimmer, und alle schrien:
»Der Föhn! der Föhn! Pfeif'n aus! d' Lampen aus!«
Und über dem ganzen Tumult gellte die helle Stimme der Kellnerin:
In der Dunkelheit hörten Constanze und Camille ein leises Zischen, dann ein Singen und Pfeifen und Rauschen, und hörten die Wellen des Walchensees aufbrausen und, sich jähzornig wehrend, ans Ufer schlagen. Und hörten von der anderen Seeseite die Glocken läuten, welche zur Vorsicht mahnen und zum Gebet rufen. Im Nu war die Haustür verschlossen und waren die Fensterladen verriegelt; in der Stube herrschte schwüle, stickige Luft. Aengstlich flatterte der »Kanari« in seinem Bauer. Tiefe Stille, nur unterbrochen von dem Gemurmel der betenden Förster und Holzer. Das Getöse draußen verstummte, der Föhn hatte eine andere Richtung genommen … ein Bauer steckte an der ledernen Hose vorsichtig ein Streichholz an, dessen flackerndes Licht gespenstische Schatten durch den Raum warf.
Camille flüsterte Constanzen zu:
»Du, jetzt wird's hier ungemütlich … gib mir die Hand … wir wollen gehen.«
Beide standen auf.
»Viel schlaf'n wer'n d' Herrschaften net,« meinte der Wirt, »der Föhn kimmt bald wieder und dann erst sakrisch.«
»No, i glaub' halt immer,« rief der alte Holzer verschmitzt hinüber, »Ihr schlaft's ach ohne Föhn net vill! … Juchhe!«
Beifälliges Gelächter belohnte den derben Spaßmacher … Das im ersten Stock reservierte, nach der Seeseite gelegene Zimmer hatte die ungefähre Größe eines Reitstalls, die geblümten Betten von achtunggebietender Höhe, die Möbel einfach, aber sauber. Droben stieß Camille ein Fenster auf, rief Constanzen, und beide sahen vom sicheren Port hinaus auf dieses erhabene und großartige Schauspiel, auf diesen wildentfesselten, unbändigen Aufruhr der Natur. Der Himmel hatte sich gelichtet, die Luft war milder. Mit entsetzlicher Gewalt sauste der Föhn über den See. Er packte die kleinen Häuser und Hütten, riß an den Türen, wirbelte die Schneemassen hoch auf, hob die schweren Steine von den Dächern und trug sie in die Wellen. Aus dem Gewölk trat der Mond hervor und goß sein Licht über das wütende Wellengebraus, dessen Kämme flüssigem Silber glichen.
Der Wirt hatte recht gehabt. Sie konnten in dieser Nacht nicht viel schlafen. Erst gegen zwei Uhr brauste der Sturm langsam vorüber, seine Kraft erlahmte. Aber er tobte und raste weiter über Felder und Dörfer und suchte gierig nach neuen Opfern. Gegen Morgen erwachte Constanze. Ein lichter, hellblauer Himmel lachte in die Fenster. Sie wußte nicht gleich, wo sie war. Camille lag dort in tiefem Schlummer. So hatte sie ihn nie gesehen. Tiefe Falten hatten sich um Stirn und Mund gelagert und gaben dem Gesicht einen fremden und schrecklichen Ausdruck. Das waren nicht mehr die lebensfrohen, siegesgewissen Züge, die sie so liebte und so schön fand. Hielt ihn ein böser Traum umfangen? hatte sich Sorge dort eingekerbt? hatten Gram oder Schmerz ihn so verändert? Leise strich sie ihm über die Stirn, aber die Falte schien wie eingemeißelt und wollte nicht weichen. Welches Gesicht war nun das echte? das glückliche, strahlende, das er ihr zeigte, oder das qualvoll verzerrte, über welches er die Herrschaft verloren hatte? Sorge? Schmerz? Gram? Was kann ihn ängstigen? ihn schrecken? Sein Leben, mit dem ihrigen unlösbar verknüpft, steht in reichster Blütenpracht, was kann ihn beschweren? Er lächelt einen Augenblick im Schlaf, und gleich darauf malen sich wieder Angst und Furcht auf seinen Zügen, und die Falten graben sich immer tiefer und tiefer. Constanze sinnt und sinnt, und sie beschließt ihn zu fragen, ob ihn körperliche Schmerzen plagen oder ein seelisches Leid, das er vor ihr schamhaft verhüllt? Ihre Gedanken durchfliegen weite Strecken und kehren zurück zu jenem Abend, an dem sie Camille in der »Löwengrube« kennen lernte … und wenige Stunden vorher hatte ihr Sigmund Freystätter gesagt, daß er sie liebe, und sie hatte ihn abgewiesen, weil sie seine Neigung nicht erwidern konnte. Und sie konnte sich wehren, soviel sie wollte … ihre Gedanken flatterten doch immer wieder zurück zu dem verlorenen Freund, der so töricht und so leichtfertig diesen schönen und starken Bund zerrissen hatte … sie sinnt und sinnt. Von den Fenstersimsen tropft der geschmolzene Schnee … leise, ganz leise summt sie eine Melodie und wiederholt sie unwillkürlich – es muß wohl eine alte Weise sein, die sie lange nicht gehört hat, und sie denkt zurück an die Jugendzeit und an den Vater, und plötzlich erinnert sie sich, daß die Melodie in seinem Werke »Die Helden« an gewichtiger Stelle steht. Und halb noch wachend, halb noch träumend, in einem Dämmerzustand, dem sie nicht entfliehen kann, fällt ihr eine Melodie aus dem »Liebestod« ein … es ist eine ganz andere Tonreihe, und sie ähnelt in ihrem breit dahinfließenden Strome doch der ersten … es ist ein ganz anderer Rhythmus, aber das musikalische Empfinden ist blutsverwandt … dieselbe Seele leuchtet aus beiden hervor. Constanze gleitet aus dem Halbschlummer hinüber in den Traum. Das ernste Gesicht Freystätters taucht zwischen dem Vater und Camille auf, und da kriecht etwas heran, etwas Grauenerregendes und Furchtbares, und die beiden Melodien aus den »Helden« und aus dem »Liebestod« verneigen sich vor dem Vater und verschmelzen zu einer, und es überläuft sie eisig. Sie kann sich nicht wehren und kann's nicht abschütteln … und dort im Schnee das rote Tuch, das einer Blutlache gleicht … und endlich lösen sich die Fesseln, endlich befreit sie sich von dem beklemmenden Alp, sie erwacht, Camilles lebensfrohes, siegesgewisses Gesicht lächelt ihr entgegen – sie sieht die friedliche glückliche Wirklichkeit und mit selig-jubelndem Aufschrei sinkt sie ihm in die Arme …
Das Tauwetter, das der Wirt prophezeit hatte, war eingetreten, und in dem mit fünf frischen Gäulen bespannten Schlitten fuhren Constanze und Camille vormittags fort. Vom hellblauen Himmel strahlte die Sonne und leckte an dem gewaltigen Leichentuch, in das sie mit ihren wärmenden Strahlen große Löcher riß. Von Dächern und Türmen, von Fenstersimsen und Altanen, von Tannen und Gebüsch schmolz der Schnee, aus den Regentraufen schoß ungebärdig das Wasser und bildete weite Pfützen, überall tropfte es und floß es, sickerte und rann, strömte und stürzte es dem See zu, der grimmig, aber machtlos alles in seinem Rachen verschlang. Wo der Schlitten vorüberglitt, quellte und murmelte, sprudelte, rieselte und flutete es, und von den Bergen stürzten die Wasser herab in Gieß- und Wildbächen, welche sich ihre eigenen Wege durch die Wälder suchten und Sand, Geröll und Steine mit sich führten. Die Erde schüttelte jähzornig das weiße Tuch ab, dessen Last sie so lange dulden mußte.
Sie sprachen unterwegs nicht viel. Constanze dachte immer wieder an den beängstigenden Traum zurück, aber so sehr sie sich auch mühte und grübelte, das Bild war zerronnen, und sie vermochte nicht, es zurückzuzaubern. Sie fühlte seine Nähe, sie sah ihn neben sich, sah, wie er mit heiterem Lächeln in die Landschaft blickte, sie war glücklich und scherzte:
»Du, Schatz, wenn wir mal ganz, ganz alte Leutchen sind, Du ein verschrumpeltes Männchen und ich ein verhutzeltes Weibl … die letzten vierundzwanzig Stunden werden wir nie vergessen, gelt?«
Bald erreichten sie die Bahn und in kurzer Zeit München. Am Bahnhof nahm jeder seinen Fiaker, und als Camille ihren Wagenschlag schloß und ihr durch das Fenster die Hand zum Abschied reichte, rief sie ihm lachend leise zu:
»Die ›Kummedi‹, uns vor der Welt zu genieren, hört in acht Tagen auf. Dann, geliebtes Scheusal, sind wir nämlich öffentlich verlobt!«
In der Kaufinger Gasse, vor dem Hause mit dem Bilde der Mutter Maria über dem »ewigen Licht«, diesem alten reichverzierten Barockbau, sah sie in eifrigem Gespräch Sigmund Freystätter und den Generalmusikdirektor Manner auf und ab gehen und sah sie dann beide in den dämmerigen Flur treten.
So ereignisreich sich auch der vergangene Tag für Constanzen und Camille gestaltet hatte, trotz Schneesturm und Föhn und Tauwetter, konnte er doch keinen Vergleich aushalten mit dem Trauerspiel, welches sich zu gleicher Zeit im ersten Stock des Freystätterschen Hauses abgespielt hatte: eine Tragödie in großem Stil, deren wohlvorbereitete Exposition allerdings vierzig Jahre zurücklag, deren kraftvolle Entwicklung sich langsam, aber mit schreckenerregender Sicherheit vorbereitete, deren grandiose und kunstgerechte Steigerung sich zum gewaltigen Höhepunkte emporrang, während der gewiegte Verfasser, der sich im Laufe der Zeiten einige Uebung in derlei Dingen angeeignet hatte und in diesem Fall das Schicksal hieß, sich die Lösung des äußerst verschlungenen, verknüpften und verwickelten Knotens für später aufgespart hatte. In der richtigen Erkenntnis, daß Ritardandos die Spannung erhöhen. Der Zettel lautete an diesem Tage:
Komödienhaus Kaufinger Straße
Montag, den 17. März 1890
Zum ersten Male:
Der Zobelkragen
Drama in vier Akten.
Personen:
Salomon Freystätter, Manufakturwaren
en gros und
en détail (streng reell, feste Preise).
Ralchen, seine Frau, geborene Würmersheimer.
Dr. Sigmund Freystätter, beider Sohn.
Veilchen, Köchin bei Salomon Freystätter.
Ort der Handlung: München. Zeit: die Gegenwart.
Beurlaubt: Herr Ohlesberger.
Kontraktbrüchig: Fräulein Assing.
Herr Salomon hatte nämlich durch seinen Verkäufer Herrn Riesenfeld, diesen Verräter mit den rabenschwarzen Locken und den zinnoberroten Backen, der im Verein Urania als Uriel Acosta durch sein offenes Bekenntnis »ich bin ein Jude!« nicht dem geringsten Widerstand begegnet war … Herr Salomon also hatte in Erfahrung gebracht, daß sein Ralchen in der letzten Zeit öfters heimliche Besuche des Herrn Rauchwarenhändlers Moritz Silberstein empfangen und diese sträflichen Besuche auch erwidert hatte. Herrn Salomon war nämlich die Geschichte nicht unbekannt geblieben, daß Herr Silberstein sich in seiner grünen Jugend zu dem tollkühnen Unterfangen aufgeschwungen, um Ralchens Hand zu werben, und daß die den ungestümen Freier zurückgewiesen, »weil er nix war, dafür aber Plattfüß'« hatte. Und da Herr Salomon der Lektüre eines Romans die Kenntnis verdankte, daß »der Frauen Sinn gar trügerisch und wandelbar sei«, loderte seine ein bißchen verspätete Eifersucht in hellen Flammen auf und er beschloß, furchtbares Gericht abzuhalten und Aufklärung zu verlangen über diese gegenseitigen heimlichen Besuche. Und das beabsichtigte er mit so unerbittlicher Strenge zu tun, als ihm das beharrliche Stillschweigen seines Ralchens in der Zobelfrage die Sicherheit wiedergegeben hatte, die er einige Zeit für erschüttert ansehen mußte. »Mei Sig« hatte sich, um ungestört die Korrektur seiner Kritik über den »Liebestod« lesen zu können, das Essen nach oben in sein Zimmer bringen lassen; Frau Ralchen saß nachmittags wie seit dreiundvierzig Jahren am Fenster und sah durch den Spion die Vorübergehenden im Schneegestöber vorbeitappen, als plötzlich aus der schummerigen Sofaecke die Frage ertönte:
»Also, was is das doch mit Dir und dem Silberstein mit die Plattfüß?«
Frau Ralchen, die glaubte, daß der Zobelfälscher von holdem Traum umfangen sei, würdigte ihn keiner Antwort. Diese Nichtachtung aber reizte Herrn Salomon, plötzlich stand er vor ihr, auf dem edelgeschnittenen Haupte das Hauskäppchen mit der grüngestickten Girlande und herrschte das kleine verschrumpelte Frauchen an:
»Also, wie lange geht die Geschichte schon hinter meinem Rücken mit ihm?«
Da riß ihr aber endlich der Geduldsfaden, den sie mit heroischer Ueberwindung seit jener furchtbaren Entdeckung festgehalten hatte; sie sah ihn mit einer Geringschätzung und Hoheit an, deren sich die Wolter und die Ristori nicht hätte zu schämen brauchen, und ihrem plombenreichen Munde entströmten vorläufig nur die Worte:
»Die russische Kaiserin!«
Und da der Manufakturwarenhändler en gros und en détail den Sinn dieser versteckten Anklage nicht gleich ergründete, sprach Frau Ralchen mit stärkerer Betonung:
»Du hast mich betrogen!«
»Mit wen?« rief Herr Salomon erschrocken aus, denn er fürchtete schon, daß Ralchen von dem kleinen Seitenpfad erfahren habe, den er vor zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren auf der Leipziger Messe »aus Geschäftsinteresse« mit einer böhmischen Harfenistin eingeschlagen hatte, und unsicher wiederholte er:
»Also mit wen?«
»Seit vierzig Jahren hast Du mich betrogen … infam betrogen mit der Kaiserin von Rußland!« zirpte Madame Freystätter, geborene Würmersheimer, mit dem vollen Aufgebot ihrer stimmlichen Kräfte.
Herr Salomon, dessen sinnliche Begierden sich niemals zu so schwindelnder Höhe emporgewagt hatten, schrie:
»Was hat de russische Kaiserin mit Dei' Silberstein zu tun?« und um seine Gemahlin wegen ihrer himmelschreienden Verirrung besonders zu verhöhnen, fügte er noch sehr laut und vernehmlich hinzu: »und Plattfüß' hat er doch! Kannst Dich ja von mir scheiden lassen und ihn heiraten … den mit de Plattfüß'!«
Das »Veilchen« aber, das nicht im Verborgenen blühte, sondern seit vierzig Jahren sich gern in der Nähe der Schlüssellöcher aufhielt, dieses »Veilchen« also, das immer einen würzig gemischten Duft von »Butterfischen« und »Apfelspeise« an sich trug, stürzte hinauf in den zweiten Stock und schrie dem in seine Korrektur Vertieften, den sie aus alter Gewohnheit noch duzte, entgegen:
»Sig! Gerechter Gott … komm' 'nunter … d' Mutter hat g'sagt, der Vater hätt' sie seit vierzig Jahr' mit der russischen Kaiserin betrogen und der Vater hat gesagt, sie könnt' ja den Silberstein heiraten … den mit die Plattfüß'! Und sie schreit und er schreit … und wenn Du net 'nunterkommst, reißen sie sich beide die Köpf' ab … gerechter Gott!« und das »Veilchen« hielt diesen Augenblick für geeignet, ihre Tränenschleusen zu öffnen und dahinströmen zu lassen über ihre Schürze, die, trotzdem es erst Montag war, sich doch nicht mehr ganz einwandfreier Sauberkeit erfreute.
»Mei Sig«, der zunächst an Veilchens Verstand zweifelte, zu dem er übrigens niemals übertriebenes Vertrauen gehegt hatte, entschloß sich doch schnell, den Kampfplatz zu betreten, und als er mit der Friedenspalme in der Rechten und mit der Korrekturfahne in der Linken in die »gute Stube« trat, hielt er Veilchen nicht mehr für unzurechnungsfähig; denn die Schlacht tobte mit gleicher Heftigkeit auf beiden Seiten und Pfeile und Kugeln schwirrten nur so durch die Luft. Und langsam, sehr langsam, mit Aufgebot seiner ganzen Kombinationsgabe konnte er aus dem Hin und Her, dem Hüben und Drüben, aus den Angriffen und aus der Gegenwehr endlich die Ursache dieses verzweifelten Krieges entnehmen. Frau Ralchen erklärte von ihrer sicheren Verschanzung aus, daß sie die ihr angetane vierzigjährige Schmach rächen würde, Herrn Silberstein beauftragt habe, ihr einen echten Zobelkragen zu besorgen und die Rechnung an der Kasse von Gebrüder Freystätter präsentieren zu lassen, und Herr Salomon protestierte wie ein Rasender gegen diese Zumutung und erbleichte bei dem schaudervollen Gedanken an den Einbruch in sein Vermögen. Und der Sohn sah diesem Kampf zwischen den beiden Liliputtigern halb lächelnd, halb traurig zu. Tieftraurig, weil er einsah, daß diese beiden Menschen doch nur ein ganzes Leben lang nebeneinander hergelaufen waren, ohne sich zu verstehen, daß ein so winziges Ding sie entzweien konnte und daß die Mutter mit all ihren kleinen Schwächen und ihrem edlen gütigen Herzen doch turmhoch stand über dem Vater, dessen Leben sich nur in den Niederungen zwischen Laden und Caféhaus abgespielt hatte. Gewiß war er diesem Manne dankbar für alles, daß er, der als den Gipfel irdischer Seligkeit Geschäft, Geld und Verdienst betrachtete, ihm die Mittel zum Studium gegeben, daß er ihm eine sorglose Jugend verschafft hatte, die verschont blieb von Not und Sturm, und deswegen achtete er ihn. Sein Herz gehörte doch nur der Mutter, dieser kleinen verschrumpelten, ungebildeten alten Frau, die ihm das Leben geschenkt, die alles für ihn ersehnt und erhofft hatte, und sollte sie die Sterne vom Himmel herunterholen: das Glück! Und deswegen liebte er sie. Und wie er glücklich gewesen wäre, ihr all das vergelten und ihr die als Tochter zuführen zu können, die er liebte, die einem andern gehörte und die sich von ihm gewendet hatte in Haß und Feindschaft.
Und während der Schlachtruf, hie Hasenfell, hie Zobel, mit unverminderter Kraft durch den altmodischen Raum flog, und während die längst dahingeschiedenen Familienmitglieder aus ihren barocken Goldrahmen höchst verwundert auf den Kampfplatz blickten, mußte Sigmund Freystätter denken, wie doch das Leben gar so wunderlich sei und wie verschiedenartig die Menschen seinen Wert bemessen: der kämpft um einen Zobel, der um Geld, und ein anderer kämpft um ein Herz …
»Ae Schand und ä Schmach ist's: vierzig Jahr' hab' ich en' Hasenfell getragen,« zeterte Frau Ralchen.
»Und die Einbildung vierzig Jahr' lang', daß es ä Zobel gewesen ist, rechnet gar nix?« polterte Herr Salomon, und »mei Sig« mußte doch lächeln über seines Erzeugers diplomatische Schlauheit und abgründige Menschenkenntnis … Ja, der Kampf um ein Herz! Ihm flogen die Worte durch den Sinn, die Constanze ihm einst gesagt:
»Mein lieber, treuer Spezi … mag kommen, was kommen muß … wir bleiben einander treu!«
Und wenn sie nun heute abend seine ausführliche Kritik lesen würde, so würde sich die Kluft, die sich zwischen ihnen aufgetan, zu einem Abgrund vertiefen, der kindlichen Frohsinn und gemeinsames Streben und herzliche Freundschaft verschlingen würde, und keine Brücke führte mehr von ihm zu ihr. Er war sich dessen bewußt und dennoch hatte er das wiederholt, was Constanzen so gereizt und verletzt hatte, und hatte es beleuchtet und zerlegt: daß sich ein Schüler auch bei allem Drang zur Selbständigkeit nicht dem Einfluß eines so großen Lehrers entziehen könne, eines so machtvollen Vorbildes. Es sei und bleibe sonst etwas Unerklärliches und Uebernatürliches, daß dieses düstere und gewaltige Werk, der »Liebestod«, dem Kopf und Herzen eines Jünglings entsprungen sei, dem Welt und Leben nur in strahlendster Sonne gelacht habe … Und als er diese Stelle seiner Kritik dem Generalmusikdirektor Manner im Manuskript vorgelesen, hatte der um Wiederholung dieses Satzes gebeten und hatte dann sehr lange und sehr eigenartig vor sich hin geblickt in tiefem, ernstem Schweigen … und Sigmund Freystätter wußte nicht, ob er ihm recht gäbe oder unrecht …
Währenddessen war die Tragödie, die sich zwischen dem Helden Salomon und der Heroine Ralchen in höchstem und erbittertem Kampfe abspielte, auf ihrem Höhepunkt angelangt. Herr Freystätter senior erklärte sich endlich bereit, die Schultern seiner Gemahlin mit einem Zobelkragen schmücken zu wollen, und zwar zur goldenen Hochzeit … in sieben Jahren. Worauf Madame Freystätter geborne Würmersheimer ihm eine so lange Lebensdauer absprach. Alle Versuche von »mei Sig«, der zwischen den erbosten Parteien den Frieden schließen und die weiße Flagge hissen wollte, scheiterten an dem Widerstand der Gegner. Und als Herr Riesenfeld sehr aufgeregt durch das Sprachrohr vom Laden hinaufrief, daß Herr Freystätter »um Gottes willen« gleich 'nunterkommen möge, da die reiche Frau Ergoldsbacher, die von Natanson und Ergoldsbacher, einen Mantel kaufen wolle … in diesem willkommenen Augenblick brach der Chef des Hauses Gebrüder Freystätter, Manufakturwaren en gros und en détail, Filialen in Partenkirchen und Reichenhall, seine Zelte ab und suchte das Weite. Das Veilchen aber bekam eine wunderschöne Beule an der Stirn, weil Herr Freystätter rücksichtslos, wie er nun einmal war, die Tür auch gar zu unerwartet aufgestoßen hatte.
»Mei Sig« streichelte seiner Mutter den Scheitel und dachte daran zurück, daß er um dieser weißen Haare willen gestern seinem freudlosen Leben nicht ein Ende bereitet hätte und daß er es nun weiterschleppen müsse, um der kleinen Frau den Schmerz zu ersparen, und dann sprach er gütig und liebevoll mit ihr und rühmte Vorzüge des Vaters, die dieser nie besessen hatte, und lud sie ein, auch der ersten Wiederholung des »Liebestod« beizuwohnen, und versprach ihr, ihr zum Geburtstag selbst einen Zobelkragen zu schenken, um den sie sogar die russische Majestät beneiden sollte.
Aber Ralchen wollte davon nichts wissen: nur aus den Händen des treulosen Lebensgefährten würde sie das kostbare Pelzwerk, und zwar mit quittierter Rechnung, entgegennehmen.
»Und«, zirpte sie ganz leise, denn sie hatte ihren ohnehin schon geringen Stimmvorrat im Kampfe mit dem Drachen völlig erschöpft, »weißte, Sig, aus dem Hasenfell laß ich ihm noch 'ne Mütze mit Ohrenklappen machen … für ihn ist's gut genug!«
Und damit fiel der Vorhang vorläufig über dem Drama »Der Zobelkragen«, und wenn die Hauptakteure nach dem pompösen Aktschluß nicht vor die Gardine gerufen wurden, so lag das einzig und allein an der niederträchtigen Gewohnheit der vermaledeiten Zuschauer … die waren nämlich mal wieder nicht zugegen gewesen.
Constanze wurde von ihrer Jungfer, die sich nie wunderte, nie fragte und nie plauderte, freudigst begrüßt. Auf dem Flügel fand sie einen Berg von Briefen, Telegrammen und Visitenkarten, aber sie schenkte alledem keine Beachtung, denn sie kannte den Inhalt: verehrende, schmeichelnde, verhimmelnde, nichtssagende Worte. Sie stürzte auf die Zeitung, deren Inhalt sie nicht kannte, aber ahnte: häßliche, vernichtende, verdächtigende, verleumderische Worte. Sie fand ihre schlimmsten Befürchtungen nicht nur bestätigt, sie fand sie weit übertroffen. Denn so ganz insgeheim hatte sie doch gehofft, daß der »Spezi« Einsicht haben und sein Urteil berichtigen oder doch wenigstens dieses Ausspielen des Lehrers gegen den Schüler unterlassen würde. In zorniger Aufwallung warf sie sich aufs Sofa: so hatte er, der sich vor ihr immer mit Gerechtigkeit und mit Vornehmheit der Gesinnung gebrüstet hatte, sich doch gerächt; gerächt dafür, daß sie die Frau des anderen und nicht seine Frau werden wollte. Was nützte es ihr, daß er sie in seiner Kritik in den Himmel hob und sie eine der Größten nannte, die je über eine Bühne geschritten? Er hatte den geschmäht, den sie liebte, den verunglimpft, der sich kraft seines Genius und seines Fleißes hinaufgerungen hatte zum »leuchtenden Gipfel«, und er hatte ihn rücklings überfallen und versucht, ihn von dieser Höhe in den Abgrund zu stürzen. Und immer mehr redete sie sich in Zorn, und immer unwiderleglicher schien ihr aus Freystätters Worten die nichtswürdige Absicht hervorzugehen: er will in der Oeffentlichkeit den Glauben erwecken, als sei der »Liebestod« wohl kaum die selbständige Arbeit Camilles, als sei er wohl höchstwahrscheinlich unter der starken Beihilfe des Vaters entstanden. Daran ließ sich nicht drehen und deuteln: den Eindruck hatte sie, mußte die Welt haben. Dabei hatte der Vater nur einzelne Teile der Dichtung überhaupt gekannt, nur einmal hatte er Camille Aenderungen vorgeschlagen, ihm nie Ratschläge gegeben, nie Fingerzeige in der Instrumentation, in der Stimmführung, in der Verteilung von Licht und Schatten, ihn nie zurechtgewiesen … niemals! niemals! Und es packte sie tiefer Ekel vor dem Ankläger, vor dem Verleumder! … Daß es nicht Gesetze gibt, einem giftigen Neider den Mund zu schließen! Für Camille gab's nur eine Rechtfertigung, für sie nur eine Genugtuung: ein neues Werk! Ein Werk, das an Macht und Größe, an dichterischer und musikalischer Erfindung den »Liebestod« noch übertreffen müsse und im Triumph durch die Welt ziehen sollte. Dann würde man den armseligen Schächer verlachen ob seiner verschleierten und dennoch so durchsichtigen Verleumdungen. Denn der Meister konnte in diesem neuen Werk dem Schüler nicht mehr raten und nicht mehr helfen, der schlief schon lange den ewigen Schlummer.
Die Jungfer unterbrach sie in ihrem Sinnen durch die Frage, wann das gnädige Fräulein zu speisen wünsche.
»Um vier,« erwiderte Constanze, »und decken Sie zwei Gedecke auf; Herr Dupaty kommt zu Tisch,« und als sich die Jungfer, die sich nie wunderte, entfernen wollte, rief Constanze ihr nach, Herr Dupaty esse von jetzt an täglich hier, und da der Herr sehr verwöhnt sei, möge Christine sich alle Mühe geben.
Die Jungfer ging durch den Korridor und dachte sich: recht hat's, a saubres Mannsbild is er scho!
Währenddessen spann Constanze an ihren Gedanken weiter: Ja, ein neues Werk! Ah, sie wollte ihn schon anfeuern und ermutigen, ihm raten und helfen! Denn von jetzt an hatte sie nicht nur dafür zu sorgen, daß sie auf der Höhe bleibt, sie hatte auch dafür zu sorgen, daß er fest neben ihr stand, und neidlos und tiefbeglückt würde sie ihn auch allein höher und immer höher steigen sehen. Dann fiel ihr plötzlich wieder die Melodie aus ihres Vaters Oper »Die Helden« ein, die sie heute morgen am Walchensee vor sich hingesummt hatte, und, zwei Händen gleich, die sich eng und unlöslich ineinander schließen, verschmolz sich mit dieser Melodie die wundervolle Weise aus dem »Liebestod« … Und dann neckte sie ein Nachhall des Traumes und sie lächelte in der nebelhaften, schnell wieder verflatternden Rückerinnerung, daß diese beiden Melodien sich vor Professor Assing verneigt hatten, wie ein paar Kinder vor ihrem Vater, wie ein paar Diener vor ihrem Herrn. Was Camille wohl zu des »Spezis« Kritik sagen würde? Sie würde seine Empörung begreifen, seine Entrüstung verstehen, und sie würde es billigen, wenn er Freystätter zur Rechenschaft ziehen und ihn zu der klaren und deutlichen Erklärung zwingen würde, was er mit diesen Andeutungen gemeint habe? Ja! Sie würde sich freuen, Camille in flammendem Zorn auflodern zu sehen, in furchtbarem Haß, wie ein Mann, der mit der Waffe in der Hand für seine Ehre ficht und den Gegner niederstreckt. Nicht doch! Sie wird das Feuer nicht schüren, sie wird ihn besänftigen, sie wird ihm raten, den andern mit Verachtung zu strafen, und in ihren Armen soll er wieder ruhig und glücklich sein.
Und wieder saßen sie unter der brennenden Hängelampe und ließen sich Wein und Speisen munden, und da Christine eine Mehlspeise erdacht hatte, die man ohne Uebertreibung für den letzten verklärten Seufzer des genialen Brillat-Savarin halten konnte, war es warm und wohlig im Zimmer, und nicht mehr mit Grausen, sondern nur scherzend gedachten sie der Todesgefahr, in der sie gestern um diese Zeit geschwebt hatten, und verlachten Schneetreiben und Sturm, Kälte und Föhn und flatternde und krächzende Raben. Aber trotz des lustigen Geplauders, und trotzdem sich beide in übermütigen Neckereien und drolligen Erzählungen überboten, hatte Constanze dennoch während des ganzen Mittagessens, von Gang zu Gang, darauf gewartet, daß er plötzlich auf den Tisch schlagen, eine Weinflasche umwerfen und das Himmeldonnerwetter über Freystätters Kritik losbrechen würde.
Da er aber zum Kaffee seine geliebte Zigarette ansteckte und behaglich sehr kunstvolle Ringe blies, ließ es ihr doch keine Ruhe, und während sie eine Knackmandel zerbrach, fragte sie ihn, genau wie er sie am letzten Sonntag gefragt hatte:
»Na … was sagst Du denn zu der Kritik Freystätters?«
»Natürlich habe ich sie gelesen,« gab er schnell und lebhaft zurück, »wundervoll, nicht wahr?« und da sie schwieg, fügte er lachend hinzu: »Bist Du am Ende wieder nicht zufrieden, Sakrament, bist Du aber anspruchsvoll!« Er stand auf, ging pfeifend durchs Zimmer und gab dem Rotkehlchen ein Stück Zucker. Kopfschüttelnd blickte sie ihm nach. Sie hatte einen wilden Ausbruch erwartet, ein jähzorniges Aufbäumen, einen wütenden Sturm. Er schlug nicht auf den Tisch und warf keine Weinflasche um. Er pfiff mit dem lustigen Vogel lustig um die Wette. War er denn so nachsichtig? war er so kurzsichtig oder so unempfindlich? Verstand er den Sinn der Freystätterschen Worte nicht oder wollte er um des lieben Friedens willen nicht verstehen? Camille setzte sich an den Flügel, und während er einen Fledermauswalzer mit einem Tristanmotiv sehr virtuos und sehr geistreich verwob, dachte Constanze weiter: Oder war sie im Unrecht? Hatte sie sich vielleicht doch eigensinnig in eine Idee verrannt und Gespenster gesehen? Hatte sie Freystätter am Ende doch unrecht getan und aus diesen Zeilen etwas »herausgelesen oder hineingeheimnist«, was gar nicht darin stand? Denn wären diese Zeilen so überzeugend gewesen, wie sie sie empfand, und hätten sie so gar keinen Zweifel übrig gelassen, so hätte Camille doch und er doch vor allen den Sinn, den sie in den Freystätterschen Worten gefunden, herausfühlen müssen … Und daß Camille nicht mit einer Silbe darauf zurückkam, daß er die ganze Kritik en bloc so »wundervoll« fand, machte sie stutzig, und immer wieder drängte sich die Frage heran, ob sie nicht doch unrecht habe?
Sie saß noch am Eßtisch und starrte vor sich hin, als sie plötzlich im Nebenzimmer Camille im Gespräch mit einem anderen Herrn hörte. Sie trat in den Salon, und der Generalmusikdirektor Manner begrüßte sie herzlich und heiter wie immer. Er nähme alle Schuld auf sich wegen des Ueberfalls, dem die Jungfer durchaus wehren wollte; als er aber die famose Clownerie auf dem Flügel gehört, habe er die Jungfer, die sich übrigens sehr heißer Augen erfreue, durch eine freundliche Umarmung beschwichtigt und sei so in das Allerheiligste eingedrungen. Und stracks setzte er sich neben Camille an den Flügel, um den prachtvollen Ulk im vierhändigen Spiel fortzusetzen. Dem hörte Constanze eine Weile belustigt zu und freute sich der halsbrecherischen und witzigen Parodie, die da zwei feine musikalische Köpfe übermütig vollführten. Und während die beiden sich zu dem haarsträubenden, aber überaus witzigen Frevel verstiegen, das »Parsifal«-Vorspiel mit der »Schönen Helena« zu verquicken, setzte sich Constanze an den Schreibtisch und schrieb:
»M., 18.3.90.
Lieber Herr Gerum! Anbei sende ich Ihnen das Billett zur ersten Wiederholung des ›Liebestod‹ (Mittwoch). Wie Sie sich amüsiert haben, werden Sie mir, wie verabredet, am Donnerstag nachmittag um vier Uhr bei einer Schale Kaffee erzählen. (Nachher gibt's auch a Maßerl.) Und dann müssen Sie mir viel vom Vater berichten, alles, was Sie wissen.
Mit bestem Gruß
Constanze Assing.«
Sie setzte sich in ihren tiefen Lieblingssessel, und plötzlich durchzuckte es sie, ob Manner, der nur sehr selten so unangemeldet bei ihr vorsprach, nicht als Friedensbote, als Abgesandter Freystätters käme. Dann richtete sie sich auf: jetzt wollte sie die ihr willkommenste Gelegenheit ergreifen, jetzt wollte sie diesen klugen, feinfühligen und vornehmen Menschen fragen, ob auch er aus dieser Kritik …
»Ich dächte doch,« rief sie heiter zum Flügel hinüber, »daß Ihr jetzt dieser schauderhaften Barbarei ein Ende bereiten könntet. Kommen Sie, Generalissimus, trinken Sie mit mir eine Tasse Kaffee … der von Ihnen so verehrte 1811er Kognak ist auch noch da. Und dann lassen wir diesen Unhold da drüben allein die Tasten prügeln.«
Als sie Manner im Eßzimmer gegenübersaß, fragte sie ihn:
»Lieber Freund, haben Sie mir etwas Wichtiges zu sagen? etwas auszurichten?«
»Ich wüßte nicht!« erwiderte er und schlürfte den Kognak.
»Sie sind also ganz zufällig hergekommen?« forschte sie lebhafter.
»Ich ging hier gerade vorüber, sah Licht, und da ich Ihre Gastfreundschaft kenne …«
»Liebster Manner,« flüsterte sie mit gedämpfter Stimme, »Sie sind mir stets ein lieber und gütiger Freund gewesen …«
»… und werde es Ihnen auch immer bleiben!« Und aus seinen, von des Lebens Hast ein wenig verschleierten Augen leuchtete innige und herzliche Wärme.
»Sagen Sie mir ehrlich, ohne Umschweife und offen: ist Ihnen in Freystätters Vornotiz und Kritik irgend etwas aufgefallen?« Und sie hing an seinen Lippen.
Es trat eine kleine Pause ein, während welcher Camilles ernste und feingestaltete Phantasien aus dem Salon herüberklangen.
»Nichts!« tönte es langsam über den Tisch zu ihr.
»Gar nichts? Sehen Sie, lieber Freund, wozu soll ich Ihnen verheimlichen, was Sie ja auch längst ahnen und was in wenigen Tagen alle Welt wissen wird? Dupaty und ich … wir lieben uns und werden uns angehören fürs ganze Leben. Deswegen ist es meine Pflicht, schon heute ihn zu verteidigen, wenn er angegriffen, wenn er verunglimpft wird.«
»Hm! hm!« tönte es gedehnt zurück.
»… Freystätter hat ihn verunglimpft, nach meinem Empfinden verdächtigt und verleumdet!« überstürzte sie sich in wachsender Erregung.
»Warum verteidigt sich denn Dupaty nicht selbst?«
»Weil er den versteckten Angriff gar nicht fühlt!«
»So?« fragte Manner und sah Constanze sehr eigenartig an, »das wundert mich! Liebste Freundin, ich will ganz ehrlich mit Ihnen sprechen und will Ihnen bekennen, daß auch ich bei der Stelle, die Ihren Vater erwähnt – und diese meinen Sie ja – stutzte, und daß ich mir von Freystätter, der mir die Kritik im Manuskript vorlas, diese Stelle wiederholen ließ. Freystätter ist – Sie kennen ihn wohl noch besser als ich – ein vornehmer Charakter, ein edler Mensch, ein unglaublich feinfühliger Musikant … ihm hat es ferngelegen, Dupaty zu verletzen.«
»Glauben Sie?« höhnte Constanze.
»Das glaube ich nicht … das weiß ich, und ich müßte meinen Freund Freystätter gegen jede, auch die leiseste Verdächtigung in Schutz nehmen. Er ist ein Erster in seinem Fach, er überlegt und wägt und feilt … er hat das geschrieben, weil er eben nicht anders konnte, weil es seine Meinung ist. Und ebenso offen muß ich hinzufügen, daß ich über diese Stelle lange und viel nachgegrübelt habe, daß sie einen starken Eindruck auf mich machte, daß mir diese Worte anhaften, daß sie mich verfolgen, kurz, daß ich sie nicht mehr los werde.«
»Und diese Worte«, erwiderte Constanze mit zitternder Stimme, »werden auch ihn verfolgen, und auch er wird sie nicht mehr los werden, sie werden ihm sein Leben vergällen und mir!«
»Sie und ich … beste Assing … wir kennen die Verhältnisse … wir sind vom Fach, vom Bau … wir lesen mit ganz anderen Augen als die große Masse …,« versuchte er sie zu beschwichtigen. »Ich kann es Ihnen wahrhaftig nachfühlen, daß Sie den Mann verteidigen, mit dem Sie Ihr Leben teilen wollen; meiner Ansicht nach aber müßten Sie ihm diese Verteidigung selbst überlassen. Und damit er selber sich seiner Haut wehrt, hätten Sie, so glaube ich, vor allem die Verpflichtung, ihn einzuweihen, müßten Sie vor allem eine Begegnung der beiden Männer herbeiführen, die völlige Klärung schafft: in welcher der Künstler zum Kritiker spricht, in der Herr Dupaty seine Seele entschleiert, sein Ringen und Streben, in der er aber auch offen und unumwunden, was er ja empfinden muß, den mächtigen Einfluß Ihres Vaters auf sein Schaffen zugesteht. Aber in der auch der Mensch zum Menschen spricht, in welcher er so überzeugend …«
»Das Werk sprach für ihn! Ist's damit nicht genug?« flammte Constanze auf.
»Weisen Sie meinen Vorschlag nicht so kurz von der Hand! Ich erbiete mich gern als Mittelsmann und spreche, wenn Sie einwilligen, noch heute abend mit Freystätter. Glauben Sie mir, liebe Freundin, das beste ist: Sie sagen's Dupaty, solange ich noch hier bin … jetzt, sofort … rufen Sie ihn herein!«
»Nein,« sagte Constanze und richtete sich stolz empor. »Freystätter will originell erscheinen, er sagt absichtlich etwas anderes als alle, weil er dadurch beachtet und gefürchtet wird. Zu einer Abbitte wird er sich nicht verstehen, und zu einem Vergleich läßt sich Camille Dupaty nicht herab. Und deswegen hätte diese Zusammenkunft keinen Wert; sie würde ganz bestimmt nicht zu einer Verständigung führen, sondern ganz bestimmt zu einer Forderung! Und Herr Dupaty ist ein guter Pistolenschütze!«
Sie stand erregt auf und zeigte, daß sie diese schmerzliche und qualvolle Unterredung beendet wünschte.
Manner zuckte die Achseln:
»Sie haben mich gefragt, liebe Freundin, ich habe Ihnen Antwort und Rat gegeben. Jetzt müssen Sie sich allein durchfinden, und Sie werden sich durchfinden,« und er küßte ihr die Hand.
»Eine Rache gibt's für Camille, eine Rechtfertigung: ein neues Werk!« Und sie sah ihn triumphierend an.
»Das allerdings wäre der schlagendste Beweis für den Irrtum Freystätters!« murmelte Manner, während er mit Constanze in den Salon schritt.
Er war gekommen eines lustigen Plauderstündchens mit der genialen und schönen Künstlerin willen und sah sich plötzlich hineingezerrt in einen erbitterten Kampf, dessen Ende nicht abzusehen war, der aber nach der Stellung der Gegner kaum friedlich endigen konnte. Manner empfahl sich bald. Dieses Mal vergaß er, die Jungfer, die sich »so heißer Augen« erfreute, zu umarmen. Und in Gedanken ganz versponnen, trabte er durch den Schnee.
Viele Stunden später verließ Camille die ihm nun so vertrauten Räume.
Constanze hatte ihn gebeten, sie am Mittwoch nicht zu besuchen; sie brauche vollständige Ruhe, um Sammlung zu gewinnen für die erste Wiederholung des »Liebestod«. Sie sprach, um ihre Stimme zu schonen, nur wenig und verbrachte den Tag in völliger Abgeschlossenheit, mit dem Durchlesen ihrer Partie beschäftigt. Und erfreute sich wieder an den wundervollen Schönheiten des Werkes, das aus Eifersucht geborener Neid nicht verkleinern konnte …
Im Theater sah sie durch das Guckloch des Vorhangs; sie wollte nicht hinsehen, aber, wie magnetisch hingezogen, fällt ihr erster Blick auf das bleiche und ernste Gesicht Sigmund Freystätters und auf seine kleine verschrumpelte Mutter, die heute nicht in ihrer schwarzseidenen, grünpunktierten Robe aus dem Jahre 1864 erschienen war, sondern zum Entzücken der staunenden Menge das vollendete Ebenmaß ihrer Glieder in das weit modernere, hellgraubaumwollene Atlaskleid aus dem Jahre 1865 gehüllt hatte. Constanze wendete sich ab und einem freudigeren Bilde zu. Unweit Freystätters saß ein kleiner Mann mit einem gutmütigen, freundlichen und dennoch sehr gescheiten Gesicht, der eifrig im Textbuch las: der Herr Buchbindermeister und Verfertiger des so wunderschön liniierten Notenpapiers, Christoph Sebastian Gerum. Constanze erkannte ihn kaum wieder. Denn er hatte sich nicht lumpen lassen und seinen Sonntagsstaat angelegt: denselben Bratenrock, den er bei seinem letzten Besuch im Hoftheater getragen hatte, und das war doch nun siebzehn Jahre her. Um seinen Hals hatte er eine Krawatte geschlungen, die ihm seine treue Ehehälfte aus einem nicht mehr ganz neuen Unterrock zurechtgeschneidert hatte, und dieses seltsam buntfarbige Muster konnte nur aus einem jener berühmten Ausverkäufe stammen, die alljährlich eine Wallfahrt zu den Gebrüdern Freystätter in der Kaufinger Gasse verursachten. Das Grandioseste aber, gewissermaßen die Krönung des Gebäudes, war doch – darüber konnte unmöglich eine Meinungsverschiedenheit bestehen – die lila Samtweste mit den silbernen Knöpfen, die ihm sichtlich viel zu eng war, weil sie aus seiner schlanken Jugendzeit stammte, in welcher er noch nicht allabendlich dem Göttertrank in der »Löwengrube« Dankesopfer dargebracht hatte. Constanze freute sich innig auf den morgigen Nachmittag, den sie mit diesem wackeren, bescheidenen, treuen Mann verplaudern würde, und auf die Stunden, in denen er ihr vom Vater erzählen mußte, was er mit ihm gesprochen, was er mit ihm gelitten, was er mit ihm erlebt.
Und wieder steht ein Weib mit wild flatternder Mähne und hocherhobenem Arm auf der Bühne, und erschauernd klingt es von ihren Lippen:
»Haltet ein! Laßt diesen Frevel nicht geschehen!« Wie eine Seherin, die weit, weit in die grausige Zukunft blickt, wie ein Prophetin, wie eine Rächerin!
Und als der schrankenlose, überquellende Jubel minutenlang den Fortgang der Handlung unterbricht, steht Constanze Assing in demütiger Haltung und gesenkten Augen und läßt den Sturm über sich ergehen. Unwillkürlich muß sie an den Orkan auf ihrer Schneefahrt denken, an sein wütendes Brausen und Tosen. Sie lächelt Camille zu, der hinter einer Kulisse steht, und murmelt leise, aber so, daß er und nur er es verstehen kann:
»Liebster, hier können mich die flatternden und krächzenden, todverkündenden schwarzen Vögel nicht schrecken!«
Nach dem Schluß des Aktes folgte sie nicht gleich den Rufen des Publikums, sondern sah wieder durch das Guckloch, und da erlebte sie die Ueberraschung, daß Sigmund Freystätter, ihr Feind, sich herzlichst an dem Jubel beteiligte, während Christoph Gerum, ihr Freund, ernst und bewegungslos in das Orchester starrte.
In dieser Pause bemerkte Freystätter den Herrn Buchbindermeister und ging zu ihm, indem er ihm die Hand reichte:
»Na, Herr Gerum, Sie kennen mich wohl nicht mehr?«
»Ja, warum soll i Ihne denn net kenne?« erwiderte Herr Gerum, der sich ein bißchen unbeholfen aus dem ihm jedenfalls ungewohnten roten Samtpolster herausschälte. »Sie san doch der Herr Doktor Freystätter?«
»Ganz recht! Ich hab' Ihnen doch damals auf dem Heimwege von der ›Löwengrube‹ gesagt, daß ich eine Biographie des Herrn Professors Assing schreibe … wissen Sie, so eine Lebensgeschichte …«
»Brauchen's mir net zu verdeutschen, Herr Doktor,« meinte etwas pikiert Herr Gerum, »so viel versteh' i a noch!«
»Ich hab' in der letzten Zeit viel zu tun gehabt mit der Kritik über den ›Liebestod‹, aber jetzt würde es mir sehr angenehm sein, wenn Sie mir je eher, je lieber, ein Stündchen schenken wollten. Wäre es Ihnen vielleicht morgen nachmittag recht?«
»Ja, wissen's, dös wird morgen net guat geh'n. I hab nämlich nachmittags … so um a vieren … ane Verabredung,« und Herr Gerum setzte eine äußerst verschmitzte Miene auf, wie ein endlich erhörter Liebhaber, der sein Glück nicht direkt verraten will, den es aber doch reizt, es durchblicken zu lassen.
»Na, wann's so zwischen sechs und sieben in mei' Laden vorsprechen wollen … da wer' i scho wieder zurück san.«
Sie trennten sich mit freundlichem Händedruck.
Frau Ralchen hatte diese paar Minuten dazu benutzt, sich schändlich zu ärgern. Warum mußte auch gerade eine Dame vor ihr einen echten Zobelkragen tragen?
Nach jedem Akte bot sich Constanze das gleiche befremdliche Schauspiel, Freystätter Beifall spenden und Gerum mit einem merkwürdig ernsten Gesicht ins Orchester starren zu sehen. Als zum Schluß Constanze mit Camille herausgejubelt wurde, nickte sie auch ihres Vaters altem Vertrauten herzlichst zu, der aber blickte, wie geistesabwesend, ins Leere, wie einer, der aus einem Traum erwacht und sich noch nicht zurechtfinden kann.
Zu Hause erzählte ihr Camille beim Abendessen unter der brennenden Hängelampe glückstrahlend, er sei morgen um vier Uhr zum Hofdiner in die Residenz geladen, und lachend erwiderte ihm Constanze, daß ihr das sehr gut passe, denn sie erwarte morgen um dieselbe Zeit zum Kaffee den Besuch eines wunderschönen jungen Herrn, und da Camille ihr drohte und sich drollig auf den eifersüchtigen Türken hinausspielte, neckte sie ihn: die Geschichte sei auch äußerst bedrohlich, und sie fürchte für ihr Seelenheil, denn dem, den sie erwarte, gehe der Ruf eines ganz verwegenen Don Juans voraus.
Als Camille endlich – es war schon spät – nach heißem Abschied leise durch den Korridor zur Flurtür schritt und sie ebenso leise zur Tür des Salons, da stand plötzlich wieder – sie wußte selbst nicht warum – das Bild vom Walchensee vor ihr, und sie sah wieder langsam die Boote, die sich im zarten Sommerwinde geschaukelt hatten, auseinander gleiten, und je mehr sie sich mit jedem leisen Ruderschlag trennten, desto mehr verglich sie diese beiden Nachen mit zwei Schicksalen, die, kurze Frist eng verknüpft und verschlungen, sich lösen, um sich dann zu verlieren … in weiter, immer weiterer Ferne.
Constanzens Jungfer, zu deren löblichsten Eigenschaften es gehörte, sich über nichts zu wundern, war auch nicht im mindesten erstaunt, von ihrer Herrin zu hören, daß heute nachmittag um vier ein Herr zum Kaffee kommen und nach dessen Genuß ein paar Maßl Pschorrbräu vertilgen würde. Und trotzdem sie gestern erlauscht hatte, daß Herr Dupaty in die Residenz geladen sei, und daß gerade um diese Zeit ihre Gebieterin diesen mysteriösen Herrn empfangen würde, wunderte sie sich auch über dieses geschickte Arrangement nicht, sondern freute sich nur herzlich über die Vielseitigkeit ihrer Herrin. Constanze hatte aus dem Nachlaß ihres Vaters eine Krawattennadel und eine silberne Tabaksdose hervorgekramt, welche sie dem Herrn Buchbindermeister zum Andenken verehren wollte.
Mit dem Glockenschlag vier Uhr klingelte es, und mit der Pünktlichkeit, welche gekrönte Häupter und Steuerboten auszeichnet, trat Herr Christoph Sebastian Gerum in den Salon. In dem auf siebzehn Lenze zurückblickenden Bratenrock, in der entschieden zu engen lila Samtweste und mit der buntfarbigen Krawatte, welche ihr Dasein dem nicht mehr ganz neuen Untergewand der Frau Walpurga Gerum verdankte. Aber ganz im Gegensatz zu seiner sonstigen fröhlichen und geraden Art, die jedem ehrlichen und »gstandenen« Münchener Bürger eignet, zeigte Herr Gerum heute ein scheues und gedrücktes Wesen, und Constanze, die annahm, daß die ungewohnte Umgebung ihren Besucher beenge, beschloß, durch doppelte Rationen an Herzlichkeit und Pschorrbier den eisgepanzerten Herrn Buchbinder aufzutauen. In den wohllautenden Klängen ihrer und seiner Heimat bat sie ihn, sich's bequem zu machen und sich zum Kaffee »a Zigarrl« anzuzünden.
»Herr Gerum,« begann Constanze, »a Sünd' und a Schand' ist's, daß i so wen'g von Ihnen woas. Erzählen's mir doch mal: Sie san do' verheirat? net wahr?«
»Freili, und glückli' a noch!«
»Dös freut mi herzlich! Na, und wieviel Kinder haben's denn?«
»Gengens no in d' Schul?« fragte sie ihn, um ihm zu schmeicheln und ihn für jünger zu halten, als er wohl war.
»Der Bub geht af d' Kunstschul und dös Madel …« Und da Herr Gerum stockte, glaubte Constanze da einen wunden Punkt berührt zu haben und wollte die noch immer zähe und langsam tropfende Unterhaltung auf ein anderes Gebiet lenken; aber sie wurde von ihrem Gegenüber unterbrochen.
»Und dös Madel geht in d' Spielschul … Ja, wissen's, gnä' Fräulein, die ist erst vor Jahre fünfe bei uns aniruckt,« und Herr Gerum wußte nicht recht, ob er sich dieses Meisterstückls rühmen oder sich ärgern sollte. Schließlich obsiegte aber doch die Eitelkeit und er quittierte dankend über den bewundernden Blick, den ihm Constanze zuwarf. Dann berührte sie seine Interessen, erkundigte sich, wie lange er schon den Laden innehabe, wie das Geschäft gehe, ob er noch das in ganz München berühmte Notenpapier fabriziere, und mehr dergleichen, von dem sie voraussetzen konnte, daß er sich ein bißchen erwärmen würde. Aber trotzdem die Jungfer ein Maßl Pschorr vor ihn hingepflanzt hatte und ihm der Schaum entgegenlachte, wollte er nicht aus seiner Zurückhaltung heraus, die Constanze bei diesem offenen, graden Mann recht verwunderlich schien. Da sie also das Familiengebiet ziemlich vergeblich abgegrast hatte, wendete sie sich dem Manne zu, den, wie sie wußte, Herr Gerum verehrt, geliebt und vergöttert hatte.
»Also, lieber Freund, jetzt erzählen's mir mal von meinem Vater! Sie waren ja in seinen letzten Jahren so oft mit ihm zusammen, viel öfter als ich … mich interessiert alles, alles, auch das kleinste, was Sie mir berichten können.«
»Ja mei' … gnä' Fräulein?« zögerte er.
»I glaub' wahrhaftig, Sie genieren sich vor mir?« lächelte sie ihm herzlich zu.
»Dös grad net,« erwiderte er zaudernd, »warum sollt' i mi denn schanier'n? Sehn's, Fräulein, er war eben a recht a g'scheiter Ma' und a recht a unglücklicher Ma' …«
Und da Constanze merkte, daß er in Fluß kam, unterbrach sie ihn nicht durch Zwischenfragen und störte nicht seinen anscheinend ein bißchen langsamen Gedankengang. Und wie sie ihn so ansah, mußte sie sich sagen, daß aus dem Gesicht dieses einfachen Handwerkers unendlich viel Herzensgüte und Lebensklugheit sprachen.
»Meist war ja der Herr Vater söllig recht schweigsam,« fuhr er fort, »und da hab' i ihn natürli net g'stört. Aber dann gab's auch wieder Abende, an denen er ganz forsch schwätzte, und da hat er mir dann verzählt, was dös gnä' Fräulein eh' schon wissen …«
»Also weiter, nur weiter!« ermunterte sie ihn.
»… na, von sei' Jugend, und wie er sich hat halt durchhungern müssen. Und dann von sei' großem Erfolg, den er mit sei' »Helden« g'habt hat, und wie's nachher nimmer hat gehen woll'n!« und Herr Gerum feuchtete seine durstige Kehle an: »und wie er geschuft' hat und wie …«
»Ja!« fiel Constanze ein, »und trotz alledem hat er mehr 'konnt als viele, viele andere Musikanten.«
»Dös glab' i!« betonte er mit großem Nachdruck.
»… und schaun's, lieber Herr Gerum, dös will mi gar net in den Kopf 'nein, daß er so alle Schneid' verloren hatte, es immer wieder zu versuchen und weiter zu arbeiten.«
Eine Pause trat ein, während welcher er vor sich hinstarrte, und wieder sah Constanze das gleiche Gesicht, wie sie es gestern abend durch das Guckloch gesehen hatte. Er blickte wie geistesabwesend ins Leere, wie einer, der aus einem Traum erwacht und sich noch nicht zurechtfinden kann. Nur einmal zupfte Gerum an seiner Krawatte, die ihn zu belästigen schien, und sah dann stumm und starr vor sich hin. Constanze fühlte, daß ihn irgend etwas bedrängte, daß er sich nicht mit der Sprache vortraute, und da sie, die immer ein offenes Herz und eine offene Hand hatte, zu ahnen glaubte, wo ihn der Schuh drückte, sagte sie:
»Herr Gerum … spülln's mit mir ka Versteck … i seh' Ihne ja an … geht's Ihne im G'schäft doch a bisserl verquer? Wann i Ihne vielleicht helfen kann … von Herzen gern und mit tausend Freuden.«
Unwillig und stolz zugleich erwiderte er:
»I muß scho' bitten, gnä' Fräulein. Da wären's grad' die erst', die i in meinem Leben anpumpen tät. I brauch's net und i tu's net, und wann i's a brauchet, i tät's do net!«
Und wieder eine Pause, in welcher ihr immer klarer wurde, daß diesen braven Menschen irgend etwas bedrückte, eine zehrende Sorge? ein tiefer Schmerz? ein verschwiegenes Leid oder vielleicht gar heimliche Reue?
»Also – dös kann ja an Blinder in der Dunkelheit sehen – daß Ihne a Fliegen in d' Milch g'fallen ist … so reden's doch mal endlich frisch von der Leber weg!« drang sie in ihn.
Er aber schwieg und sah wieder wie versteinert vor sich hin. Sie schlürfte den Kaffee, um ihm Zeit zu lassen, und plauderte dann in absichtlich leichtem Ton:
»Wissen's übrigens, mein Lieber, daß i sehr bös mit Ihnen bin? Haben's denn net bemerkt, daß i Ihnen gestern abend wohl a halb Dutzend Mal zug'nickt und Sie 'grüßt hab'? He? Mir schien's sogar, ganz ehrlich gesagt, als hätten Sie's net bemerken wollen? …«
»I hab's net g'sehn, gnä' Fräulein, auf Ehr' und Sölligkeit … i war so vertattert.«
»Also hat's Ihnen g'fallen?«
»Dös scho!«
»Und da haben Sie«, lachte sie auf, »vor lauter Begeisterung nix mehr g'sehn und g'hört? Dös freut mi' schon sakrisch,« und sie reichte ihm die Hand, die er zögernd ergriff.
»Ja wissen's … mir war akk'rat so, als ob mir aner mit der Axt vor'n Kopf schlaget.«
»Einen so tiefen Eindruck hat das wundervolle Werk des Herrn Dupaty auf Sie g'macht?« und es machte sie selig und stolz, daß Camilles Schöpfung auch auf diesen bescheidenen Mann so mächtig gewirkt hatte. Sie sagte sich, das sei doch die einzig wahre und echte Kunst, die in das Volk dringt, die das Volk versteht und liebt, die das Volk erhebt und begeistert. Und sie wünschte sich Camille herbei, damit er selbst Zeuge wäre dieser einfachen und deshalb um so rührenderen Huldigung.
Die Jungfer brachte eine neue Maß, trotzdem er ganz gegen seine Gewohnheit die erste noch kaum bis zur Hälfte geleert hatte, und verschwand dann wieder, um in der Küche mit der Mehlspeisbeherrscherin ihre Gedanken auszutauschen über diesen merkwürdigen Besuch.
»Haben's gestern abend net manches Mal an meinen Vater gedacht?«
»I hab' nur an den Herrn Vater söllig denken müssen …«
»Glauben's net auch, daß es ihm eine innige Freude bereitet hätte, das Werk zu hören?«
»Dös glab' i scho'!«
Und wieder eine Pause, während welcher Constanze einige Briefe, die ihr die Jungfer gebracht hatte, flüchtig betrachtete, ohne sie zu öffnen. Als Constanze aufschaute, bot sich ihr ein angsterregendes Bild. Herr Gerum saß ihr gegenüber, mit seinem roten Taschentuch wischte er sich die Stirn, von welcher der Schweiß perlte, und atmete schwer. Erschrocken fragte Constanze, ob er sich nicht wohl fühle, und wollte nach der Jungfer schellen, als der Buchbindermeister mit kurzer Bewegung der Hand abwinkte und langsam zu sprechen begann. Schwerflüssig und zäh tropften ihm die Worte von den Lippen, nach jedem Worte machte er eine Pause, ein jedes Wort zerkleinerte und zerkaute er, um sich Rechenschaft abzulegen, bevor es unwiderruflich gesprochen sei.
»Gnä' Fräulein,« begann er und starrte, ohne Constanzen anzublicken, auf den Teppich, »i … i möcht' … Ihne gern 'mal was fragen …«
»Bitte, Herr Gerum,« und Constanze blickte den Mann forschend und mit einer gewissen Unbehaglichkeit an, »bitte, fragen's nur ganz offen, wie's unter alten Freunden Sitte ist …«
»Nix für ungut,« und immer mühseliger rangen sich die Worte aus der keuchenden Brust des Mannes, und Constanze sah den furchtbaren Kampf, den er kämpfte, und mit wachsender Unruhe hing sie an seinem Munde.
»Sagen's mal, gnä' Fräulein, wo is' denn eigentlich der Nachlaß g'blieben von Herrn Professor söllig?«
Constanze atmete auf. Also das war's? Das schuf ihm solche Pein? Er fühlte sich vernachlässigt, er glaubte als des Vaters alter Vertrauter Anspruch zu haben auf ein Andenken. Du lieber Himmel … deswegen diese Erregung, die den ganzen Menschen durchschüttelte … Sie glaubt, daß er eine Frage an sie richten würde, die ein Menschenschicksal entscheidet, und er … er bettelt um ein … Geschenk! Sie reicht ihm Dose und Nadel über den Tisch:
»Bitte, lieber Freund, nehmen's das von mir! Sie wissen ja, daß der Vater die beiden Dinge immer bei sich g'tragen hat!«
»Dös moan i net,« und er wies die Andenken zurück.
»Ja,« sagte Constanze und zuckte leicht die Achseln. »Das tut mir arg leid … die Möbel hab i alle der guten Schwabenmeyr g'schenkt, weil sie dem Vater gar so treu g'dient hat, und Bücher und Bilder hab' i' unter die Freunde verteilt, die mir seine Briefe überlassen haben. Hätten's mir nur ein Wort g'sagt … Sie hätten sich doch aussuchen können, was Sie g'wollt hätten, Sie doch wahrhaftig zuallererst!«
»Fräulein versteh'n mi net recht,« und nach einer Pause, während welcher man nur das Ticken der Wanduhr und das leise Zwitschern des Rotkehlchens aus dem Nebenzimmer hörte, sagte Herr Gerum:
»I moan halt, wo … wo … der … musikalische Nachlaß von Herrn Professor g'blieben ist?«
»Es war leider nix vorhanden!« erwiderte Constanze ruhig.
Bis dahin hatte Herr Gerum auf den Teppich geblickt, in diesem Augenblick sah er Constanze scharf und spähend an, und diese Augen, die sonst so gutmütig und fröhlich und sorglos in die Welt blickten, nahmen einen so strengen und ernsten Ausdruck an, daß es Constanzen ganz unwillkürlich kalt überlief. Und dieser kleine, bescheidene Handwerker, dieser alte treue Freund ihres Vaters wiederholte in dem mißtrauischen Ton, den der Untersuchungsrichter dem Angeklagten gegenüber anschlägt:
»Nix vorhanden?«
»Nein! Ich hatte auch g'hofft und hatte so sehnlich g'wünscht, daß der Vater doch noch heimlich etwas g'schaffen hätt', was seinen längst vergessenen Namen wieder hätt' aufleben lassen … wissen's, Herr Gerum, so einen Schwanengesang … es gibt nämlich eine alte Sage, daß die Schwäne in wundervoll-klagenden Melodien Abschied nehmen vom Leben … ja … so hatt' ich's g'hofft!«
»Nix vorhanden?« wiederholte er noch einmal vor sich hinsinnend, und Constanze merkte, daß er ihr gar nicht zugehört hatte. Sie sah ihn wieder und lange an und horchte auf. Es schwirrte etwas durch das stille Zimmer. Wie damals im dämmernden Morgentraum am Walchensee kroch etwas an sie heran, etwas Unheimliches, Schaudererregendes, Furchtbares. Dann strich sie sich mit beiden Händen über die Stirn, um die so unklaren, aber so angstvollen Gedanken von sich abzuschütteln und ihrer Herr zu werden, und fuhr mit erzwungener Ruhe fort:
»Außer einer Fugenskizze, ein paar Instrumentationsnotizen und einem Liedentwurf hat sich leider nichts in seinem Nachlaß vorg'funden!«
Wieder eine bange Pause, die vielleicht eine halbe Minute dauert und Constanzen eine Ewigkeit dünkt.
»Erlaben mir Fräulein d' Frag',« und kalt und anklagend tönen die Worte zu ihr herüber, »wo ist denn d' große Arbeit g'blieben?«
»Die große Arbeit? Ich sagte Ihnen ja schon, daß …«
»Entschuldigen's … wer hat denn den Nachlaß g'ordnet? Sie selber?«
»Nein, Herr Dupaty!«
»Hm!«
Constanze fühlt, wie ihr das Blut aus dem Gesicht weicht und zum Herzen strömt. Sie fühlt, wie ihre Lippen trocken werden und ihre Pulse hämmern. Sie bebt und weiß nicht warum, sie zittert und kann sich keine Rechenschaft ablegen über die Ursache … da schwirrt es wieder durch das stille Zimmer … da kriecht es wieder heran … näher … immer näher, und zornig über die törichte Folter, die ihr dieser einfältige Mann mit seinen verschleierten Fragen bereitet, ruft sie ihm zu:
»Sind Sie dazu her'kommen, Herr Gerum, um mir Rätsel aufzugeb'n, deren Lösung Sie selbst net kennen? Den Weg, mein Lieber, hätten Sie sich sparen können.« Und scharf und schneidend, und keinen Widerspruch duldend, schließt sie:
»Mein Vater hat keine große Arbeit hinterlassen! Sie irren sich! und ich würd' Ihnen raten …«
»I' irr' mi net,« entgegnet er ihr bestimmt, und seine Hände spielen krampfhaft und zitternd mit der silbernen Uhrkette, welche sich über die lila Samtweste spannt.
Sie sieht ihn wieder an mit ein wenig zugekniffenen Augen und runzelt die Stirn: Ist dieser Mensch ihr gegenüber bei Sinnen? ist er gesund? ist er krank? was bezweckt er? handelt er nach einem wohlerwogenen Plan? erspäht er einen Vorteil? will er erpressen? ist er ein falscher Biedermann oder nur ein harmloser Narr? ist er ein Schwätzer? ein Verleumder? …
»An deren Sach' hat er lang' g'nu' g'arbeit' … so a Jahre viere … fünfe … i selbst hab's ihm ja ein'bunden in drei große schöne starke Pappbänd'!«
Sie weiß nicht, was das alles bedeuten soll … sie ahnt nicht, was sich hinter diesen Worten verbirgt … aber sie fühlt unwiderstehlich, daß das Schicksal mit ehernen Schritten naht. Sie fühlt, daß sich Schatten auf sie herabsenken, schwarze, große, unheimliche, fürchterliche Schatten, die wallenden Bahrtüchern gleichen … Sie fühlt, daß diese immer wachsenden, immer herniedersteigenden Schatten ihr Luft und Licht und Atem nehmen, daß sie sie einhüllen, daß sie ihr Glück erwürgen und ihr das Leben rauben wollen. Sie klammert sich an der Lehne ihres Stuhles fest, weil ihr der Boden unter den Füßen zu schwinden scheint, und mit Anstrengung aller Kräfte haucht sie:
»War das eine Sinfonie?«
»Dös war schon ane Oper!«
»Eine … Oper?«
»Er hat's halt an Musikdrama genannt!«
Sie faßt nach der nahen Portiere, in welche sie ihre Hände wühlt, um nicht umzusinken.
»Wie … hieß diese Oper?«
»›D' Sieger‹ hat er's gehoaßen!«
Sie kann sich's nicht erklären, was auf sie einstürmt … ist es ein Mensch? eine Naturgewalt? ein Ungeheuer? eine Schreckgestalt? … Die schwarzen Schatten versinken, und plötzlich flammt ihr alles blutrot vor den Augen, und aus der lodernden Glut steigt entsetzlich das Haupt der Medusa empor, und Constanze fühlt sich wie versteinert. Sie kämpft und sie wehrt sich mit allen Kräften gegen die unbekannte, grauenvolle Macht, und endlich gewinnt sie es über sich und fragt:
»Und dieses Werk haben Sie selbst … haben Sie in Ihren Händen gehalten?«
»Ja freili … Seit'n für Seit'n hat er mir vorg'les'n und oft hat er mir's, weil i ah a' bisserl von der Musi verstehe, vorg'spüllt … in sa' Wohnung in der Hundskugel. Die Frau Schwabenmeyer wird eh' schon wissen, weil sie immer 's Bier hat holen müssen. I kann Ihne scho' sag'n, Fräulein, dös war wohl das Schönste, was es 'geben hat seit langer Zeit.«
Und sich immer mehr ereifernd fährt er fort:
»Wann i ehm g'sagt hab: er soll's doch endli 'naus geb'n, damit net nur er und i unsere Freud' daran haben, sondern alle Leut', da … da hat er mir immer g'antwort': ›Nicht doch! nicht doch!‹ hat er g'sagt auf Ehr' und Sölligkeit, ›schaun's, Herr Gerum … i hab' zu lang' in der Dunkeln g'lebt, i kann dös Licht nimmer vertrag'n … i käm' mir vor wie an Blinder, der plötzlich wieder schau'n könnt', und den dös grelle Licht schmerzt und blendet … nach meinem Tode werde ich erst leben‹ … so hat er g'sagt!«
Constanze springt auf und starrt ihm voll Entsetzen in die Augen. Sie hört sie wieder, dieselben Worte, die der Vater damals dem Freunde schrieb. Wacht sie? Träumt sie? Narrt sie ein böser Spuk? Sie faßt sich ans Herz, weil sie fühlt, daß es zerspringen muß, und hört wie durch einen Schleier von drüben Worte herüberklingen, die, Sensen gleich, alles niedermähen, was ihr eigen war, Jugend und Hoffnung, Vertrauen und Liebe … das Leben! und hört die Worte:
»Und all' dös hab' i gestern abend wiederg'hört!«
Sie weicht vor ihm zurück.
»Wieder … ge…,« aber sie ist nicht fähig, den Satz zu vollenden.
»I woas net, ob's ganz so akkrat … wissen's, gnä' Fräulein … mit'n Orchester kenn' i mi' do net so aus, weil der Herr Vater söllig es mi' do nur immer af'm Klavier vorspüllt hat, aber den Text und d' Chör und all' d' oanzelnen Partien … o mei! dös alles hab' i schon' längst 'kannt … Und diesertwegen kann i gar net begreif'n, warum denn der Herr Dupaty af'n Zettel steht als der, der d' ganze G'schicht ausdividiert hat, und net der Herr Professor Richard Assing … Gott schenk' seiner Söll d' ewige Ruh!«
Das ist zu viel! zu viel! Sie hat die Macht überwunden, die sie unterjochen wollte. Stolz richtet sie sich empor, sie sieht nach der Wanduhr. In jedem Augenblick kann Camille kommen, muß Camille kommen.
Dieser Mensch ihr da gegenüber darf ihr Zimmer nicht verlassen, ohne seine wahnwitzigen Anklagen vor Camille wiederholt zu haben. Und wenn ihn Camille hier vor ihren Augen niederschlägt, es geschieht ihm recht, ganz recht! Es schellt … er ist's, endlich, endlich … sie will ihm entgegenstürzen, sie will ihn hereinzerren, sie will … sie lauscht. Sie hört fremde Stimmen, die wieder verklingen. Sie schleppt sich von der Tür zurück und hält sich am Kamin fest, auf welchem der »Liebestod« liegt. Sie sieht in der hereinbrechenden Abenddämmerung den Mann, der ihr Leben in Trümmer schlagen will, und wieder und nun ganz nah, so nah, daß es ihr Sinn und Herz ergreift, kriecht es heran, das Grausige, das Schaudernerregende. Sie hört noch die Worte: »Wenn ich erst tot bin …« und stürzt dann lautlos auf den Teppich. Herr Gerum reibt ihr die Schläfen mit Wasser und richtet sie auf. Sie dankt mit schwachem Lächeln … sie fühlt das Blut wieder durch den Körper strömen … sie ist wieder Herrin ihrer Sinne … Er will sie zu ihrem Sessel zurückführen … sie wehrt es ihm.
»Herr Gerum,« und ihr Atem fliegt, »können Sie mir Beweise geben für Ihre Anschuldigungen?«
»Beweise?« gibt er zurück.
»Beweise! Beweise! Geben Sie mir Beweise … sonst …«
Herr Gerum richtet sich auf und wendet sich zornig zur Türe; sie hält ihn zurück und schreit ihm entgegen:
»Beweise! In aller Heiligen Namen: Beweise!«
»Beweise könnt' i Ihne scho' geb'n … aber wann's mi' net so glab'n,« und er greift nach der Türklinke.
»Haben Sie doch Erbarmen mit mir! Beweise! Geben Sie mir doch Beweise!«
»I hätt' scho' noch a groß' Paket'l Briefe vom söll'gen Herrn Vater; in dem is von nix anderem d' Red' als von d' ›Sieger‹ … und dann hab' i no anen großmächt'gen Haufen Notenblätter … die san alle vollschrieb'n von seiner Hand … so Stückel fünfhundert können's scho' sein … wissen's, gnä' Fräulein, dös kam nemlich so: der Herr Vater hat's alleweil so in der G'wohnheit g'habt und hat jede Seit'n glei' kopiert, wann er's fertig g'habt hat, und dann hat er dös Konzept glei' af'n Boden worf'n … ganz achtlos immer weg'worf'n … i glab' … d' Frau Schwabenmeyr hätt' d' Zimmer mit all' dem Papier austapezier'n können … der Herr Professor hätt's net g'merkt … und als i dös mal g'sehn hab' … da hab' i ehm bet'n, er soll mir doch liaber dös alles schenk'n, was er so wegwirft … und da hat er g'sagt: ›Herr Gerum,‹ hat er g'sagt … ›nehmen's alles … für mi hat d' G'schicht, wann i's mir schön kopiert hab', doch ka Wert net … Wenn's da mal' neinschau'n möcht'n … i bring's Ihnen glei' her … a hübscher Stoß Papier is' scho'!«
»Gut! gut! Bringen Sie her … doch nein … besser bei Ihnen, bei Ihnen! Gehen Sie voraus, nur schnell! schnell!« und sie drängt ihn zur Tür.
»Wer'n sich Fräulein a net z' viel zumuten?«
»In einer Viertelstunde bin ich bei Ihnen!«
Sie ist allein. Einen Augenblick starrt sie um sich, um sich zu vergewissern, wo sie ist. Nein, nein, sie träumt nicht. Das alles ist ja wahr, ist ja Wirklichkeit, da ist der Flügel, die Bilder, die Bücher, die Statuen, die Möbel … und plötzlich sieht sie in der Dämmerung das Gesicht Camilles, wie sie es damals in der Morgenfrühe am Walchensee gesehen … wie Angst und Furcht sich auf seinen Zügen malen, und wie sich die Falten um Stirn und Mund immer tiefer und tiefer graben.
Sie schellt: »Einen Fiaker! Sofort!« In fieberhafter Hast begehrt sie Hut und Mantel, und ohne ein Wort zu sprechen, eilt sie die Treppe hinunter.
Im Zimmer herrscht wieder tiefe Stille; nur das Rotkehlchen zwitschert leise im Traum.
Constanze fährt ihrem Schicksal entgegen.
Mühselig drehen sich die Räder im knirschenden Schnee, den die fahle Märzsonne noch nicht zu erweichen vermochte, und trotzdem Constanze mit allen Sinnen dem Ziele zustrebt, das ihr Gewißheit bringen soll über ihre Zukunft, ihr Leben, liegt sie mit geschlossenen Augen im Wagen; sie ist zu machtlos, den Kutscher zur Eile anzutreiben. Sie hört nichts, sie sieht nichts … wie wilde Vögel flattern ihr die Gedanken durch den Kopf … unselige, grausige Gedanken und hoffende, leuchtende Gedanken … Ah! nicht möglich! … nicht denkbar! … dieser Herr Gerum mag ja ein sehr braver Mann sein … aber ein beschränkter, unbeholfener, törichter Mann, der in seinem kleinen Gehirn alles durcheinanderwirbelt … der in seiner Vergötterung für den Vater … nein, nein, so kann es ja nicht sein … so darf es nicht sein … und so ist es auch nicht … sie rafft sich auf. »Schneller, Kutscher, schneller!« … Tut sie ihm, dem sie sich zu eigen gegeben hat mit Seele und Leib, nicht bitteres Unrecht, daß sie all diesen verworrenen, verrückten Anschuldigungen auch nur den hundertsten Bruchteil einer Sekunde Glauben geschenkt hat … daß sie, ohne ihn zu hören, auch nur während eines flüchtigen Augenblicks an seiner Unschuld zweifeln konnte … begeht sie nicht einen Frevel mit dieser Fahrt? einen Treubruch? einen Verrat? … Und dennoch … dennoch! ›Die Sieger‹ … »wenn ich erst tot bin, werde ich erst leben« …
»Schneller, Kutscher, schneller!« »Ich hab zu lang' in der Dunkelheit gelebt, ich kann das Licht nimmer vertragen … der ganze Text, die Chöre, die einzelnen Partien.« »Schneller, schneller! Ich zahle jeden Preis!« Sie hat die Augen geöffnet, sie fährt durch dieselben Straßen, durch welche sie vor wenigen Tagen in der grauenden Morgenfrühe mit ihm zum Bahnhof fuhr, damals in Seligkeit und Wonnerausch, heute in Qual und Not. Sie sieht dieselben Läden, sieht die Straßen durchflutet von hastenden, lachenden, schwatzenden Menschen. Dort humpelt die alte Frau Ralchen auf ihren Stock gestützt vorüber … sie denkt an den »Spezi« … hat sie dem Geliebten unrecht getan oder dem Freunde? Dort steht Manner und plaudert fröhlich mit einer schönen Frau. Wie wird sie zurückkehren von dieser entsetzlichen Fahrt, die nicht enden will? Wie wird sie all das bunte Treiben wiedersehen? In Seligkeit? In Qual? Dort drüben steht noch im Schaufenster der Musikalienhandlung ihr und sein Bild und zwischen ihnen der »Liebestod«. Sie entsinnt sich genau des Zitterns, das sie überfiel, als sie am Heiligabend den Titel las … »Liebestod«. Sollte es Wahrheit werden? Wird sie ihn jetzt schon sterben müssen, den »Liebestod«? »Schneller, noch schneller! immer schneller!« Das eine ist ihr klar … noch glaubt sie an ihn, noch traut sie ihrem Stern. Hält sie aber den unumstößlichen Beweis seiner Schuld in Händen, fällt ihr Glück in Scherben und Trümmer, dann weiß sie, was sie tut. Dann hat sie dem Ungeheuer Leben in die gräßliche Fratze gesehen. Dann wirft sie es weg, weil es ekel und schal und sinnlos vor ihr liegt, dann …
Der Wagen biegt endlich in eine kleine Seitengasse und strebt seinem Ziele zu. Constanze fährt ihrem Schicksal entgegen.
Währenddessen hat Sigmund Freystätter, wie alle Nachmittage, fleißig an der Biographie Richard Assings gearbeitet. Plötzlich sieht er nach dem Kalender, auf dem »sechs bis sieben« vermerkt steht. Er schließt die Mappe, und auf weiten Umwegen schlendert er langsam der kleinen, dunklen Gasse zu, um über Richard Assings Leben vielleicht Neues zu erfahren durch Herrn Christoph Sebastian Gerum.
Der in einem uralten Hause gelegene Laden, in welchem Herr Gerum seit fünfundzwanzig Jahren sein Papiergeschäft mit stetig wachsendem Erfolge betrieb, zeichnete sich wegen der Enge der Straße weniger durch Helligkeit als Geräumigkeit aus. Neben der Eingangstür, zu welcher einige Stufen hinaufführten, lag das Schaufenster, von zwei immer brennenden Gasflammen beleuchtet, in dem die Firma all ihre Schätze verlockend ausgebreitet hatte: Schulhefte und Schulbücher, Schreibfedern und Bleistifte, Tintenflaschen, Kalender und Musikmappen, Postkarten mit weniger ähnlichen als huldreich blickenden Porträten der Mitglieder des Hofes, der Bühnensterne und namentlich der berühmten Komponisten, Notiz- und Gebetbücher, Gratulationen zum Neujahr, zu Taufen, Verlobungen, Hochzeiten, Jubiläen, Entlobungen, Scheidungen und Todesfällen und gewissermaßen als Krönung des Ganzen: der Stolz des Hauses, das berühmte Notenpapier. In ganzen Stößen lag es aufgeschichtet, dieses weiße, schön liniierte und mit dem Stempel der Firma versehene Papier. Und auch die sauber gestrichenen Regale des gleichfalls stets künstlich erhellten Ladens waren ausgepolstert mit allen gangbaren papierenen Artikeln, unter denen naturgemäß die liniierte Erfindung des Herr Gerum die herrschende Rolle spielte. Die mit einem geblümten Kattunvorhang gezierte Glastür führte vom Laden in die aus einigen nach dem Hofe liegenden Zimmern bestehende Wohnung, in welche sich wohl noch nie ein Sonnenstrahl verirrt hatte. Im ersten, sich an den Laden anschließenden Raume stand, aus Großväterzeit stammend, der bauchige Mahagonischreibtisch mit dem geschweiften Lehnstuhl und neben dem schwarzledernen Familiensofa ein kleiner eiserner Geldschrank, welcher Zeugnis ablegte von der sich immer mehrenden Wohlhabenheit des Besitzers. Die Wände zierten eingerahmte Photographien einiger Komponisten und Theaterleute, und zwischen den beiden schmalen Fenstern paradierte, von der über dem Schreibtisch hängenden Petroleumlampe erhellt, das große Bild von Richard Assing. Unter der eigenhändigen Widmung »meinem Freunde und Vertrauten Christoph Sebastian« tummelte sich auf dem aufgeklebten Gerumschen liniierten Papier ein lustiges Volk von Notenköpfen, welche auf- und absteigend, sich überpurzelnd, haschend und meidend, ihr nur dem Eingeweihten verständliches Wesen trieben.
Herr Gerum, der in diesem Raume sehr erregt auf und ab schritt, hier noch ein bißchen Ordnung auf seinem Schreibtisch machte und dort den Staub von den Bildern wischte, hatte nicht lange auf den angekündigten Besuch zu warten.
Die Glocke an der Eingangstür schlug an und gluckste und trillerte noch lange nach. Constanze, von dem vollzählig versammelten Personal des Hauses, einer buckligen alten Verkäuferin, geleitet, trat in Herrn Gerums Arbeitszimmer, dessen Tür er sorgfältig verschloß, um jede Störung zu vermeiden. Der Buchbinder sah Constanzens Erschöpfung und bat sie auf dem Schwarzledernen Platz zu nehmen. Und während sie willenlos seinem Vorschlag folgte, plauderte er:
»Schaun's, gnä' Fräulein, wie oft hat dort der Herr Vater söllig g'sessen, wie oft hat er mir sein Leid 'klagt … wie oft …«
»Ich bitte Sie, Herr Gerum, Sie sehen ja, daß ich am ganzen Körper fliege … geben Sie mir nur Gewißheit … dieses Hoffen und Zweifeln ertrage ich nicht mehr … ich kann's nicht mehr ertragen!«
»Wie's wollen, Fräulein,« erwiderte er, indem er zu dem kleinen Geldschrank schritt, »wollen's auch wirkli' alles sehen? … Alles?«
»Alles! … nur schnell! … nur schnell!« und sie warf ihren Mantel ab.
»Dös sag' i Ihnen glei',« ermahnte Herr Gerum und schloß langsam den Schrank auf, »Kurasch' müssen's hab'n … aber Sö san ja an forsches Frauenzimmer!«
Er öffnete ein Geheimfach, in dem er seine Wertpapiere, alten Schmuck, die Geschäftsbücher, Tauf- und Trauschein verwahrte, und nahm zwei ungewöhnlich große Mappen heraus, die er sehr umständlich und feierlich mit einem kleinen Schlüssel aufschloß und auf den Schreibtisch hinlegte.
»Wann's a bisserl herspazieren möchten, Fräulein, hier hätten's dös beste Licht. Schaun's,« sagte er zu Constanze, die sich bis zu dem alten Lehnstuhl schleppte und dort Platz nahm, »hier san d' Briefe vom Herrn Vater, da fehlt auch net dös kloanste Zetterl. San alle numeriert und nach dem Datum g'ordnet. Mögen's selber lesen, oder soll i's Ihne' lieber vorlesen?«
Constanze ergriff die Blätter, und als sie die Handschrift ihres Vaters erblickte, zitterte sie heftig; sie fühlte, wie ihr alle Pulse flogen, sie sah, wie ihr die Zeilen und Buchstaben vor den Augen tanzten und verschwammen, und indem sie sich im Stuhl zurücklehnte, murmelte sie:
»Ich kann nicht … ich kann nicht!«
Herr Gerum, nun ihr gegenüber, kramte in den Blättern hin und her, unter denen er eine Auswahl traf, setzte sich die schwarze Hornbrille auf und begann unter dem Schein der Hängelampe, indem er mit sichtlicher Anstrengung das Hochdeutsche wiedergab:
»16. März 85.
Lieber Gerum! Ich komme heute abend nicht in die ›Löwengrube‹; endlich bin ich in der richtigen Arbeitsstimmung und darf sie nicht zerreißen. Schicken Sie mir durch Frau Schwabenmeyer einen tüchtigen Stoß Notenpapier. Nach langem Grübeln und Ueberlegen soll es doch bei dem Titel bleiben, von dem ich zu Ihnen sprach: ›Die Sieger‹.
Treuer Handschlag. Assing.«
Herr Gerum blickte über die Brille zu Constanzen hinüber, die mit geschlossenen Augen im Stuhl lag; aus ihrem Gesicht war alle Farbe gewichen. So glich sie einer Toten.
»14. Juni 85.
Heute nicht wohl … komme abends nicht. Erwarte Sie morgen. Gedicht endgültig fertig. Spiele Ihnen dann noch einmal Introduktion vor, den Aufruhr des Volkes und den Auftritt der Königin. Alles gut gelungen. Bin zufrieden.
A.«
»23. September 85.
Lieber Verschworener! Kommen Sie heute noch. Der erste Akt ist abgeschlossen. Allerdings leere Stelle, wenn die Königin nicht da ist. Aber Finale, glaube ich, gut gesteigert mit der Frauenstimme, die die Herrschaft über Solisten, Chor und volles Orchester gewinnt, müßte vortreffliche Wirkung haben, wenn … wenn ich eben nicht hieße
Richard Assing.«
Dann murmelte Herr Gerum einige Sätze, legte ein paar Blätter beiseite und fügte erläuternd hinzu:
»Wissen's, gnä' Fräulein, dös san nur Zetterln ohne Bedeutung und ohne Bezug auf d' ›Sieger‹.« Er las weiter:
»30.9.85.
Lieber Braver und ewig Verschwiegener! Es ist mir doch lieber, wenn Sie mir den ersten Akt gleich binden, graue starke Pappe genügt. Ich hab's dann besser beieinand. Also holen's die Geschichte noch heute ab. Und dann können's auch gleich all die Konzepte wieder mitnehmen, damit ich Sie alten Quälgeist nur endlich 'mal loswerde. Es hat sich ein ganz hübscher Posten wieder angesammelt. Und wenn wir gute Freunde bleiben sollen, quälen Sie mich nicht! Ich schreib's nicht für die Welt, ich schreib's nur für mich. Von der Seele will ich's haben, und wenn ich fertig bin, dann will ich mich zur Ruhe legen.
Er hörte von drüben leises Stöhnen. Constanze lag noch in derselben Stellung mit geschlossenen Augen.
»I moan halt, Fräulein, für heut' lassen wir's lieber gnu' sein.«
»Weiter! weiter!«
»Jetzt gibt's a lange Paus'n in der Briefschaft … der Herr Professor kam regelmäßig alle Abend in d' ›Löwengrube‹ und hat mir dann alles mündli' g'schafft.«
»24.8.86.
Lieber Christoph Sebastian, wackerster aller Buchbindermeister! Kommen's heut' abend nicht so spät, so schon um halber sieben. Das große Liebesduett im zweiten Akt sollen's hören. Ich werd' sicher ein bis anderthalb Stunden spielen müssen … 's ist lang geraten … ich hab' mir da eine eigene Art der Instrumentation zurecht gemacht. Alles flimmert und glitzert und zittert im Orchester. Ach, Gerum, könnt' ich das von meinem Stanzerl hören … alles Leid und Weh würd' ich vergessen! Also halb sieben.
Richard Assing.«
Constanze ist aufgesprungen, sie hat ihm das Blatt aus der Hand gerissen. Sie überfliegt die Zeilen noch einmal und stürzt dann mit herzzerreißendem Schluchzen auf das Sofa.
Der alte Handwerker zeigt sich der ungewohnten Situation gewachsen; mitleidig streichelt er Constanze mit seiner schwieligen Hand das Haar. Er weiß ja nicht den wahren Grund ihrer Verzweiflung. Er ahnt ja nicht, daß in diesem Augenblick das Leben dieses schönen, genialen Mädchens zerbricht und in Trümmer sinkt; er glaubt, daß der Schmerz um den Vater und der nichtswürdige Raub, der an seinem Werk begangen wurde, ihr alle Fassung raubt, und er sucht sie mit so armseligen und ergreifenden Worten zu trösten:
»Diesertwegen, gnä' Fräulein, geht d' Welt a net unter … diesertwegen blab'n Sö do d' berühmte Stanzerl Assing … gelt? … A recht a z'widere G'schicht is scho … dös geb i zu … daß Sie und all die studierten Herr'n sich haben so an der Nasen herumziehen lassen. So a Bazi! So a Lump, so a Haderlump, so a ganz a schlechter, ganz verdächtiger. Der Bursch' muß abi vom Zetterl und der Herr Vater muß draf … und somit is d' Gaudi aus … net wahr, Fräulein … und i bitt' Ihne recht schön, hören's jetzt a mal a'f mit Woanen! Dös hat ja gar ka' Zweck net, dös bedeut' ja nixen … dös …«
Sie hört nicht all diese hilflosen und doch so rührenden Worte, sie schluchzt nur leise vor sich hin, und während er immer weiter und weiter spricht und dann die Quelle seiner Tröstungen endlich zu versiegen beginnt und immer spärlicher sickert, denkt sie nur an eins: an das Ende! Ein Ende machen … nur schnell … ohne Besinnen … noch heute … in der nächsten Stunde. Die Isar ist tief … sie steht allein, sie tut niemand weh … ja, noch heute … nur ihn nicht mehr wiedersehen, ihn, dem sie alles gab, und der ihr Herz mit Füßen trat. Nun ist sie ihn gestorben, den Liebestod. Die Raben vom Walchensee flattern wieder auf. Ja, noch heute … Sie hat keinen Mut mehr, zu leben, aber sie wird Mut haben, zu sterben. Sie greift nach dem Mantel. Der Alte begreift, packt sie an der Hand und wehrt ihr den Ausgang. Sie sinkt auf den Stuhl und starrt in die vor ihr liegenden Schriftzüge ihres Vaters. An der Eingangstür schellt die Glocke und meldet lange gluckernd und trillernd einen Kunden. Herr Christoph Sebastian schaut durch den geblümten Kattunvorhang: wahrscheinlich ein Schulbub', der ein paar Federn kaufen, oder ein Backfisch, der eine Postkarte mit dem Bild der Assing erstehen will; er sieht nochmals hinaus, blitzschnell schließt er die Glastüre auf und verschwindet im Laden. Constanze hat die Glocke nicht gehört. Sie starrt noch immer in den Brief und liest:
»Das Es-Dur-Thema auf Seite 134 geht mit den chromatischen Terzen in C-Moll über bei den Worten: ›Nur mit dem Tode kann uns're Liebe enden‹. Bitte den beifolgenden Zettel Nr. 9 b genau an der betreffenden Stelle einzukleben.«
Sie kennt diese Stelle, die ergreifendste und rührendste des ganzen Werkes! Wie hat sie diese Weise geliebt, wie hat sie ihm, den sie für den Schöpfer hielt, für diesen süßen Zwiegesang mit heißen Küssen gedankt! Wie oft hat sie unter seinen zärtlichsten Liebkosungen ihm selig und heimlich die Worte zugeflüstert: »Nur mit dem Tod kann uns're Liebe enden!« Vorbei, vorbei! Sie horcht auf, sie lauscht, sie hört durch die nur angelehnte Glastür eine Stimme, die sie kennt, die sie so oft in jugendlich harmlosem oder künstlerischem Geplauder gehört, die ihr von treuer, ewiger, hingebungsvollster Liebe sprach und um Erhörung bettelte … ja, sie kennt diese Stimme, die ihr, als sie sie das letztemal hörte, drohend und empört zugerufen hat: »Fräulein Assing!« Das erträgt sie nicht, das nicht … warum ist nur das Schicksal so grausam, so unerbittlich und verlangt Vergeltung? … Warum? … Warum? Sie eilt zur Tür, die zu des Buchbinders Wohnung führt; sie ist verschlossen. Sie will durch das Fenster entschlüpfen; es ist vergittert. Sie ist gefangen, ist machtlos. Der Atem steht ihr still. Ihr Blick fällt auf des Vaters Bild, das von der Lampe grell beleuchtet ist, sie reißt es herunter. Deutlich entziffert sie unter den ihr nur allzu vertrauten Notenköpfen von seiner Hand: »Haltet ein! Lasset diesen Frevel nicht gescheh'n!« Sie hält sich am Lehnstuhl fest. Auch der letzte schwache Strohhalm, an den sie sich anklammerte, versinkt. Auch der letzte Funke Hoffnung verglimmt, daß er schuldlos ist, er, an den sie mit allen Fasern hing, dem sie vertraute mehr als sich selbst. Jetzt hat sie die Gewißheit, die furchtbare, niederschmetternde, grausige Gewißheit, daß er ein Nichtswürdiger ist. Sie hört die beiden draußen noch immer leise sprechen. Die Stimmen nähern sich der Glastür, sie wird geöffnet. Ein Entrinnen ist nicht mehr möglich. Mit Herrn Gerum tritt Sigmund Freystätter in das kleine Zimmer. Constanze und der »Spezi« stehen sich gegenüber. Sie hebt die Augen, sie sieht nicht in ein triumphierendes, sie sieht in ein ernstes, unendlich trauriges, unendlich mitleidiges Gesicht, mit wildem Aufschrei stürzt sie ihm entgegen:
»Spezi! helfen Sie mir! Retten Sie mich! Vergessen Sie alles, alles, was ich Ihnen zugefügt habe! Retten Sie mich! Haben Sie Erbarmen mit mir! Retten Sie mich!«
Dann, auf das Bild deutend, ruft sie ihm zu:
»Da! da! lesen Sie! lesen Sie!« Sie sinkt in den Lehnstuhl und beugt schluchzend den Kopf auf den Schreibtisch.
In dem kleinen Raume, in dem nur harmlose, fröhliche, pflichttreue Menschen ihr bescheidenes Dasein absponnen, und in dem zum ersten Male im verzweifelten Aufruhr ein gequältes und zertretenes Herz um Hilfe fleht, herrscht tiefe Stille; man hört nur jemand, der ein Liedchen trällernd, langsam, über den dunklen Hof schlenderte.
Endlich begann Herr Gerum:
»Gnä' Fräulein dürfen mir scho' net gram sein, daß i mir den Herrn Doktor z' Hilf' g'rufen hab'. Aber i hab' mi' ka' Rat nimmer g'wußt, und weil i woaß, daß der Herr Doktor Ihne von Jugend an kennt, da hab' i's ehm verzällt, die ganze Masuri … und dös is a g'scheiter Ma', der wird schon alles wieder in d' Reih' bringen. Gelt, Herr Doktor?«
Freystätter warf ihm einen freundlichen Blick zu; Herr Gerum verschwand in seinen Laden. Der »Spezi« und Constanze waren allein.
Endlich hebt sie den Kopf, und voll Entsetzen und Erbarmen sieht Sigmund Freystätter in ein fremdes, um viele Jahre gealtertes Gesicht. Die Weichheit der edlen Züge ist verwischt, die Anmut, die leuchtende, vertrauende, siegreiche Schönheit der Jugend ist verwelkt; das Schicksal hat seine unauslöschlichen Zeichen eingegraben. Sie reicht ihm die Briefe des Vaters hinüber, dann läßt sie die Arme schlaff sinken und murmelt nur: »Was nun?«
»Sie wissen, Constanze, daß ich Ihnen zur Verfügung stehe. Sagen Sie mir, was Sie zu tun beabsichtigen … ich werde für Sie handeln!«
Sie hat geglaubt: er würde sie mit Vorwürfen überhäufen, er würde den Triumph auskosten, daß seine Ahnungen in Erfüllung gingen. Nichts von alledem! Sie hört ihn wieder in derselben innigen Freundschaft sprechen, wie er damals zu ihr sprach, als seine Neigung zu ihr emporblühte und erstarkte. Sie fühlt, da ist ein Mensch, der dir raten, dir helfen, dich stützen wird, der noch heut' sein Leben für dich hingeben, der dich zur Klarheit und zum Frieden führen wird.
»Was wollen Sie tun?« wiederholte er.
»Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht!«
»Kein Zweifel an seiner Schuld? Auch nicht der leiseste?« forschte er lebhafter.
»Kein Zweifel!« erwiderte sie müde.
»Herr Gerum sprach von ungefähr fünfhundert Notenblättern, die in seinem Besitz seien?«
Stumm wies sie auf die zweite Mappe.
Freystätter setzte sich ihr gegenüber hin am Schreibtisch und begann in diesen Blättern zu lesen. Und je länger der so feinfühlige und so begabte, sachverständige Musiker las, desto mehr schwoll die Zornesader auf seiner Stirn, desto öfter tönte es zu ihr herüber:
»Infam! infam!«
Und dieses so unansehnliche Gesicht von gedrückter Häßlichkeit, aus dem nur ein paar sehr kluge und sehr gütige Augen leuchteten, wurde veredelt und verschönt durch die grenzenlose und flammende Erbitterung. Er wußte, daß Constanze diesen Menschen geliebt hatte, ihn vielleicht noch liebte, und trotzdem er sich alle Mühe gab, sie nicht zu verletzen und ihr Gefühl zu achten, schnellte es ihm immer wieder, während er weiter las, von den Lippen:
»Infam! infam! Sie haben recht … es ist kein Zweifel mehr … er ist ein … ein …,« aber er zögerte das Wort auszusprechen.
»… Schurke!« sagte Constanze mit ein wenig zitternder Stimme, aber in diesem einen Wort lag eine Welt von tiefem Ekel, von unsäglichem Haß und unermeßlicher Verachtung.
»Sehen Sie nur hier!« rief er in immer steigender Lebhaftigkeit, und in ihm regte sich der Gelehrte und der Künstler, der einem schwierigsten musikalischen Problem auf den Grund sehen will. Er trat neben sie, die noch im Lehnstuhl saß, und legte die Blätter hin, die ihnen einen tiefsten Einblick gewährten in die Werkstätte dieses großen und verkannten Geistes: »Ein beispielloser Betrug! … sehen Sie nur … Sie kennen ja die Partitur Dupatys so genau wie ich … sehen Sie nur, vergleichen Sie nur, wie hier Urschrift mit eigenem verwoben ist, wie er sich dem Charakter des Vorbildes anzuschmiegen wußte, mit welch verblüffender und wirklich bewunderungswürdiger Geschicklichkeit er durch Umstellungen und Transponierungen sich selbst zu täuschen versuchte und sich wahrscheinlich in die fixe Idee verrannte, selbständig gearbeitet zu haben. Sie haben recht, Constanze: ein Schurke, aber ein genialer Patron!«
So saßen sie lange … lange, wie zwei Aerzte, die einen wundervoll geformten Körper sezieren und alle Organe prüfen und alle Nerven bloßlegen und sich nicht losreißen können von dem Reize, der ihnen die verborgensten Geheimnisse der Natur entschleiert. Sie lasen lange … lange … mit dem scharf durchdringenden Blick des Kenners … Die Blätter zitterten und flogen in ihren Händen … sie lasen und lasen … dann legten sie die Blätter hin und beide sprachen schweigend das Todesurteil über Camille Dupaty.
Freystätter öffnete die zum Laden führende Tür, in dem sich Herr Gerum noch immer emsig zu schaffen machte, und bat ihn noch um kurze Geduld.
Und in diesem Augenblick des Alleinseins flogen Constanzens Gedanken unwillkürlich eine weite Strecke zurück, und sie mußte diesen kleinen Raum vergleichen mit dem gleichfalls hinter dem Laden liegenden engen Glasverschlag in der Kaufinger Gasse, in welchem Frau Ralchen, das gute verschrumpelte Frauchen, so herzbewegend für ihren Jungen gebettelt hatte.
Freystätter kam zurück. Er ging in dem Zimmer auf und ab und sagte dann stehenbleibend:
»Ich wiederhole: was wollen Sie tun?«
»Ich weiß es nicht!«
»Ich will es Ihnen sagen, Constanze. Sie haben eine heiligste Pflicht zu erfüllen. Sie haben das Andenken Ihres Vaters zu retten. Mit allen Mitteln und ohne jede Rücksicht. Sie müssen in Gegenwart von Zeugen – vielleicht erweist Ihnen Manner diesen schweren Dienst – Sie müssen diesen Menschen zwingen, seinen Frevel öffentlich einzugestehen. Sie müssen ihm die Larve vom Gesicht reißen.«
»Ich kann ihn nicht wiedersehen … niemals, niemals!«
»Sie müssen ihn zwingen … und wenn Sie sich weigern, werde ich es tun! Am nächsten Sonntag wird und muß auf dem Zettel stehen: ›Die Sieger von Richard Assing‹. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«
Constanze stand auf, sie ging an das vergitterte Fenster und schaute lange in den dunkeln, verschneiten Hof. Dann murmelte sie:
»Ihn wiedersehen? Unmöglich! unmöglich!«
»Fürchten Sie sich vor ihm? Glauben Sie, daß er Ihnen ein Leid antut?«
»Er kann mir kein größeres mehr zufügen, als er mir angetan hat. Daß er mir das Leben nimmt? Es wäre wahrhaftig nicht das schlimmste! Es wäre das beste!«
»Constanze!« drängte er immer weiter, »hier steht die Ehre eines Toten, den wir beide innig geliebt haben, auf dem Spiel. Nicht einen Tag, nicht eine Stunde darf ihm der Ruhm vorenthalten werden, der ihm gebührt, und den ihm der andere ruchlos gestohlen hat. Entschließen Sie sich: noch morgen müssen Sie mit ihm sprechen, und wenn Sie es nicht tun, so klage ich ihn übermorgen vor aller Welt des niederträchtigen Diebstahls an! Hier ist keine Zeit zu verlieren. Ja oder nein?« und er stand dicht vor ihr.
»Ich werde morgen mit ihm sprechen!«
»Und Sie werden sich nicht von ihm betören lassen? Sie werden ihn zwingen, unweigerlich zwingen, seinen schändlichen Raub einzugestehen?«
»Ich werde ihn zwingen!«
»Soll ich Manner als Zeugen rufen?«
»Nein!«
»Soll ich Ihnen einen Rechtsbeistand besorgen?«
»Nein!«
»Oder soll ich Ihnen zur Seite stehen?«
»Ich brauche keinen Schutz … ich allein werde ihm das Geständnis abringen!«
»Ihr Wort?«
»Mein Wort!«
Freystätter öffnete die Glastüre:
»Herr Gerum, darf ich Sie vielleicht bitten? Wollen Sie mir für kurze Zeit diese beiden Mappen anvertrauen? Ich bürge Ihnen dafür, daß Sie sie in wenigen Tagen unversehrt zurückerhalten.«
Herr Gerum zögerte:
»Ja, Herr Doktor, wann i mi' von den Sach'n trenn', die i g'hütet hab' wie mein' Augapfel, so wäre doch die einzige Person, der ich's gebet, das Fräulein?«
»Gewiß, lieber Freund, aber in diesem Falle sind sie in meinen Händen am sichersten. Fräulein Assing, erklären Sie sich damit einverstanden?«
»Ja!«
»Constanze, merken Sie wohl auf: wenn er sich weigert, seine Schuld einzugestehen, wenn er droht, sich verteidigt oder Sie überlisten will, wenn er nicht einwilligt, daß sein Name als Schöpfer des ›Liebestod‹ für alle Zeit verschwindet, und daß Ihnen allein als der Tochter alle Rechte an dem Werke gehören, so sagen Sie ihm, daß ich dann übermorgen alle diese Beweise und Noten faksimiliert in der Zeitung erscheinen lasse! Ja, mein lieber Herr Gerum, Ihnen zu danken, vermag Fräulein Assing nicht, aber das Bewußtsein einer großen und edlen Tat muß Sie Ihr Leben lang erfreuen und erheben. Ja, lieber Freund, jetzt gibt's kein Zurück mehr, jetzt vorwärts und durch!«
»Es ist spät geworden, Constanze,« sagte Freystätter dann, indem er ihr den Mantel umlegte, und während Herr Gerum nach einem Fiaker pfiff, fügte er hinzu: »Sie brauchen Ruhe und Kraft für morgen! Ich stehe Ihnen von morgens bis abends zur Verfügung. Ich werde mich den ganzen Tag in dem Café, das neben Ihrer Wohnung liegt, aufhalten, damit ich sofort zur Stelle bin, wenn Sie mich brauchen.«
Freystätter ergriff mit Mühe die beiden schweren Mappen und verabschiedete sich am Wagen von Constanzen.
Und jedes von beiden strebte, in düstern Gedanken ganz versponnen, seinem Hause zu.
Mei Sig! Wo bleibst doch? Halbtot hab' i mich schon g'ängstigt. Is' was g'schehn? Wo warste? Warum siehste so bleich aus? Is Dir was Unangenehmes passiert? Haste scho' Abendbrot 'gessen? Ganz verbraten is alles!« Mit all diesen Fragen, deren Beantwortung sie gar nicht abwartete, empfing Frau Ralchen vor der Tür ihrer Wohnung auf der Treppe ihren Sohn.
»Ich hatte zu tun, liebste Alte. Wir hatten eine Sitzung …«
»A Sitzung? Was for ä Sitzung? Haste Hunger? Vor allem zieh' Dir nur die nassen Stiefel aus. Und den Rockkragen haste auch wieder net in d' Höh' g'schlag'n. Ma' hat sei' Kreuz mit die Kinder! I lass' Dir auf alle Fäll' ä Wärmflasch' ins Bett leg'n. Und was für große Mappen sind das? Biste plötzlich ä Rechtsanwalt g'worden?«
»Wichtige Papiere. Schick' mir bitte das Abendessen 'nauf. Ich habe heut noch lang' zu arbeiten. Gut' Nacht, Muttchen!«
»Gute Nacht, mei Sig!«
Und während er in sein Arbeitszimmer hinaufstieg und sich's bequem machte, schmiedete Frau Ralchen ein schauerliches Komplott mit Veilchen, der Köchin, gegen den Ahnungslosen: von morgen an würde nur so wenig Petroleum in die Arbeitslampe von Sig gegossen, daß sie unweigerlich um spätestens zehn Uhr ausgehen müsse. Bald darauf brachte Veilchen, die augenscheinlicherweise mal wieder an einer ganz unerwartet geöffneten Tür erkrankt war, das unter Frau Ralchens Aufsicht zusammengestellte Abendessen, dessen Reichhaltigkeit so ungefähr genügt hätte, einem Dutzend Menschen den Magen gründlich zu verderben. Aber »mei Sig« schenkte in grenzenloser Undankbarkeit Veilchens Kochkunststücken wenig Beachtung und hatte sich in die nochmalige Lektüre der Assingschen Briefe vertieft, und da seiner alten Eltern Schlafzimmer im ersten Stock weit entfernt nach dem Hof hinaus lag und das Haus sonst unbewohnt war, störte er niemand, als er sich an den Flügel setzte und die enggeschriebenen Notenblätter durchspielte, die Richard Assing dem alten Buchbinder geschenkt. Als er in der Morgenfrühe nach achtstündiger Arbeit mit heißem Kopf endlich Kerzen und Lampe löschte, mußte er sich wiederholen, was er schon bei der ersten Durchsicht Constanzen gesagt hatte: es sei unfaßbar, daß dieser Patron, der zweifellos selbst reich begabt war und mit Energie und Fleiß selber einmal etwas Schönes hätte schaffen können, in wahnwitziger, ungeduldiger Ruhmsucht sich des genialen Lehrers Arbeit bemächtigt hatte, die ihm aus des großen Toten Nachlaß mühelos in den Schoß gefallen war. Und mit dem festen Entschluß ging Freystätter endlich zur Ruhe, die Assingsche Partitur dem Burschen zu entreißen, koste es, was es wolle.
Der von Herrn Gerum zurückkehrenden Constanze meldete die Jungfer: Herr Dupaty sei im Laufe des Nachmittags zweimal dagewesen; er sei, da sie ihm nicht habe sagen können, wohin das gnädige Fräulein plötzlich gefahren wäre, und wann sie zurückkehren würde, sehr ungeduldig und schließlich sehr ärgerlich fortgelaufen.
Ob Herr Dupaty gesagt habe, wann er morgen käme? Um zehn Uhr morgen früh.
Ebenso wie Freystätter berührte Constanze nur wenig von dem ihr sehr verlockend servierten Abendessen. Die Jungfer möge sich schlafen legen, sie brauche nichts mehr. Und nun war sie allein! ganz allein! In denselben Räumen, in denen sie so unsäglich glücklich gewesen, und vor denen sie jetzt in namenlosem Gram und in Erinnerung an das genossene und nun verlorene Glück Grauen empfand. Der »Liebestod«! Sie warf sich in ihren großen Lieblingssessel, auf dessen Lehne er so oft gesessen und … es duldete sie nicht. Sie sprang auf, da stand der Flügel, dem er so oft wundervolle Töne entlockt … vorbei, vorbei! Sie ging durch die Zimmer, in denen jeder Stuhl und Schrank, jedes Buch und Bild sie an ihn erinnerte, vorüber, vorüber. Sie eilte ans Fenster und starrte hinaus in die kalte Schneenacht und mußte daran denken, wie sie damals am Heiligen Abend auch hier gestanden, und wie sie ihn sehnsüchtig noch vor einigen Tagen in der Morgenfrühe erwartet hatte, um mit ihm nach Partenkirchen zu fahren, und warf sich wieder in einen Sessel und sprang wieder auf, und dachte daran, daß er nur noch einmal morgen hierherkommen würde … das letztemal! Sie stand still und starrte vor sich hin: sollte sie ihn überhaupt noch annehmen? Würde sie der Ekel nicht übermannen? Würde ihr nicht der maßloseste Zorn über die verübte Büberei alle Besinnung rauben? Wozu ihn noch einmal sehen, diesen Menschen, den sie geliebt, dem sie alles war: Genossin, Freundin und Geliebte … wozu diesen Menschen noch einmal sehen in seiner ganzen schmachvollen Erbärmlichkeit! Wozu? wozu? Und dennoch … dennoch! Nicht ihm ist sie's schuldig, dem Vater und sich selbst! Ja, sie wird ihr Versprechen halten, das sie dem Spezi gab, unweigerlich halten und ihn zwingen, seine Schuld einzugestehen. Sie wird ihn zwingen, ohne Widerspruch einzuwilligen, daß sein Name als Schöpfer des »Liebestod« für alle Zeit verschwindet … gewiß, gewiß! Aber sie will auch ihn hören, seine Verteidigung, seine Rechtfertigung … denn unfaßbar ist's und unmöglich, daß er nicht auch Gründe anführen wird, die ihn entschuldigen, die seinen Frevel verständlicher machen. Er scheidet aus ihrem Leben für allezeit, aber sie hofft doch noch immer, daß er ihr, wenn sie ihn gehört, in vielleicht milderem Licht erscheinen wird, so daß sie nicht nur in Ekel und Verachtung, sondern auch in Mitleid und Erbarmen an ihn zurückdenken kann. Und wenn er morgen in rasender, hilfloser Wut die Tür hinter sich zuschlagen wird, so bleibt sie allein mit ihrem Leid, und an der Kette, die er ihr umgelegt, wird sie ihr Leben lang schleppen … Sie weiß es, sie fühlt es, daß ihre Liebe zu ihm gestorben ist, daß jedes zärtliche Gefühl aus ihrem Herzen gerissen ist … der Liebestod! … Aber sie wird … es nützt alles nichts … ihr Leben lang an dieser Kette schleppen, die einst aus Rosen gewunden, jetzt aus Eisen geschmiedet ist … an diesem unaustilgbaren, niederschmetternden, erniedrigenden Bewußtsein, daß ein Unwürdiger sie zum Weibe gemacht! … Und wenn er auch nicht so schamlos sein wird, sich der genossenen Gunst zu rühmen … es wird doch durchsickern, und das Gerücht wird wachsen und wird durch alle Gassen laufen, und die Menschen werden sie nicht mehr mit der Achtung behandeln wie bisher … Und wieder durchzuckt es sie. Das Ende! … schnell ein Ende machen … jetzt, gleich … Ja, ganz recht, sie hat keinen Mut mehr zu leben, aber sie wird den Mut haben zu sterben. Sie geht an den Schreibtisch, um den Abschiedsbrief zu schreiben, den Brief, der ihre Tat erklärt und entschuldigt, und sie sieht in diesem Augenblick, wie grenzenlos allein sie ist mit ihrem Ruhm und all ihren Triumphen. An wen? An Manner? Ihm, dem Fremden, ihr keuschestes Geheimnis verraten? … Nein … nein! … An den Spezi, ihm zum Dank für alles noch sagen, daß der Erbärmlichste nicht nur dem Vater das Werk, sondern ihr auch die Ehre raubte? Sie sann und sann, und mit der Feder in der Hand blickte sie auf den Teppich, und wieder tönten ihr Freystätters Worte im Ohr. Sie warf die Feder hin … ja, er hat recht … erst dem Toten zu seinem Recht verhelfen, dann wird sie sich aus dem Leben stehlen, dann … dann! In wenigen Stunden wird er vor ihr stehen. Constanze hob den Kopf und wiederholte die Worte, die sie in dem kleinen Zimmer des Herrn Gerum gehört hatte: »Jetzt gibt's kein Zurück mehr … jetzt vorwärts und durch!«
Camille Dupaty, der den Unmut über seine zweimaligen vergeblichen Nachmittagsbesuche in lustiger Nachtgesellschaft vergessen hatte, blieb am nächsten Morgen lange in den Federn, und erst nach und nach kam ihm das Auffallende des gestrigen Vorgangs wieder zum Bewußtsein. Constanze habe, wie die Jungfer erzählte, den Besuch irgendeines sehr drollig aussehenden Herrn empfangen, sei dann plötzlich fortgefahren, ohne eine Silbe für ihn zu hinterlassen, und war nach Stunden von diesem sonderbaren Ausflug noch nicht zurückgekehrt. War's eine allerliebste Weiberlaune? eine Grille? eine plötzliche Einladung? Aber warum hatte sie ihm nicht ein aufklärendes Wort, einen Gruß, eine Zeile zurückgelassen? Ach was, mein lieber Camille, wir wollen uns nicht den Kopf zerbrechen, wir erfahren das noch früh genug – und er legte sich noch einmal auf die andere Seite. Als er dann endlich nach Bad und Frühstück den Händen des Friseurs und des Kammerdieners entschlüpft war, bemerkte er zu seinem nicht geringen Schrecken, daß es halb zwölf geworden war, und daß es das richtigste sei, den wahrscheinlichen Groll der jungen Dame durch einen besonders schönen Strauß dunkler Rosen zu besänftigen. Und als er noch einmal den Gesamteindruck vor dem Spiegel prüfte, sagte er sich mit vollem Recht, daß er doch eigentlich ein bildschöner und verführerischer Mensch wäre. Und diese seine Ansicht wurde, als er mit der Zigarette durch den mit Koffern und Schuhwerk bestellten Hotelkorridor ging, von dem hübschen Stubenmädchen in vollstem Umfange geteilt, denn sie blickte ihm lange und mit tiefem Seufzer nach. Aber unterwegs änderte er das Programm und sagte sich, daß er wegen der ihm gestern zuteil gewordenen schnöden Behandlung den Beleidigten spielen und dann den süßen Reiz der endlichen Versöhnung um so mehr genießen würde. Gegen zwölf Uhr trat er ohne Rosenstrauß in den Salon und setzte sich, da Constanze noch nicht sichtbar war, an den Flügel, um ihm mit seinem meisterhaften Spiel herrliche Töne zu entlocken. Er ahnt nicht, daß das Mädchen, dessen Liebe er sich sicher wußte, im Schlafzimmer mit der Türklinke in der Hand steht, daß ihr das Blut im Kopfe hämmert, daß sie sich nach dem Herzen greift, da es zu zerspringen drohte, daß sie immer wieder zaudert, die Tür zu öffnen, daß sie immer wieder zögert, den furchtbaren Anblick zu ertragen. Endlich aber wirft sie Ekel und Verachtung und Furcht von sich und tritt ein. Alles Blut ist ihr zum Herzen geströmt, ihre so schönen und edlen Züge scheinen wie aus Marmor gemeißelt.
Er ist ganz in sein Spiel vertieft und bemerkt sie noch nicht. Und plötzlich tönt es ihm scharf und kalt entgegen:
»Ich verlange die Zurückgabe der Partitur der ›Sieger‹ in einer Stunde!«
Er springt auf, und urplötzlich stehen die beiden, die sich nur süße Liebesworte zugeflüstert, gegenüber wie ein paar haßerfüllte Gegner auf dem Kampfplatz, und ihre Blicke kreuzen sich wie ein paar scharfgeschliffene Klingen.
»Ich verstehe Dich nicht! Was willst Du von mir?« und er geht einen Schritt auf sie zu.
Sie aber weicht nicht, und noch einmal sausen wie Sensen, die die in üppigster Reife stehende Frucht wegmähen, die Worte durch die Luft:
»Ich verlange die Zurückgabe der ›Sieger‹ in einer Stunde!«
»Der ›Sieger‹? …«
»… die Du meinem Vater gestohlen hast!«
»Constanze!«
»… gestohlen hast!«
Beide sprachen leise, beinahe flüsterten sie.
»Spare Dir die Mühe, mir eine Komödie vorzuspielen. In einer Stunde ist die Partitur in meinen Händen. Von übermorgen verschwindet Dein Name, und die Welt erfährt, daß mein Vater der Schöpfer des ›Liebestod‹ ist.«
Er murmelte etwas Unverständliches, wie einer, der aus einem herrlichen Traum erwacht und sich plötzlich in der grausigen Wirklichkeit noch nicht zurechtfinden kann.
»Es ist jetzt zwölf. Ich warte bis ein Uhr, und dann trennen sich unsere Wege für immer.« Und aus der unbeugsamen Entschlossenheit und grenzenlosen Verachtung, mit der sie diese Worte sprach, sah er, daß er alle Macht über sie verloren hatte.
Er ging ans Fenster und blieb dort eine Weile stehen. Dann griff er nach einer Zigarette, zerdrückte sie aber in der furchtbaren Erregung, die er nicht meistern konnte, und warf sie, ohne es zu wissen, auf den Teppich.
»Wozu willst Du es leugnen?« sagte sie leise und ruhig und mit Aufgebot aller Selbstbeherrschung, »Du verschlimmerst Deine Lage immer mehr.«
Camille ging auf und ab. Constanze sah ihm den Kampf, die furchtbare und ungeheure Ueberwindung an, seine Schuld einzugestehen. Sie hatte nicht nach einem wohlerwogenen Plan gehandelt, sie hatte sich's nicht überlegt, ob sie ihn schrittweise und langsam zu dem grausamen Geständnis zwingen, ob sie ihm Zeit zur Ueberlegung lassen oder ihn überrumpeln würde. Sie hatte das Richtige getroffen. Sie hatte ihn durch die Plötzlichkeit, mit welcher sie auf das Ziel losgesteuert war, völlig fassungs- und willenlos gemacht. Noch immer ging er auf und ab, immer die gleiche Strecke vom Fenster zum Ofen und zurück … er hatte diesen geradezu genialen Streich bis zum Ende geführt, er hatte vermeint, den leuchtenden Gipfel erklommen zu haben, er hatte geglaubt, einen stolzen und prangenden Bau, in dem er bewundert und beneidet herrschen konnte, aufgeführt zu haben. Er fühlte plötzlich, ohne jedes warnende Anzeichen, den Boden unter sich knistern und wanken, krachen und bersten, und sah die ragende Burg, in welche er mit seiner Königin einziehen und thronen wollte, versinken, und empfand, daß ihre Trümmer ihn begraben würden. An alles hatte er gedacht, mit bewunderungswürdiger Berechnung hatte er alle Quellen verschüttet, die, plaudernd und murmelnd, sein Geheimnis hätten verraten können: nur an eines hatte er nicht gedacht, daß die Toten reden! Daß Richard Assing, der längst den ewigen Schlummer schlief, plötzlich seine Hand drohend aus dem Grabe emporheben, daß seine längst erloschene Stimme plötzlich in niederschmetternder Anklage ertönen würde:
»Haltet ein! laßt diesen Frevel nicht gescheh'n!«
Noch immer ging er dieselbe Strecke auf und ab, einem Tiere gleich, das nach dem Ausgang seines Käfigs späht. Der Teppich dämpfte seine Schritte. Noch immer stand Constanze regungslos am Klavier und folgte ihm mit ihren Blicken, und wieder huschte der sonnige Nachmittag am Walchensee an ihr vorüber, und wieder sah sie die Boote, die sich im zarten Sommerwind geschaukelt hatten … Nun ist es Wahrheit geworden, grausame, unerbittliche Wahrheit. Ihre Schicksale, die kurze Frist eng verknüpft und verschlungen waren, lösen sich, um sich zu verlieren in weiter, weiter Ferne … Im Zimmer herrschte tiefe Stille.
Camille blieb am Fenster stehen und sah auf die menschenleere Straße. Er fühlte sich gefangen, aber keineswegs rettungslos. Was sie ihm da entgegengeschleudert hatte, das alles konnte ja doch nur auf Gerüchten, auf Annahmen und Vermutungen beruhen. Beweise, greifbare Beweise konnte sie nicht besitzen, und solange die fehlten, streckte er nicht die Waffen. Kampfbereit hob er den Kopf.
»Camille,« sagte Constanze leise, »leugne es nicht! Das wäre feige, und feige willst Du doch nicht vor mir scheinen? Gestehe Deine Schuld ein! Das würde doch immer wenigstens noch mutig sein!«
»Meine Schuld?« begehrte er auf, »meine Schuld? … Das sind ja alles Hirngespinste! Verleumdungen, die Dir natürlich Dein sauberer Freund, dieser Zeitungsschreiber, zugeflüstert hat!«
»Schmähe ihn nicht und leugne nicht! Ich habe die Beweise!«
Blitzschnell dreht er sich vom Fenster um, die fahle Blässe seines so schönen Gesichtes verrät ihn.
»Beweise?«
»Ja!«
Sie wechseln nicht ein lautes Wort, sie sprechen leise, beinahe flüstern sie: immer vergifteter fliegen die Pfeile von hüben und immer tödlicher schwirren sie von drüben … immer mehr trennen sich die Boote, immer tiefer klafft zwischen ihnen der Abgrund, in dem sie Vertrauen und Hoffnung, Zärtlichkeit und Liebe, Glück und Zukunft versenken und begraben. Jetzt ist der Augenblick, in der sie beide mit der Waffe in der Hand sich gegenüberstehen, um den Kampf auszufechten, der nur mit dem Untergang des einen enden kann.
»Beweise?« wiederholt er, und sein Atem fliegt, »ich will sie sehen, ich muß sie sehen. Du hast mich angeklagt … ich verteidige mich, ich … ich setze mich zur Wehr. Beweise hast Du? Zeige sie mir!«
Die Sicherheit, mit der er seine Klinge führt, erschreckt sie, der Widerstand, mit dem er vordringt, empört sie. Aber sie läßt sich nicht hinreißen, und mit eisiger Kälte erwidert sie:
»Die unwiderleglichsten Beweise … außer den vielen Briefen, die mit jedem Wort Deine Schuld beweisen, sind fünfhundert enggeschriebene Notenblätter vorhanden … das ganze Liebesduett … also fast der ganze zweite Akt … der Sturm auf dem Meere, die Krönung des Königspaares, der Aufruhr, die Anklage, die Verurteilung … und das alles, alles von meines Vaters Handschrift!«
Er starrt sie an.
»Es ist fast die ganze Partitur … nur zum Anfang des ersten Aktes fehlen viele Blätter … leugnest Du noch?« und nach einer kurzen Pause wiederholt sie: »Leugnest Du noch?«
Mit sicherer Hand hat sie den Stoß geführt, sie hat ihm die Waffe entwunden, sie hat ihn wehrlos gemacht … Im Nebenzimmer schmettert das Rotkehlchen seine Weise. Camille greift nach der Stuhllehne, sein elastischer Körper bebt, und willenlos fällt er in den Sessel … aber nur einen kurzen Augenblick verliert er die Herrschaft über sich, dann springt er auf:
»Du hast mich angeklagt, jetzt … jetzt mußt Du auch meine Verteidigung hören!«
Noch einmal durchmißt er das Zimmer, dann steht er ihr gegenüber, durch den Flügel getrennt:
»Ich bitte Dich, Constanze, höre mir jetzt ruhig zu! Wie es entstand … ich will Dir's sagen … wie … wie soll ich denn nur die richtigen Worte finden? die Dich überzeugen, die Dir alles begreiflich machen? …« und immer wieder faßt er sich krampfhaft nach der Stirn, und immer wieder gleiten seine zitternden Hände durchs Haar. »Der Anfang! der Anfang! Entsinnst Du Dich noch, was ich damals zu Dir sagte, als ich Dich am ersten Abend von der Löwengrube nach Hause begleitete? als wir im Mondschein vor dem Hoftheater standen? … daß ich schnell vorwärts will, daß ich schnell steigen will … ja, ja … ja … das … das sagte ich … daß ich umbraust sein will, umjubelt, verehrt, geliebt, vergöttert … aber noch solange ich jung bin, solange das Leben noch Sinn hat und Farbe und Reiz, das sagte ich Dir damals … ganz recht … ganz recht … so war's!« Und die Worte begannen ihm immer schneller von den Lippen zu stürzen:
»… daß ich beneidet sein will … das alles säße so in mir … dagegen könnte ich nicht an … und das ist die Wahrheit … Die Sucht, etwas zu gelten, über die Menge hinauszuragen, das steckt mir, solange ich denken kann, im Fleisch wie ein Dorn, wie ein Stachel! Dann … dann sah ich Dich als Isolde, und von diesem Abend an liebte ich Dich! Bald darauf … ja, ja, ganz richtig, sporntest Du mich an, Dir in zwei Jahren eine Partitur zu bringen, dann … dann wolltest Du mir zum Ruhm verhelfen, nicht wahr, das sagtest Du doch? Und aus Deinen Worten sprach so viel Wärme und so viel Herzlichkeit und so viel … ach, wie soll ich Dir das alles so erklären? Ich glaubte, Du wolltest mich nicht allein den Weg führen zum Ruhm, sondern auch … auch zum Glück! … mein Gott, ich liebte Dich! Als ich Dir damals versprach, Dir in zwei Jahren die Partitur zu bringen, hatte ich schon lange an einer Oper gearbeitet … so im Wagnerschen Stil. Damals glaubte ich mein Versprechen erfüllen zu können. Dein Vater kannte meine Arbeit, er lobte sie, er bewunderte meine Begabung … mir aber gefiel das Werk nicht. Es wurde mir immer klarer, daß ich mit ihm nicht durchdringen würde, daß ich dann keine Gnade vor Dir finden würde … das wollte ich aber … das mußte ich … und immer mehr fühlte ich's, daß das Leben ohne Dich gar keinen Sinn für mich habe.«
Immer fiebernder strömten ihm die Worte von den Lippen, immer glühender leuchteten seine schönen Augen, immer flatternder flogen seine Hände. Er rannte durchs Zimmer, klappte, ohne es zu wollen oder zu wissen, ein Buch auf und zu und stürzte dann wieder auf den alten Platz.
»Täglich kam ich zu Deinem Vater … täglich spielte er mir aus seinem Werk vor. Ich war hingerissen, immer wieder und wieder redete ich ihm zu, das Werk zu veröffentlichen. Er sträubte sich, er wehrte sich, er wollte nie mehr in die Öffentlichkeit. Nach seinem Tode möge mit dem Werk geschehen, was da wolle. Ich liebte ihn, ich bewunderte ihn, ich betete ihn an! Ich wollte es ihm gleich tun. Aber bald wurde mir klar und immer klarer, daß ich das niemals könnte. Dann fing ich an, ihn zu beneiden, bis ich ihn schließlich gehaßt habe! Er starb. Der Zufall spielte mir die ›Sieger‹ in die Hände, sein letzter Wille räumte mir uneingeschränkt die freie Verfügung über das Werk ein. Niemand wußte darum. Zuerst … da … da spielte ich mit dem Gedanken, mit diesem verlockenden Gedanken. Dann versuchte ich mal die Assingsche Instrumentation nachzuahmen. Das glückte mir … dann … laß mir nur Zeit, mir alles zu überlegen … dann nahm ich eine kleine Orchesterstelle auf, dann eine Melodie, dann immer mehr, immer mehr … mit unersättlichem Durst immer mehr … Ich konnte ja nach Belieben wühlen in dem Reichtum … verstehst Du mich denn? Ich weiß nicht, ob ich die richtigen Worte finde … ich sah endlich den leuchtenden Gipfel, ich sah den Weg zum Ruhm, zum Glück, zu Dir! Ja, ja, ja! Ehrgeiz war's, krankhafter Ehrgeiz, Ruhmsucht, Leichtsinn, Eitelkeit, Torheit, Tollkühnheit … Selbstvergötterung … Verblendung … nenn's, wie Du willst. Ich konnte nicht mehr dagegen an. Aber mächtiger als alles das, was mich lockte und zerrte und mein Gewissen beschwichtigte, war doch die Liebe zu Dir!«
Er warf sich völlig erschöpft in seinen Sessel, dann sprang er wieder auf, zerrte am Kragen, der ihm zu eng schien, und irrte im Zimmer umher.
»Bringe mir die Partitur der ›Sieger‹ sofort herüber!«
»Die Partitur? … Die Partitur? … Ich … ich habe sie nicht mehr!«
»Du hast … sie … nicht mehr?«
»Nein!«
»Du lügst!«
»Schweig'!«
»Du lügst! … Das kann nicht sein und das darf nicht sein! … Das nicht, daß Du zu der einen Schändlichkeit noch die andere gefügt hast. Gib mir die Partitur meines Vaters zurück!«
»Ich habe sie vernichtet!«
»Ah! … Du hast gehandelt wie ein Nichtswürdiger … Du … Du bist ein Schurke!«
»Constanze!«
Das ist das einzige Wort, das laut und verzweifelt durch das Zimmer gellt, dem Schrei eines verwundeten Tieres gleich saust dieses eine Wort durch die Luft. Aus diesem einen Wort klingen Schmerz und Rache, Liebe und Haß, lodernd-flammender Zorn und tiefes Elend, trostlose Verzweiflung und furchtbare Vergeltung.
»Hier sind Deine Briefe … sie ekeln mich an … ich will die Briefe zurück haben, die ich Dir schrieb … sogleich … die wirst Du wohl nicht vernichtet haben?«
»Laß sie mir!«
»Meine Briefe!«
»Laß sie mir als Andenken!«
»Ich will nicht die Beweise, daß ich Dich geliebt habe, in Deinen Händen wissen!«
»Ich gebe sie Dir nicht!«
»Ich werde Dich dazu zwingen!«
»Das kannst Du nicht … ich trenne mich nicht von diesen Briefen, solange ich lebe, nicht, niemals!«
»… damit Du mich in der Gewalt hast und mich peinigst und quälst?«
Constanze richtete sich hoch auf.
»So werde ich mir jemand zu Hilfe rufen!«
Und mit gebieterischer Bewegung weist sie ihm die Tür.
Wie ein Betrunkener taumelte er die Treppe hinunter und durch den Hausflur. Als er auf die Straße trat, schmerzte ihn die grelle Weiße des Schneelichts. Er wußte nicht, ob er nach rechts ging oder nach links. Er sah nicht Häuser und nicht Menschen, er hörte nicht die Glocke eines Milchwagens, nicht das Bellen eines Hundes. Er fühlte nur eins: den Schlag, mit dem sie ihn gezüchtigt. Er hörte nur das eine Wort, das sie ihm entgegengeschleudert hatte: »Schurke!« Er riß sich den Hut vom Kopf, Schneeflocken fielen ihm ins Haar. Er lechzte nach Kühlung. Er lief immer weiter in den Englischen Garten, dessen verschneite Wege nicht gekehrt waren. Er stapfte tief durch den Schnee. Er merkte es nicht. Unablässig hämmerte es ihm in den Schläfen. Was nun? Was nun? Woher konnte sie die Beweise haben? Wie war es nur möglich, daß das Netz, welches er so fein gemascht zu haben glaubte, plötzlich zerrissen war? Hatte Assing denn noch eine Abschrift angefertigt? Hatte er das Manuskript, die erste Niederschrift verkauft, verschenkt, versetzt, ohne ihm etwas zu sagen? Verschenkt? Wem? Wem? An Manner vielleicht? Mit dem hatte er sich im Orchester ja immer gehakelt … nein, nein, mit dem stand er sich wahrhaftig nicht so … und hätte er ihm trotzdem mal die Partitur übergeben, der hätte sie in seinem Entdeckungshunger sicher gelesen und hätte sie ebenso sicher zur Aufführung empfohlen. Freystätter? Sie standen wohl auf freundschaftlichem Fuß, aber doch ohne Herzlichkeit, ohne tieferes Vertrauen. Und dennoch, dennoch! Die Anspielungen in der Freystätterschen Kritik, die Camille wohl verstanden hatte, auf die er aber trotz aller Fragen Constanzens wohlweislich nicht eingegangen, waren zu auffällig gewesen. Warum aber hatte Freystätter sich dann mit diesen verschleierten Andeutungen begnügt, und warum hatte er nicht schon vor der Aufführung den tödlichen Streich gegen ihn geführt?
Nein, Freystätter konnte es auch nicht sein. Am Ende der mysteriöse Besuch des drollig aussehenden Mannes, den Constanze gestern nachmittag empfangen hatte? Wer war das? Wer? Er zermarterte sich das Hirn, er spähte nach allen Möglichkeiten der Entdeckung, des Verrats … Umsonst! Umsonst! Wen will sie denn zu Hilfe rufen, um sich die Briefe zu verschaffen? Dann müßte sie doch erst alle Zärtlichkeiten ihres Liebeslebens einem anderen anvertrauen? Dazu ist sie zu schamhaft und zu stolz … ihr Zorn wird sich legen … sie ist doch zu eng mit ihm verknüpft, als daß sie ihn vor aller Welt zurückstoßen würde. Soll er zu ihr zurückgehen? Soll er sie beschwören, ihn nicht zugrundezurichten? Soll er ihr schreiben? … Soll er sich jemand anvertrauen und um Rat fragen? Soll er mit dem nächsten Zuge fort? Nach Sizilien? Nach Aegypten? Nach Indien? Weit, so weit als möglich, wo ihn niemand kennt? Sich hinsetzen und arbeiten? Unermüdlich arbeiten? Die Oper vollenden, die Assing so oft gelobt? Der Welt beweisen, daß er selber etwas kann? Ja, zum Donnerwetter, er hat doch Talent, mehr, viel mehr als viele andere! Und würde er die Vergangenheit von sich werfen und ein Meisterwerk schreiben, das, wenn möglich, Richard Assings »Sieger« noch überträfe, die Welt würde es ihm doch nicht glauben. Die Vergangenheit, die er von sich werfen will, die folgt ihm auf den Fersen … durch alle Länder, durch die ganze Welt, durchs ganze Leben.
Als Camille endlich nach mehreren Stunden in sein Hotelzimmer trat, das er so sorglos und so siegesgewiß verlassen hatte, fiel er völlig erschöpft auf die Chaiselongue. Er versuchte zu schlafen, nur eine Viertelstunde, nur einige Minuten, um seinem Gehirn Ruhe zu gönnen, um neue Kraft zu gewinnen. Die Bilder des Tages tanzten und wirbelten und stürmten ihm in lautem schrecklichen Reigen durch den Kopf. Er nahm aus seinem Portefeuille Constanzens Bild, das er immer bei sich trug, und betrachtete es … betrachtete diese Augen, die ihm so oft geleuchtet, diese Lippen, die ihn so oft geküßt, diese Arme, die ihn so oft umschlungen, vorbei, vorbei!
Er sprang auf und schloß den Schreibtisch auf, in welchem er ihre Briefe bewahrte, diese Briefe, in denen jeder Satz, jedes Wort und jede Silbe in Zärtlichkeit und Liebe, in Seligkeit und Hingebung getaucht war … Nein, das konnte sie nicht verlangen. Von diesen so beredten Zeugen seines verlorenen Glücks konnte er sich nicht trennen, nein, nie! Hochaufgeschichtet lagen sie vor ihm, diese Blätter, aus denen ihm noch der süße berauschende Duft, den er so sehr geliebt, entgegenströmte … Dann rannte er wieder durchs Zimmer, und er verglich dessen lieblose, schablonenhafte Einrichtung mit ihren künstlerisch ausgestatteten Räumen, in denen er so glückliche und so wundervoll heimliche Stunden verlebt hatte … Vorüber! Vorüber! Ein tiefer Ekel ergriff ihn … nur fort … das ist das einzig Richtige … nur fort, so schnell als möglich. Er klingelte … sein Diener sollte ihm die Koffer packen … und noch heute abend wollte er München verlassen, diese Stadt, von der er den Flug zur Sonne unternahm, und der er nun heute den Rücken kehrte mit zerschmolzenen Flügeln.
Der eintretende Kellner nahm den Auftrag entgegen und überreichte ihm dann eine Karte: dieser Herr wünsche mit Herrn Dupaty zu sprechen.
Camille las: »Dr. Sigmund Freystätter«. Er faßte die Karte fest, um seine Erregung nicht zu verraten, und starrte einen Augenblick vor sich hin. Soll er ihn empfangen? Soll sich in diesem Zimmer eine furchtbare Tragödie abspielen? … Wird ihn nicht blinde, wahnwitzige Wut übermannen und zu einem Schritt hinreißen lassen, den er hoch bezahlen muß und den er später bereut? Wird er diesen Menschen, der zweifellos an seinem Untergang mitgearbeitet hat, nicht an der Gurgel packen? Wird er nicht seinen Revolver herausreißen und ihn niederschießen? Wird er nicht? … Nichts, nichts von alledem … Der Kellner wartet noch immer auf Bescheid. Ruhig, ruhig, Camille! verliere nicht die Besinnung. Rette, was noch zu retten ist. Constanze sendet diesen Mann als Friedensboten, als Parlamentär, der die weiße Flagge hißt … der mit ihm verhandeln, sich mit ihm aussprechen will … der ihm Vorschläge machen wird, die verdammte Angelegenheit in aller Stille zu ordnen, der ihm die Möglichkeit geben wird, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, der … der … er wird sich zur Ruhe, zur Höflichkeit zwingen, er wird ihn empfangen.
»Ich lasse bitten!«
Sigmund Freystätter tritt ein.
Die beiden Männer verbeugten sich. Der hochgewachsene schöne Camille Dupaty sah auf den kleinen unansehnlichen Menschen, der aber doch der Stärkere war. Denn ihm verlieh etwas eine wundervolle, unbezwingliche Macht: das Recht!
»Darf ich Sie bitten, Platz zu nehmen?«
Sie saßen sich durch den Schreibtisch, auf dem Constanzens Briefe noch lagen, getrennt gegenüber.
»Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuchs?«
»Herr Dupaty, ich komme im Auftrage von Fräulein Assing.«
»Das dachte ich mir …«
»Um so besser! Fräulein Assing läßt Sie durch mich bitten, ihr die Briefe zurückzustellen, welche sie an Sie gerichtet hat, und hat mich beauftragt, Ihnen Ihre Briefe zurückzugeben. Es ist selbstverständlich, daß Sie mir Fräulein Assings Briefe, in welche einen Blick zu werfen mir jedes Recht fehlt, versiegelt übermitteln.«
»Herr Doktor Freystätter … ich habe bereits der Dame gesagt, welche Gründe mich zwingen, ihren Wunsch nicht zu erfüllen, und ich bitte Sie höflichst, ihr diese Gründe zu wiederholen. Ich will mich von diesen Briefen nicht trennen – – ich kann es nicht. Ich werde ihr das alles noch schriftlich auseinandersetzen. Ich habe Fräulein Assing vor einigen Stunden verlassen, als sie sehr erregt war. Ich hoffe zuversichtlich, daß sie mit der Zeit ruhiger denken und mir die Briefe lassen wird. Ich brauche Fräulein Assing nicht zu versichern, daß ich mit diesen Briefen niemals in meinem Leben, unter welchen wie immer gearteten Verhältnissen, Mißbrauch treiben werde, was sie mir ja auch ernsthaft nicht zutraut, daß ich sie nur behalten will zur Erinnerung an eine Zeit, die … die …« Er stockte, um nicht zu viel zu sagen, und während seine schlanken Finger durch die vor ihm liegenden Blätter glitten, fügte er etwas leiser hinzu: »… daß ich sie behalten will als einen für mein ganzes Leben kostbaren Schatz!«
»Fräulein Assing teilt Ihre Auffassung nicht. Sie hat mich beauftragt, Ihnen, Herr Dupaty, zu sagen, daß sie ihre Briefe nicht eine einzige Stunde länger in Ihrem Besitze wünscht; sie läßt Ihnen durch mich sagen, daß sie etwaige Versuche, sich ihr mündlich oder schriftlich zu nähern, so entschieden als nur denkbar zurückweisen würde, daß sie jedes ihr zu Gebote stehende Mittel anwenden würde, diese Briefe zu erhalten, und daß sie ohne jede Rücksicht vorgehen würde, um dieses Ziel zu erreichen.«
»Das klingt ja ganz unversöhnlich?«
»Ja! In diesem Sinne wünscht Fräulein Assing ihren Auftrag auch aufgefaßt zu sehen!«
Nach einer kurzen Pause steckte sich Camille eine Zigarette an, die er nach der furchtbaren Erregung der letzten Stunden schmerzlich entbehrte:
»Darf ich Ihnen eine anbieten?«
Und da Freystätter mit einer leichten Verbeugung dankte, fuhr Camille fort:
»Aber Sie werden mir eine gestatten … Ich muß ein paar Züge tun, ich bin zu sehr daran gewöhnt.«
Er hüllte sich in eine große, bläuliche Wolke, welche in dünnen Schwaden durchs Zimmer zog, im hineinschimmernden Sonnenlicht tanzte und dann nach der Decke verflatterte.
»Herr Doktor Freystätter, ist Ihre Mission damit beendet?«
»Noch nicht.«
»Darf ich bitten?«
»Ich muß Sie ersuchen, Herr Dupaty, den Boten nicht mit der Auftraggeberin zu verwechseln. Fräulein Assing läßt Sie durch mich auffordern, ihr die Partitur des Richard Assingschen Musikdramas ›Die Sieger‹ zurückzustellen. Sie haben der Dame zwar gesagt, daß Sie diese Handschrift nicht mehr besäßen …«
»Das ist die Wahrheit!«
»… daß Sie sie vernichtet hätten …«
»So ist es!«
»… aber Fräulein Assing glaubt, daß Sie sich im ersten Augenblick der Bestürzung, wie sie sich wörtlich ausdrückte, nicht von der Partitur trennen wollten, und wiederholt deshalb durch mich diese Aufforderung. Ich vermeide es, mich in die Angelegenheit persönlich einzumischen … Sie können sich wohl denken und es Fräulein Assing nachfühlen, daß es ihr heißer Wunsch ist, in den Besitz der väterlichen Handschrift zu gelangen. Sie werden ihr das nachfühlen können als Mensch und als Künstler! … daß Fräulein Assing als die Tochter des Mannes, den sie verehrt und geliebt hat, dieses Heiligtum besitzen und bewahren möchte, und daß sie als Künstlerin, die dem Werke Leben verlieh, sich immer wieder an seinen Schönheiten erfreuen möchte! … Sie sagen, daß Sie die Originalhandschrift vernichtet hätten? … Eine solche ›Barbarei‹ traut Ihnen Fräulein Assing nicht zu, und deswegen läßt sie Sie durch mich zur Rückgabe auffordern.«
Camille blies wieder große Wolken vor sich hin. Freystätter wußte also alles, alles. Statt des Vermittlers saß ihm der Gegner gegenüber, statt des Friedensboten der Feind!
»Es ist mir beim allerbesten Willen nicht möglich – und an dem brauchen Sie wahrhaftig nicht zu zweifeln – es ist mir nicht möglich, den gewiß berechtigten Wunsch des Fräuleins Assing zu erfüllen. Ich wiederhole Ihnen hiermit auf mein Ehrenwort, daß …«
Aber er vollendete den Satz nicht. Er fühlte, wie Freystätters Blick ihn durchbohrte, er fühlte, wie es auf den Lippen dieses kleinen, unansehnlichen Menschen schwebte: »Dein Ehrenwort?« Er fühlte den Peitschenhieb.
»Sie schicken mich also mit leeren Händen fort?«
»Ich muß es.«
»Sie wollen mir also die Partitur nicht herausgeben?«
»Ich kann es nicht!«
»Sie wollen mir also die Briefe nicht zurückerstatten?«
»Nein!«
»Unter keiner Bedingung?«
»Unter keiner Bedingung!«
»Auch nicht, wenn ich Ihnen sage, daß das Seelenheil der Dame davon abhängt?«
»Auch dann nicht!«
»Das ist Ihr letztes Wort?«
»Mein letztes Wort!«
Freystätter ließ Camille noch einen Augenblick Zeit zur Ueberlegung.
Diese Briefe herausgeben, sich von diesen zärtlichen, süßen, kosenden, glühenden Worten trennen, die ihm die gewiß einsame und trostlose Zukunft erhellen sollten, an denen er sich wieder aufrichten würde, wenn der Orkan über ihn hingebraust sein würde? … Nie wieder lesen können … » for ever my sweetest heart« … for ever! … for ever! … nein, nein, und laut sprach er vor sich hin: »Die Briefe … nie, nie!«
»Herr Dupaty, ich bin zu Ende. Ich habe den Auftrag von Fräulein Assing erledigt!«
Er erhob sich mit leichter Verbeugung.
Camille atmete auf, diese Unterredung beendigt zu sehen, die ihm ja doch nur Qualen und Demütigungen bereitete. Aber dann hoffte er doch wieder, daß sich vielleicht noch irgendwo ein Anhalt zur Aussprache, zur Verständigung, zum Stillschweigen, zum Frieden finden könnte. Der Zufall hatte ihm gerade diesen Mann geschickt. Er war der einzige, der vielleicht Constanzen zurückhalten könnte, das Schlimmste zu tun: die Veröffentlichung.
»Herr Doktor, ich bitte Sie, gewähren Sie mir noch einen Augenblick. Sie sind, wie ich aus Ihren Worten höre, völlig unterrichtet über die schreckliche Angelegenheit, Sie wissen, daß …«
»Herr Dupaty, ich bin nicht hierher gekommen, über diese, wie Sie sagen, ›schreckliche Angelegenheit‹ mit Ihnen zu verhandeln.«
»Aber ich bitte Sie, mir noch zuzuhören, damit Sie erfahren, damit Sie begreifen, wie das alles kam, wie ich …«
»Sie können mir nichts mitteilen, was ich nicht schon wüßte!«
Also sein ganzes Bekenntnis hatte Constanze schon verraten! Und Camille war scharfsichtig und feinhörig genug, um zu fühlen, daß all diese Worte, die da bisher gewechselt waren, doch nur ein harmloses Vorpostengefecht seien, vor Eröffnung einer heißen und mörderischen Schlacht. Ja, er fühlte die nahende Gefahr, den bevorstehenden Angriff. Er hörte das Blasen zum Sturm, er wußte, daß dieser Gegner unerbittlich und grausam, die stärkste Waffe führte: das Recht! Und dennoch wollte er den Versuch wagen, diesen Mann milder zu stimmen, der sicherlich von Constanze beauftragt war, ihn vor aller Welt zugrunde zu richten. Ob er sich nicht überreden ließe, das Werk als gemeinsame Arbeit aufzufassen? Ob er nicht? …
»Herr Doktor, Sie haben mir zwar gesagt, daß ich Ihnen nichts Neues mitteilen könnte … indessen … meine Schuld wird Ihnen in einem ganz anderen, viel milderen Licht erscheinen, wenn ich Ihnen sage, daß ich tatsächlich viel, sehr viel an dem Werk mitgearbeitet habe.«
»Das glaube ich Ihnen nicht,« versetzte Freystätter kalt.
»Das glauben Sie nicht? Das könnte ich Ihnen beweisen!« erwiderte Camille lebhafter.
»Nein! Das können Sie nicht!« und nicht das leiseste Zittern in seiner Stimme verriet die ungeheure Empörung, den tiefen Ekel, der ihn schüttelte.
»Es ist durch einen sehr eigenartigen Zufall erst gestern nachmittag zu meiner Kenntnis gelangt, daß der ›Liebestod‹ mit den ›Siegern‹ völlig übereinstimmt. Ich habe heute nacht Gelegenheit gehabt, beide Werke zu vergleichen, aufs gründlichste zu prüfen und mich davon zu überzeugen, daß es nicht zwei Werke sind, sondern ein und dasselbe. Sie haben nicht, wie Sie sagen, mitgearbeitet, was ja auch zeitlich gar nicht stimmen würde, denn die ›Sieger‹ waren – ich weiß es genau – bereits vollendet, bevor Sie Richard Assing kennen lernten, sondern Sie haben später nach dem Tode des Schöpfers willkürlich einige Aenderungen, Transponierungen und Umstellungen vorgenommen.«
Und nach einer kurzen Pause, während welcher Camille auf und ab ging, fuhr Freystätter fort:
»Als Mensch steht mir selbstverständlich kein Recht zu, Sie für Ihre Handlungsweise zur Verantwortung zu ziehen, aber als Kritiker, als Kunstrichter, der es mit seinem Beruf ernst nimmt, habe ich die unabweisbare Pflicht, dem Toten zum Recht und der Wahrheit zum Siege zu verhelfen!«
Nein: von diesem Gegner war keine Milde, keine Nachsicht, keine Gnade zu erwarten.
»Und das werden Sie tun?«
»Ja!«
»Unbedingt?«
»Unbedingt!«
»Und wann?«
»In wenigen Tagen! Ich werde Sie öffentlich anklagen … Sie können sich öffentlich verteidigen … wenn Sie es … können!«
Camilles Blick fiel plötzlich auf die geöffnete Schublade, aus welcher er Constanzens Briefe genommen hatte. Sein Revolver blinkte ihm zu. Wenn er jetzt diesen kleinen Menschen niederknallen würde, diesen von Haß und Eifersucht erfüllten Menschen, von dem er Rettung erwartet hatte, und der ihn nun erbarmungslos ans Messer liefern würde? Was würde es ihm nützen, diesen einen Mund stumm zu machen? Die, deren glühende Liebe sich in glühenden Haß verwandelt hatte, lebte und würde ja doch seine Schuld über alle Dächer schreien … und ebenso der Dritte, den er nicht kannte. Aber plötzlich durchzuckt ihn eine Hoffnung … dem Schiffer gleich, der in wilder toddrohender Brandung unerwartet durch eine sich zerteilende Nebelwand die Küste erblickt, sieht er im letzten Augenblick noch die so heiß ersehnte Rettung. Er weiß, daß dieser Mann, wenn auch hoffnungslos, Constanze liebt. Er fühlt, daß dieser häßliche Mensch die Briefe zurückforderte nicht allein für Constanze, sondern auch für sich selbst, weil es ihm ein schmerzlicher, ein unerträglicher Gedanke ist, die zärtlichen Briefe des Mädchens in eines anderen Händen zu wissen … weil dieser verliebte Tor wahrscheinlich glaubt, sie sich zu innigem Dank zu verpflichten, wenn er ihr diese Briefe zurückbringt … weil er noch immer hofft, daß sie … hahaha! … eine Constanze und der da! Aber gleichviel: er wagt das Aeußerste!
Er nimmt die vor ihm aufgeschichteten Briefe, läßt sie noch einmal durch seine Finger gleiten und sagt dann mit erzwungener Ruhe:
»Herr Doktor Freystätter … ich will Ihnen diese Blätter, von denen ich mich unsäglich schwer trenne, ausliefern … unter einer Bedingung …«
»Die wäre?«
»Daß Sie Fräulein Assing überreden, auf die Veröffentlichung der Angelegenheit zu verzichten, daß Sie selbst von Ihrem Vorhaben, mich zu verfolgen und zugrunde zu richten, absehen? Wären Sie dazu bereit?«
»Nein!«
»Ueberlegen Sie es sich wohl!«
»Ich habe nichts zu überlegen!«
»Herr Doktor Freystätter, Sie haben als Vermittler doch wohl die Pflicht, Fräulein Assing von meinem Vorschlag zu verständigen?«
»Fräulein Assing verzichtet unter solchen Umständen auf die Briefe …«
»Das wissen Sie so genau?«
»Ja! Das Andenken ihres Vaters zu retten, ist ihr mehr wert als diese Briefe!«
»Und Sie selbst? Würde es Ihnen nicht –,« und er blättert in den Papieren, um etwas zu suchen – »sehr wünschenswert sein, die Briefe der Dame nicht mehr in meinem Besitz zu wissen?«
Eine Blutwelle färbt Freystätters bleiches Gesicht. Er versteht, was der damit sagen will. Er sieht seine heimliche, verschwiegene Liebe verraten, verraten durch Constanzen selbst … er steht hier und kämpft für sie und … sie … sie hat dem anderen erzählt, daß er sie unglücklich liebt … sie hat seine Seele entblößt … entschleiert vor diesem Nichtswürdigen!
Camille holt zum letzten Stoß aus: Dieser Stoß muß die Eitelkeit des kleinen Menschen aufs tiefste verletzen, unter diesem Stoß muß er zusammenbrechen und den Frieden schließen.
»Würde es Ihnen angenehm sein, zu wissen, daß Fräulein Assing über Sie geschrieben hat: ›Wenn er nur nicht auf den unglücklichen Gedanken gekommen wäre, sich in mich zu verlieben! Und so hoffnungslos! Der arme Narr! Sie wissen ja, liebster Freund, man kann nicht zween Herren dienen. Viele liebe Grüße Constanze Assing.‹ Wollen Sie sich, bitte, selbst überzeugen? Nicht wahr, Sie kennen ja die Handschrift der Dame?«
Freystätter starrt in das Blatt. Die Buchstaben tanzten und flimmerten ihm vor den Augen. Ja, ja, ja … das hatte sie geschrieben. Er greift nach der Stuhllehne, er fühlt, daß der Boden unter ihm schwankt.
Camille weidet sich an dem Anblick: ja, mein Lieber, Du willst mich zugrunde richten? … so tu's … aber ich falle nicht allein, ich reiße Dich mit, denn mit dieser Wunde im Herzen kannst Du nicht mehr lange leben … Du armer Narr!
»Nun, Herr Doktor, wären Sie jetzt bereit, den Vergleich mit mir zu schließen?«
Er späht ihm in die verzweifelt umherirrenden Augen … ja … der Stoß traf. Der hat »die unabweisliche Pflicht der öffentlichen Anklage« vernichtet, der hat »die heilige Pflicht, dem Toten zu seinem Recht und der Wahrheit zum Siege zu verhelfen,« zertrümmert. Alles, alles verweht und verflattert, wie Spreu im Winde vor diesen drei winzigen Wörtchen: ›der arme Narr!‹
Und siegesgewiß wiederholt Camille:
»Wären Sie jetzt bereit?«
»Ich mache keine Tauschgeschäfte!«
Was ist das? Er hat geglaubt, mit der Axt diesen jungen Baum bis ins Mark getroffen zu haben, und hat nur seine Krone verletzt?
»Sie wollen also nicht?«
»Nein!« Und dieser kleine unansehnliche Mensch wächst und wächst und blickt in grenzenloser Verachtung auf den hochgewachsenen schönen Mann herab: »Ich lasse diesen Frevel nicht geschehen!«
Und beide stehen sich gegenüber und bohren ihre Augen ineinander in unergründlichem Haß. Camille zerbricht das Falzmesser, mit dem er gespielt hat, daß seine Splitter den Teppich bedecken. Seine Geduld ist zu Ende. Stundenlang dauert nun diese schmerzhafte, diese entsetzliche Nervenzerrung … fünf lange Stunden … die Qualen, die er bei Constanze erduldete, die Demütigungen, die er hier erleidet … sein ganzes Wesen bäumt sich auf gegen diese grausame Pein … er erträgt's nicht mehr … Luft! Luft! … sonst erstickt er. Die Kehle wird ihm zugeschnürt … wieder atmen, atmen, nur etwas zerschmettern, gleichviel was, ob einen Gegenstand, ein Nichts oder einen Menschen! Der da wollte auf den ersten Streich nicht sinken … der zweite wird ihn fällen.
»Sie wollen mich öffentlich anklagen ohne Milde und ohne Rücksicht. Ich werde mich öffentlich verteidigen ohne Milde und ohne Rücksicht. Die Ihnen vorgelesene Briefstelle wird dem Leser beweisen, daß wahnwitzige Eifersucht Sie um den Verstand gebracht hat!«
Freystätter fliegen seine eigenen Worte durch den Sinn: »Jetzt gibt's kein Zurück, jetzt vorwärts und durch,« und kalt und ruhig erwidert er:
»Tun Sie, was Sie wollen! Auf eine Unwahrheit, auf eine Nichtswürdigkeit mehr kommt es Ihnen nicht an!«
»Herr!« schreit Camille auf, und in besinnungsloser Wut holt er zum Schlage aus. Dann läßt er die Hand wieder sinken und sagt ebenso kalt und ebenso ruhig: »Ich schicke Ihnen noch heute meine Zeugen!«
»Ich werde die Herren erwarten!«
Frau Ralchen wollte gerade – es war so gegen die siebente Abendstunde desselben Tages – ihren Salomon aus dem Geschäft heraufrufen, um ihm mitzuteilen, daß ihn das freitägliche Abendessen erwarte. Denn, wenn sie sich auch von dem alten Sünder innerlich völlig losgelöst hatte und seine immer wieder zum allerdings kostenlosen Friedensschlusse geneigten Vertraulichkeiten mit weiblicher Würde zurückwies … daß er in gutem Futterzustand blieb … darauf legte sie doch großen Wert … seinetwegen weniger als um ihrer selbst willen. Denn hätte sie ihm schlechte Atzung vorgesetzt, so hätte sie die auch herunterwürgen müssen und das wollte sie nicht. Von ihrem ursprünglichen höllischen Plan, ihn täglich mittags und abends mit Hasenbraten zu ergötzen und ihm so täglich mittags frisch und abends aufgewärmt seine Niedertracht unter seine nicht von der Last der Jahre, sondern auch von der gütigen Natur aus gekrümmte Nase zu reiben … von diesem Komplott, das sie mit Veilchen geschmiedet hatte, war sie endgültig abgekommen. Denn erstens war Hase sehr teuer, zweitens aß ihn Salomon sehr gern, sie aber nicht, und sich zu einer mehrmonatigen strengen Hasenbratenkur zu verurteilen, konnte kein Mensch von ihr verlangen. Ueberdies hatte sie 'mal in dem Roman eines Familienblattes gelesen, daß »die Fürstin Natalie mit fürchterlichem Stirnrunzeln und wogendem Busen dem Grafen Egon zugeflüstert hatte: Rache kalt genossen sei die beste«, und gescheiter als die Fürstin Natalie zu sein, war Frau Ralchen Freystätter, geborene Würmersheimer, doch wahrhaftig auch nicht verpflichtet. In der Absicht also, ihrem Salomon Kunde zu tun von gar lieblichen und wohlschmeckenden Dingen, als da waren Butterfische, die in einem Eimer voll würzig duftender Sauce schwammen, öffnete sie die Tür, als ihr auf der Treppe zwei Herren begegneten und sie sehr höflich nach der Wohnung des Herrn Doktor Sigmund Freystätter fragten. Frau Ralchen sah den beiden lange nach; sie hatte doch auch schon in ihrem Leben elegante Herren gesehen, wie die Herren Ohlesberger, Pickenbacher, Gutmann und Heuberger, ganz zu schweigen von dem Verkäufer Herrn Sally Weisheimer bei Moritz Abraham in Neumarkt bei Ifterdingen … aber so etwas hatte sie doch noch nicht geschaut, und ebensowenig hatte das Haus mit dem Muttergottesbild und mit dem »ewigen Licht« jemals solchen Besuch empfangen. Diese blanken Zylinder, diese Lackstiefel, diese gesteppten Handschuhe (von denen sich das Paar selbst im Engros-Einkauf gewiß auf vier Mark, wenn nicht noch mehr stellte), diese Pelze, und der eine von den beiden hatte wahrhaftig ein Glas, und zwar nur in dem einen Auge. »Zu mei Sig wollen se? Was wollen se bei mei Sig?« Und kopfschüttelnd stieg Frau Ralchen die Treppe herunter.
Sigmund Freystätter hatte sofort nach seiner Rückkehr zwei alten Studien- und Universitätsfreunden telephonisch den Sachverhalt mitgeteilt und sie um ihren Beistand gebeten. Sie hatten auch sofort zugesagt. Um die notwendige Besprechung, die seiner Mutter Verdacht hätte erregen können, im Hause zu vermeiden, hatte er sich mit den Freunden dahin verständigt, daß sie sich bis zum Eintreffen der Dupatyschen Sekundanten zu Hause halten sollten, daß er sich mit allen, auch mit den schwersten Kampfbedingungen von vornherein einverstanden erkläre, daß sie Ort und Stunde des Duells vereinbaren möchten. Er würde sie dann um elf Uhr in der »Löwengrube« erwarten. Bis dahin müßten alle Formalitäten erfüllt sein. Nach langem Zögern und Ueberlegen hatte er endlich in der ihm richtig dünkenden Fassung an Constanze geschrieben:
»21.3.90.
Liebes Fräulein Assing! Herr Dupaty hatte zunächst unter allen Umständen die Herausgabe der Briefe verweigert. Endlich entschloß er sich dazu unter der Bedingung, daß Sie sowohl wie ich von seiner öffentlichen Brandmarkung absehen. Mit dem vollständigen Abbruch der Beziehungen glaube ich in Ihrem Sinne gehandelt zu haben. Eine plötzliche, sehr dringliche Arbeit verhindert mich zu meinem lebhaften Bedauern, Ihnen mündlich Bericht zu erstatten.
Mit besten Grüßen
Dr. S. Freystätter.«
Er überflog den Brief noch einmal und wollte ihn eben kuvertieren, als Veilchen mit ausnahmsweise unverletzter Stirn eintrat und ihm zwei Karten überbrachte. Er las: »Le Baron François de Courcelles« und »Karl von Mauerbrecher«. Er kannte die Namen; der eine war Attaché bei der französischen Gesandtschaft, der andere ein Sportsman. Beide reiche Nichtstuer, die in den Kreisen, in denen man die schwersten Weine und die leichtesten Damen liebt, geschätzt und verehrt wurden. Sie hatten Camille Dupaty in der vornehmen Gesellschaft getroffen, hatten früher viel mit ihm gebummelt, kannten ihn als liebenswürdigen, freigebigen Jungen, dessen Ruhm seit einigen Tagen durch die Welt flatterte: warum sollten sie ihm diesen kleinen Dienst nicht erweisen?
Freystätter lud die Herren ein, Platz zu nehmen. Sie lehnten dankend ab. Die Unterredung war kurz und wurde in den höflichsten Formen geführt.
»Herr Doktor Freystätter,« begann Baron Courcelles, der durch sein Monokel auf Frau Ralchen einen unauslöschlichen Eindruck gemacht hatte, »mein Freund Herr Karl von Mauerbrecher und ich kommen im Auftrage des Herrn Camille Dupaty zu Ihnen. Sie haben den Herrn der Unwahrheit und Nichtswürdigkeit geziehen.«
»Verzeihen Sie, Herr Baron, daß ich Sie unterbreche,« und Freystätter betonte sehr scharf, »ich habe gesagt, daß es Herrn Dupaty auf eine Unwahrheit oder Nichtswürdigkeit mehr nicht ankäme!«
Nach einer ganz kurzen Pause fuhr Baron Courcelles fort:
»Sie gestatten nur die Anfrage: sind Ihnen diese verunglimpfenden Aeußerungen vielleicht wider Willen nur im Affekt entschlüpft?«
»Nein, ich hatte die Absicht, diese Worte zu wählen!«
»Und ferner sind wir beauftragt, Sie zu fragen, ob Sie bereit wären, in einer schriftlichen Erklärung, deren Wortlaut noch festzustellen wäre, diese schwersten Beleidigungen mit der Versicherung des lebhaftesten Bedauerns zurückzunehmen. Würden Sie dazu bereit sein?«
»Ich nehme nicht ein Wort zurück, und ich bedaure nicht ein Wort.«
»Sind Sie bereit, die Forderung des Herrn Dupaty anzunehmen und die Affäre mit den Waffen zum Austrag zu bringen?«
»Ja!«
»Wollen Sie die Güte haben und uns die Herren nennen, mit denen wir uns über die Bedingungen verständigen könnten?«
»Ich ersuche Sie höflichst, sich sofort zu Herrn Doktor Georg Sinsheimer, Amalienstraße 95a, zu bemühen. Sie werden dort einen anderen Freund, Herrn Doktor Martin Ellwanger, treffen. Die Herren sind vom Sachverhalt unterrichtet und ebenso, daß ich jede Kampfbedingung, welche die Herren auch immer vereinbaren, akzeptiere.«
Die beiden verbeugten sich; sie bemerkten nicht, daß im ersten Stock die Korridortür sehr leise geöffnet und dann wieder geschlossen wurde. Aber dieses Mal hatte nicht Veilchen gehorcht, sondern Frau Ralchen, die für ihr Leben gerne ein Wort aufgefangen hätte, welches ihr diesen so mysteriösen Besuch der beiden eleganten Herren hätte erklären können.
Als sie die schwach beleuchtete, alte und knarrende Treppe hinunterstiegen, sagte Mauerbrecher leise zu Courcelles:
»Sapristi, Schneid' hat der kleine Kerl!«
»Ja,« flüsterte Courcelles, »jetzt! Lassen Sie ihn mal erst die Mündung von Dupatys Pistole auf sich gerichtet sehen, so fällt ihm das Herz in die pantalons.«
Sie stiegen in den bereitstehenden Wagen.
»Ja, verteufelt ungleich ist ja die Partie,« meinte Mauerbrecher. »Dupaty ist ein Pistolenschütze erster Güte. Ich habe mal gesehen, wie er das Coeur-As aus der Karte schoß, und der da oben sieht aus, als ob er noch nie so'n Ding in der Hand gehabt hat.«
»Ja, das ist nun nicht anders,« erwiderte Courcelles, der sich eine Zigarette angezündet hatte, »das hätte sich der gute Mann vorher überlegen sollen. Haben Sie gehört, wie er noch ausdrücklich ›eine Nichtswürdigkeit mehr‹ pointierte … ein bißchen happig!«
»Ja, Dupaty wird ihn wegputzen wie 'nen Hasen … schade um den Menschen … ein gescheites Luderchen ist's doch … Haben Sie gesehen? Bücher, Bücher, nur Bücher!«
»Das ganze Haus roch nach Bettzeug, Gelehrsamkeit und Zwiebelsauce … es sind eben doch getrennte Welten!«
»Gott sei Dank!« atmete Mauerbrecher erleichtert auf.
Der Wagen hielt in der Amalienstraße, und sie schritten ins Haus.
Mei Sig,« dessen eifrigstes Bestreben es war, seine Eltern nichts von dem bevorstehenden Ereignis ahnen zu lassen, fand sich ein bißchen verspätet zum Abendessen ein, und als er die beiden alten Leute sah, wie sie sich's wohl sein ließen und mit hingebungsvollstem Interesse die Güte der dampfenden Speisen prüften, als er dieses trotz der noch immer schwebenden Zobelfrage ungetrübte Bild der Beschaulichkeit, der Ruhe und der Abgeklärtheit erblickte, da verglich er deren wohl eng umfriedetes, aber geruhsames Dasein mit der Zerrissenheit seines eigenen Lebens, das nach hohen Zielen gestrebt, manches erreicht hatte, und das über den drei kleinen winzigen Wörtchen strauchelte und in zweimal vierundzwanzig Stunden versinken wird: »der arme Narr!«
»Nu, mei Sig, warum kommste doch so spät?« forschte Frau Ralchen, indem sie ihm den Teller mit frischen Klößen und Kartoffeln in einem Ozean von Sauce füllte, »haste Besuch g'habt?« Und sie sah ihn spähend an.
»Sehr noblen, Muttchen,« log er mit heiterster Unbefangenheit, »die Herren haben mich ins Komitee einer Wohltätigkeitsvorstellung gewählt. Du darfst auch auf der ersten Reihe sitzen. Ich muß nachher auch noch mal deshalb fortgehen, damit das Programm und die Mitwirkenden festgestellt werden können!«
»Wird de Assing auch mitmach'n?«
»Es war von ihr nicht die Rede!«
Frau Ralchen schaute scharf zu ihm hinüber.
»Warum net? se soll mitmach'n … se soll die ›Traumbilder‹ singen. Du mußt net immer Dei' Licht unter'n Scheffel stellen!«
»Red' net so viel,« fuhr Herr Salomon drein; er hatte sich bisher an der Unterhaltung nicht beteiligt, da er sich mit dem sehr komplizierten Hechtkopf auseinandersetzen mußte, »red' net so viel. Es wird Dir noch ä Gräte im Halse stecken bleiben.«
Dann zog er sich wieder in sein Privatleben zurück und nahm sich, da er bei solcher Gelegenheit an opportuner Kurzsichtigkeit litt und kleinere Gegenstände nicht erkennen konnte, das größte Fischstück aus der Schüssel. »Mei Sig« folgte dem Beispiel seines Erzeugers und heuchelte dem kleinen, verhutzelten Frauchen einen fabelhaften Appetit vor, der ihre wegen des sonderbaren Besuchs aufkeimenden Befürchtungen erstickte. Und während er so dasaß und das Essen herunterwürgte, das ihm Widerwillen erregte, dachte er, daß das nun der letzte Freitagabend sei, den er mit seinen Alten verleben, daß sein Platz leer bleiben würde, daß sie nun allein da sitzen würden. Ach, der Vater wird es eher verschmerzen, Geschäft und Kaffeehaus werden ihn wieder dem Leben zuführen … aber die Mutter! die Mutter! … nur nicht denken … nur nicht denken!
Frau Ralchen hatte ihn wieder scharf angeblickt, und ihr Mißtrauen wuchs aufs neue. Sie konnte sich den Grund ihrer Unruhe nicht klar machen, sie wußte gar nicht, nach welcher Richtung sie ihre Gedanken senden sollte, aber sie fühlte, daß mit ihrem Sig etwas nicht in Ordnung wäre; das genügte, ihr müdes Herz lebhafter klopfen zu lassen, und sie beschloß, noch heute abend den Fall mit Veilchen gründlich zu erörtern.
Herr Salomon, der nach einer reichlich genossenen Mahlzeit die Vorzüge des Bettes zu schätzen wußte, suchte, mit der Abendzeitung in der Rechten und den Geldschrankschlüsseln in der Linken, sein – ach, schon seit geraumer Zeit »der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe« keusches – Schlafzimmer auf, und »mei Sig« gewann es über sich, mit seiner Mutter die am Freitagabend übliche Partie Domino zu spielen. Als er heimlich seine Uhr zog, um zu sehen, ob es noch Zeit sei bis zu dem in der »Löwengrube« verabredeten Rendez-vous, knisterte ihm der Brief an Constanzen in der Tasche, den er nachher in den Kasten werfen wollte. Frau Ralchen, die sich scheinbar ganz in das Spiel vertieft hatte, entging keine seiner Mienen; denn aus all dem lustigen Geschwätz, mit dem er sein »Pech« beklagte, und aus all den Neckereien, mit denen er sich über ihr »unheimliches Glück« wunderte, hörte sie doch mit scharfem Ohr heraus, daß ihm das alles nicht aus dem Herzen kam. Sie wollte ihn auf die Probe stellen, sie wollte ihn aufs Glatteis locken. Sie, die in ihrem ganzen Leben noch keine Unredlichkeit gedacht, geschweige begangen hatte, setzte falsche Steine an, sie bemogelte ihn, daß ein Idiot im letzten Stadium der Paralyse dagegen protestiert hätte. Er merkte nichts … sie wußte genug … er lachte, lachte … und ihr armes müdes Herz krampfte sich zusammen.
»Zwölf und drei macht sechzehn,« zirpte sie, »siehst Du wohl, Sig, Du wirst die Partie verlieren!«
»Ja, Muttchen,« erwiderte er heiter, »ich werde die Partie verlieren!«
Es fror sie. Sollte sie ihn fragen? Was kann's nur sein? Schulden? Er und Schulden! Sein Beruf? Der macht ihn glücklich. Die Assing? Steckt sie ihm immer noch im Kopf und Herzen? Ist er jetzt endlich sicher, daß sie dem andern, dem Dupaty, gehört, und daß sie ihm verloren ist für alle Zeit? Aber was hätten denn die beiden Herren damit zu tun? Still, still! Nur nicht an die offene Wunde rühren, sie heilen lassen, bis sie ganz vernarbt ist, still, still! wenn's ihn gar zu arg bedrückt, dann wird er schon von selbst zu seiner Alten kommen und ihr sein Herz ausschütten … still … still!
»Verloren, Muttchen,« und er wirft die Steine zusammen, »… perdu … perdutto, caputto … ich bin und bleibe eben ein Stümper!«
Er küßt sie auf die Stirn, wohl das letztemal!
»Gute Nacht, Mammele, gut‹ Nacht!«
Er hat den Brief in den Kasten geworfen. Und während er wie im Traum die einsame Straße geht und Tausende und aber Tausende Gedanken ihm wie ein wildes Heer durch den Sinn stürmen, späht Frau Ralchen in seinem Arbeitszimmer nach irgend etwas, was ihr Sigs Unruhe und was ihr den Besuch der Herren erklären könnte. Sie sucht auf dem Schreibtisch, sie forscht im Papierkorb, sie kramt nach den winzigsten Zettelchen … Sie findet nichts. Da plötzlich fällt ihr Blick noch einmal auf den mit Büchern, Papieren und Noten bedeckten Arbeitstisch. Was ist das? Wo ist das Bild von Constanze Assing, das hier immer auf der linken Seite stand? Sie kann's beschwören. Heute mittag hat's hier gestanden … und jetzt nicht mehr? Ihr und Salomons Bild sind noch auf derselben Stelle. Aber die Assing? Verschwunden? Plötzlich seit wenigen Stunden? Jetzt weiß sie den Grund, jetzt weiß sie, was sie trotz seiner Verstellung in ihres Sigs Augen gelesen hat: den Schmerz um die verlorene Liebe!
Und mit einem Seufzer, der aus der geheimsten Tiefe ihres alten, müden Herzens kam, stieg sie langsam und in Gedanken ganz versponnen die Treppe hinunter durch das schlafende Haus.
Als Freystätter sich durch den noch immer schlecht erleuchteten Flur und den noch immer oder schon wieder mit leeren Bierfässern, Kücheneimern und aufgestapeltem Kleinholz angefüllten Hof getastet hatte, in dessen rechter, ein bißchen glitschiger Ecke eine rote, zerbrochene Laterne den durstigen Wanderer zur Einkehr lud, trat er in die »Löwengrube«. Das Lokal war schon ziemlich leer. Die meisten der in der Nähe wohnenden Stammgäste hatten, um die vertrackte Gardinenpredigt, die sie schon auswendig kannten, nicht immer wieder hören zu müssen, sich schon in ihren Betten vergraben. Freystätter sah nach der Uhr; es fehlten noch einige Minuten an elf.
Als er sich eben hinsetzen wollte, bemerkte er an dem runden Fenstertisch, dessen umgekehrter Stuhl noch immer für den persönlich verhinderten Professor Richard Assing reserviert war, den wackeren Herrn Gerum, der, vor sich hinstarrend, wohl noch auf den säumigen Zechgenossen zu warten schien. Freystätter bot ihm herzlichen Guten Abend und sagte ihm, daß er die beiden Mappen in den nächsten Tagen bestimmt zurückerhalten würde. Entweder direkt von ihm selbst oder, was wahrscheinlicher wäre, durch einen von Fräulein Assing bestellten Dritten.
»Sagen 's mal, Herr Doktor, wie geht's denn heut' dem Fräulein? Hat 's sich schon a bisserl beruhigt?«
»Ich hoffe … ich hab' sie heute nur flüchtig geseh'n!«
»Wissen's: weil's mir gestern abend gar so leid 'tan hat, dös arme Hascherl, bin i' heut' nachmittag zu ihr 'gangen … aber d' Jungfer hat g'sagt, dös Fräulein sei krank 'worn.«
»So,« erwiderte Freystätter kühl, und Herrn Gerum fiel doch die Teilnahmlosigkeit auf, mit welcher der Herr Doktor die üble Nachricht aufnahm …
»Wissen's noch, Herr Gerum, als wir uns das letztemal hier trafen? Als der Herr Generalmusikdirektor ein Hoch ausbrachte auf diesen Herrn Dupaty, und als Sie die ganze Gesellschaft aufforderten, mit Ihnen ein stilles Glas auf das Andenken unseres Freundes zu leeren?«
»Ja mei … dös is scho' alleweil so, und dös hat der Herrgottsvater schlecht ein'richt', daß er gar so zeitig nach die Guten schnappt und die Tröpf', die miserablen, leben laßt!«
»Sie werden mich entschuldigen … ich hab' mich hier mit zwei Freunden verabredet,« und mit herzlichem Händedruck verabschiedete er sich von dem einsamen Mann.
Die alte Uhr über der Schenke, der der ewige Tabaksqualm auf die Brust geschlagen war, schlug müde und heiser elf, als Doktor Sinsheimer und Doktor Ellwanger eintraten und Freystätter begrüßten. Doktor Sinsheimer war der Sohn eines Antiquitätenhändlers; er amtierte als Konzipient bei dem ersten Kriminalanwalt: ein zarter, schlanker Mensch mit wundervoll gemeißelter Stirn. Doktor Ellwanger, Assistent an der großen Poliklinik des Herrn Professors Pfannenschmied, hochgewachsen und stämmig; ein paar tüchtige, leicht gerötete Schmisse in dem klugen und guten Gesicht verrieten den alten Couleurstudenten. Beide Juden, wie Freystätter, beide gescheite, tüchtige, saubere Menschen, wie er, beide seit der gemeinschaftlich verlebten Jugendzeit ihm in treuer Freundschaft ergeben.
»Die Sache ist also erledigt worden,« begann Sinsheimer in tiefem Ernst. »Ein Arrangement war nicht zu bewerkstelligen. Die Herren bestanden auf Deiner schriftlichen Abbitte. Die Verabredung lautet auf Sonntag früh sieben Uhr im Planegger Wäldchen … Ellwanger wird Dir die vereinbarten Bedingungen vorlesen.«
Der wischte sich die ein wenig beschlagene Brille ab und las:
»Punktation. Fester Stand fünfzehn Schritt. Jeder Schuß, innerhalb fünfzehn Sekunden, wird durch Kommando 1, 2, 3 bezeichnet. Beim Anfang 1, bei acht Sekunden 2, bei fünfzehn Sekunden 3, pro Mann drei Kugeln. Versagen gleichbedeutend Schuß. Gezogene Pistolen. Das Los entscheidet die Reihenfolge des Ladens. Derselbe Sekundant ladet alle drei Mal beide Pistolen. Treffpunkt: Sonntag, 23. März, sieben Uhr, Starnberger Straße, an der Gastwirtschaft zur Eintracht. Herr von Mauerbrecher und Herr Doktor Ellwanger bestimmten als Arzt Herrn Doktor Hermann Bruckfelder. Herr Camille Dupaty und Herr Doktor Sigmund Freystätter übergeben ihren Sekundanten eine eigenhändige Bescheinigung, daß sie sich selbst erschossen haben. Baron François de Courcelles, Karl von Mauerbrecher, Doktor Georg Sinsheimer, Doktor Martin Ellwanger.«
»Das ist der Tod,« sagte Freystätter ruhig.
»Ja, mein Junge,« bestätigte Sinsheimer, »es sind so ungefähr die schärfsten Bedingungen … einen Schritt noch weiter, und es wäre Mord!«
»Nicht wahr,« forschte Ellwanger, »dieser Lump hat Dir gedroht, den Teil eines Briefes zu veröffentlichen, den ihm Fräulein Assing 'mal geschrieben hat? Und in dieser Stelle ist von Dir die Rede, sticht wahr?«
»So war's!«
»In ehrenrühriger oder Dich beleidigender Weise?«
»Ich möchte Dich bitten, auf die Beantwortung dieser Frage zu verzichten …«
»Ach so!« sagte Ellwanger gedehnt und wechselte mit Sinsheimer schnell einen verständnisinnigen Blick. Und beide dachten sich: »also doch!«
»Fräulein Assing hat mit der Sache weiter nichts zu tun, als daß sie mich beauftragte, Briefe zurückzufordern, die Dupaty von ihr besitzt. Er zwang mich dann zu einer Unterhaltung über den ›Liebestod‹, den er dem verstorbenen Richard Assing gestohlen hat. Er wollte mich zunächst mit Bitten von der ihm angekündigten öffentlichen Brandmarkung zurückhalten. Und von der Bitte ging er dann zu der Drohung über, die Du vorhin erwähntest.«
»Und da hast Du ihm entgegengeschleudert,« rief Ellwanger lebhaft, »daß es ihm auf eine Nichtswürdigkeit mehr nicht ankommt?«
»Du hast recht getan, mein Sohn, Du konntest gar nicht anders handeln!«
Freystätter reichte ihm dankend die Hand.
»Praktisch gesprochen,« fuhr Ellwanger fort, während er große Wolken in die ohnehin schon genügend verqualmte Luft blies, »mein lieber Sig, ich habe mich bereits erkundigt. Dieser Herr Dupaty soll ein ganz verfluchter Schütze sein. Mit Dir wird die Geschichte wahrscheinlich bedeutend hapern. Hast Du überhaupt schon 'mal eine Pistole in der Hand gehabt?«
»Noch nie!«
»Dann wirst Du also die Güte haben, Dich morgen früh pünktlich um acht Uhr in Oberwiesenfeld einzufinden, und wirst unter meiner Leitung auf dem Schießstand ein paar hundert Uebungsschüsse abfeuern!«
»Ach, wozu denn?« murmelte Freystätter.
»Wozu denn?« brauste Ellwanger auf, und die Schmisse in seinem Gesicht traten blutrot hervor, »wozu denn? Ja, zum Donnerwetter, um dem Kerl den Garaus zu machen. Ja, mein lieber Freund, so einfach, wie Du Dir die Sache vorzustellen scheinst, ist so 'n Pistolenduell denn doch nicht. Du stehst nämlich nicht allein auf der Mensur. Da drüben steht noch einer, und jede Kugel kann treffen. Wozu denn? sagt in solchem Falle nur ein Mensch, der die Partie von vornherein verloren gibt, weil er es will, weil er sterben will … und das willst Du doch nicht?«
Ellwanger und Sinsheimer sahen Freystätter scharf in die Augen. Er erwiderte ruhig ihren Blick, aber sie wußten genug.
»Hast Du vielleicht letztwillige Verfügungen zu treffen?« fragte der Jurist.
»Ja!«
»Handelt es sich um Wertobjekte?«
»Nein, nur um Andenken, die ich verteilen will, und meine Bücher und Noten, um den Flügel und ähnliches.«
»Es genügt, wenn Du im Schreibtisch ein versiegeltes Schreiben zurückläßt, das die genauen Bestimmungen enthält!«
»Zwölf Uhr?« sagte Ellwanger. »Sig, leg' Dich jetzt schlafen! Du brauchst morgen 'nen klaren Kopf und 'ne sichere Hand!«
Sie standen auf und traten auf die Straße.
»Wann seh' ich Euch beide morgen?«
»Nachmittags!« erwiderte Sinsheimer, »bis dahin wird alles besorgt sein, die Bestellung des Wagens für Sonntag früh um dreiviertel sechs, die Pistolen … Du kannst Dich ganz auf uns verlassen!«
»Das weiß ich!« und Freystätters Stimme zitterte ein wenig. »Hör' mal, Schorschl, noch eine Bitte, Du mußt Deiner Mutter unter irgendeinem Vorwand sagen, daß sie meine Alte für morgen nachmittag einladet. Sie ist nämlich ein bisserl sehr ängstlich, und wenn Sie Euch beide da plötzlich sehen würde …«
»Versteh' schon … wird erledigt.«
»Und«, indem er sich zu Ellwanger wendete, »aus diesem Grunde möchte ich auch Dich bitten, mich morgen früh nicht von meiner Wohnung abzuholen, sondern an der Rosengassenecke mit einem Fiaker zu warten.«
» Allright!«
Vor dem Hause mit dem Muttergottesbild und dem »ewigen Licht« trennten sich die Freunde.
Schweigend gingen Sinsheimer und Ellwanger eine Weile nebeneinander her, bis endlich Ellwanger loswetterte:
»Eine verdammte, nichtswürdige, scheußliche Geschichte! Dieser Schuft wird unseren Sig wegputzen, wie man 'nen Hasen abschießt. Darüber bin ich mir klar. Denk' Dir nur: in seinem Leben hat er noch keine Pistole in der Hand gehabt. Dazu die ungeheure Aufregung … das Zittern der Hand … dann wird er – und ich kann's ihm morgen tausendmal einschärfen – wie alle Anfänger, so lange zielen … bis der andere … infam! ganz infam! Aber was will das alles sagen … er will sterben … er wird sich eben so stellen, daß der andere ihn treffen muß. Er will sterben!«
»Lieber Freund,« entgegnete Sinsheimer, »davor können wir ihn nicht, kann ihn niemand retten. Und würde er selbst, was ich ja leider auch für ganz unwahrscheinlich halte, aus diesem Duell mit dem Leben davonkommen, am nächsten Tage täte er's ja doch!«
»Die Assing?«
»Zweifellos!«
»Er liebt sie noch immer?«
»Leidenschaftlich!«
»Armer Kerl! Fünfundzwanzig Jahre und nur noch einunddreißig Stunden zu leben! Hundsföttisch! niederträchtig!«
»Schlaf wohl, lieber Alter, und auf Wiedersehen morgen nachmittag bei Sig!«
»Auf Wiedersehen! … Aber das sage ich Dir, Schorschl, heute schon …,« und Ellwangers Stimme bebte vor rasendem Zorn, »wenn mir dieser Patron meinen Sig um die Ecke befördert … ich schwöre Dir's zu … dann fordere ich ihn vor die Pistole, und dann soll der Halunke sich mal mit dem Hintern den Mond anschau'n! … Verlaß Dich darauf! … Gute Nacht!«
Als Freystätter in sein Zimmer trat, fand er es zu seinem Erstaunen völlig dunkel. Nur der Mond lugte durch eine obere Fensterscheibe hinein und warf ein schwaches Licht auf die Kolossalbüste Beethovens, die ihm Constanze zum vorigen Weihnachten geschenkt hatte. Die Arbeitslampe auf dem Schreibtisch, diese alte treue Gefährtin, die ihn sonst so freundlich grüßte, war erloschen, und alle Versuche, ihr wieder Leben einzuhauchen, blieben erfolglos. Und das war eigentlich kein Wunder. Wenn ein Mensch keine Kraft mehr hat, stirbt er, und wenn eine Lampe kein Oel mehr hat, tut sie das gleiche. Und die Ursache dieses allzufrühen Hinscheidens war das Werk Ralchens und ihrer Vertrauten Veilchen. Sie wollten »mei Sig« zur rechtzeitigen Nachtruhe zwingen. In ihrer diplomatischen Schlauheit hatten die düsteren Verschwörerinnen vergessen, ihrem Opfer auch die Kerzen auf dem Nachttisch und am Flügel zu entziehen. Er steckte sie an und warf sich dann todmüde in seinen alten Lehnsessel. Der hatte, wie ihm seine Mutter erzählte, ihrem Großvater gehört, und war zum Dank für die den Generationen geleisteten Dienste heilig gesprochen worden. Was mochte dieses alte Möbel wohl schon alles erlebt haben! Er war aus Pietät niemals überzogen worden, die Farben des einst geblümten Kattuns waren längst verwischt, sein altes Mahagoni zeigte schon hie und da Risse, aber er stand doch noch fest auf seinen alten Beinen, als ob er sagen wollte: »Ich habe euch alle kommen und gehen gesehen, die noch leben und ebenso die, die denen folgen werden; ich werde alles über mich geduldig ergehen lassen, Staub und Zug und selbst die wahnwitzigen Rohrstockzüchtigungen Veilchens: ich bleibe stehen, ich weiche und wanke nicht, ein unvergängliches Denkmal der Dynastien Freystätter und Würmersheimer. Mein lieber Sig! Ich habe allen deinen Vorfahren gedient, ich habe viel Leid und Kummer, Gram und bange Sorgen miterlebt und Seufzer und Gebet gehört: einem so traurigen, so ganz verzweifelten Menschen, wie du es bist, habe ich noch nie meine Lehne geliehen! Wie lange wird's noch dauern, keine dreißig Stunden mehr, und ich werde verwaist sein und ich werde Dich nie mehr am Schreibtisch sehen und werde nie mehr die schönen Melodien hören, die Du mir auf dem Flügel vorzauberst, und es wird in diesem traulichen Zimmer eine große Stille sein, eine lange, ach – so lange tiefe Stille …« Ja, so sprach der alte Lehnsessel. Und er hatte recht.
Sigmund Freystätter war traurig und ganz und gar verzweifelt. Was war auch alles seit gestern auf ihn eingestürmt! Die Entdeckung des nichtswürdigen Betruges, die Seligkeit, ihr dienen zu können, der grausige Brief, die Herausforderung! Sie ist krank! … mag sie doch! Sie wird genesen, aber er wird sterben. Sie hat ihn verwundet, sie hat ihn bis ins Mark getroffen, sie hat ihn verhöhnt vor dem anderen. Verhöhnt! ihn, den »Spezi«! Ah bah! Das Leben hat keinen Reiz und keinen Sinn und keinen Wert mehr für ihn … alles Licht ist ausgelöscht … Er starrt ins Dunkle. Wenn ihn nur wenigstens die Kugel treffen wollte, damit es ihm erspart bliebe, sich schimpflich aus der Welt zu stehlen. Die Briefe, die er von ihr besitzt, diese harmlosen Zeugen der glücklichen Jugendzeit, liegen links im Schreibtisch. Die soll man ihr versiegelt zurückschicken, und auf das Kuvert wird er schreiben: »Absender der arme Narr.« Ja, sie soll es wissen, daß er an diesen drei kleinen winzigen Wörtchen gestorben ist. Welches Datum ist denn übermorgen? Doch der 23. März. Wahrhaftig, an ihrem Geburtstag wird er im Schnee liegen, ein toter Mann! In die Bücher sollen sich Sinsheimer und Ellwanger teilen, die Noten bekommt Manner, seine kleinen Ersparnisse Veilchen, und die Mutter? Was läßt er ihr zurück? dieser gütigen Seele, die abgeschlossen hat, die nichts für sich mehr will, sondern nur für den, dem sie das Leben gab, alles ersehnt, erfleht und erhofft, und sollte sie die Sterne vom Himmel herunterholen: das Glück! Was läßt er ihr zurück? Dieser alten, lieben, verhutzelten Frau, die, würde sie es ahnen, was ihm bevorsteht, sich vor die Schwelle des Hauses werfen würde, um ihm den Ausgang zu wehren … was läßt er ihr zurück? Er weiß es … er läßt ihr sein Herz zurück, sein dankbares, zerbrochenes Herz! Sie wird nicht lange an dem Leid zu tragen haben. Sie wird auslöschen, wie die Lampe dort drüben, weil sie keine Kraft mehr hat zu leben … ja … ja … die Mutter! … und langsam schläft Sigmund Freystätter ein.
Nach dreistündigem, unruhigem Schlafe erwachte er und fühlte sich gestärkt. Er goß sich ein paar Kannen kaltes Wasser über den Kopf, warf Kissen und Decken in seinem Bett durcheinander, damit die da unten nichts merken sollten, kochte sich auf seiner Maschine Tee und setzte sich dann an den Schreibtisch, um so viel als möglich noch zu erledigen, bis er an der Rosengassenecke Ellwanger treffen würde.
Den ersten Brief schrieb er an Manner. Er weihte ihn ein in Dupatys Diebstahl und bat ihn, da er selbst keine Zeit mehr dazu habe, die öffentliche Anklage gegen den Frevler zu erheben. Er bäte ihn, im Namen des verstorbenen Schöpfers, bei der nächsten Aufführung des »Liebestod« – also morgen am 23. März – auf den Zettel setzen zu lassen: »Die Sieger, Musikdrama in drei Akten von Richard Assing«. Er bäte ihn dann, aus der beifolgenden Originalpartitur einige besonders markante Stellen faksimiliert in der Zeitung abzudrucken (die Redaktion unterrichte er gleichzeitig) und dann an der Hand des vorliegenden Materials in zwei bis drei umfangreichen Artikeln den Schurken zu brandmarken. Fräulein Affing würde ihm nicht nur die Erfüllung dieser Bitte nicht wehren, sondern ihm für die Ehrenrettung des Vaters innigen Dank wissen. In herzlichster Dankbarkeit drücke er ihm die Hand und bäte ihn, den ein seltsames Geschick abberufe, ihm sein Wohlwollen auch über das Grab hinaus zu bewahren. Dann sah er auf die Uhr. Es war die Zeit, um welche er sich mit Ellwanger verabredet hatte, und er durfte ihn nicht warten lassen. Er legte den Brief unverschlossen auf die beiden großen Mappen, die Assings Briefe und Notenblätter enthielten, und sperrte den Schreibtisch zu. Den Abschied an die Mutter, die letztwilligen Verfügungen wollte er nach seiner Rückkehr schreiben … Noch einmal sah er nach der Uhr. Halb sieben! Die Eltern tun sich gütlich und schlafen noch, weil ja heute am Samstag das Geschäft doch nicht geöffnet wird. Laß sie nur ruhen, die guten Alten! Sie werden noch früh genug erwachen. Durchs Küchenfenster fällt Licht, in dessen Schimmer er Veilchen am Herd hantieren sieht. Auf den Fußspitzen, Schritt für Schritt, tastet er sich die alte knarrende Treppe hinunter und verläßt das friedliche Haus seiner Eltern wie ein Dieb, der ihnen etwas Kostbares wegschleppt. Er wird ihnen in vierundzwanzig Stunden das Kostbarste rauben, was sie ihr eigen nennen: sein Leben!
Wenige Minuten darauf fährt er mit Ellwanger hinaus in den erwachenden Morgen.
Frau Ralchen war ihrer Gewohnheit gemäß früher aufgestanden als Herr Salomon, der noch wacker pustete, Seidenzeug zerriß, zwitscherte, pfiff, sang, blies und trillerte. Dann hatte sie sich vor ihren wohlbesetzten Kaffeetisch hingepflanzt und setzte sich, nachdem sie ihr seit dreiundvierzig Jahren unverrückbar eingehaltenes Pensum von zwei Tassen und zwei Kipfeln erledigt hatte, die große schwarze Hornbrille auf, um die Zeitung zu lesen. Das war ihr sonst immer die liebste Stunde des Tages gewesen, wenn sie Mann und Sohn noch in den Federn wußte, wenn's noch ganz still war im Hause, wenn sie dann endlich hörte, wie der Hausdiener Balthasar, der erst seit siebenunddreißig Jahren seines Amtes waltete, die Jalousien des Ladens öffnete, und wenn sie dann gänzlich ungestört in Familiennachrichten, Inseraten und Romanfortsetzungen schwelgen konnte, natürlich auch in der Theater- und Musikrubrik, nachdem »mei Sig« Kritiker geworden war. Ja, sonst war's ihr die liebste und heimlichste Stunde des Tages gewesen … Heute wollte und wollte sich das Interesse nicht einstellen, mit dem sie sonst die Verlobungen, Verehelichungen, Geburten und Todesfälle bei den Rosenstöcken, Veilchenfeldern, Blumenthälern und Goldbergen verfolgt hatte. Ihr Sig wollte ihr nicht aus dem Sinn. Immer wieder hatte sie nachts – natürlich in allen Züchten und Ehren – an die beiden fabelhaft eleganten Herren denken müssen, und immer mehr war ihr Vertrauen in Sigs Aussage geschwunden, daß es sich da wirklich nur um eine Wohltätigkeitssache handle. Sie nahm die Zeitung wieder zur Hand, sie mußte doch nun endlich erfahren, wie der Roman »Ketten der Liebe« enden würde, ob die junge Gräfin, die so fabelhaft schön, so unsagbar tugendhaft und so fürchterlich reich war, den jungen Maler heiraten würde, der so unerhört talentvoll, so beispiellos bescheiden und so schrecklich unglücklich war, und plötzlich fiel ihr Blick auf die Theaterrubrik und sie las:
»Wegen plötzlicher schwerer Erkrankung des Fräuleins Affing kann die für morgen angekündigte Vorstellung von Camille Dupatys ›Liebestod‹ nicht stattfinden: dafür wird ›Die Stumme von Portici‹ zur Darstellung gelangen. (Wie wir hören, hatte sich die Künstlerin gestern sehr wohl befunden und hatte mehrere Besuche empfangen. Ganz plötzlich stellte sich nachmittags heftiges Unwohlsein mit starkem Fieber ein, das bald zur völligen Bewußtlosigkeit führte. Der sofort hinzugezogene Theaterarzt Herr Hofrat Rabenbauer und der Hausarzt Herr Professor Pfannenschmied konstatierten eine starke Entzündung des Gehirns. Wir wünschen der genialen Künstlerin von Herzen baldigste Genesung.)«
Frau Ralchen starrte vor sich hin, dann las sie kopfschüttelnd Wort für Wort noch einmal die Notiz und starrte dann wieder ins Leere. Und plötzlich begann sie Constanzens Erkrankung mit ihrem Sig in Verbindung zu bringen und den Besuch der beiden Herren mit dem so plötzlich gestern vom Schreibtisch verschwundenen Bild Constanzens zu verschmelzen, und je länger sie nachdachte, desto klarer glaubte sie den Zusammenhang erfaßt zu haben. Und wußte doch so herzlich wenig von all den Fäden, die ihren Jungen umgarnt hatten und ihn morgen um diese Zeit zu Falle bringen würden … Aber diese Ungewißheit, diese Angst, diese Qual konnte sie nicht ertragen … sie wird ihn fragen … jetzt gleich … und wenn sie ihn recht schön bittet, wird er ihr schon alles sagen … dafür ist er doch ihr Sig! Entschlossen ergriff sie den Schlüsselkorb, ihren unzertrennlichen Begleiter, und humpelte, so schnell wie ihre alten Beine und ihr müdes Herz es erlaubten, in den zweiten Stock. Sie horchte an der Tür … drin regte sich nichts … er schlief also noch fest … und ein Mensch, der gut schläft, kann, wie sie sich beruhigte, nicht von Gram und Sorgen verzehrt werden … Behutsam öffnete sie die Tür zum Arbeitszimmer. Es war noch leer. Er schlief also wirklich noch, und all ihre Angst war, dem lieben Gott sei Dank, unnütz gewesen. Die Tür zum Schlafzimmer stand offen. Leise, ganz leise trat sie auf die Schwelle. Das Bett durchwühlt, Hut und Mantel und Stock verschwunden … die Kerzen am Klavier und auf dem Nachttisch heruntergebrannt. Er hatte also die ganze Nacht durchgearbeitet. »Mei Sig« war fort … es ist noch nicht ein Viertel auf acht … er war fortgegangen, ohne ihr Guten Morgen zu sagen … heimlich hatte er sich aus dem Hause geschlichen! Und Frau Ralchen, dieses liebe, kleine, verschrumpelte Frauchen, wurde von so namenloser Angst gepackt, daß ihr müdes Herz stürmisch klopfte. Was denn nur tun? Wo ihn suchen? Salomon rufen? … noch nicht … noch nicht! … und überdies: was könnte er helfen. Ah, jetzt weiß sie, was sie tun wird! sie wird sich einen Wagen holen lassen und wird zur Assing fahren; sie wird sie zur Rechenschaft ziehen, daß sie ihren Sig unglücklich gemacht hat, und wird ihn zurückfordern von dieser unseligen Person … Nichts da! nichts da! Die sie anklagt, liegt ohne Besinnung und kann ihr keine Antwort geben. Was dann? was dann? Noch einmal sieht sie nach den Kerzen … sie sind völlig heruntergebrannt, er muß also die ganze Nacht lang gearbeitet haben … das muß ihr Aufschluß geben … das muß sie finden … und sollte sie … nein, nein … das nicht! Sie weicht zurück … und dennoch! … und sollte sie den Schreibtisch aufbrechen müssen. Er ist fest verschlossen und widersteht allen Versuchen, ihn mit ihren alten, von der Gicht verkrümmten Fingern zu öffnen. Aber, Gewißheit muß sie haben. Sonst überlebt sie die nächste Stunde nicht mehr. Sie weiß, daß sie etwas tun will, was ihr, dieser reinen und ehrlichen Seele, nie in den Sinn gekommen wäre. Sie greift in den Schlüsselkorb … sie versucht's … mit diesem, der ist zu groß … mit dem, der ist zu schlank … mit dem dritten … dem vierten … endlich hört sie das Schloß schnappen und fühlt, wie der Schlüssel sich dreht … sie reißt die Schublade auf. Vorn zwei große Mappen, die kennt sie. Die hat Sig vorgestern abend mitgebracht, und obenauf liegt ein offener Brief und daneben das an den Generalmusikdirektor adressierte Kuvert … das alles hat nichts mit der Sache zu tun … das kann ihr nichts nützen … musikalische Auseinandersetzungen, von denen sie nichts versteht. Sie kramt in den Rechnungen, sie greift nach den Notenblättern, sie wühlt und wühlt mit zitternden Händen und findet nichts … nicht einmal das Bild der Assing, nicht den geringsten Anhalt, nicht die kleinste Handhabe, an die sich klammern könnte … nichts … nichts! … sie hat sich also umsonst erniedrigt und hat mit gieriger Hast und unbezwinglicher Neugierde von den Geheimnissen ihres Jungen den Schleier zu ziehen versucht … Neugierde? … Ach nein! das war es wahrlich nicht … das sagt sie sich auch selbst … nur schrankenlose, bebende Liebe ist's gewesen. Sie sucht und sucht und findet nichts, und gerade vor ihren Augen lag der Brief, den sie achtlos beiseite schob, dieser Brief, in dem ihr Sig den Freund bittet, ihm, den ein seltsames Geschick abberuft, seine gütige Gesinnung auch über das Grab hinaus zu bewahren. Soll sie auf die Polizei laufen? Nicht doch … nicht doch! Nur nichts über die Schwelle des Hauses lassen! Allein und still das Ungeheure tragen, wenn's der da oben so bestimmt hat. Aber der Sig wird wiederkommen. Ohne von seiner Alten Abschied genommen zu haben, stiehlt der sich nie und nimmer aus der Welt. Sie schließt den Schreibtisch, und eine Stunde später geht sie, wie alle Samstag, an ihres Salomon Seite zur Synagoge. Wenn der Herr im Himmel lebt: das Gebet, das sie zu ihm emporsenden wird, die demutsvolle Bitte, um die sie ihn anflehen wird, muß und wird er erfüllen. Und in diesem festen Vertrauen betritt sie den Tempel.
Auf der Rückfahrt vom Schießplatz sagte Ellwanger, der wieder große Tabakswolken durch das geöffnete Wagenfenster blies, zu Freystätter:
»Weißt Du, mein Junge, Du bist ja ein ganz ausgezeichneter Kritiker, aber Du bist ein ganz miserabler Schütze, Du hast ein ganz ungewöhnlich gut organisiertes Gehirn, aber Du hast eine ganz ungewöhnlich tappige Hand. Umgekehrt wär' mir's – wenigstens für morgen früh – lieber.«
»Ja, mein guter Martin, an der Richtigkeit Deiner Behauptungen ist, was wenigstens meine Ungeschicklichkeit betrifft, gewiß nicht zu zweifeln,« erwiderte mit ein wenig wehmütigem Lächeln Freystätter, »aber als ausschließlichen Beruf kann man doch nicht Pistoleschießen wählen, da muß man doch schon noch eine Nebenbeschäftigung haben.«
»Sag' mal, Junge: ich verstehe Dich in der Affäre immer noch nicht ganz. Warum hast Du denn die Forderung dieses infamen Lausbuben eigentlich angenommen? Etwas Satisfaktionsunfähigeres ist doch so ungefähr seit Moses noch nicht dagewesen? Du hättest ihm mit ausgesuchtester Höflichkeit antworten sollen: »Mein hochverehrter Herr! Wir wollen die Sache nur noch wenige Tage aufschieben. Vorläufig werden Sie mir gütigst gestatten, Ihre kolossale Schweinerei der Oeffentlichkeit zu übergeben, und wenn Sie danach auch noch Lust verspüren sollten, dann steh' ich Euer Hochwohlgeboren gern zu Diensten!«
»Ja, ja,« meinte Freystätter, »aber es gibt so Dinge, die …,« und schwieg.
Also es ist sonnenklar: er wollte das Duell; er hat die Forderung mit Freuden ergriffen, um sich auf anständige Weise davonzumachen. Nicht dieses Bengels Diebstahl … ach, das ist ja nur noch Vorwand … der Brief der Assing treibt ihn in den Tod. Der Deixel hole alle Weibsbilder … sie prügeln und sich zum Dank dafür von ihnen küssen lassen … sich von ihnen lieben lassen, aber gefälligst ohne Rückantwort … das ist doch das einzig Wahre! …
»Also addio, Sig, nachmittags drei Uhr bin ich mit Schorschl bei Dir.«
»Kruzi Türken und Granaten!« schrie Ellwanger, als er allein nach seiner Poliklinik fuhr, »morgen um die Zeit ist er ein toter Mann! Er zielt viel zu lange. Bevor er überhaupt zum Schuß kommt, liegt er schon mit zerfetzter Lunge oder einer ähnlichen Annehmlichkeit mausetot im Schnee. Kreuzmillionendonnerwetterhimmelherrgottsakrament!«
Freystätter, der seine Eltern im Tempel wußte, stieg laut die knarrenden Treppen hinauf. Seine Zimmer waren, wie gewöhnlich, hergerichtet, und auf dem Schreibtisch herrschte, trotzdem Veilchen Staub gewischt hatte, musterhafte Ordnung. Er setzte sich hin und schrieb:
»Mein letzter Wille.
Ich vermache meinem Freunde Herrn Doktor Georg Sinsheimer, hier, Amalienstraße 95a, die Hälfte meiner nach dem beiliegenden Katalog aus 1738 Bänden bestehenden Bibliothek; ferner meine Uhr und Kette.
Meinem Freunde Herrn Doktor Martin Ellwanger, Sonnenstraße 34 (bei Frau Schwertfeger), vermache ich die andere Hälfte der Bibliothek, ferner meinen Siegelring und die beiden Krawattennadeln.
Herrn Generalmusikdirektor Eduard Manner, Brienner Straße 69, vermache ich meine sämtlichen Musikalien sowie die musikalisch-kritischen Werke; auch soll er die Kolossalbüste Beethovens erhalten.
Unserer treuen Dienerin Veilchen Ginsburger vermache ich die fünfhundert Mark Pfandbriefe, welche mein Vater für mich in Verwahrung hat.
Dem Hausdiener Balthasar Ledermann vermache ich meine Kleider und Wäsche.
Dem Buchbindermeister Herrn Christoph Sebastian Gerum vermache ich den Spazierstock mit der goldenen Krücke.
Das die Aufschrift tragende Kuvert: 11. Januar 1880 bis 23. März 1890 soll Fräulein Constanze Assing uneröffnet zugeschickt werden.
Ich wünsche im Erbbegräbnis meiner geliebten Eltern in aller Stille beigesetzt zu werden.
München, 22. März 90.
Dr. Sigmund Freystätter.«
Er ging ein paarmal im Zimmer auf und ab, um zu prüfen, ob er auch nichts vergessen habe, und schrieb dann:
»Mein geliebtes Muttchen!
Sieh' mal, mein Alterchen, die Sache ist so: ich bin gezwungen worden, jemand zu beleidigen, und der hat Genugtuung mit der Waffe verlangt. Da geht's nun nicht anders: ich muß mich verteidigen. Unter Männern ist das so. Es tut mir in der Seele weh, daß ich Dir diesen Schmerz bereiten muß, aber ich hätte doch nicht weiter leben können. Du wirst es tragen müssen, Mammele. Soll ich Dir danken für all Deine Liebe? Ich kann es nicht. Ich habe Dich geliebt und verehrt mit allen Fasern meines Herzens, ich wollte Dir meine Hände unter die Füße legen, um Dein Alter hell und freundlich zu gestalten. Das Schicksal hat's nicht gewollt. Sage dem Vater, daß ich ihm für alle die Opfer, die er mir gebracht hat, und die mir Studium und Entwicklung ermöglichten, in inniger Liebe danke. Stützt Euch gegenseitig! In Eurer Frömmigkeit und in Eurem Glauben werdet Ihr Zuversicht und Trost finden. Leb' wohl, mein Muttchen, ich flehe allen Schutz des Himmels auf Dich herab. Leb' wohl.
Dein Sig.«
Während er diesen Brief schrieb, war Frau Ralchen mit ihrem Salomon vom Tempel zurückgekehrt. Der Weg, den sie des Samstags wegen zu Fuß zurücklegen mußte, wurde ihr zur Ewigkeit, dieser Weg, den sie sonst gerne ging, war heute ein Dornenweg! Und immer wieder mußte Herr Salomon sein wie im Traume humpelndes Ralchen am Arme packen, um sie vor dem Gedränge und an den Straßenübergängen vor den Wagen zu schützen. Als sie endlich vor dem Hause mit dem Muttergottesbild angelangt waren, wurde Herr Salomon von einem Bekannten in ein Geschäftsgespräch verwickelt, und Ralchen trat allein in den immer dämmerigen Flur.
»Er ist da! Unser Sig ist da!« schrie ihr vom ersten Treppenabsatz jubelnd Veilchen entgegen, die seit einer Stunde auf die Rückkehr ihrer Herrin gewartet hatte.
»Er ist da … er ist da!« sie hat ihn wieder … er lebt … er lebt … sie läßt ihn nicht mehr allein fortgehen … wohin er geht, sie folgt ihm … sie will ihn sehen … will seine Stimme hören … sie will … ach Gott! was will sie alles … »er ist da! … er ist da!« und mit zitternden Knien und gestützt auf Veilchen keucht sie hinauf in den zweiten Stock. Dann steht sie einen Augenblick still, um Luft zu schöpfen, weil ihr müdes Herz vor namenloser Seligkeit gar so stürmisch pocht, und öffnet die Tür.
»Mei Sig« hatte eben das Kuvert geschrieben: »Meiner Mutter«, als Frau Ralchen eintrat. Aber so schnell er es auch unter den Briefschaften verstecken wollte, sie hatte es doch bemerkt.
»Nu', mei Sig,« zirpte sie, und diese kleine schwache Stimme zitterte, als ob sie erlöschen wollte, »was sind das doch für G'schicht'n? Läufst vor Tummel und Tag fort, sagst Dei' Mutter net 'mal Guten Morgen? Weg biste, und ka' Mensch weiß: wohin?«
»Setz' Dich nur 'mal erst, Alterchen,« lachte er ihr mit voller Unbefangenheit zu, »hier in den alten Lehnstuhl … so! … so ist's recht. Ja, Muttchen, ich hatte nämlich«, und er streichelte ihr den weißen Scheitel, »eine Verabredung, die sich gar nicht aufschieben ließ.«
Sie spähte ihm in die Augen und wußte nicht, was sie davon halten sollte. War seine Heiterkeit echt, oder belog er sie?
»Ich erzähl' Dir die Geschichte mal später, viel später, in ein paar Jahren!«
»Sag' mir's gleich! Es ist sicherer … in ein paar Jahren leb' i net mehr!« Und wieder sah sie ihn forschend an.
»Du siehst ja so bleich aus, Alte?«
»Nu', die Treppen … und dann hab' i mich auch a bisserl geängstigt!«
»Meinetwegen?« lachte er hell auf. »Du alter Hasenfuß!«
»Sixt, Sig, mi' kannst ja doch net belügen! Hast doch immer Vertrauen zu mir g'habt, hast es plötzlich verloren?«
Er merkte, daß sie irgend etwas ahnte und daß das Unheil drohte. Aber zugestehen wird er ihr nichts … von ihr Abschied nehmen Aug' in Aug' … das ertrüge er nicht … sie wird's noch früh genug erfahren … dort in dem Brief steht alles …
»Vertrauen verloren?« lächelte er und glaubte, ein sehr schlaues Gesicht zu machen, »wie kommst Du denn nur auf solche Idee?«
»Warum hast Du denn die ganze Nacht durchgearbeitet?«
»Ich hab' geschlafen wie ein Murmeltier.«
»Ja, denk' nur … ich hatte vergessen, sie zu löschen, und als ich heute morgen nach siebenstündigem Schlaf aufwachte, waren nur noch ein paar Stümperl da. Hahaha! Meine Alte hat ihren Beruf verfehlt. Du hättest Untersuchungsrichter werden sollen!«
Herrgott! Will denn diese Qual nicht enden?
»I' hab' heut' hier Staub g'wischt … sag' mal, Sig, wo ist denn das Bild von der Assing 'blieb'n?«
»Das? … Das? … Wahrscheinlich verkramt … das wird unter dem Notenstoß dort liegen!«
»Na, da liegt's net. I' hab's g'sucht und hab's net 'funden!«
Er fühlt, daß sie den richtigen Weg einschlägt, daß sie auf das Ziel zusteuert. Aber er wird sich wehren … koste es, was es wolle!
»Weißt Du denn, daß sie krank ist?«
»Ja, ich hab' so etwas gehört.«
»So krank, daß die Vorstellung des ›Liebestod‹ für morgen abg'sagt ist? Daß zwei Professors bei ihr sind? Daß sie völlig bewußtlos liegt?«
Er verfärbt sich, er fühlt, daß ihm alles Blut zum Herzen strömt. Sie muß es merken und er kann es doch nicht ändern.
»Das tut mir sehr leid,« würgt er hervor, »sie ist so jung … sie wird sich schon wieder durchrappeln.«
»Solltest morgen doch 'mal Dich nach ihr umschau'n … an ihrem Geburtstag … geh' morgen hin!«
»Gewiß … gewiß!«
Morgen! Du lieber Himmel. Das wird er wohl kaum noch können … der arme Narr! Morgen! … Er geht im Zimmer auf und ab, um ihren auf ihn gerichteten Blicken auszuweichen. Frau Ralchen starrt lange auf den Teppich, den sie noch zu ihrer Aussteuer aus Neumarkt bei Ifterdingen mitgebracht hatte, und der nun auch schon ein bißchen verblaßt war, wie sie selbst. Dann atmete sie tief auf, als ob sie Mut fassen wollte, und sagte leise:
»Mei Sig … i hab' 'ne große Sünd' begangen … i hab' Dich um Verzeihung zu bitten …«
»Du?«
»Ja, sixt, als Du heut' morgen weggelaufen warst und i wußt' net, wohin, und als Du gar net wiederkamst, da hat mi' solche Angst packt, da war i' so verzweifelt … daß … daß … und sie flüstert ihr Geständnis kaum vernehmbar, »daß i' Deinen Schreibtisch g'öffnet hab', um zu erfahren, was mit Dir los ist!«
»Mutter!« und er hält sich am nächsten Stuhl fest. Sie hat den Brief an Manner gelesen … sie weiß alles! … Aber er bezwingt sich:
»Das war sehr unrecht von Dir, Alte! Na, was hast Du denn gefunden?«
»Nix!«
Er atmet auf … es ist ihm erspart … das Grausige … das Unerträgliche … der Abschied! Er ging ans Fenster des Schlafzimmers und blickte hinunter auf den Hof. Das Küchenmädchen wusch an dem seit Olims Zeiten laufenden Brunnen Salat. Er sah die drei alten Kastanienbäume, die er seit seiner Kindheit kannte, unter deren Schatten er so oft gespielt. Kahl und leer und entblättert stehen sie da, wie er selbst. Und da ihre Füße, die noch immer vor Erregung zitterten, sie nicht bis an das Fenster des anderen Zimmers trugen, blieb Frau Ralchen im alten Lehnstuhl sitzen und sagte:
»Sig! Hab' Erbarmen mit mir! I' erleb' den heutigen Abend net mehr, wenn Du mir net d' Wahrheit sagst …,« und da er noch immer schwieg, flüsterte sie:
»Kannst das vor Dir verantworten, daß i' vor Angst und Sorge sterb' und vor Herzensnot?«
Er drehte sich schnell um und trat zu ihr.
»Muttchen, ich dürfte eigentlich gar nicht darüber plaudern, aber um Dich zu beruhigen, will ich Dir's sagen. Um mich handelt sich's gar nicht. Es handelt sich um … um Ellwanger. Er hat einen Ehrenhandel … weißt Du … das ist ein Duell; er hat Sinsheimer und mich zu Sekundanten gewählt. Wir müssen dabei sein. Er hat mich um diesen Freundschaftsdienst gebeten, und den konnte ich ihm nicht abschlagen. Die Bedingungen sind übrigens so milde, daß es ohne alle blutigen Folgen abgehen wird. Es ist eben nur eine Formsache. Morgen früh um sieben geht's los und um acht – verlaß Dich darauf – trinke ich mit Dir den Kaffee.«
Und um seine Bewegung zu verbergen, ging er langsam in das Schlafzimmer und blickte wieder zum Fenster hinaus, das er, um frische Luft zu haben, ein wenig öffnete. In diesem Augenblick erhob sich leise, ganz leise Frau Ralchen, schlurfte zum Schreibtisch und ergriff den Brief, den er bei ihrem Eintritt zu verstecken versucht hatte.
»Na, bist Du jetzt endlich zufrieden?« tönte es aus dem Nebenzimmer.
Keine Antwort.
Er schloß wieder das Fenster.
»Noch immer nicht? Ja, warum denn nicht?« fragte er in leichtem Ton.
»Weil … weil Du lügst!«
Mit einem Sprung war er an der Türschwelle. Da sah er seine alte Mutter, die das an sie adressierte Kuvert in den flatternden Händen hielt.
»Gib mir den Brief!«
»Nein!«
»Muttchen, liebstes, bestes Muttchen, gib mir den Brief!«
»Nein! Der Brief ist an mich g'richtet. Den Brief will und werd' i' lesen.«
Kein Ausweg, keine Rettung, in einer Minute weiß sie alles! Daß ihm auch das nicht erspart bleibt … das Grausige … das Unerträgliche, der Abschied von ihr! So rolle denn, Schicksal! Rolle auch über diese kleine, gütige, schuldlose Frau, zermalme auch sie in Deiner Unbarmherzigkeit!
Frau Ralchen hatte den Brief fest gepackt. Sie humpelte zu dem alten Lehnstuhl, setzte sich ihre Brille auf und las den Brief. Und las und las, und je länger sie las, desto mehr flogen ihre welken Hände, desto mehr wurde ihr kleiner, schwacher Körper durchschüttelt, und als sie zu Ende gelesen hatte, tönte der heisere, markerschütternde Schrei zu ihm hinüber:
»Mei Sig!«
Und aus diesen beiden, so kleinen Worten tauchte alles empor, was an innigster Liebe auf dem Grunde dieses so gütigen Herzens ruhte, aus diesen beiden Worten, welche sie so oft in Zärtlichkeit gerufen, flammte unsäglichste Verzweiflung und klagte bitterstes Weh.
Und der alte Lehnstuhl flüsterte ganz insgeheim: »Da hatte ich geglaubt, daß ich, mei Sig, noch nie einem so traurigen, so ganz und gar verzweifelten Menschen meine Lehne geliehen hätte … ich habe mich geirrt … Die kleine Frau ist viel trauriger und viel verzweifelter als Du … Du wirst in wenigen Stunden nichts mehr wissen von all der Qual … sie bleibt zurück und muß die Zeit, die ihr noch vergönnt ist, in undurchdringliche Finsternis starren … glaub' mir: sie ist unglücklicher als Du!«
Mühselig richtete sie sich auf, und er stürzte ihr in die Arme.
»I' laß Di' net!«
»Es muß sein!«
»I' will net … will net, daß Du stirbst!«
»Ich werde nicht sterben!«
»Sig! Bleib' bei mir!«
»Nein!«
Und immer verzweifelter schluchzte sie auf:
»Bleib' bei mir!«
»Morgen früh! … Da gibt's kein Zurück mehr!«
»Ist's denn net möglich, daß der andere abbittet?«
»Ich habe ihn ja beleidigt … da müßte ich ja die Abbitte leisten, und das tue ich nicht!«
»Dupaty?«
»Ja!«
»Wegen … wegen der Assing?«
»Und … das Bild dort?«
Er schweigt; er will es ihr nicht eingestehen … aber sie weiß es dennoch.
»Glaubst Du denn, Mutter, daß ich weiter leben könnte? Willst Du, daß man mich verachtet? Daß man mich einen Feigling nennt? Willst Du das?«
»Nein … das will i nie und nimmer!«
Sie sinnt vor sich hin.
»Und keine Rettung mehr möglich?«
»Keine!«
Sie sieht ihm lange in die Augen, dann spricht sie, und ihre schwache zirpende Stimme klingt wie feierlicher Orgelton:
»Ohne Ehr' kannst net leben, tu' Deine Pflicht!«
Sie legt ihre beiden Hände auf sein Haar und murmelt: »Der Herr wird Dich unter seinen Schutz nehmen … mei Sig … i' seg'ne Dich!«
Camille war am gestrigen Abend, nachdem ihn seine Kartellträger verlassen hatten, in den Straßen kreuz und quer umhergeirrt, durch Gegenden und Vorstädte, die ihm unbekannt waren. Dann war er in die innere Stadt zurückgekehrt, und immer wieder zog es ihn nach der stillen Straße, und immer wieder in die Nähe des Hauses, in dem er die glücklichsten Stunden verlebt hatte. Wenn er sie nur noch einmal sprechen könnte … nur noch ein einziges Mal … dann wollte er sie um Verzeihung anflehen. Ja, er würde sie bitten und würde sie so lange und so heiß bestürmen, bis sie ihn verstehen und ihm auch vergeben würde. Daß sie im ersten Augenblick der Entdeckung empört aufflammte … es konnte gar nicht anders sein … aber sie wird ruhiger werden und wird sich dann zur Einigung geneigt finden lassen … Er wird zu ihr gehen … jetzt gleich … jetzt noch in der Nacht … vielleicht läßt sich doch noch alles zum Guten wenden …
Die Fenster von Constanzens Wohnung waren dunkel. Zwei Wagen hielten vor der verschlossenen Haustür. Auf sein Klingeln und Klopfen öffnete niemand. Er lief fort und lief durch andere Straßen und Gassen und stand plötzlich, ohne daß er es gemerkt hatte, wieder vor dem Hause. Er sah ein, daß es keinen Zweck hätte, jetzt hier zu warten. Dann morgen früh. Er würde sich schon Einlaß verschaffen oder nötigenfalls erzwingen. Nur dieses eine Mal will er und muß er noch mit ihr sprechen. Sie wird Mitleid mit ihm haben. Mitleid? Scheußlich … und noch obendrein von einer Frau, mit der er so eng verknüpft war … aber was hilft's? Gibt's denn in der ganzen Stadt nicht einen Menschen, dem er sich anvertrauen, den er um Rat, um Hilfe, um Vermittlung bitten könnte? … Keinen! … Verhätschelt haben sie ihn und angeschwärmt und haben mit ihm gespielt, aber nicht einer, der ihm jetzt die Hand als Stütze reichen würde. Nicht einen? … Doch … Manner! … Er wird ihm zuhören, wird ihn begreifen, wird ihn verurteilen, aber wird ihm helfen. Er ist klug, gewandt, er wird mit allen Kräften versuchen, den Lärm zu vermeiden. Camille ist schon auf dem Wege nach der Brienner Straße, da fällt ihm ein, daß Manner von einer kleinen Reise erst übermorgen mittag zurückkehrt, und übermorgen mittag ist's zu spät, dann ist schon alles vorbei. Vor dem Duell ist ihm nicht bange. Er weiß, daß er seinen Mann steht, aber vielleicht läßt sich doch noch etwas finden, um im letzten Augenblick … Plötzlich bleibt er stehen. Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, sich aus dem Wirrsal zu retten … er wird morgen früh Constanzen ihre Briefe übergeben, er wird das Opfer bringen, sich von diesen beredten Zeugen seines Glücks zu trennen … er wird sie ihr alle geben, bedingungslos, und sie selbst wird dann Freystätter bestimmen, von dieser verdammten Veröffentlichung abzustehen. Ja, ja, so wird's gehen, so muß es gehen! Alle Briefe! Alle? Auch den, in dem sie von dem »armen Narren« schrieb? Auch den? Sich auch dieser Waffe entäußern, die er vielleicht doch noch einmal zu seiner Verteidigung braucht?
Um sich zu betäuben und um die Nacht zu kürzen, läuft er in eine Wirtschaft mit gefälliger Bedienung. Er hört das dumme Geschwätz der Mädchen, das freche Gelächter, er sieht die gewerbsmäßigen Zärtlichkeiten, und, von Ekel übermannt, stürzt er nach Hause.
Camille warf sich ins Bett. Jetzt wohnte er schon seit vielen Wochen in diesem Zimmer; noch niemals hatten ihn die Nachbarn gestört. Er hatte gar nicht gewußt, daß es welche gibt. Heut macht ihn das fröhliche Geplauder, das durch die gepolsterte Tür zu ihm dringt, wütend … was haben denn die zu lachen? Ah, ihm ist wahrhaftig nicht zum Lachen. Ob er wohl überhaupt noch einmal im Leben lachen wird? So aus vollem Halse und vollem Herzen? So ganz und gar befreit? Das hübsche Stubenmädchen kam herein: ob der gnädige Herr geklingelt hätte, ob der gnädige Herr vielleicht noch etwas brauche? Und sie sah ihn mit ihren begehrlichen Augen ermutigend an.
Nach einer unruhvollen Nacht, in welcher ihn beängstigende Träume quälten, brachte endlich ihm sein Diener das Frühstück und die Zeitung. Er durchflog sie. Noch hatte Freystätter geschwiegen, noch kann sich alles richten lassen. Der ganze Tag liegt noch vor ihm … er wird ihn nützen. Plötzlich fiel sein Blick auf die Nachricht von der »schweren Erkrankung des Fräuleins Assing«. Er sprang auf, rat- und hilflos lief er im Zimmer umher. Also sein ganzer Plan zunichte? Die einzige, an die er sich hätte wenden können und wenden wollen? Die einzige, auf deren Beistand er noch hätte rechnen können? Ist ihm das Schicksal so feindlich gesinnt … oder … reicht es ihm vielleicht die Hand? Nur drei Menschen wissen's … Freystätter, dessen Mund morgen um diese Zeit auf ewig verstummt ist … Constanze, die für die nächsten Tage machtlos ist … bleibt nur der Dritte, der im Besitz des Manuskriptes war, dieser sich im Nebel versteckende Dritte, den er nicht kennt, dem er die Beweise nicht abschmeicheln oder entreißen kann.
Er steckte Constanzens Briefe ein und warf sich in einen Wagen. Er wollte zu ihr fahren. Er wollte wenigstens in ihrer Nähe sein. Schon das würde ihn beruhigen, und wenn sie aus ihrer Bewußtlosigkeit erwachte, dann würde er sie rühren, und dann würde sie ihm verzeihen. Constanze! Es überlief ihn eiskalt. Nein, das weiß der Himmel, das hat er nicht gewollt. Was hat ihm dieses so schöne, so begabte, so liebenswerte Geschöpf zuleide getan? Alles hat sie ihm gegeben, ihr Genie, ihre Freundschaft, ihre Liebe … und er? Womit hat er das alles vergolten? … Mit … ah, nur nicht denken … nur nicht grübeln … Hätte er all diese Folgen ahnen können … er hätte sich zu diesem unseligen Schritte nicht hinreißen lassen … aber seine Eitelkeit, seine Ruhmsucht und seine Leidenschaft für sie haben ihn gepackt und gezerrt und immer weiter und weiter gedrängt bis hierher! … Nein, wahrhaftig, das hat er nicht gewollt … daß er zwei Menschen mit sich reißen muß: den einen, dem er morgen gegenüberstehen wird … der will ihn brandmarken … er wehrt sich … der will ihn zugrunde richten … er verteidigt sich … aber Constanze? … Was nützt jetzt alle Reue? … Jetzt nützt nur Handeln!
Vor der Tür standen zwei Wagen. Noch oder schon? Camille eilt die Treppen hinauf; die Klingel war abgeschraubt. Er klopfte ganz leise. Er hörte Schritte im Korridor … es wurde nicht geöffnet. Er sah, wie jemand durch die Spalte des Briefeinwurfs blickte. Er pochte noch einmal, er rief den Namen der Jungfer … vergeblich!
In seiner Ratlosigkeit lief er hinunter zu der Hausmeisterin, der alten Frau Schwabenmeyer, der er ja oft genug, als sie noch Richard Assings Wirtschaft führte, ein schönes Trinkgeld in die Hand gedrückt hatte. Er fand sie in ihrem Zimmer auf dem Sofa, auf dem sich's eine Katzenfamilie wohl sein ließ.
»Sagen Sie mir nur schnell, Frau Schwabenmeyer, wie geht's denn Fräulein Assing?«
»Ja, o mei', wie soll's gehen?« seufzte sie, »schlecht steht's … ganz schlecht … die Professors san seit gestern schon dreimal da g'wes'n.«
»Wo fehlt's denn?«
»Ja, dös woas i' net. Aber schlimm steht's um's gnäd'ge Fräulein, ganz schlimm. So a liebe, so g'schmache Person! d' gute Stunde selbst … und dös Unglück!«
»Ja, um aller Barmherzigkeit willen,« schrie Camille so laut, daß er bei der Katzenfamilie unliebsames Aufsehen erregte, »sie wird doch nicht … sterben?«
»Viel Hoffnung is nimmer! hat d' Köchin g'sagt!«
Er glaubte, es habe ihm jemand vor die Stirn geschlagen. Sterben? … Sterben? Und ohne es zu wissen, spielte er mit einem Knäuel Wolle, das auf dem Tisch neben der Kaffeekanne lag.
Frau Schwabenmeyer stand am Fenster und blickte auf den noch immer schneebedeckten Hof.
»Da kimmt noch aner, der will auch nach'm Fräulein fragen … der gute Herr Gerum.«
»Wie sagten Sie?« horchte Camille auf.
»Der Herr Gerum, der Buchbinder, den's ja noch vom Herrn Professor söllig guet kennen.«
Camille starrte vor sich, und dann leuchteten seine schönen Augen hoffnungsvoll auf. Gerum? Schickt ihm der Himmel diesen Mann? Dem hat Assing vertraut, der war so viel mit Assing zusammen, der wird ihm den verraten können, der im Besitz des Manuskriptes war, diesen nebelhaften Dritten, den er nicht fassen, dem er nicht schmeicheln und nicht drohen konnte. Mit diesem gutmütigen, harmlosen Alten wird er schnell fertig werden … ja wahrhaftig, den sandte ihm der Himmel!
Herr Gerum säuberte sich vor der Tür die Stiefel vom Schnee und trat ein.
»Grüeß Gott! Na, wie steht's denn heut' droben? Ah, Sö san net allan, da will i net stören!«
»So spazieren's nur eini,« beruhigte ihn Frau Schwabenmeyer, »der Herr is ja a gueter Bekannter zu Ihne.«
»Guten Morgen, Herr Gerum,« sagte Dupaty und wollte Gerum die Hand reichen. Der aber machte sich an seinem Mantel zu schaffen.
»Ja freili' kenn' i' den Herrn. Also wie steht's denn da droben?«
»In der letzten Stund' woas i's grad' net!«
»Vielleicht sind Sie so gut, Frau Schwabenmeyer, und fragen 'mal oben?«
»Da werd' i' lieber glei' mitkimme,« meinte Herr Gerum und wollte Frau Schwabenmeyer folgen.
»Na, na,« wehrte sie ihm, »'s ist besser, wann nur i' nauf geh!«
Dupaty und Gerum waren allein.
Der Buchbinder wärmte sich am Ofen, Camille spielte wieder, ohne es zu wissen, mit dem Wollknäuel und begann:
»Traurige Geschichten das!«
»Dös san freili traurige G'schicht'n!«
»Es ist nur ein Glück, daß dem Professor Assing die Sorge um seine Tochter erspart geblieben ist!«
»Na … i' hätt' ihm schon noch a paar Jahrl'n vergunnt! Wann er am Leben blieben wär' … da war's Fräulein vielleicht gar net erkrankt!«
Camille, der den Zusammenhang nicht verstand, betrachtete, während er noch immer ganz mechanisch mit dem Knäuel spielt, eine gipserne Schäferin, die, trotzdem ihr die Nase abgestoßen war, dennoch ein Paradestück des Zimmers bildete. Dann sagte er, auf das neben der Schäferin stehende Bild Richard Assings zeigend:
»Sie sind ja jahrelang mit ihm zusammen gewesen, Sie könnten gewiß viel von ihm erzählen?«
»O ja … dös könnt' i' scho! … Sie vielleicht noch mehr! Ihne' hat er ja alles vertraut!«
»Doch nicht alles … er war doch sehr menschenscheu geworden! Hat er denn außer mit Ihnen mit niemand verkehrt?«
»Net, daß i' wüßt!«
»Auch nicht früher, bevor ich zu ihm kam?«
»Net, daß i' wüßt!«
»Er hatte doch noch auswärts Freunde?«
»So? Is' mir net bekannt!«
Camille ging durchs Zimmer; aus diesem unbeholfenen, maulfaulen, schwerfällig denkenden Mann war wenig herauszuholen, und dennoch hatte Camille das unabweisliche Gefühl, daß dieser harmlose einfältige Alte den kenne, der im Besitze des Manuskriptes gewesen war und der ihn verraten hatte: den Dritten! Würde es möglich sein, dessen Namen durch den Buchbinder zu erfahren, so wäre immer noch eine Verständigung mit dem, eine Rettung denkbar …
Wie kurzsichtig und wie wehrlos macht doch die Angst … sie entwaffnet die Menschen, sie raubt ihnen alle Besinnung, alle Klugheit und Erfahrung, allen Spürsinn und alle Verschmitztheit … Ebenso wie Frau Ralchen vor der geöffneten Schublade stand und gerade den Brief, der ihr Aufschluß hätte geben können, achtlos beiseite schob, ebenso stand Camille vor dem alten Gerum und dachte nicht an das Nächstliegende, daß gerade dieser Mann der von ihm so sehnsüchtig Gesuchte sein könne, daß gerade dieser ihn verraten und zugrunde gerichtet habe.
Wenn nur Frau Schwabenmeyer noch nicht zurückkäme und die Fortsetzung des Gesprächs unmöglich machte … jeder Augenblick ist kostbar und muß genutzt werden … und gerade über diesem Raum ist Constanzens Schlafzimmer, in dem die Aermste nach Atem und Leben ringt!
»I' wart' lieber drauß'n … mir wird's hier z' hoaß!« und Herr Gerum wollte zur Tür gehen.
»Herr Gerum, ich möchte Sie gerne noch etwas fragen.«
»Was schaffen's?«
Aber es war zu spät. Frau Schwabenmeyer kam von oben zurück.
»Schlecht geht's, sagen d' Professors, immer schlechter, sie wollen heut' nachmittag noch anen dazuholen.«
Sie weinte bitterlich, und schluchzend stieß sie hervor:
»Da haben's was Schönes angericht', Herr Gerum. D' Jungfer hat g'sagt: der Deixel wär' erst losgang'n, als Sie vorgestern auf Besuch beim Fräulein g'wesen wär'n!«
Camille horchte auf und ließ das Wollknäuel fallen. Was war das? Der »drollig aussehende« Mann war also Herr Gerum gewesen?
»Da müssen's dem Fräulein 'was g'steckt hab'n, sagt d' Jungfer, was dös Fräulein ganz durchanand 'bracht hat. Und da is dös gnä' Fräulein glei' weggefahr'n, und als nach vier Stunden wiederkimm' is, da hab' i' ihr's Haustor afgeschloss'n und ausg'schaut hat's so bleich wie der Kalk an der Wand!«
»Dös stimmt scho,« sagte Herr Gerum kalt und ruhig, »da war's bei mir!«
Camille starrte ihm ins Gesicht und hielt sich am Tische fest. Der, den er in weiter Ferne gesucht hatte, stand ihm in diesem engen kleinen Raum gegenüber! Kein Zweifel war's: er war der Dritte! Wie war's nur möglich gewesen, daß er nicht früher auf diesen doch so naheliegenden Gedanken gekommen war! Assing hatte täglich mit ihm verkehrt, Assing hatte von ihm das Notenpapier gekauft, auf dem »Die Sieger« geschrieben waren, Assing hatte nur die Reinschrift zurückbehalten und hatte in seiner Achtlosigkeit dem da die Originalblätter geschenkt, die der nun an Constanzen und Freystätter ausgeliefert hatte.
»I' kimm' scho', i kimm' scho' …,« erwiderte Frau Schwabenmeyer auf den Zuruf irgendeines Mädchens aus dem oberen Stockwerk und, indem sie sich, die Tränen mit der Schürze abwischte, verließ sie das Zimmer.
Gerum und Dupaty waren wieder allein. Einen Augenblick herrschte tiefe Stille, in der nur das leise Ticken der alten Schwarzwälder Uhr und das Schnurren eines Kätzchens vernehmbar war.
»Herr Gerum,« flüsterte Camille, jede Fiber flog, jede Muskel zuckte, sein ganzer so elastischer Körper war durchschüttelt, »lassen Sie sich von Doktor Freystätter die Originalblätter zurückgeben … jetzt gleich … er muß sie Ihnen zurückerstatten … es ist Ihr Eigentum … nennen Sie mir die Summe, so hoch Sie wollen … ich zahle Ihnen jeden Preis … in wenigen Stunden …«
»Was mögen's?« erwiderte Herr Gerum und nahm eine drohende Haltung an.
»Herr Gerum, bedenken Sie wohl: wenn Sie mir die Assingsche Handschrift besorgen, so bin ich bereit, Ihnen ein Kapital auszahlen zu lassen, welches Ihnen und Ihrer Familie für alle Zeit eine sorgenlose Zukunft schafft!«
»Pfui Deixel: da tat' i' mi' ja vor mir selber und vor meine Kinder schämen!« und er spuckte auf den Boden. »Für gar so hirnrissig brachen's mi' a net z' halten. Da wollen's also ane Mordsschweinerei mit aner andern zupappen? Gelt? Pfui Deixel!«
Der schlanke Dupaty trat dicht vor den kleinen Buchbinder und sprach … er sprach nicht … seine Worte flogen, sein Atem keuchte, er stieß die Sätze abgerissen hervor:
»Herr Gerum … morgen früh soll die Sache zwischen Freystätter und mir mit den Waffen ausgetragen werden. Ich will mit Ihnen zu Doktor Freystätter. Sie lassen sich die Papiere, mit deren Veröffentlichung er gedroht hat, zurückgeben … Ich will mich mit ihm aussöhnen … Sie können noch das Schlimmste verhüten … sonst schieße ich den Mann morgen tot!«
Herr Christoph Sebastian zuckte zusammen; dann sagte er ruhig:
»Tat mi' leid, tat mi' arg leid um den braven, saub'ren Ma' … Net i' hab'n dann af'n G'wissen, sondern Sie! Sie hab'n dös Andenken unseres Herrn Professors söllig g'schändet … Sö san an …«
»Ja, glauben Sie denn,« rief Dupaty immer stürmischer, »daß es Professor Assing geduldet hätte … daß … daß um seines Werkes willen ein Mensch aus der Welt muß?«
»Was nützt da all dös Gered'! I' kann den Herrn Professor nimmer frag'n … Tote geben ka' Antwort!«
»… daß es Fräulein Assing dulden würde? Sie kennen mich nicht. Mich treibt wahrhaftig keine Furcht vor dem Duell zu alledem. Ich bin ein guter Schütze, ich wehre mich meiner Haut und treffe sicher … und eben deswegen will ich das Schreckliche vermeiden. Gelänge es Ihnen, Doktor Freystätter zur Herausgabe der Notenblätter und zur Erklärung zu bewegen, daß er, wie er es nannte, die ›öffentliche Brandmarkung‹ unterläßt, so will ich noch heute abend zu ihm gehen und ihn um Verzeihung bitten für jedes schnelle und drohende Wort, das ich in der Wut gegen ihn ausgestoßen habe. Und sagen Sie ihm auch, daß ich ihm in diesem Fall auch die Briefe, die er von mir verlangte, zurückgeben würde. Alle! Hören Sie, Herr Gerum, alle!«
Herr Gerum sah eine Zeitlang vor sich hin, dann sagte er, und seine alte rostige Stimme bebte vor verhaltener Verachtung und tiefster Erregung:
»Um Ihne tu i's net … woas es der Herrgottsvater … um Ihne war's net schad', wann Ihne dös Lichtl' ausblasen würd' … ja, ja, schaun's mi' nur so an … dös is' scho' mei Ueberzeugung … aber um den anderen, um den Doktor will i's tun … und will versuchen, die saubere G'schicht grad' zu renken. I' kann mir schon denken, daß der Freystätter mit a Feder besser umz'gehen woas als mit der Pistolen, und weil's doch scho' an himmelschreiende Ungerechtigkeit war, wann …«
»Wo darf ich Sie erwarten?«
»Um fünf Uhr in mei' Laden!«
Und Herr Gerum warf hinter sich die Tür ins Schloß, daß die Scheiben lange nachklirrten.
Als Dupaty vor das Haus trat, verabschiedeten sich gerade die Aerzte voneinander. Camille ging zum Hofrat Rabenbauer, der eben in seinen Wagen steigen wollte, und fragte ihn mit bebender Stimme, ob noch etwas zu hoffen wäre.
Der Arzt zuckte in tiefstem Ernst die Schultern und murmelte:
»Solange der Mensch lebt, dürfen wir nicht verzweifeln!«
Rabenbauer gab Dupaty die Hand und fuhr fort.
Als Camille die Schönfeldstraße hinunterirrte, tropften ihm aus den Augen zwei heiße und bittere Tränen.
Aeußerlich unterschied sich der Samstag gar wenig von seinen zahllosen Vorgängern in dem Hause mit dem Muttergottesbild und dem ewigen Licht. Der Laden der Gebrüder Freystätter, Manufakturwaren en gros und en détail, Filialen in Partenkirchen und Reichenhall, war geschlossen, und Herr Salomon war ahnungslos wie alle Feiertage nach dem Café Karlstor gepilgert mit dem unumstößlichen Vorsatz, seinen Kumpanen Gutmann, Pickenbacher und Heuberger beim Tarock mal wieder das Fell über die Ohren zu ziehen. Nur wer schärfer zusah, konnte doch zwei wesentliche Unterschiede bemerken. Die von Veilchen komponierte wunderbare Apfelspeise war nur von Herrn Salomon berührt worden, oder um bei der Wahrheit zu bleiben: er allein hatte in die aus mürbem Teig, Aepfeln, Rosinen, Zitronat und Zimt aufgebaute Festung eine stattliche Bresche geschossen, und dann noch ein Unterschied: seit langen, langen Jahren saß Frau Ralchen nicht auf ihrem Tritt am Fenster und sah nicht durch den Spion die Vorübergehenden und bekrittelte nicht den Hut der Frau Silberstein, der Gemahlin des Pelzwarenhändlers, der ihr die Augen über den Hasenzobelkragen geöffnet hatte, und bespöttelte nicht der Frau Birnbaum Mantel, der nicht aus dem Magazin der Gebrüder Freystätter, sondern von der Konkurrenz stammte. Nichts von alledem! Frau Ralchen saß hinten in ihrem Schlafzimmer; sie hatte sich zwei Kerzen angesteckt und betete. Und das muß doch gesagt werden: seit Erschaffung der Welt sind schon viele, viele Millionen Gebete zum Höchsten emporgestiegen; Gebete aus frommen und traurigen, aus unschuldigen und schuldbeladenen, aus hoffenden und verzweifelten, aus dankbaren und grollenden Herzen: ein Gebet, so inbrünstig, so heiß, so demutsvoll, wie es das alte verschrumpelte Frau Ralchen zum Himmel sandte, hatte der dort oben noch nie vernommen.
»Mei Sig« ging in seinem Arbeitszimmer auf und ab, Sinsheimer saß auf dem Sofa, Ellwanger auf dem Fensterbrett; auf dem Schreibtisch lagen die Pistolen, die die beiden mitgebracht hatten.
»Wir halten also morgen Punkt sechs Uhr mit dem Wagen an der Rosengassenecke, damit Deine Alten nichts merken,« sagte Sinsheimer.
»Ihr könnt hier vor dem Haus halten,« erwiderte Freystätter, »mein Vater schläft um diese Zeit noch, und meine Mutter weiß es!«
»Verflucht!« rief Ellwanger, »das hättest Du doch wahrhaftig vermeiden können!«
»Nein! Es war nicht möglich!«
»Sie wollte Dich natürlich zurückhalten?« fiel Sinsheimer ein.
»Nur so lange, als sie den Grund nicht wußte. Als ich ihr aber verriet, daß es sich um meine Ehre handele, hat sie selbst gesagt: ich sollte meine Pflicht tun!«
»Ja, so'n Mutterherz!« murmelte Ellwanger, »es ist und bleibt doch das größte Heiligtum, das es auf der ganzen Welt gibt. Da kommt nix an … gar nixen. Allen Respekt vor dem lieben Gott … vieles hat er doch famos gemacht … sein Meisterstückl' aber ist und bleibt 'ne Mutter! Ich werd' mal nachher a bisserl zu ihr 'nuntergehen und ihr die schwarzen Gedanken wegeskamotieren. Und was ich noch sagen wollte: Du trinkst morgen früh eine Tasse Tee, keinen Kaffee, verstanden? Keinen Kaffee!«
Sinsheimer hatte in einem Buch geblättert und sagte dann:
»Gib mir für alle Fälle den Schlüssel zu Deinem Schreibtisch!«
Ellwanger bemerkte an den Fensterscheiben:
»Mit der Assing steht's übrigens nichtswürdig schlecht. Professor Pfannenschmied kam heute direkt von ihr in die Klinik … Meningitis im akutesten Stadium … Puls miserabel, Temperatur 39 Grad, scheußlich!«
Freystätter stand wie angewurzelt und starrte auf den Teppich. Wer hätte das geahnt? Das »Stanzerl« und der »Spezi«! Sie zweiundzwanzig, er sechsundzwanzig! Und beide mußten vielleicht morgen schon den dunkeln Weg gehen, auf dem Licht und Hoffnung ausgelöscht sind für immer, und durch all den Haß und Groll, den er gegen sie empfand, brach doch in dem »armen Narren« Mitleid, tiefstes, inniges Mitleid hindurch. Wäre es nicht eine wahnwitzige Grausamkeit des Schicksals, gerade diesen Mund so früh verstummen zu lassen, dem die süßesten und erhabensten Töne entströmt waren, gerade diese Augen verlöschen zu lassen, aus denen Lebenslust, Glückseligkeit und Begeisterung geleuchtet hatten, gerade diese herrliche Gestalt in Staub zerfallen zu lassen, deren vollendetes Ebenmaß die Natur in ihrer gütigsten Gebelaune geschaffen hatte? Nein! Das Leben hat für ihn keinen Sinn mehr, keinen Reiz, keinen Wert, es kann ihm keine Freude mehr bieten … In dem Augenblick, als er den Brief las, in dem sie ihn und seine Liebe verhöhnte, war er schon entschlossen, ein Ende zu machen. Jetzt, wo er hörte, daß sie sterben muß, wo er fühlte, daß sie für immer verschwindet, daß er sich niemals mehr, auch nicht in später Zukunft, mit ihr wird aussöhnen können, wenn die Wunde vernarbt ist … jetzt wird dem Entschluß die Tat folgen. Er wird sich morgen so stellen, daß der andere ihn treffen muß, unweigerlich treffen muß, und da können die beiden dort, die schweigend ihn in seinen Gedanken nicht stören wollen, warnen und drohen und ihm morgen die Stellung anweisen und das letzte zu verhindern suchen … er wird es doch tun … er wird fallen.
Es herrschte tiefe Stille.
Ohne anzuklopfen – denn das hatte man ihr trotz Verboten und Drohungen, trotz Bitten, Ermahnungen und selbst versprochenen Belohnungen nicht abgewöhnen können – wackelte Veilchen mit nur leicht verletzter Stirn herein. Ihre vom ewigen Herdfeuer schon so feurigen Wangen, welche immer einem Alpenglühen ähnelten, obwohl das Original wirklich der Kopie vorzuziehen war, röteten sich in diesem Augenblick noch stärker.
»Sig! Es is ä Herr da, der Dir 'was sage will! Das heißt: es is net ä Herr, es is ä Mann.«
»Wie heißt er denn?«
»Serum oder Drerum!«
»Gerum! … Laß ihn nur gleich 'neinkommen!«
Und Veilchen entschwand, benützte aber beim Herausgehen doch noch die günstige Gelegenheit, mit der Schürze schnell von einem Stuhl den Staub fortzuwischen, der gar nicht vorhanden war.
Nach einer kurzen Pause trat Herr Christoph Sebastian Gerum ein. Der Mann, der sein Leben lang ausgezeichnetes Notenpapier angefertigt, sich mit der Diplomatie aber entschieden weniger beschäftigt hatte, ging ohne Einleitung und Winkelzüge schnurstracks auf sein Ziel los, übermittelte die Vorschläge Camilles und schloß mit den Worten:
»Wissen's, Herr Doktor, von mir aus könnt' der Hallodri, der ganz ausg'schamte, morgen früh sanen letzten Juchzer tun, aber Ihretwegen tat's mir leid, und diesertwegen bi i' herkemmen«
»Das Luder krebst,« sagte Ellwanger leise zu Sinsheimer.
»Ich danke Ihnen sehr für Ihren guten Willen, aber daraus kann nix werden,« erwiderte Freystätter. »Hab' ich also recht verstanden, so verlangt Herr Dupaty: ich soll ihm alle Originalblätter und Briefe Assings herausgeben, mit der Verpflichtung, den Sachverhalt niemals der Oeffentlichkeit zu übergeben?«
»Sag' doch lieber: die hundsföttische Gemeinheit,« warf Ellwanger ein.
»Dafür will er mir noch heute selbst die Briefe überbringen und sich mit mir aussöhnen … nicht wahr, so lautet doch der Auftrag?«
»Akkurat!«
»Eine feine Bestie,« murmelte Sinsheimer.
»Es tut mir leid für Sie, Herr Gerum, daß Sie sich bemüht haben. Bitte sagen Sie Herrn Dupaty, daß ich auf seine Vorschläge unter keinen Umständen eingehe, und daß es bei unseren Verabredungen bleibt.«
Freystätter ging im Zimmer umher.
»Herr Dupaty will die Sache als eine vollständige Privatangelegenheit aufgefaßt sehen, welche zwischen den Parteien mit ein paar entschuldigenden Worten zu schlichten wäre. Das ist sie aber nicht. Es ist gar nicht meine Angelegenheit, sondern die des Toten, aber es ist meine Pflicht, sein Andenken zu wahren und ihm zu dem Ruhm zu verhelfen, der ihm gebührt. Aus welchem Grunde will Herr Dupaty die Assingschen Originale zurück haben? Um den Beweis seiner Schuld in seine Hände zu bekommen, um die öffentliche Brandmarkung an der Hand dieser Handschrift unmöglich zu machen. Das würde bedeuten, daß er also stillschweigend weiter als der Schöpfer des ›Liebestod‹ gelten würde. Das dulde ich aber nicht, und deshalb ist jede Einigung zwischen dem Herrn und mir ausgeschlossen.«
»Ja, erlaben's mal, Herr Doktor,« begann Herr Gerum, nachdem er zur Ermutigung eine reichliche Prise genommen hatte. »Sie sprechen da alleweil vom Herrn Professor söllig und von sich und von dem Lumpazi, an mi' denken's aber gar net. D' schwarste Verantwortung bei derer ganzen G'schicht hab' doch i. I hab's dem Fräulein g'steckt … Sö san dazu kimma und da hab' i Ihne af Ihre Bitten d' ganze Masuri 'geben. Hätt' i g'wußt, daß dös bis zu anem Duell kimmen könnt, da hätt' i mir doch d' Sach zwamal überlegt. Schaun's, Herr Doktor, i sage noch amal: Wann der Haderlump morgen früh mit aner blauen Bohne sich drucket aus derer Welt, wo er scho' g'nu' Schaden angericht' hat … mir war's egal … aber wissen's … bei solch' anem Duell stehen zwa' gegenüber … dös muß i scho' sag'n … Angst vor dem Duell hat der Lausbub', der elendige, net … Angst hat er nur vor der Veröffentlichung … und wissen's, Herr Doktor, so a Kugel, die kann schon gar a' g'spaßige Launen hab'n und kann ach Ihne treffen. Ja, denken's mal, meine Herren, wie steh' i denn da? Kane ruhige Stund' im ganzen Leben kunnt' i mehr habe! Gelt? Schaun's, Herr Doktor, soll i glei' zwa Menschen af'm G'wissen hab'n? Dös Fräulein und Ihne ach? Dös Fräulein is so viel krank … wann's der Herrgottsvater zu sich nimmt … dös is höhere Fügung … dös kann i net ändern … aber daß Sö net morgen ins Gras beißen … dös … dös kann i ändern und diesertwegen bin i hier!«
Herr Gerum hatte noch in seinem Leben nicht eine so lange Rede gehalten und wischte sich, ganz erschöpft, mit seinem roten Taschentuch den Schweiß von der Stirn.
»Herr Gerum, Sie können gar nichts mehr ändern, es bleibt dabei,« sagte Freystätter entschlossen.
»Na, na, na!« erwiderte Herr Gerum mit einer Lebhaftigkeit, die man dem kleinen Mann gar nicht zugetraut hätte, »dös bleibt noch lang net dabei! Die Sach' läßt sich auch noch anders deixeln. Sö geben mir hier auf der Stell' d' Brief' und Notenblätter vom Professor söllig zurück!«
»Zu welchem Zweck?« fragte Freystätter betroffen, und Sinsheimer und Ellwanger folgten der Unterredung mit wachsender Teilnahme und Erregung.
»Dös is mei' Sach! Die Mappen san mei' Eigentum, die kann i zurückverlangen und dös tu i!«
»Und was soll damit geschehen?«
»I schließ' wieder weg und damit basta!«
»Wenn Sie das mit Ihrer Verehrung für Richard Assing vereinbaren können,« erwiderte unmutig Freystätter, »wenn Sie diesen nichtswürdigen Frevel dulden wollen, der mit seinem Namen getrieben wurde, ich hätt's nicht von Ihnen, grade von Ihnen nicht erwartet!«
»Herr Doktor,« sagte der Buchbinder leise, und seine ein wenig rostige Stimme zitterte in heftiger Bewegung, »Sö wissen's am besten, wie i den Herrn Professor verehrt und g'liebt hab. Aber daß i, um dem Toten zum Ruhm zu verhelfen, Sö, den Lebenden opfern soll, dös kann i net, und dös tu i net!«
Freystätter legte Gerum die Hand auf die Schulter.
»Wollen Sie die Mappen wiederhaben, ich gebe sie Ihnen sofort. Aber ich bemerke Ihnen gleichzeitig, daß das dem Fortgang der Angelegenheit nicht den geringsten Einhalt tut. Für den Fall, daß ich morgen im Duell bleibe – und dieser Fall ist der wahrscheinliche, da ich gar nicht schießen kann und der andere ausgezeichnet – für diesen Fall habe ich bereits Anordnungen getroffen. Ich habe den ganzen Sachverhalt bereits schriftlich einem Dritten mitgeteilt und ausdrücklich bemerkt, daß die Beweise des Dupatyschen Diebstahls, die Briefe und Partiturblätter im Besitz des Herrn Buchbindermeisters Christoph Sebastian Gerum seien!«
»So? dös haben's 'tan? Na, dann bleibt mir nur noch eins übrig, um dös Duell zu verhindern,« sagte schroff Herr Gerum und griff nach Hut und Stock, »i geh' von hier direkt auf d' Polizei und steck's der, daß Sie und der Herr Dupaty sich Sonntag in der Früh' mit den Pistolen Guten Morgen sagen wollen!«
»Tun Sie, was Sie wollen! Aber das sage ich Ihnen, wenn uns die Polizei auf Ihre Anzeige hin vielleicht auch morgen überrascht und uns das Duell unmöglich macht, so findet es eben ein paar Tage später und ganz wo anders statt. Und dieses Mal werden wir's Ihnen nicht wieder verraten. Ich will mich mit dem Herrn schießen, haben Sie verstanden? ich will!«
Herr Christoph Sebastian sah die beiden Freunde an und sagte dann in tiefem und schönem Mitleid:
»Ja, dös is was anderes! Wann Sie durchaus wollen! Da kann i Ihnen net, da kann Ihne ka' Mensch dran hindern. Dann san' all Ihre Sprüch' eben nur a Vorwand! Sie schieben eben d' ganze G'schicht' vor, weil Sie sich aus der Welt drucken wollen! und weil Sie sich denken, daß es anständiger daherschaut, sich totschießen zu lassen, als sich selber tot zu schießen! Ja dann!«
Ellwanger und Sinsheimer nickten ihm in tiefem Ernst zu.
»Herr Doktor,« fuhr Gerum fort, »i kenn' Ihne net lange und i woas net viel von Ihne, aber den guaten Rat nehmen's an von anem alten und erfahrenen Ma': man wirft das Leben net so weg, wie man 'nen alten Handschuh ins Eck wirft. G'wiß is dös Leben scho' manches Mal z'wider und ganz schiach und ganz uneben, und es gibt in jedes Menschen Leben a Stunden, wo er's satt hat, so recht satt … aber dös Leben ist auch wieder schön … Sö san jung und gesund und haben Ihre Eltern und haben 'nen scheenen Beruf. Da war's scho' a himmelschreiender Frevel, wann Sö sich so wegstehlen wollten, weil … weil …«
Er hielt inne, als ob er sich Mut fassen wollte, das letzte zu sagen, dann aber entschloß er sich:
»… weil a paar blanke Augen, in die Sö sich vergafft hatten, den andren freundlicher an'blickt haben als Ihne!«
Er atmete erleichtert auf. Einen Augenblick herrschte tiefe Stille.
Sinsheimer und sogar Ellwanger, der sonst für Feierlichkeit und »Gefühlsduselei« nicht viel übrig hatte, gaben tieferschüttert dem wackren Manne die Hand; nur Freystätter schien gar nicht zugehört zu haben und sagte mit der gleichen Entschlossenheit:
»Herr Gerum, es bleibt dabei! Denken Sie an mich freundlich zurück!«
Der kleine Buchbinder drehte sich in der schon halb geöffneten Tür noch einmal um und sagte mit aller Anstrengung:
»Es bleibt also bei morgen früh?«
»Es bleibt bei morgen früh!«
»I werd's ehm ausrichten!«
Auf der immer dämmerigen und immer knarrenden Treppe stand Herr Gerum lange still und wischte sich mit dem roten Taschentuch die Tränen ab, die ihm langsam die Backen herunterliefen, und eine alte, verschrumpelte kleine Frau humpelte, mit niedergeschlagenen Augen und unverständliche Gebete murmelnd, an ihm vorüber.
An Constanzens Bett saßen der Geheimrat Olschenbaur und Professor Pfannenschmied; am Ende stand der Hofrat Rabenbaur. Die Schwestern Ursula und Bonifacia vom »Roten Kreuz« erstatteten leisen Bericht. Die Bewußtlosigkeit sei unausgesetzt eine vollständige, sämtliche Verordnungen seien vergeblich angewendet worden. Die Patientin deliriere mit geringen Unterbrechungen. Olschenbaur fühlte mit der Uhr in der Hand den Puls. Es herrschte tiefe Stille. Nur die weiße Schürze der einen Pflegerin knisterte ein wenig. Olschenbaur sah Constanzen mit tiefem Ernst an, dann sagte er leise hinüber zu seinem Kollegen, indem er mit den Achseln zuckte: »Vierzig.«
Und dann wieder tiefes Schweigen. Und lange sahen die Aerzte voll Mitleid in dieses schöne, edle, marmorbleiche Gesicht; der Mund war halbgeöffnet, sie schien zu lächeln. Die sonst so blonde Haarflut, die aufgelöst war, um den Kopfdruck zu mindern, erschien viel dunkler als gewöhnlich. Constanze ähnelte ihrem Vater.
»Die Raben! die Raben! Ach, retten Sie mich doch. Die Raben! … und dort das Blut im Schnee!«
Olschenbaur legte ihr besänftigend die Hand auf die Stirn, und langsam schlief Constanze wieder ein.
Die Aerzte verließen das nach Kampfer, Moschus und anderen Arzneien riechende Krankenzimmer und fuhren nach verschiedenen Richtungen. Hätten sie schärfer zugesehen, so hätten sie auf der anderen Seite der menschenleeren Straße einen auffallend schönen jungen Menschen erblicken können, der unverwandt zu den dunkeln Fenstern emporstarrte.
Doktor Ellwanger hatte gefürchtet, daß Freystätter sich wahrscheinlich nicht zu Bett legen würde, und deswegen hatte er es sich nicht nehmen lassen, bei ihm die Nacht zu bleiben. Sie hatten lange geplaudert, und Ellwanger war es gelungen, durch Erinnerungen an gemeinsam verübten Studentenulk, an die Universitätszeit, an Pudelnärrisches und Ernstes Freystätter über einige Stunden hinwegzutäuschen. Dann hatten sich beide niedergelegt, und Ellwanger konnte mehrere Male mit Befriedigung feststellen, daß Freystätter in ruhigen und gleichmäßigen Schlummer verfallen war.
Langsam dämmerte der Morgen herauf. Um halb fünf erhoben sich beide, und während Ellwanger den Tee bereitete, ging Freystätter immer wieder und wieder an das Fenster, um zu sehen, ob denn der Wagen mit Sinsheimer immer noch nicht da wäre. Er blieb dort stehen und blickte hinunter auf die Straße und zu den gegenüberliegenden, ihm so bekannten Häusern mit ihren Firmenschildern und Erkern und steilen Dächern und sah in den aufdämmernden Morgen. Jetzt hieß es Abschied nehmen von diesem Hause, in dem er sechsundzwanzig Jahre, mit geringen Unterbrechungen, eigentlich sein ganzes Leben verbracht hatte, in dem er geboren war, die unschuldigen Jahre seiner Kindheit verspielt hatte, in denen er zum Bewußtsein über den Wert des Daseins gelangt war, in dem er so viele Tage in unstillbarem Wissensdurst gestrebt und so viele Nächte gearbeitet hatte, in dem er, von seiner Eltern Güte betreut, zum Jüngling und Mann herangereift war, ohne des Lebens Not und Sturm kennen zu lernen, in dem seine Liebe zu Constanzen gekeimt, gesproßt, geblüht und … verwelkt war. Ja, ja … er hatte nach einer goldenen Frucht greifen wollen, die zu hoch für ihn hing und die nun selbst zu Boden fallen mußte. Ob sie wohl noch lebte? Ob sie ihm schon vorangegangen war? Ob sie heute an ihrem dreiundzwanzigsten Geburtstage verlöschen würde? Dreiundzwanzig Jahre! Ein Leben, so kurz, so inhaltsreich, das in Glanz, in Begeisterung für Schönheit und Kunst aufflammte und nun in Nacht und Graus versank! Wie sinnlos, wie töricht, wie grausam, wie ganz und gar unfaßbar war doch das Schicksal, ein junges blühendes Leben wegzumähen, das zur Freude der Menschen – und nur zur Freude – geschaffen schien, ein Dasein zu vernichten, das bestimmt war zum Glück und zur Beglückung, ein Wesen lange, lange vor dem Ziel abzuberufen, ein Geschöpf, auf das die Götter verschwenderisch alle Gaben gehäuft hatten und das sie nun in neidischer und grausamer Härte zurückverlangten! … Aller Groll, aller Haß war aus seinem Herzen geschwunden. In Liebe, in inniger Liebe nahm der »Spezi« Abschied vom »Stanzerl«. Und dann wanderten seine Gedanken durch das ganze Haus und kletterten vom Laden, der nun nach der Eltern Tode auch bald in andere Hände übergehen würde, über die immer dämmerige und immer knarrende Treppe hinauf in den ersten Stock und verweilten in dem »guten« Zimmer bei den aus ihren schweren Goldrahmen ernst und würdig herabblickenden Ahnen und hafteten an den altmodischen, wie für die Ewigkeit gefertigten Möbeln, am Fenstertritt der Mutter, an der schummerigen Sofaecke des Vaters und spazierten in das nach dem Hofe gelegene Eßzimmer und streiften das ehrwürdige Büfett mit seinen buntbemalten Tassen, seinen Gläsern und dem Stolz des Hauses, dem silbernen Kaffeeservice, das er den Eltern zur silbernen Hochzeit geschenkt hatte. Und nun endlich hieß es Lebewohl sagen seiner alten, lieben, gemütlichen Bude, in der ihm jedes Buch und jedes Notenblatt, jedes Bild und jede Statue, in dem ihm Schreibtisch und Flügel, Sofa und Tisch so vertraut und lieb geworden waren durch lange Jahre treu geleistete Dienste. Und jeder dieser toten Gegenstände gewann plötzlich Leben und schien ihm zuzurufen: »Leb wohl!« Nur der alte Lehnstuhl flüsterte leise, so leise, daß es nur Sigmund Freystätter vernehmen konnte und nicht einmal Doktor Ellwanger, der doch auch im Zimmer war … der alte Lehnstuhl flüsterte: »Komm zurück!«
»Komm, Martin,« sagte plötzlich Freystätter ruhig, »der Wagen ist da!«
Ellwanger nahm den Pistolenkasten, und leise stiegen beide die Treppe hinunter. Freystätter klopfte stürmisch das Herz, als er an der Eltern Wohnung vorbeischlich; er dankte es der Mutter, daß sie nicht erschienen war und sich und ihm den herzzerreißenden Abschied erspart hatte. Ellwanger ging voraus, bot Sinsheimer Guten Morgen und stieg in den Wagen. Als »mei Sig« dem Freunde durch den dämmerigen Hausflur folgen wollte, fühlte er sich plötzlich umschlungen von zwei Armen, die ihn immer wieder an sich zogen und ihn nicht lassen wollten und ihn nicht freigaben und ihn umklammerten und ihn an sich preßten, als seien sie unlöslich mit ihm verkettet … Bis sie dann endlich, endlich schlaff und müde und verzichtend von ihm ließen. Und in einem langen Kuß nahmen Mutter und Sohn wortlos Abschied voneinander.
Der Wagen mit den drei schweigsamen Insassen fuhr langsam durch die noch menschenleeren Straßen. Von einem Turm schlug es sechs. Aus dem Morgennebel tauchten die Umrisse der Kirchen und Straßen auf, schälten sich Monumente und Brunnen, hoben sich die noch erleuchteten Straßenbahnwagen und die mit Gepäck beladenen Hotelomnibusse, und hie und da leuchtete das Licht eines Kaffeehauses, in welchem die Stühle auf den Tischen aufgeschichtet waren.
»Wie lange fahren wir hinaus?« fragte Freystätter, dem das Bild der schluchzenden Mutter noch vor Augen stand.
»In knapp einer Stunde sind wir vor dem Gasthof zur Eintracht!« antwortete Sinsheimer.
»Eintracht! Eintracht! schöner Titel für 'nen Rendezvousplatz, wenn sich zweie an den Kragen wollen,« höhnte Ellwanger, und ernster fügte er hinzu:
»Und was ich Dir zum hundertsten Male einschärfe: ziele nicht zu lange! Hast Du verstanden, Junge, ziel' nicht zu lange!«
Aber er dachte sich: was da wohl alles Raten und Warnen nütze, wenn der ihm gegenüber sterben will! Und dachte weiter an den Schwur, den er vor ein paar Abenden Sinsheimer geleistet, daß er diesen Herrn Dupaty, wenn der ihm seinen Sig wegschösse, vor die Pistole fordern und daß er von diesem Duell zweifellos zurückkehren würde! …
Sinsheimers Gedanken wanderten in einer anderen Richtung: daß dieses warme Blut neben ihm erkaltet sein würde, wie dieses feinorganisierte Gehirn plötzlich nicht mehr denken, wie dieses zartbesaitete Herz plötzlich nicht mehr schlagen würde. Wie man's wohl den Eltern beibringen würde: das Grausige, und wie sie's wohl tragen würden, das Unfaßbare!
Und Freystätter selbst? Er dachte daran, wie das Leben auch ohne ihn ruhig seinen Gang weitergehen würde, wie die Menschen weiter hasten und drängen, scherzen und lachen würden, wie sie heute morgens die Kirchen, vormittags die Bierhäuser und abends die Theater füllen würden, daß Manner und Gerum und die gesamte Redaktion gewiß zur Beerdigung kommen würden, und daß eben die große und ewige Flut hinwegströmen würde über ihn und sein kleines Leben!
Der Wagen war jetzt vorübergefahren am Bahnhof mit seinem immer bunten Leben, vorbei an den langgestreckten Zollämtern, Brauereien, Lagerhäusern und Werkstätten, und glitt langsam hinaus auf die Starnberger Chaussee, zu deren Seiten sich die schneebedeckten Felder schier unermeßlich ausdehnten. Nur ab und zu begegnete ihnen ein vom Lande kommender, mit Rauhreif bedeckter Milch- oder Gemüsewagen, dessen Kutscher ihnen ein freundliches »Grüß Gott« zurief. In der Ferne flatterte die weiße Rauchfahne einer dahinsausenden Lokomotive, und die blutrote Scheibe der eben aufgehenden Sonne verkündete einen strahlenden Tag.
Ellwanger steckte den Kopf zum Fenster hinaus und fragte den Kutscher, ob er auf der gradlinigen Chaussee einen Wagen entdecken könnte. Und als der verneinte, stieg in Ellwanger die Hoffnung auf, daß »dieses verdammte Luder schließlich vielleicht doch krebsen würde«. Er wünschte aus tiefstem Herzen, daß seine Hoffnung in Erfüllung gehen möge, und er gelobte sich für diesen Fall, seinem Mädel heute abend die seidene Bluse zu schenken, die er ihr seit drei Jahren für treu geleistete Dienste versprochen hatte. Und daß er ihr die bei Gebrüder Freystätter kaufen und sogar bar bezahlen würde … darüber konnte kein Zweifel herrschen.
In dem Wagen, der ihnen in einem Abstand von fünf- bis sechshundert Schritten folgte, ging's lebhafter zu. Baron Courcelles und Herr von Mauerbrecher war diese Stunde, zu welcher sie oft vom Spieltisch oder auch von woanders her nach Hause kamen, nicht ungewohnt; sie unterhielten sich mit Doktor Bruckfelder leise, aber angeregt über Klatsch und Weiber, Politik und Weiber, Rennpferde und schließlich nur über Weiber. Der einzige Schweigsame im Wagen war Camille. Angst machte ihn wahrlich nicht verstummen, denn er besaß persönlichen Mut und wußte aus oft erprobter Erfahrung, daß er bei einem Zweikampf die Zeche nicht zahlen würde. Der Herr hatte den Versöhnungsvorschlag, den er ihm noch gestern nachmittag durch den alten Buchbinder hatte machen lassen, abgelehnt. Um so schlimmer für ihn! Auf dieser Fahrt durch den Morgennebel zog sein ganzes Leben an ihm vorüber. Die unklare, in nebelhafter Ferne verschwimmende Jugend in einem französischen Pensionat … die elegante, oberflächliche, eitle, umschwärmte Mutter, die ihm nur Geld gegeben hatte, aber keine Liebe … der Vater, dieser hohe Kirchenfürst, dem er ein einziges Mal als Knabe in Rom ehrfurchtsvoll die Hand küssen durfte, und den er nie wiedergesehen hatte … dünn die Bummeljahre … der immer glühendere Durst nach Ruhm und Ehren … die Verführung, die Schuld! Und Constanze! Eiskalt überlief's ihn bei dem Gedanken, daß er bei der Rückkehr vom Duell ihren Tod erfahren würde, ihren Tod! dessen Ursache er gewesen war, er ganz allein! Und ganz plötzlich schweiften seine Gedanken zurück zu jenem lieblichen Nachmittag am Walchensee, als er ihr sagte, daß er sie liebe, und als ihre Boote, vom Winde leicht bewegt, nebeneinander schaukelten, und zu jener dämmerigen Stunde, als er ihr leise, ganz leise auf dem Teppich entgegenkam und als sie ihm in die Arme sank! Und er murmelte, für die anderen unhörbar, vor sich hin: »sie hat mich doch namenlos selig gemacht!« …
»Wo essen Sie heute, Dupaty?« fragte Courcelles und blies den Zigarettenrauch zum Wagenfenster hinaus.
»Im Hotel, natürlich nicht im Restaurant, sondern in meinem Zimmer; ich bitte die Herren mit mir zu speisen,« erwiderte Camille.
»Hören Sie mal, lieber Freund,« meinte Mauerbrecher, »ich würde Ihnen dringend raten, heute abend München wenigstens auf einige Zeit zu verlassen. Der unglückliche Ausgang des Duells wird viel Staub aufwirbeln. Natürlich werden ellenlange Nachrufe über den kleinen Freystätter erscheinen. Die Weiber, das gebe ich Ihnen zu, werden Sie bewundern und werden ein angenehmes Gruseln empfinden bei Ihrem holden Anblick. Die allgemeine Sympathie wird, wie es ja immer ist, auf der Seite des Toten sein. Und wenn man Ihnen als Ausländer auch nichts anhaben kann, wozu wollen sie sich allerhand Unfreundlichkeiten aussetzen? Sie müssen bedenken: der kleine Jude ist ein Einheimischer und Sie sind ein Fremder. Ich rate Ihnen dringend: rutschen Sie noch heute abend ab nach Paris, nach London oder in Ihre Heimat, nach Brüssel. Habe ich nicht recht, Courcelles?«
»Ich bin vollständig Ihrer Meinung,« gähnte der, »fahren Sie nach Brüssel und grüßen Sie mir die kleine Fifi Ambroise im Alcazar.«
»Mir das zu überlegen, habe ich ja noch Zeit genug,« murmelte Camille.
»Sie werden in einer Stunde anders darüber denken,« lachte Mauerbrecher, »ich gehe jede Wette mit Ihnen ein, daß Sie heute abend nach Brüssel fahren und daß wir auf dem Bahnhof gerührten Abschied von Ihnen nehmen!«
Vor der an der Starnberger Chaussee gelegenen Gastwirtschaft »zur Eintracht« hielten die Wagen. Von dem einsamen einstöckigen blauangestrichenen Hause bis zum Eingang in das Planegger Wäldchen waren nur hundert Schritte. Doktor Bruckfelder ging voraus, um den geeigneten und geschützten Platz zu suchen. Die Parteien standen getrennt. Courcelles, Mauerbrecher und Dupaty gingen rauchend auf der Chaussee auf und ab; Freystätter, Ellwanger und Sinsheimer standen vor dem Haus, dem ein fader Küchengeruch entströmte. Keiner sprach ein Wort. Es herrschte tiefes Schweigen. Nur ein kleiner Hund knurrte die ihm fremden Leute an. Ein Huhn pickte im Schnee nach einem Korn. Und hinter dem trüben und geschlossenen Fenster erschien der hübsche Kopf eines neugierigen Mädchens. Die Sonne strahlte aus einem lichtblauen Frühlingshimmel, und in der Ferne leuchteten die Vorberge der Alpen.
Camille wollte nach der Uhr sehen und fühlte in der linken Brusttasche etwas knistern. Er zog ein Papier heraus. Es war der Brief, in welchem Constanze geschrieben hatte: »Wäre er nur nicht auf die unglückselige Idee gekommen, sich in mich zu verlieben … und so hoffnungslos! … der arme Narr!« Camille blickte einen Augenblick mitleidig hinüber zu Freystätter. Wie kam nur der Brief in seine Tasche? Grade dieser Brief? Ach so, richtig. Er hatte ihn gestern morgen mit allen anderen Briefen, die ihm Constanze geschrieben hatte, eingesteckt, um sie ihr wiederzubringen, und hatte vergessen, grade diesen Brief, der die Ursache des bevorstehenden Zweikampfs war, mit in das Kuvert zu legen. Wenn sie genest, wird er ihr alle Briefe zurückschicken, alle … auch den!
Nach wenigen Minuten kehrte Doktor Bruckfelder zurück und bat, ihm zu folgen, er habe den geeigneten Platz gefunden, der vor jedem etwaigen Ueberfall schütze. Er schritt mit dem Verbandkasten voran; die sechs Herren gingen hinter ihm. Courcelles und Ellwanger trugen die Pistolenkasten, Mauerbrecher und Sinsheimer die Wolldecken. Der von Bruckfelder ausgesuchte Ort war gut gewählt: eine kleine Lichtung, umstanden von uralten, schneeüberschütteten Tannen, deren dichte und weit ausladende Aeste den Einblick von der Chaussee aus wehrten. Ein paar in ihrer Ruhe gestörte Dohlen flatterten krächzend auf, und Camille mußte unwillkürlich an die schwarzen Begleiter auf der Fahrt an den Walchensee denken. Wie war das so grausig und war doch so schön an Constanzens Seite! … Heute vor acht Tagen war's … nein, Montag … und heut? Sie ringt mit dem Tode oder hat ihre Qualen schon überstanden … er entlarvt, seines falschen Ruhms beraubt, wird sich in den dunkelsten Winkel der Welt verkriechen müssen … in der nächsten Minute wird er einen jungen Menschen niederknallen, der ihn einen Nichtswürdigen genannt … und in diesem Augenblick empfand Camille tiefste Reue und bitterstes Weh!
Die Dohlen umkreisten noch ein paarmal die Lichtung und flogen davon. Hie und da fiel der Schnee von einem zu schwer belasteten Zweig, hie und da sickerte ein Tropfen, von weither trug ein leichter Frühjahrswind den Pfiff einer dahinjagenden Lokomotive herüber, und aus der Ferne klangen die Sonntagsglocken einer kleinen Dorfkirche. Sonst herrschte tiefe Stille. Nur eine schwache, flehende, schluchzende Stimme, keinem außer Sigmund Freystätter vernehmbar, zirpte in inbrünstigstem Gebet:
»Mei Sig, Adonai nehme Dich in Schutz.«
Herr von Mauerbrecher maß die Schritte ab, Doktor Ellwanger wurde durch das Los dazu bestimmt, für den ersten Schuß zu laden und das Kommando zu geben. Während er lud, flüsterte er Freystätter noch einmal mit bebender Stimme zu:
»Ziel' nicht lange! Schieße sofort!«
Die Parteien stellten sich auf die Mensur. Dupaty und Freystätter waren fünfzehn Schritte getrennt … der schlanke schöne Mensch stand dem kleinen unansehnlichen gegenüber … Beiden wurden die Pistolen von den Sekundanten übergeben. Und in diesem Augenblick überkam Sigmund Freystätter eine wahnwitzige, rasende Wut gegen diesen Menschen, der ihm da gegenüber stand, diesen Nichtswürdigen, der dem Vater den Ruhm gestohlen, der der Tochter das Leben und ihm selbst das Kostbarste geraubt, was er besaß, Vertrauen und Hoffnung … feuerrot erschien ihm der weiße glitzernde Schnee, und glühende Räder und Funken tanzten ihm vor den Augen … In einer Sekunde ist's vorbei. Alle Qual und Not. In einer Sekunde weißt Du nichts mehr … wenn's nur die Mutter nicht zu erleben brauchte, die Mutter!
Inzwischen ermahnte Courcelles den Doktor Ellwanger, sehr deutlich und laut zu kommandieren. Gemäß der Punktation waren für jeden Schuß fünfzehn Sekunden bestimmt. Der ladende Sekundant hatte beim Anfang eins, bei acht Sekunden zwei, bei fünfzehn Sekunden drei zu kommandieren.
Ellwanger hatte seine Uhr gezogen. Er rief: »Achtung!« und gab dann laut und scharf das Kommando: »Eins!«
Drei Sekunden danach blitzte der erste Schuß auf; Freystätter, der sich mit ein wenig nach vorn gebeugter Schulter so gestellt hatte, daß Dupaty ihn unweigerlich treffen mußte, hatte zuerst geschossen. Kaum eine Sekunde darauf erwiderte Dupaty. Er trat unwillkürlich drei Schritte vor, ließ die Pistole fallen und sank dann dem ihm nächststehenden Mauerbrecher in die Arme. Doktor Bruckfelder sprang hinzu und fragte den erbleichenden Camille, ob er verwundet sei.
Dupaty nickte und glitt dann langsam in den Schnee. Es war unbegreiflich, daß er den Schuß noch hatte abfeuern können. Man riß ihm die Kleider auf. Weste und Hemd waren blutgetränkt, die Kugel war mitten ins Herz gedrungen und hatte in ihrem Lauf aus Constanzens Brief, der noch in der linken Brusttasche steckte, die Worte: »der arme Narr!« herausgerissen. Courcelles und Mauerbrecher legten Dupaty mit Hilfe des Arztes auf eine Decke. Ein großer Blutfleck färbte den Schnee, ähnlich einem roten Tuch, das jemand verloren hatte. Camille schlug noch einmal die Augen auf, diese einst so strahlenden, siegreichen Augen, die dann starr zum wolkenlosen Himmel emporblickten. Ein leises Zittern ging durch seinen Körper. Doktor Bruckfelder fühlte den Puls. Dann legte er in tiefem Ernst Dupatys bleiche Hände zusammen und deckte ein weißes Tuch über das Gesicht des Toten. Alle hatten die Hüte abgenommen. Freystätter blickte tief erschüttert vor sich hin. Sinsheimer mahnte zum Aufbruch. Sigmund Freystätter fuhr mit den Freunden zurück in die Stadt.
Die furchtbarste Gewißheit, die entsetzlichste Bestimmtheit, die traurigste Wahrheit können niemals den unsäglichen Qualen gleichen, welche die Erwartung bereitet, diesem Bangen und Harren und Zittern und Zagen, diesem Hoffen, Sehnen und Verzweifeln, diesem Aufruhr der Nerven, dieser Erregung der Sinne, dieser Angst, in der die Sekunden wie Jahre, die Minuten wie Ewigkeiten erscheinen, dieser Bedrängnis, in welcher ein Herz in wildem Sturm und heißem Gebet um das Schicksal eines geliebten Menschen zittert.
Herr Salomon, der sich eines erquickenden Morgenschlummers erfreute, ahnte nichts von alledem. Ahnte nicht, daß der Todesengel über seinem einzigen Kinde schwebte, ahnte nicht, daß sein kleines, altes verschrumpeltes Ralchen stundenlang ohne Unterlaß den Hausflur auf und ab schritt, auf und ab, immer auf und ab. Veilchen hatte ihr einen Stuhl heruntergetragen, damit die Greisin sich ausruhen könne. Sie sah es nicht, sie wanderte, wanderte ohne Rast von der nach dem Hofe führenden Glastür mit den bunten Scheiben bis zum Haustor. Veilchen flehte sie an, doch einen Schluck Kaffee zu trinken … sie hörte es nicht. Auf ihren Stock gestützt wanderte sie hunderte Male, tausende Male und horchte und schöpfte Atem und lauschte wieder nach jedem nahenden Wagen und öffnete leise die Haustür und spähte die Straße herunter und nahm ihre Wanderung von neuem auf und sah jede Minute nach ihrer alten, mit Brillantsplittern besetzten Emailuhr, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte. Und dann stand sie einen Augenblick still und hielt sich am Geländer fest, weil ihre alten Beine sie nicht länger tragen wollten. Und dachte daran, wie sie dieses Kind unter Schmerzen geboren, wie sie ihren Sig gehegt, geliebt und gepflegt hatte, wie sie sich mit seinem körperlichen, geistigen und sittlichen Wachstum gefreut hatte, wie glücklich, wie selig und stolz sie in seinem Besitz gewesen war, wie heiter und glücklich und sorglos sie sich seine Zukunft ausgemalt hatte, wie sie im stillen doch immer gehofft hatte, daß die Wunde, die ihm Constanze geschlagen hatte, vernarben und mei Sig noch eine treue, ihm in Liebe ergebene Gefährtin finden würde, und dachte daran, daß sie ihn nun unter Schmerzen und Qualen und grausamster Herzensnot dahingeben müßte auf Nimmerwiedersehen … sie wußte schon, was sie tun könnte, wenn sie ihr den Sig ins Haus tragen würden … aber die Pflicht gegen ihren Salomon, die Pflicht gegen ihren Gott würde sie zurückhalten … ausharren! … Der Tod, der so grausam und unerbittlich gegen ihr Kind gewesen, würde milde gegen sie sein und würde sie sachte bei der Hand nehmen und dann würde sie sich ausruhen neben ihrem Sig … bald, recht bald!
Von der nahen Peterskirche läuteten die Glocken den Sonntag ein. Es war also acht Uhr. Zwei Stunden wandert sie schon im Hausflur und harrt und zittert und hofft und verzagt, und die Entscheidung will und will nicht nahen. Sie tritt auf die Straße in ihrem Morgenkleid … ohne Haube oder Hut, wie es sich doch für Frau Ralchen Freystätter, die wohlhabende Frau des Manufakturwarenhändlers, geziemt hätte. Sie kümmerte sich nicht, was die Nachbarn dazu sagen werden. Sie kümmerte sich nur um den einen einzigen Menschen, nach dessen Augen, nach dessen Stimme, nach dessen Händedruck sie sich sehnt. Die Straße ist heute am Sonntag leer; kein Geschäftswagen hindert den Ausblick. Sie kann den ganzen Fahrdamm überschauen. Endlich sieht sie in weiter Ferne einen Wagen auftauchen mit zwei Pferden. Der, in den Sig eingestiegen war, hatte auch zwei Pferde, das weiß sie ganz genau. Er kommt näher, immer näher und … fährt vorüber. Sie humpelt zurück in den Hausflur, durch dessen nach dem Hof gelegene buntfarbige Glastür jetzt die Sonne lustig scheint, und still und ergeben weint sie vor sich hin.
»Ralchen, wo bleibste doch?« ruft ihr Herr Salomon von oben zu.
»I komm gleich … i muß hier mal a bisserl Ordnung machen!« antwortet sie mit aller Ueberwindung.
»Ausgerechnet am Sonntag!« Und sie hört die Tür im ersten Stock wieder ins Schloß fallen.
Veilchen schleicht die immer knarrende Stiege hinunter und legt Frau Ralchen den berüchtigten Pelzkragen, diese seltsame Mischung von Zobel und Hase, um; was denkt die kleine verschrumpelte Person jetzt daran! … Und dann nimmt sie Frau Ralchen in ihre Arme und tröstet sie mit unbeholfenen und rührenden Worten und erzählt ihr eine äußerst verwickelte Geschichte, daß sich der Schwager ihrer Tante Sichermann mal mit dem Onkel ihres Vater zerkriegt hätten, und sie hätten sich auch auf Pistolen gefordert, und aus dem Duell sei nichts geworden, gar nichts, weil keiner der beiden erschienen wäre … und plötzlich lauschte Frau Ralchen und winkt Veilchen, zu schweigen. Und sie hört das Geräusch der trappelnden Pferde und das immer näher ertönende Rollen des Wagens und öffnet die Haustür. Der Wagen hält, sie hält sich an Veilchen fest, und ihr altes müdes Herz pocht und hämmert, als ob es zerspringen wollte. Zuerst steigt Ellwanger heraus, dann Sinsheimer. Beide mit ernsten und bleichen Gesichtern, und jetzt … in einer Sekunde werden sie ihn herausheben, und sie schließt die Augen vor dem Grausigen, dem Unfaßbaren. Und dann schreit Frau Ralchen auf »mei Sig!« … er stürzt ihr entgegen und lange, lange halten sich beide wortlos umschlungen.
Herr Salomon, dem es gestern nachmittag im Café Karlstor endlich gelungen war, einen großen Coup auszuführen und seine Genossen Pickenbacher, Guttmann und Heuberger um bare sieben Mark elf Pfennig zu erleichtern, hatte sich hinter einer Festung von Kaffee- und Milchkanne, von Zuckerkasten und Kipfeln verschanzt. Er räsonnierte, da er ja allein im Zimmer war und keinen Widerspruch zu fürchten hatte, mit bewunderungswürdigem Mut auf die »verdrehte Reinemacherei« der Weiber, »ma hätte doch esse könne vom Boden im Hausflur, so blitzeblank is er,« wobei es doch noch sehr fraglich war, ob er diesen Plan ausgeführt hätte. Als er gerade bei der dritten Tasse angelangt war und sich in heftigem Kampfe befand, ob er nicht lieber doch einem beschmierten Hörnchen den Vorzug vor einem trockenen Kipfel geben sollte, trippelte Frau Ralchen herein, und auf den ersten Blick merkte er an dem bleichen, völlig veränderten Gesicht seiner alten Lebensgefährtin, daß etwas Außerordentliches geschehen sein müsse. Herr Salomon sprang auf.
»Ralchen! Was ist los? Biste, Gott soll hüten, krank? Was fehlt Dir? Du bist doch so bleich?«
Statt aller Antwort ging Frau Ralchen um den runden Eßtisch und drückte Herrn Salomon einen langen, langen Kuß auf seinen Schädel. Herr Salomon war starr. Er hatte während seines zweiundsiebzigjährigen Erdenwallens doch gewiß schon Ungeheures und gänzlich Unerwartetes erlebt. Er hatte »als junger Mann« die doch noch nie dagewesene Geschichte mitgemacht, daß die Frau seines Chefs Nathan Hildesheimer mit dem Reisenden Jakob Herzfelder durchgegangen war, und daß der Prinzipal sein ungetreues Weib wieder aufgenommen hatte, um die Mitgift nicht herauszahlen zu brauchen. Daß aber sein Ralchen trotz des seit der Zobelfrage gespannten Verhältnisses ihm plötzlich ohne jede Veranlassung einen langen, langen Kuß auf seinen kahlen Schädel drückte, das war ihm doch neu. Blitzschnell erwog er die Gründe dieser stürmischen Liebkosung. Den nächstliegenden Gedanken, daß plötzlich auflodernde Sinnenlust sein Ralchen zu ihm getrieben habe, verwarf er im raschen Ueberblick über die letzten fünfzehn Jahre sofort. Hatte sie eingesehen, daß sie ihm bitter unrecht getan hatte und daß der Hase doch Zobel war (obwohl er genau das Gegenteil wußte)?
Als er aber noch einmal in diese angstvoll flatternden Augen gesehen hatte, wurde ihm klar, daß Ralchen doch etwas ganz Seltsames, etwas ganz Schreckliches erlebt haben müsse. Er nahm sein kleines Frauchen an der Hand und führte sie in »das gute Zimmer« und setzte sich neben sie hin auf das Sofa in der schummerigen Ecke und streichelte ihr die welken Backen und redete ihr zu. Und dann sagte sie ihm alles. Und als Herr Salomon hörte, daß sein Sohn der Gefahr entronnen sei, daß er atme, daß er lebe … da rang sich aus der Brust dieses alten Mannes, dessen ganzes Leben sich in den tiefsten Niederungen zwischen Geschäft und Kaffeehaus, zwischen Verdienst und Klatsch abgespielt hatte, ein leiser, aber markerschütternder, jubelnder, überquellender Schrei, und immer wieder küßte er seine treue Weggenossin, wie vor dreiundvierzig Jahren, als er um sie gefreit hatte. Und als er Arm in Arm mit seinem Ralchen die Treppe zum zweiten Stock hinaufhumpelte, um seinen Jungen wiederzusehen, da faßte der Manufakturwarenhändler en gros und en détail den heroischen Entschluß, seiner Gemahlin endlich einen echten Zobelkragen zu kaufen zur goldenen Hochzeit in sieben Jahren. In irgendeinem Inventurausverkauf würde er ihn schon billiger bekommen, und fünf Prozent Skonto würde er unter allen Umständen abziehen.
Freystätter hatte sich, nachdem er seine liebe Bude wieder betreten hatte, von der er kurz vorher Abschied genommen, in den alten Lehnstuhl geworfen. Er bebte am ganzen Körper. Erst jetzt wurde er sich klar über die Ereignisse der letzten Stunden. Er hatte einen Menschen getötet. Gewiß: wider Willen. Er wollte aus dem Leben und hatte es durch einen unberechenbaren Zufall dem anderen genommen. Die Tat blieb darum doch bestehen. Der andere hatte ihn gereizt und hatte das Heimlichste, was er sein eigen nannte, seine Liebe zu Constanzen, öffentlich verhöhnen wollen. Die Tat blieb bestehen. Der andere, ein verwerflicher, gewissenloser Bursche, hatte einen Toten beraubt und sich mit dessen Verdiensten gebrüstet … Die Tat blieb bestehen … Der andere hatte durch diesen schmachvollen Betrug Constanzens Liebe erlistet, die entsetzende Erkenntnis, daß sie ihr Herz einem Unwürdigen geschenkt, hatte sie aufs Krankenlager geworfen, hatte sie vielleicht schon in dieser Nacht entschlummern lassen … die Tat blieb bestehen … Er hatte einen Menschen getötet. Er hatte der Natur vorgegriffen und hatte diesem Leben ein Ziel gesetzt, das sich vielleicht doch noch einmal durchgerungen hätte zu sittlicher Festigkeit, zu lauterer Wahrheit, zu aus eigener Kraft erworbenem Ruhm.
Sinsheimer und Ellwanger merkten wohl, welche Gedanken Freystätter, der mit geschlossenen Augen im Lehnstuhl saß, beschäftigten. Sie störten ihn nicht. Ellwanger las, wieder auf dem Fensterbrett sitzend, die Morgenzeitung und reichte sie Sinsheimer, indem er auf eine bestimmte Stelle zeigte.
Aber noch ein dritter Freund war zugegen, der viele, viele Jahre mehr zählte als die Herren Doktoren Schorschl Sinsheimer und Martl Ellwanger zusammen, der auf viel, viel wackligeren Beinen stand als diese jungen Leute, der aber auch viel, viel mehr gesehen, erlebt und erfahren hatte als sie beide. Und dieser alte treue Freund, der Lehnstuhl, flüsterte Sigmund Freystätter ganz heimlich zu:
»Mei Sig, ich hatte Dich angefleht, wiederzukommen, und ich danke Dir, daß Du gekommen bist. Du bist jung und das Leben, das noch vor Dir liegt, ist lang. Du wirst die Tat, zu der Du gezwungen wurdest, vergessen. Wirst sie vergessen in Deinem Beruf, in Deinen Studien, in der Liebe zu Eltern und Freunden, in der Hast des Lebens, in der Liebe zum Leben … mach' Dir keine Vorwürfe, mei Sig, Du konntest nicht anders handeln … Sieh' doch, wie die Sonne scheint! Bald wird der Frühling ins Fenster lachen, die drei alten Kastanienbäume auf dem Hofe werden ihre Kerzen aufstecken und blühen, die Schwalben werden wieder unterm Dach nisten und zwitschern, und auch in Dein Herz wird wieder Wärme und Mut ziehen. Und wenn Du auch das Liebste, was Du besaßest, verlieren solltest, wenn auch das Mädchen, dem Du Dein gütiges und sehnendes Herz zu Füßen legtest, Dich zurückstieß und Dich verhöhnte … verzage nicht … wirf nicht das Leben von Dir, das Dir jetzt schal und ekel erscheint … sei dem Schicksal nicht gram, sondern sei ihm dankbar, daß es Dich geschützt hat … lebe! … Das bist Du den alten Leuten dort unten schuldig, das bist Du Dir selbst schuldig! … Und hör', mei Sig … ich bin halt ein alter Kerl, und alte Leute sind oft geschwätzig … wenn Du müde bist von der Arbeit, wenn Dich Sorge und Gram und Bitterkeit vielleicht doch hin und wieder unterjochen wollen … komm zu mir! In meinen Armen sollst Du Ruhe und Frieden finden. Mei Sig, wir beide wollen noch zusammenhalten, bis man mich alten Invaliden mal in fünfzig Jahren in den Ofen stecken wird. Nicht wahr, Sig, Du bist doch damit einverstanden?«
Ja, so flüsterte der alte Lehnstuhl.
Freystätter hatte die Augen wieder aufgeschlagen und bemerkte, wie Sinsheimer und Ellwanger mit der Zeitung in der Hand leise tuschelten.
»Wie geht's Fräulein Assing?« fragte er leise und in zitternder Angst.
Sinsheimer las:
»Wie wir zu unserem schmerzlichsten Bedauern vernehmen, hat sich der Zustand der Königlichen Kammersängerin Fräulein Constanze Assing derart verschlimmert, daß die behandelnden Aerzte sehr ernste Befürchtungen hegen. Die Kranke ist aus der tiefen Bewußtlosigkeit nicht erwacht, der Puls ist schwach und unregelmäßig, die Temperatur hält sich trotz aller angewandten Mittel auf der Höhe von vierzig. Die Teilnahme der ganzen Bevölkerung ist außerordentlich. Hoffen wir, daß es der Kunst der Aerzte, die nicht vom Krankenbette weichen, gelingen wird, das Schlimmste abzuwenden.«
»Gibt es da keine Rettung mehr, Martl?«
Ellwanger zuckte die Achseln.
»Eine verdammte Geschichte ist's, und das Wahrscheinliche ist, wenn ihre Jugend, ihre Natur und ihr Herz sie nicht durchreißen, daß sie nicht mehr erwachen wird.«
Freystätter stöhnte leise auf.
»Indessen«, fügte Ellwanger gleich besänftigend hinzu, »man darf die Schlacht nie verloren geben, bevor nicht zum Rückzug geblasen wird. Ich werde Professor Pfannenschmied bitten, mich heute mitzunehmen. Und nun addio, mein Alter, ich muß jetzt in die Klinik … ich lasse mich heute noch bei Dir sehen!«
»Habe Dank!« Freystätter reichte ihm beide Hände und hielt Ellwangers Hände lange und fest.
»Sag' mir, Schorschl, was ich jetzt zu tun habe. Ich muß mich wohl sofort der Polizei stellen?«
»Du hast gar nichts zu tun,« erwiderte Sinsheimer, »Du wartest gefälligst ruhig ab, bis sich die Herren zu Dir bemühen. Daß sie das nicht unterlassen werden, ist allerdings sicher. Du bist hier ansässig, wohnst bei Deinen Eltern, bei Deinem Namen, Deiner Stellung und Deinem Ansehen liegt kein Fluchtverdacht vor. Du wirst also wohl keinesfalls verhaftet werden.«
»Und was geschieht weiter?«
»Der Staatsanwalt wird die Anklage gegen Dich erheben, Du kommst vors Schwurgericht und wirst dann verurteilt werden.«
»Das höchste Strafmaß?«
»Zweikampf mit tödlichem Ausgang wird bis zu zwei Jahren Festung bestraft.«
»Das heißt also: zwei Jahre tatenlos dahinvegetieren!«
»Erlaube mal,« erwiderte Sinsheimer, der einen Schluck Kaffee nahm, »so tragisch brauchst Du die Sache nicht aufzufassen. Erstens wirst Du Deine Verteidigung meinem Chef übergeben, und daß der mit seiner wundervollen und hinreißenden Beredsamkeit sein möglichstes tun wird, auf die Geschworenen zu wirken … na, darauf kannst Du Dich verlassen. Und selbst wenn das höchste Strafmaß verhängt würde … in solchen Fällen und namentlich in diesem Fall, bei dem alles Unrecht auf der Seite des Toten war und alles Recht auf Deiner Seite, wirst Du keinesfalls die ganze Zeit abbrummen müssen, sondern vielleicht nach einem Jahre begnadigt werden.«
Veilchen meldete den Generalmusikdirektor Manner.
»Gegen Abend spreche ich wieder vor,« sagte Sinsheimer und ließ Freystätter mit Manner allein.
»Ich bin«, begann Manner in sichtlicher Erregung, »durch einen Zufall von der traurigen Geschichte, die jetzt schon wie ein Lauffeuer durch die ganze Stadt rast, unterrichtet worden, und ich komme sofort zu Ihnen, um mich Ihnen, wenn Sie mich brauchen, zur Verfügung zu stellen.«
»Ich danke Ihnen!« erwiderte Freystätter mit großer Wärme.
»Ich komme nicht, um mich in Ihre Angelegenheit zu mischen, ich frage Sie nicht nach den Gründen … ich will Ihnen nur helfen, wenn ich kann!«
Freystätter nahm aus dem Schreibtisch den Brief, den er gestern an Manner geschrieben hatte.
Manner setzte sich und las, und je schneller seine von des Lebens Hast ein wenig verschleierten, schönen Augen über die Zeilen dahinflogen, desto mehr rötete sich sein feines, durchgeistigtes Gesicht, und als er zu Ende war, wiederholte er immer leise vor sich hin:
»Das ist ja entsetzlich, das ist ja unfaßbar! Ihre Ahnungen, die Sie in Ihren Berichten aussprachen, haben sich also bestätigt?«
»In vollstem Umfange!« Und Freystätter zeigte ihm die Briefe und Partiturblätter Assings. »Ich lasse Ihnen Zeit, die Sachen zu prüfen. Ich muß mich ein wenig aufs Bett werfen, ich muß meinem Gehirn ein wenig Ruhe gönnen, ich bin mit meinen Nerven zu Ende!«
Als Freystätter nach einer Stunde, die er in qualvollem Halbschlummer dahingedöselt hatte, zurückkam, fand er Manner, in die Partitur vertieft, vor dem Schreibtisch sitzen.
»Ich habe nur oberflächlich hineinschauen können,« sagte er, während er aufstand und im Zimmer auf und ab ging, »es ist ein ganz gemeiner, nichtswürdiger Diebstahl, für den es in unserer reichen deutschen Sprache nur einen einzigen Ausdruck gibt: Pfui Teufel! Sie sind da in Ihrer künstlerischen Wahrheitsliebe in eine Sache verwickelt worden, die Ihnen, so unheilvoll auch der Ausgang gewesen ist, nur zur Ehre gereicht. Und Sie dürfen überzeugt sein, mein lieber Freund, daß es auch nicht einen Menschen von anständiger Gesinnung geben wird, der Sie deswegen nicht achtet. Im Gegenteil: jeder wird Ihren Mut, Ihren Wahrheitsdrang, Ihre Pietät für den Toten, Ihre Liebe zur Kunst bewundern.«
»All das verlange ich gar nicht. Ich habe nur meine Pflicht getan!«
»Aber mir will scheinen, daß Sie Ihren ursprünglichen Plan, mit dessen Ausführung Sie mich in diesem Briefe für den Fall Ihres Todes betrauten, unter den jetzigen Verhältnissen nicht mehr verfolgen. Wenigstens vorläufig nicht! Würden Sie jetzt diese – weiß es der Himmel, gerechtfertigte – öffentliche Brandmarkung vornehmen, so würde das wie ein Racheakt gegen den Toten aussehen, der sich nicht mehr verteidigen kann.«
»Dieselbe Empfindung hatte ich in dem Augenblick, als ich ihn in den Schnee sinken sah.«
»Meiner Ansicht lassen Sie die Sache jetzt ruhen. Durch die Krankheit der Assing ist es uns ja unmöglich gemacht, den ›Liebestod‹ weiter zu geben. Denn es wird sich keine Zweite finden, die Rolle nach ihrer unerhörten Leistung zu übernehmen. Stirbt dieses unglückliche Geschöpf, woran nach dem ärztlichen Bericht von heute morgen kaum zu zweifeln ist, so müssen wir das herrliche Werk mit diesem genialen Mädchen in die Grube senken. Und sollte sie wider alles Erwarten doch wieder zum Leben erwachen, so würde ihre Genesung und die Möglichkeit ihres Wiederauftretens ein halbes Jahr, dreiviertel Jahr, vielleicht noch länger dauern. Wird sie uns wiedergegeben und können wir den ›Liebestod‹ wieder aufnehmen, so werden wir auf dem Zettel Richard Assing als den Schöpfer bezeichnen. Und wenn Sie dann auf Grund all dieser Papiere in der breitesten Oeffentlichkeit den unwiderleglichen Nachweis führen, daß hier ein nichtswürdiger Diebstahl des Schülers an dem Werke seines Lehrers begangen wurde, so kann von keiner Rache mehr die Rede sein, sondern jeder wird Ihnen von Herzen danken für den Dienst, den Sie der Wahrheit und der Kunst geleistet haben!«
Freystätter, der mit dem Rücken gegen das Fenster gelehnt stand, war Manner mit gespanntester Aufmerksamkeit gefolgt und erwiderte nach kurzer Pause:
»Mein lieber und verehrter Freund! So tiefinnerlich mir nach dem, was ich vor wenigen Stunden erlebt habe, alles widerstrebt, was, wie Sie sagen, einer Rache ähnelt … ich werde Ihren Rat nicht befolgen können. Mein Anwalt muß vor dem Schwurgericht, vor das ich gestellt werde, die Gründe klarlegen, die zu dem Zweikampf geführt haben. Ich selbst bin fest entschlossen, mich zu rechtfertigen und den Richtern und Geschworenen den traurigen Zusammenhang der Dinge zu erklären. Ich werde Sie und noch einige andere erste Musiker als Sachverständige vorschlagen. Ich werde keine Rache üben, aber auch keine Rücksicht! Ich werde, ich muß sagen, daß Camille Dupaty, der mich maßlos gereizt und dann noch gefordert hat, das Werk dem Schöpfer Richard Assing gestohlen hat. Ich werde die Wahrheit sagen und nur die Wahrheit! Ich kämpfe für das Recht und ich kämpfe für mich selbst!«
»Liebster Freystätter, ich sehe ein, daß Sie recht haben, daß Sie nicht anders handeln können. Ich hege nur den einen Wunsch, und ich weiß, daß Sie ihn mit mir von ganzem Herzen teilen, daß Constanze Assing nicht den Frevel, der an ihr begangen wurde, mit dem Leben büßen muß!«
Eine tiefe Pause folgte. Freystätter starrte wie geistesabwesend ins Leere. Und Manner erfuhr aus diesem verzweifelten und hoffnungslosen Blick, was er nicht geahnt hatte, daß Sigmund Freystätter Constanzen liebe, und blitzschnell durchzuckte es ihn, daß sie in diesem unseligen Zweikampf wohl selbst eine Rolle gespielt habe. Tiefes Mitleid mit diesem so unglücklichen, so reichbegabten und so liebenswerten Menschen ergriff ihn, und in überwallendem Gefühl sagte er, ihm die Hand zum Abschied reichend:
»Sigmund Freystätter, von heute ab sagen wir Du zueinander. Wollen Sie? Willst Du?«
Und die beiden Männer umarmten sich.
So tief, so innig hatte sich Constanze Assing in die Herzen der Menschen hineingesungen, so groß war die Macht, die ihre Kunst ausströmte, so unwiderstehlich der Zauber, den ihre Persönlichkeit ausübte, daß die ganze Stadt den mitleidsvollsten Anteil nahm an dem Schicksal ihres Lieblings. Ein geübtes Ohr konnte aus all diesen teilnehmenden feinen und unbeholfenen Worten heraushören, daß das nicht der so leicht aufflackernde und leicht erlöschende Enthusiasmus war, den man so gern einer schönen Theaterprinzessin zollt, sondern daß es viel, viel mehr war: Zuneigung und Liebe! Liebe und Achtung vor diesem so wundervoll begabten Geschöpf, das sich aus eigener Kraft in unermüdlichem Streben und in tiefem sittlichen Ernst emporgerungen hatte zu dieser stolzen Höhe. Und daß mit dieser eigenartigen Persönlichkeit, der echte Herzensgüte, echte Fröhlichkeit und echte Bescheidenheit innewohnte, etwas Einziges aus dem Leben scheiden müßte.
Und noch an demselben Vormittag lief ein Gerücht durch die Stadt, das die Gemüter in heftigste Erregung versetzte: ein Gerücht, das zuerst für eine grobe Erfindung, dann immerhin für eine Möglichkeit gehalten und schließlich als Wahrheit erkannt wurde. Daß heute morgen im Planegger Wäldchen ein Pistolenduell stattgefunden, und daß der Doktor Sigmund Freystätter, der bekannte und geachtete Musikkritiker, den genialen und »bildschönen« Schöpfer des »Liebestod«, Camille Dupaty, erschossen habe. Und das Gerücht, das müßige und geschwätzige Mäuler durch alle Straßen und Gassen, Winkel und Häuser trugen, nahm mit jeder Stunde abenteuerlichere Gestalt an, und Schauermären durchschwirrten die Stadt. Nur eines traute sich nicht heran an Constanze Assing: die Verleumdung!
Und dieses Mädchen, an dessen Geschick eine große Stadt fiebernden Anteil nahm, ahnte nichts von all dem bunten Treiben. Ahnte nicht, daß der, dessen siegreiche und strahlende Schönheit sie entzückt, dessen vermeintliches Genie sie begeistert, dem sie sich in heißer Liebe zu eigen gegeben, kalt und bleich und leblos auf dem Schragen lag, ahnte nicht, daß der »Spezi«, ihr alter, treuer Spezi, mit dem die entsetzliche Entdeckung des verübten Frevels sie wieder in Freundschaft zusammengeführt, daß dieser »arme Narr« in tiefer Trauer, aber auch in unversöhnlichem Groll an sie dachte, ahnte nicht, daß die krächzenden Raben doch recht behalten sollten, daß der Tod, dem sie auf der Fahrt nach dem Walchensee schaudernd ins Auge geschaut hatte, mit der Hippe vor der Tür stand und winkend die Hand erhob, ihm zu folgen. Still und ohne Bewußtsein lag sie und ahnte auch nicht, daß die drei berühmtesten Mediziner Tag und Nacht unablässig an ihrem Bette wachten, daß sie jeden ihrer Atemzüge belauschten, jede ihrer unwillkürlichen Bewegungen beobachteten, und daß sie mit Aufgebot allen Scharfsinns und aller tiefgründigen Kenntnisse in schönster Menschlichkeit dieses noch vor wenigen Tagen so blühende und schwellende Leben dem draußen wartenden Sensenmann zu entreißen versuchten, ahnte nicht die liebevolle, unermüdliche Pflege der Krankenschwestern, ahnte nicht die Angst ihrer Dienstboten, aber sie ahnte auch nicht, daß eine alte, kleine, verschrumpelte Frau in das demütige Dankgebet, das sie für die Errettung des Sohnes zum Himmel sandte, auch die innige Bitte um des »Stanzerls« Genesung einschloß.
Nein, das alles ahnte sie nicht …
In dem Raum, in dem Constanzens herrliche Stimme so oft erklungen, in dem Zimmer, in dem noch vor wenigen Nächten heiße, törichte Liebesworte gestammelt und in wahnloser Leidenschaft bittende und gewährende Küsse getauscht worden waren, herrschte tiefe, bange, erwartungsvolle Stille …
Und vor der Tür stand der Sensenmann und winkte …
Sigmund Freystätter, die vier Sekundanten und der Arzt waren mittags zur Polizei gerufen worden, um ihre Aussagen über den Verlauf des Duells zu Protokoll zu geben, und waren dann entlassen worden.
Frau Ralchen saß den ganzen Tag, noch wie gelähmt von den grausigen Stunden, in denen sie im Hausflur auf ihres Sig Rückkehr gewartet hatte, in ihrem Lehnstuhl, sie starrte vor sich hin und murmelte hie und da ein leises Gebet. Veilchen briet und kochte, schmorte und dämpfte in der nicht ganz unbegründeten Erkenntnis, daß gutes Essen ein bewährter Sorgenbrecher sei. Aber das seit Erschaffung wohl noch nicht Dagewesene, Unfaßbare geschah: selbst Herr Salomon rührte die Apfelspeise nicht an, welche Veilchen heute besonders verschwenderisch mit Rosinen, Korinthen und Mandeln bedacht hatte. Nein, Herr Salomon hatte heute keine Zeit dazu. Er hatte nur Zeit, seinem Ralchen die welken Backen zu streicheln und sie in seiner nicht übertrieben gewählten Ausdrucksweise zu trösten.
»Nu schön! Wird er wirklich auf Festung komme … meinste, es wird 'm schlecht da gehn? Alle Sonntag wirste ihm 'en Korb schicke mit Rauchfleisch und Gänsebrust und Schmalz, und d' Aepfelspeis' kann er sich selber aufwärmen … Ralchen! Wein' net und gräm' Dir net … Dank Adonai, daß er uns den Sig net g'nommen hat … und ä Stick kalte Schmorbrate kannste ihm auch mit beilege … wein' net, Ralche! … Hingericht' wird er net werd'n, und wenn uns der liebe Gott das Lebe läßt, schenk' ich Dir … Du sollst lebe und gesund sein … zur goldenen Hochzeit in sieben Jahren ä echten,« und Herr Salomon druckste schwer, »ä echten … Bisamkragen, daß die russische Kaiserin grün wer'n soll vor Neid!«
Herr von Mauerbrecher hätte die Wette, die er im Morgennebel auf der Hinfahrt nach dem Planegger Park vorgeschlagen hatte, gewonnen. Camille Dupaty fuhr wirklich am selben Abend noch nach Brüssel. Die französische Gesandtschaft und das belgische Konsulat hatten alle nötigen Schritte getan und beschleunigt, alle polizeilichen Beanstandungen gehoben, und nach dem mit Madame Dupaty gepflogenen Depeschenverkehr wurde abends in aller Stille der einfache Sarg in den grauen Güterwagen gehoben, der die mit Kreide geschriebene vorschriftsmäßige Bezeichnung »Leiche« trug. Und Herr von Mauerbrecher hatte auch darin recht behalten, daß er und Baron Courcelles auf dem Bahnhof Abschied von ihm nehmen würden. Sie beide und der belgische Konsul standen mit entblößten Häuptern und hielten die spiegelblanken Zylinder in den Händen, bis der Waggon geschlossen war. Sonst nur zwei Polizisten und einige Bahnbeamte. Im benachbarten Wagen saß Camilles Kammerdiener, der sich eine große Zigarre ansteckte. Herr von Mauerbrecher und Baron Courcelles fuhren dann in den Klub.
Den Sarg Camille Dupatys schmückte nur ein einziger kleiner, billiger Kranz. Den hatte das hübsche Stubenmädchen geschenkt, das ihn so lange im Hotel bedient hatte.
»Vorüber, ach, vorüber geh', wilder Knochenmann,
Ich bin noch jung, geh', Lieber, und rühre mich nicht an.«
Sie hatte es so oft gesungen, dieses feierliche und traurige Schubertsche Lied, sie hatte so oft ihm ihre Stimme und ihre Seele geliehen und hatte so oft damit die Menschen gerührt. Und endlich, nach endloser banger Not rührte sie auch den, der vor der Tür wartete. Er hatte an einem leuchtenden Frühlingsmorgen Abschied genommen von diesem schönen, liebenswerten Geschöpf und hatte ihr leise, ganz leise zugeflüstert:
»Geh'! Ich will Dich noch nicht in meinen Armen schlafen lassen. Geh' noch eine Strecke! Du hast mir nun in die Augen gesehen, Du hast nun meinen Ruf gehört, Du kennst meine Macht! Geh'! Erfreue und rühre, begeistere und erhebe die Menschen! Blühe! Lebe!«
Constanze war erwacht.
Die Zeitungen brachten am selben Abend die Nachricht von der endlichen, entschiedenen Besserung im Befinden der Künstlerin, deren Rekonvaleszenz wohl viele Monate dauern, aber auch zu ihrer völligen Genesung führen würde. Die ganze Stadt nahm freudigsten Anteil, und die kleinen »Schmierblattln« veröffentlichten Constanzens Porträt, das man ebenso gut für Messalina, Katharina die Zweite oder Goethe hätte halten können.
Die Nachricht von Constanzens Errettung erschien am Abend vor der Verhandlung, welche am nächsten Morgen neun Uhr im großen Schwurgerichtssaal stattfinden sollte, »gegen Sigmund Freystätter, Doctor philosophiae, wohnhaft zu München, Kaufinger Str. 30b, angeklagt, den Tonkünstler Camille Dupaty, geboren in Brüssel, am 23. März a. c. im Zweikampf getötet zu haben«.
In dem Schwurgerichtssaal, in dem sich seit zwölf Stunden Kopf an Kopf in lebensgefährlicher Enge drängte, herrschte um neun Uhr abends eine drückende, schwüle, atemberaubende Luft. Aber die Zuhörer, unter denen sich die Trägerinnen der vornehmsten Namen, die feinsten Köpfe aus den Bühnen-, Maler-, Schriftsteller- und Bildhauerkreisen, die Vertreter der besten Gesellschaft und einfache Leute aus dem Volke befanden, wankten und wichen nicht von ihren mühselig erkämpften Plätzen, um endlich den Urteilsspruch zu hören, den das Gericht gegen den Angeklagten fällen würde. Der saß neben seinem Verteidiger, dem durch seinen blendenden Geist und seine hinreißende Beredsamkeit berühmten Justizrat Haushammer.
Er war der ganzen Verhandlung mit nie ermüdender Ausdauer gefolgt, er hatte alle an ihn gerichteten Fragen ernst und bescheiden beantwortet, alle Sachverständigen hatten ihr Urteil über den Diebstahl Dupatys an dem Meisterwerk seines großen Lehrers zu seinen Gunsten abgegeben, und der Generalmusikdirektor Manner hatte es sich nicht nehmen lassen, mit inniger Wärme »den hohen sittlichen Ernst, die Vornehmheit der Gesinnung und die Herzensgüte seines Freundes Sigmund Freystätter« zu preisen, er hatte auf die Richter, die Geschworenen und das Publikum den denkbar günstigsten Eindruck hervorgerufen, und alle waren sich einig, daß hier ein vornehmer, wahrheit- und ehrliebender, kunstbegeisterter Mensch durch eine unselige Verwicklung in diese verzweifelte Lage gedrängt worden sei. Er hatte nicht Angst gehabt vor der Verhandlung, er hatte nicht Angst vor der Strafe. Während der vollen zwölf Stunden litt er nur unter der unsäglichen Qual, daß vielleicht der Name Constanzens plötzlich in das Verhör hineingezogen werden könnte durch gewiß gutmütige, aber unbeholfene Aussagen des Herrn Gerum oder der Frau Schwabenmeyer, und er atmete von einem Alp befreit auf, als sich seine Befürchtungen nicht erfüllten. Die nervenkitzelnde Sensation, auf welche viele, namentlich die Damen, geharrt und gelauert hatten, traf nicht ein. Der Name der Künstlerin wurde nicht erwähnt.
»Er wird freigesprochen!« ging es von Mund zu Mund. Sigmund Freystätter kümmerte sich nicht um die Menge, der er ein interessantes Schauobjekt war. Er sah über sie alle hinweg, und immer wieder fiel sein Blick in die rechte Ecke des Saales, wo zwei alte Leute, ein Mann und ein verschrumpeltes kleines Frauchen, saßen. Und immer wieder schien er ihnen zurufen zu wollen:
»Ich bitte Euch: geht doch fort! Wozu legt Ihr Euch diese stundenlange Qual, diese Marter auf? Geht doch! Ihr werdet ja doch früh genug das Urteil erfahren!«
Aber das alte Paar wollte diesen flehenden Blick, der immer wieder zu ihm hinüberflatterte, nicht verstehen. Unter heimlich verschluckten Tränen lächelten die beiden alten Leute ihm zu, und immer wieder schienen sie ihm antworten zu wollen:
»Mei Sig! Sei nur guten Mutes; wir sind ja hier … denk' Dir doch: Dei Vater und Deine Alte … und da kann Dir ja nix g'schehn!«
Der Verteidiger hatte seine zweistündige Rede beendigt, und ein bewunderndes Gemurmel rauschte durch den Saal. Haushammer hatte in seinem Plaidoyer eine Fülle wundervoller, aus scharfem Verstand und gütigem Herzen geschöpfter Gedanken verschmolzen. Er hatte mit sicherem Takt und vollendeter Menschenkenntnis den Toten, der draußen im Schnee sein junges Leben aushauchte, nicht geschmäht. Er hatte den Angeklagten einen echten Priester der Kunst genannt, der in seinem heiligen Eifer der Wahrheit, der Kunst und dem Andenken des genialen Schöpfers zum Siege verholfen habe, und hatte, indem er seinen Platz verließ und vor die Geschworenen hintrat, mit den Worten geschlossen:
»Der Mann, den zu verteidigen ich die Ehre habe, ist aller Ehren wert. Sprechen Sie ihn frei!«
Freystätter drückte seinem Verteidiger die Hand.
»Er wird freigesprochen!« ging es wieder von Mund zu Mund.
Und die beiden alten Leute, die in der rechten Ecke des Saales mit verschlungenen Händen saßen, schlürften die Worte mit stummer Seligkeit ein.
»Freigesprochen?« sagte hinter ihnen ein sehr junger Rechtsbeflissener, »das ist gar nicht möglich; Zweikampf mit tödlichem Ausgange nicht unter zwei Jahren Festung!«
Und die eben aufgeblühte Hoffnung der beiden alten Leute verwelkte schnell und sank und sank.
Der Präsident fragte:
»Angeklagter, wollen Sie noch etwas sagen?«
Sigmund Freystätter stand auf, verbeugte sich, und plötzlich wurden die beiden Alten aus ihren traurigen Gedanken durch die Stimme ihres Sig aufgeschreckt, und er sagte:
»Ich habe den so beredten Worten meines Herrn Verteidigers wenig hinzuzufügen. Ich habe nur meine Pflicht getan, nach Ehre und Gewissen. Ich habe nicht, wie der Herr Staatsanwalt annimmt, aus Rache gehandelt, ich habe nur dem toten Meister, den ich geliebt und verehrt habe, zu dem Ruhm verhelfen wollen, der ihm gebührt. Ich bin stolz auf diese Tat. ›Wenn ich tot bin, werde ich erst leben!‹ hat Richard Assing gesagt. Er wird nach seinem Tode leben! Ich habe zum Zweikampf nicht herausgefordert, ich bin dazu gezwungen worden. Ich habe den unglücklichen Ausgang nicht gewollt. Meine Herren! Ich bitte nicht um Milde, ich bitte um Gerechtigkeit!«
Sigmund Freystätter verbeugte sich.
»Er wird freigesprochen,« schwirrte es durch den Saal.
Um halb zwei nachts trat der Gerichtshof ein; das Publikum erhob sich. Der Präsident verkündete:
»Der Angeklagte ist schuldig befunden worden, den Camille Dupaty im Zweikampf getötet zu haben, und wird unter Zubilligung mildernder Umstände zu einem Jahr und sechs Monaten Festungshaft verurteilt. Die Sitzung ist geschlossen.«
Man hörte einen leisen Schrei. Eine kleine, alte Frau wurde hinausgetragen.
Constanzens Genesung machte, wie es die Aerzte vorausgesehen hatten, trotz der sorgsamsten und hingebungsvollsten Pflege nur sehr langsame Fortschritte. Ihre Kräfte waren erschöpft und wollten sich nicht heben. Sie lag still und teilnahmslos und ließ willenlos alles mit sich geschehen. Die Aerzte hatten den Wärterinnen aufs strengste verboten, ihr aus den Zeitungen vorzulesen, ihr Briefe zu übergeben, ihr Besuche anzumelden, sie dürften nur mit ihr sprechen, wenn sie etwas verlangte. So war sie abgeschnitten von der Welt und sie nahm auch keinen Anteil an der Welt. Nur mählich, ganz allmählich dämmerten die Geschehnisse wieder auf, und sie mußte sich alle Mühe geben, den Faden wieder anzuknüpfen, der plötzlich gerissen war. Die Dauer und den Namen ihrer Krankheit wußte sie nicht, welchen Monat, welchen Tag man zählte, war ihr unbekannt. Stundenlang sah sie auf das ihr gegenüberliegende Hinterhaus und lächelte über ein kleines Kätzchen, das sich auf einem Küchenbalkon putzte und sonnte. Und freute sich, wenn ihr die Wärterinnen die Blumen zeigten, die in verschwenderischer Fülle täglich und stündlich ihr von der Liebe und Verehrung erzählten, die sie genoß. Erst nach und nach vermochte sie die Ereignisse aneinanderzureihen, entsann sie sich des ungeheuren Frevels, den Dupaty an ihrem Vater und an ihr selbst verübt hatte, entsann sie sich der Entdeckung beim Buchbinder Gerum, erinnerte sie sich, daß der Spezi ihr seine Hilfe versprochen hatte, und dann … und dann … dann war der Vorhang gefallen … Hatte Freystätter seinen Plan, Dupaty öffentlich zu brandmarken, ausgeführt? … Und was war dann wohl geschehen? … Was war wohl aus Camille geworden? … Sie wollte die eine Schwester, deren stilles, freundliches, gleichmäßiges Wesen ihr so angenehm war, fragen … aber sie fürchtete sich zu verraten und schwieg … War Dupaty verschwunden? … Was war ihm übriggeblieben, als sich in einem fernen, dunkeln Weltteil zu verkriechen … sie hatte kein Mitleid mit ihm … ihre Liebe war ausgelöscht, ausgerodet bis in die tiefsten Wurzeln … mag aus ihm werden, was mag! … Manner? … Ob er sich wohl nach ihrem Befinden erkundigt hat? … Ach nein, der jagt nur schönen Frauen nach, die ihn in ihre Arme schließen und beglücken … Der Spezi? … je nun, der Spezi! … er hatte ihr seine Hilfe angeboten, um ihres Vaters Namen zu Ehren zu bringen … ob er's auch getan hat? … o gewiß! … denn das mußte ihn doch befriedigen und seiner Eitelkeit schmeicheln, daß er mit seinen unglücklichen Prophezeiungen doch recht behalten hatte! … Die Jugendfreundschaft? … dieser treue, starke, scheinbar unlösbare Bund war ja doch zerrissen für alle Zeit … Vorbei! vorbei! …
Zum ersten Male hörte sie wieder, wie das Rotkehlchen lustig schmetterte, weil doch die Sonne gar so schön in seinen Käfig schien. Ob sie wohl auch noch einmal singen würde? Ob die Krankheit ihr nicht die Stimme raubte? Da packte sie eine furchtbare, grauenvolle Angst, und die Schwestern, die den Grund dieses plötzlichen Aufruhrs nicht kannten, starrten ratlos und wußten nicht zu helfen. Ja, kein Zweifel … sie hatte ihre Stimme verloren. Sie mußte ihren Beruf aufgeben, den sie so heiß geliebt, der ihrem Leben Inhalt und Freude, Farbe und Wert verlieh. Sie mußte mit dreiundzwanzig Jahren mitten aus voller Schaffenskraft versinken in der Dunkelheit, ohne Licht, ohne Sonne, ohne Ruhm und ohne Hoffnung! einsam, verlassen, vergessen. Das Glück hatte sie, wie damals den Vater, nur gestreift und hatte ihr dann treulos den Rücken gekehrt. Warum nur ist sie nicht gestorben! Warum hatte der, der an der Tür gelauert und ihr gewinkt hatte, sie nicht mitleidig an der Hand genommen und sie still in die ewige Nacht geführt?
Lange, lange starrte sie vor sich hin; heiße Tränen rollten ihr über die bleichen Wangen.
Es herrschte tiefe Stille. Die Pflegerin saß am Fenster und las. Und plötzlich, ganz plötzlich hörte sie vom Bett der Kranken her ein leises, ganz leises Summen, wie ein verwundeter Vogel singt, und als sie, ohne die Augen von ihrem Buche aufzuschlagen, horchte, tönte es ihr leise, ach so leise, entgegen:
»Vorüber, ach vorüber …!«
»Kgl. Festung Ingolstadt, 7. Juli 90.
Mein geliebtestes Muttchen!
Ja, was fällt Dir denn ein, mein Alterchen! Schickst mir da einen Korb mit so viel guten Dingen, daß außer mir sich vom Kommandanten herab bis zum letzten Stallburschen alle die königlich bayerischen Mägen gründlich verderben könnten. Aber gut schmeckt's doch. Die Pökelzunge ist prachtvoll, die Gänsebrust fabelhaft, und was nun gar die Aepfelspeise betrifft, die ich mir auf meinem Spirituskocher aufgewärmt habe, so kannst Du Veilchen ausrichten, daß es so etwas überhaupt noch nicht auf der Welt gegeben hat. Ich habe dem Militärarzt, einem sehr liebenswürdigen und gebildeten Mann, ein Stück – natürlich nur ein ganz kleines – abgegeben, und weißt Du, was er gesagt hat: »Ja zum Donnerwetter, wenn die Geschichte so ist, trete ich noch heute zum Judentum über!« Schick mir nur nicht so viel, geliebtes Alterchen, sonst bekomme ich noch einen ganz dicken Bauch, und Du erkennst Deinen Sig gar nicht wieder, wenn er zurückkommt, und Veilchen kann mir alle Westen und Hosen weiter machen. Und damit Du's auch weißt: ich lebe hier sehr angenehm und bin in bester Laune. Ich arbeite viel, kann Bücher lesen und darf auch spazierengehen, spiele mit dem Doktor Schach und erfreue mich der rosigsten Stimmung und der vortrefflichsten Gesundheit. Das Essen … na ja! An die heimischen Fleischtöpfe darf ich nicht denken. Wärst Du, mein liebstes Muttchen, nun auch noch hier, so würden wir herrlich und in Freuden leben. Streng' Dich nur nicht im Geschäft so an, der Vater macht's schon. Geh' fleißig spazieren, besuche Deine alten Freundinnen, die Frau Sinsheimer und die Frau Augsburger, lad' sie Dir auch mal zum Kaffee ein und schwätz' und sei vergnügt. Grüß mir den Vater tausendmal. Und auch Veilchen. Ich küsse Dir die Hände in treuester Liebe.
Dein Sig.«
»Kgl. Festung Ingolstadt, 7. Juli 1890.
Mein lieber Freund Manner!
Ich kann nicht anders; ich muß an Dich schreiben. Ich muß einen Menschen haben, dem ich mein Herz ausschütten kann, sonst ersticke ich vor Gram und Kummer; einen Menschen, der mich versteht, und der mich liebt. Was Du ja seit jenem Morgen ahnst, als Du nach dem Duell bei mir warst, was ich Dir nicht mehr verheimlichen kann und auch nicht will. Ich liebe Constanze Assing. Meine Mutter erwähnt nie ihren Namen. Ellwanger und Sinsheimer sind auf Urlaub in Tirol. Ich darf hier keine Zeitung lesen, ich weiß nicht, wie es ihr geht. Diese entsetzliche Ungewißheit, in der ich schon so lange schwebe, martert mich unsäglich. Schreib' mir die Wahrheit, sie mag noch so entsetzlich sein, ich muß die Wahrheit wissen. Sieh, liebster Freund, diese Liebe hat mich nicht plötzlich erfaßt und unterjocht. In meiner Jugendzeit hat sie Besitz von mir ergriffen und hat tiefe und starke Wurzeln geschlagen, sie ist das Beste, was ich mein nenne. Ich liebe ganz hoffnungslos; sie hat es mir gesagt, ich habe die schriftlichen Beweise in meinen Händen gehalten. Und trotzdem ich weiß, daß ich ihr nie mehr hätte sein dürfen als ein Berater, als ein Freund … würde sie nicht mehr leben, würde ich wissen, daß sie nicht mehr da ist, daß sie nicht mehr atmet, alles Licht wäre für mich erloschen. Ich führe hier ein trostloses, eintöniges Leben. Ich versuche an der Biographie Assings zu arbeiten, ich habe mir alles Material mitgenommen, es will und will nicht vom Fleck. Alle meine Gedanken drehen sich um den einen Punkt: lebt sie? Ich verkehre mit niemand, ich spinne meine Tage fort in grauem Einerlei, und es dauert noch ein volles Jahr, bis ich wieder ein freier Mensch bin. Hab' Erbarmen und schreib' mir bald.
»M., den 9. Juli 1890.
Mei Sig! Ich hab' grad kei' andren Briefbogen und schreib' dieserhalb auf 'nem Geschäftsbogen. Ueber Deinen lieben Brief hab' ich mich sehr g'freut. Und daß Dir die Sachen so gut schmecken, hat mich auch sehr g'freut. Ich schick' Dir bald wieder eine Kist', Du mußt aber dem Vielfraß, dem Doktor, net so viel abgebe. Ich hab' mich auch sehr g'freut, daß Du so wohlauf und bei so guter Lauhne bist. Ich besuch' Dich bald. Hab' Geduld, mei Sig, Dei' Großvater selig war ä kluger Mann, und der hat immer g'sagt: es zerkommt sich alles. Ich pack' in die Kist' auch noch a halb Dutzend Oberhemden, kannste immer brauchen. Dem Vater geht's gut, und mir geht's auch gut. Ich geh' alle Tag' spaziehren. Und alle Woch' lad' ich mir dreimal mei' Freundinnen ein zum Kaffeeh. Brauchst Dich net zu sorge um Dei' alt' Mammele. Der Vater will noch anschreiben. Dieserhalb schließ ich mit tausend Segenswünschen für Dich, mei Sig.
Deine Alte.«
»Mei lieber Sohn! Auch ich send' Dir meinen Gruß. Und freu' mich, daß es Dir gut gehet. Dei' Mutter geht alle Tag' bei Wind und Wetter spazieren. Ich glaub: in den Hofgarten. Hundertmal hab' ich ihr g'sagt, sie soll bei der Hitze mit Veilchen auf dem Lande. Glaubste: sie tut's? Sie denkt gar nicht dran. Mit's Geschäft bin ich zufrieden. Die baumwollene Sachen machen mir Sorg', aber Waschstoffe gehen glatt ab. Die 15 M. Zinsen von Dei' Pfandbrief hab' ich Deinem Konto gutg'schrieben. Erkundige Dich mal so unter der Hand, ob man net in Ingolstadt 'ne Filiale aufmache könnt. Ohne Mehr für heut'
»Berchtesgaden, 10. Juli 90.
Hotel Elisabeth.
Mein lieber Freund! Alle Deine Sorgen sind unnütz. Sie lebt, sie ist auf dem besten Wege zur völligen Genesung. Ich habe vor meiner Abreise oft und lange mit den Aerzten gesprochen. Die Krankheit wird auch nicht die leiseste Spur hinterlassen. Ich war oft da, habe sie aber nie sehen können, weil sie völliger Ruhe bedarf. Ihre Kräfte nehmen langsam zu. Sie ist uns wiedergewonnen, und ich bin schon so tollkühn, Pläne für die nächste Saison zu machen. Professor Pfannenschmied hält es nicht für unmöglich, daß sie in sechs bis sieben Monaten wieder auftritt. Sie ahnt nichts von dem, was geschehen ist; sie weiß nichts von Dupatys Tod, nichts von Deiner Haft. Lange wird man's ihr mit aller List nicht mehr verheimlichen können; es wird eben alles darauf ankommen, wie sie es erfährt, und durch wen. Hoffen wir, daß sie schon Kräfte genug besitzen wird, um den unausbleiblichen seelischen Aufruhr zu ertragen.
Mein lieber Sigmund! Du hättest es mir gar nicht zu berichten brauchen. Ich wußte es lange. Wußte es seit jenem Morgen, als Du so namenlos traurig ins Leere starrtest. Aber ich danke Dir doch von Herzen, daß Du mir das Vertrauen schenktest. Du mußt es durchkämpfen. Ein Mensch wie Du, dessen Gedanken- und Gefühlsleben so wundervoll reich und tief ist, dessen Willenskraft so mächtig, wird in der Kunst, die Du so liebst und die Dich so liebt, in dem immer wachsenden Ansehen, in der Achtung, die Dir jedermann zollt – und jetzt mehr als je – Ersatz, Genugtuung und Befriedigung finden. Die Wunde wird vernarben, und Du wirst innerlich tief beglückt sein, ihr ein Freund, ein Berater bleiben zu können. Und sie wird eines aufrichtigen, treu ergebenen, selbstlosen Freundes bedürfen, da sie nach den trüben Erfahrungen sich zu einer Ehe gewiß nie mehr entschließen wird.
Vertrauen gegen Vertrauen! Ich habe auch mal, als ich noch so jung war wie Du und noch keine grauen Haare hatte, und als ich noch glaubte, daß die Welt ein Festsaal sei voll Licht und rauschender Musik … ja, lieber Freund, da habe ich auch geliebt, ebenso heiß und innig wie Du und ebenso unglücklich wie Du. Und als sie mir – mein himmlischer Vater, es sind jetzt über zwanzig Jahre her – sagte, daß sie niemals meine Neigung erwidern könne, da habe ich auch geglaubt, daß die Erde stillestehen und sich die Sonne verfinstern müßte, wie Du es jetzt glaubst. Und jetzt? Und jetzt! In nebelhafter Ferne verschwimmt mir alles, was damals geschah und mich so tief bewegte. Die Zeit sorgt schon dafür, daß man vergißt. Es drängten sich so viele neue, reizvolle, schöne und blühende Gestalten dazwischen und forderten ihr Recht, und ich? Ich hab' es ihnen so gern gewährt. Nein, mein Lieber, laß Dir von einem erfahrenen Weltweisen sagen, der den Freudenbecher geschlürft hat und hoffentlich noch lange schlürfen wird: Ich halte alles für möglich: eine Eisenbahn zum Mond, einen Flugapparat über den Ozean, eine künstliche Menschwerdung, die Wiederkehr der Toten … ja, ich halte es sogar für möglich, daß unser guter Braunberger 'mal den Lohengrin richtig singen wird. Nur eines halte ich nicht für möglich: ewige Liebe. Sei still, bescheide Dich, auch Deine Kammer wird einmal voll Sonne sein. Ich bleibe Dir von Herzen treu.
Dein Manner.«
An einem Mittag gegen Ende August hatte Doktor Ellwanger, der seinen Chef, den Professor Pfannenschmied, während des Sommerurlaubs vertrat, die Pflegerin beauftragt, Constanze in den Salon zu führen und an der geöffneten Balkontür ein paar Stunden ruhen zu lassen, und er war vorsichtig genug gewesen, vorher in dem Zimmer Umschau zu halten, um alles zu entfernen, was schmerzliche Erinnerungen hätte erwecken können. Er versteckte ein eingerahmtes Bild Dupatys unter einem Kissen und verschloß den Klavierauszug des »Liebestod«, der noch auf dem Flügel lag, und dessen rote Buchstaben auf dem Einband wie Blutstropfen in der Sonne leuchteten, in den Bücherschrank. Constanze lag in ihrem tiefen Lieblingsstuhl eingebettet. Die Sonne lachte aus dem schon seit Wochen wolkenlosen Himmel ins Zimmer, in den Bäumen gegenüber zwitscherten und jauchzten die Vögel, Schmetterlinge flatterten vorbei, Mariengarn zog leise durch die weiche Luft, und Constanze sah lächelnd und sinnend in diese prangende Sommerlust. Die Schwester war spazierengegangen, um endlich nach den langen Monaten mal wieder frische Luft zu schöpfen. Mit einer Handarbeit beschäftigt, saß die Jungfer neben Constanze. Sie hatte sich früher über nichts gewundert. Sie hatte sich das »sich wundern« angewöhnt, als sie in jenen Schreckenswochen ein einziges Mal ihre Herrin durch die halb geöffnete Tür gesehen hatte.
Es herrschte tiefe Stille.
Plötzlich fragte Constanze:
»Haben sich viel Leute nach meinem Befinden erkundigt?«
»Ja, gnädigstes Fräulein, das war gar net zum Sagen. Die reine Wallfahrt war's. Und diese Blumen! nein, diese Blumen!«
»Wer war denn von meinen näheren Bekannten hier?«
»Der Herr Generalmusikdirektor … oh, der war oft da, und der Herr Intendant, überhaupt alle, alle vom Theater, der Herr Hofkapellmeister Danegger. Ja, ich glaub': bis zum letzten Lampenputzer und bis zur letzten Reinmachefrau hat keins gefehlt. Und dann der Herr Gerum … gnädiges Fräulein wissen schon … der g'spaßig aussehende Mann, der damals zum Kaffee hier war … o mei, der is oft kommen, so oft!«
Nach einer kurzen Pause fragte Constanze:
»Und der Herr Doktor Freystätter?«
»Auf den kann ich mich grad' net besinnen.«
»Er hat sich niemals erkundigt, wie mir's geht?«
»Nein!«
Constanzens Lippen umspielte ein bittres, schmerzliches Lächeln. Sie sah hinaus. Sie hatte also den »Spezi« verloren, für immer.
»Aber wissen's, gnädiges Fräulein,« begann die Jungfer eifrig, die merkte, daß sie da ein gefährliches Gebiet betreten hatte, »am öftesten von allen miteinand' war doch eine alte Frau hier. Ja, ob's mit Kannen 'gossen hat oder ob die Gäul' vor Hitzen tot umfielen, die Frau kam jeden Tag, alle die fünf Monate jeden Tag, und alle Tag' hat's Blumen mitbracht und auch Gelee. Eine recht gute Haut muß schon sein!«
»Eine alte Frau? Wie heißt sie denn?«
»Ja, ihren Namen hat's net sagen wollen, net um die Welt. Jeden Mittag so um zwölf klopfte sie ganz leise an die Küchentür, und dann humpelte sie herein und verschnaufte sich erst a bisserl, weil ihr die Stiegen gar so hart ankamen.«
»Wie sah sie denn aus?«
»Ja, so recht verhutzelt und verschrumpelt. Ich glaub' immer, sie muß eine Israelitin sein!«
Constanzens Wangen röteten sich ein wenig.
»Ging sie vielleicht … vielleicht an einem Stock?«
»Ja, akkrat auch noch.«
»Das ist ja die Frau Freystätter, die Mutter vom Doktor,« rief Constanze lebhafter. »Wenn sie morgen wiederkommt, führen Sie sie gleich herein!«
»Ja, wann's das gnädige Fräulein sehen möget … grad' sitzt sie draußen in der Küchen und diktiert der Christine ein Kochrezept.«
»Ach bitte, rufen Sie sie doch schnell, recht schnell!«
Constanzen klopfte das Herz vor Freude, die gute alte Frau wiederzusehen. Die hatte noch Mitleid, mehr Erbarmen als der Spezi, der nicht vergessen und nicht verzeihen wollte.
»Aber bleiben's ja net zu lang drin,« flüsterte die Jungfer und ließ Frau Ralchen eintreten. Und obwohl ihr beim Anblick Constanzens, die bleich und matt in den Kissen lag, die Tränen bis in den Hals stiegen, hielt sich das kleine Frauchen tapfer. Constanze streckte ihr beide Hände entgegen:
»Meine gute alte Mama!«
Frau Ralchen schluckste ein bißchen, aber überwand es doch.
»Sie gute Seele! Alle Tage bei Wind und Wetter, und alle Tage Blumen! Wie soll ich Ihnen nur danken?«
»Net der Red' wert!« erwiderte die kleine Frau, »alle Woch' bin ich a mal hier vorbei 'kommen. Hab' i mir g'dacht, willst' mal 'naufschaun!«
»Ich weiß schon,« lächelte Constanze gütig.
»Ja, schöne Sachln haben's 'trieben, Fräulein Stanzerl, schöne Sachln! A rechte Sorg' haben wir alle um Ihne g'habt, a rechte Sorg'!«
Nach einer kurzen Pause fragte Constanze, die immer noch Frau Ralchens Hände in den ihrigen hielt:
»Ist Ihr Mann wohlauf?«
»Da fehlt's net. 's G'schäft geht gut, nur mit der Filial' in Partenkirchen gibt's alleweil Verdruß.«
Constanze fühlte, wie ihr das Herz hämmerte; blitzschnell flog der Morgen vorüber, an dem sie in der Dorfstraße ihm die Schneeballen zugeworfen hatte. Und sie umklammerte die Lehne ihres Stuhls.
Frau Ralchen konnte nicht recht das lebhafte Interesse begreifen, das Constanze an der Filiale in Partenkirchen nahm.
Und wieder eine kleine Pause.
»Geht's Ihrer alten Köchin, dem Veilchen, auch gut?«
»Sie horcht noch immer und is ä Schmodder, aber kochen kann se.«
Frau Ralchen stand auf; auch ihr begann ihr altes, müdes Herz zu klopfen. Sie fühlte die Frage, die jetzt in der Luft schwebte, sie fühlte, daß Constanze jetzt … Was sollte sie sagen? Was ihr antworten? Darauf war sie nicht vorbereitet, und immer stärker pochte ihr Herz, und ganz leise zirpte sie:
»Also g'nug für heute, grüß Gott, Fräulein Stanzerl, auf baldige Wiederschau!«
Da fühlte sie sich am Aermel festgehalten, und Frau Ralchen wußte, daß es nun kein Entrinnen mehr gab, und daß ihr die furchtbar-grausige Frage entgegentönen würde.
»Und der Spezi? der treulose Spezi?« zitterte es ihr zu.
»Mei Sig? mei Sig?« und Frau Ralchen schlug die Augen nieder, weil sie Constanzens forschenden Blick nicht ertragen konnte, »mei Sig … der is … is … auf ä große Reis',« keuchte sie endlich hervor. Du lieber Gott, es war die erste Lüge, die sie in ihrem ganzen Leben ausgesprochen hatte.
»Ist er schon lange fort?«
»Schon seit … seit fünf Monaten!«
»Wo ist er denn?«
»Er macht … ä große Reis' um de Welt. Ja … ja … wo er jetzt is, weiß i net,« und sie sah immer noch auf den Teppich: »er schreibt immer Brief' so mit … ganz fremde Marken … i' glaub' … aus … aus Indien!«
»Daß Sie sich so lange von ihm trennen konnten?«
»Ja, mei', ma' muß!«
»Wird er bald wiederkommen?«
»In … in ä Jahr,« und Frau Ralchens dünne Stimme bebte. »Aber jetzt muß i fort, sonst schimpft mei' Salomon. I komm' bald wieder. Grüß Gott, Fräulein Stanzerl, und gute Besserung.«
»Auf Wiedersehen, liebe Mama Freystätter!«
»Ja, bald, bald!«
Draußen im Flur hielt sich Frau Ralchen fest, um nicht umzusinken, und sie schwur sich, diese Qual nie wieder ertragen zu wollen. Die Jungfer sprang hinzu und führte die alte Frau langsam die Treppe hinunter.
Constanze sah lange hinaus in das Grün der Bäume. Sie sann und sann und grübelte über das nach, was sie da eben gehört hatte: daß Sigmund Freystätter schon seit fünf Monaten auf einer großen Weltreise wäre, und daß das gerade mit ihrer Erkrankung zusammenfiel, und daß er noch ein ganzes Jahr fortbleiben würde. Warum noch ein Jahr? Warum mied er die Stadt, in der er seine Eltern, seine Freunde, seinen Beruf hatte? Wen kann sie nur fragen? Wer wird ihr die Wahrheit sagen? Soll sie Herrn Gerum kommen lassen? Soll sie Manner zu sich bitten? Irgendeinen ihrer vielen Freunde und Freundinnen? Die einen werden's nicht wissen und die andern werden's nicht sagen. Sie starrt ins Weite … sie ist allein. Die vom Spaziergang zurückgekehrte Schwester ist in der Küche, um das Essen zu besorgen, sie blickt umher im Zimmer. Das Bild Dupatys ist verschwunden. Auf dem ganz nahen Flügel liegt nicht mehr der Klavierauszug des »Liebestod«, statt dessen aufgeschichtet die vielen, vielen Hunderte von Briefen, die seit Monaten dort verschlossen harren. Ihre Unruhe, ihre Begierde, den Grund von des Spezis so langer Abwesenheit zu erfahren, wächst. Ob ihr wohl einer dieser Briefe eine Andeutung oder Auskunft geben, ob sie durch einen dieser Briefe wohl den Faden wieder anspinnen könnte, den sie seit so langer, langer Zeit verlor? Sie erhebt sich mühselig aus dem Stuhl und schleppt sich die paar Schritte, sich an den Möbeln festhaltend, zum Flügel. Ihre Finger gleiten durch alle diese Kuverte. Umschläge von allen Farben und Größen, von feinem und gewöhnlichem Papier, mit Wappen und Initialen, steile und liegende, sorgsame und flüchtige, elegante und plumpe, bekannte und unbekannte Züge. Und plötzlich fällt ihr Blick auf ein großes Kuvert. Sie hält sich am Klavier fest, sie kennt diese Handschrift nur zu gut. Ihre Hände fliegen, und zitternd reißt sie die Enveloppe auf. Ihre eigenen Briefe, die sie ihm in seliger Zeit schrieb. Er hat also ihren Wunsch, den sie ihm damals durch Freystätter hat übermitteln lassen, erfüllt. Aus dem einmal versiegelten Kuvert fällt ein sichtbar hastig geschriebener Zettel, und sie liest:
»Constanze! Nur für den Fall, daß ich im Duell mit Freystätter, das in wenigen Stunden stattfinden wird, den Tod finde, sollen Dir diese Briefe, die ich sehr geliebt habe, zurückerstattet werden. Denke nicht in Groll an mich zurück.
23. 3., morgens vier Uhr.
Camille.«
Und in diesem Kuvert, sichtbar durch den oberen Spalt hineingezwängt, liegt noch ein Brief, den sie ihm einst schrieb, und aus der Mitte dieses Briefes ist ein kreisrunder, kleiner Fetzen herausgerissen, und dessen Ränder sind versengt. Es flimmert ihr blutrot vor den Augen. Sie liest von ihrer eigenen Hand:
»Wenn er nur nicht auf den unglücklichen Gedanken gekommen wäre, sich in mich zu verlieben. Und so hoffnungslos! Der …«
Die folgenden Worte sind weggebrannt.
Die Schwester hörte einen schwachen Schrei. Sie eilte herein. Constanze lag auf dem Teppich, und ihre Hand hatte fest den Brief umklammert.
An demselben Tag, in der fünften Nachmittagsstunde, betrat den Laden des Welthauses Gebrüder Freystätter ein Herr, der nicht zu den ständigen Kunden gehörte und dennoch von Herrn Riesenfeld mit besonderer Ehrfurcht begrüßt wurde. Herr Doktor Ellwanger, der sich zu dem heldenhaften Entschluß durchgerungen hatte, endlich die Treue seines Mädels zu lohnen, verlangte eine möglichst buntfarbige seidene Bluse: »so Spinat mit Ei und blaue und rote Tupferln«. Herr Salomon, der im Hintergrunde des Ladens beim nachsichtigen Lampenlicht einer Dame eine »Pariser Neuheit« einreden wollte, kam sofort in die helleren Gefilde des Magazins, um Sigs Freund zu begrüßen, und auch Frau Ralchen, die im Glasverschlag gerade eine Kiste mit schmackhaften und bekömmlichen Dingen füllen wollte, kroch beim Anblick des lieben und treu bewährten Menschen hervor. Während der Chef der Weltfirma den ganzen Vorrat an Blusen unter wortreicher Hilfe des Herrn Riesenfeld ausbreitete, zwinkerte Ellwanger wieder und immer wieder Frau Ralchen zu, als ob er ihr etwas sagen, als ob er ihr etwas Wichtiges anvertrauen wolle. Aber bald sah er ein, daß er die schnelle Auffassungsgabe der Dame doch überschätzt hatte, und wählte nach endlosem Hin und Her eine Bluse, die mit dem Gefieder eines älteren Papageis zwar verzweifelte Aehnlichkeit hatte, dafür aber auch den Preis, den er sich vorgenommen hatte (fünfzehn Mark, also pro Jahr treu geleistete Dienste fünf Mark), nicht überschritt.
Dann fragte er plötzlich, ob Herr Freystätter im »Bureau« denn noch den wundervollen Schnaps heimlich verwahrte, von dem er ihm so oft eine Kostprobe verabreicht habe, und so schlängelte sich das Trio durch alle Baumwollstoffe und Kattune in den Glasverschlag, dessen Tür Ellwanger hinter sich fest schloß.
»Herr Freystätter und liebe Mama Freystätter, ich bin hergekommen, um Ihnen eine freudige Nachricht zu bringen. Der Sig ist heut' begnadigt worden!«
Es war stille im kleinen Raum; nur die ewige Gasflamme sang, und aus der Ecke zirpte es ganz leise vor fassungsloser Seligkeit:
»Ach Gott!«
»Die Geschworenen«, fuhr Ellwanger fort, »hatten ihn gleich nach dem Urteilsspruch, der nach dem Buchstaben des Gesetzes gefällt werden mußte, der landesherrlichen Gnade empfohlen. Sig ist nach fünfmonatiger Haft begnadigt und sofort entlassen worden. Er trifft noch heute abend hier ein.«
Frau Ralchen lehnte sich einen ganzen kurzen Augenblick an ihren alten Salomon und dann … und dann … ja dann geschah etwas, auf das Herr Doktor Martin Ellwanger denn doch nicht vorbereitet war … dann stürzte das verhutzelte, verschrumpelte Frau Ralchen ihm in die Arme und weinte heiße Tränen. Aber es waren seit langer, langer Zeit wieder Freudentränen.
Und Herr Salomon, dem das Herz vor Freude hüpfte, zeigte sich der großen Situation vollständig gewachsen. Er ging an die Kasse und gab den Befehl, daß die Bluse, die Herr Doktor Ellwanger für fünfzehn Mark gekauft hatte, zum Selbstkostenpreis berechnet werden sollte. Und der war drei Mark.
Zwei Stunden später traf Sigmund Freystätter im Elternhause ein.
Und das sag' ich Ihnen,« flüsterte zur gleichen Zeit Ellwanger, der seinen Chef, den Professor Pfannenschmied, noch während des Sommerurlaubs vertrat, nach seinem Abendbesuch draußen der Pflegerin zu: »wenn Sie sich noch ein einziges Mal unterstehen, die Patientin allein zu lassen, dann soll Sie der Deibel frikassieren … dann addio … dann fliegen Sie 'raus … Flennen Sie nicht, Sie sind eine Gans! … Ja, im Beruf versteh' ich keinen Spaß … Wenn Sie übrigens«, fügte er besänftigend hinzu und blickte dem bildhübschen Mädchen hinter seinen scharfen Brillengläsern in die hellen Augen, »mal an einem dienstfreien Abend mit mir ausgehen wollen, so werden Sie mich von einer anderen Seite kennen lernen.« Und da sie noch immer weinte, ließ sich Ellwanger gnädigst herbei, ihr länger, als grade unbedingt nötig war, die Backen zu streicheln, und dann gelang es ihm, sie zu beruhigen, und sie reichte ihm im dunklen Flur die frischen Lippen.
Der Sturm war über Constanzen hinweggebraust; er hatte sie durchrüttelt und durchzittert, aber er hatte sie nicht gefällt. Urplötzlich war der Vorhang fortgezogen worden von all den dunkeln und rätselhaften Geheimnissen des letzten halben Jahres, und urplötzlich hatte sie in die schmerzhafte und grauenvolle Helle geblickt. Dupaty und Freystätter hatten sich duelliert. Dupaty war gefallen. Freystätter büßte jedenfalls in einem Gefängnis die lange, lange Strafe. Das also war die große Weltreise gewesen, von der Frau Ralchen so krampfhaft gefabelt hatte. Dupaty tot! Es überlief sie. Dieser schöne, blühende Mensch, dessen frisches Leben ihr so oft entgegenlachte, dessen jugendliche Arme sie so oft umschlungen, dessen Herz so oft ganz nahe dem ihren schlug … fortgemäht, verscharrt, vermodert, vergessen … ein Nichts, ein Häuflein Asche! Um ihretwillen!
Die Pflegerin saß ihr gegenüber und las die Zeitung. Und Constanze grübelte weiter. Das war ihr klar, daß die beiden nur ihretwegen sich gegenüber gestanden waren, daß, als Freystätter die Briefe in ihrem Namen zurückgefordert hatte, Beleidigungen gefallen waren, welche diese beiden Männer nur mit Blut abwaschen zu können geglaubt hatten. Wer wohl der Forderer, wer der Geforderte, wer der Beleidiger, wer der Beleidigte gewesen sein mag? Sie beide hatten sie geliebt, der, dem sie ihr Herz geschenkt, dem sie sich zu eigen gegeben, der Unwürdige, der, dem sie ihr Herz verweigert hatte, der Würdige! Oder ob Freystätter seine Warnung der öffentlichen Brandmarkung ausgeführt und nur diese den Zweikampf zur Folge gehabt hatte? Am 23. März morgens, an ihrem Geburtstage, hatte das Duell stattgefunden; sie entsann sich, daß Freystätter erst am 21. März, diesem unseligen Freitag, die Briefe an Dupaty zurückverlangt hatte. So schnell, in vierundzwanzig Stunden, hat er den Plan der Veröffentlichung unmöglich ausführen können: dieser gewissenhafteste Mensch, der sich über jedes Wort hundertmal Rechenschaft ablegt, bevor er es niederschreibt! Es bleibt dabei: nur ihretwillen sind zwischen den beiden diese Beleidigungen gefallen, die zu dem Unglück führten. Oder hatten sich Freystätters Drohungen, Dupatys Diebstahl aufzudecken, mit dessen Weigerung, die Briefe auszuliefern, verschmolzen, und war daraus das Furchtbare entstanden? Wie sie auch sann und sann und alle Möglichkeiten erwog, es blieb unweigerlich bestehen, daß sie die Ursache gewesen war. Warum hatte denn Dupaty gerade diesen Brief während des Duells bei sich gehabt? War es Zufall gewesen? war es Absicht? Hatte dieser Brief eine bestimmende Rolle gespielt in dem Drama? Welche Worte hatte nur die Kugel in ihrem grausigen Lauf herausgerissen, als ob sie sie vernichten wollte für alle Zeit?«
Die Pflegerin trat auf den Balkon, um die Blumen zu begießen und dem Rotkehlchen neues Futter zu geben.
Was hatte sie nur geschrieben? »Wenn er nur nicht auf die unglückliche Idee gekommen wäre, sich in mich zu verlieben. Und so hoffnungslos! Der …« Was folgte dann? Der? Der? Was war's nur gewesen, was sie so leichtfertig und unbedacht niedergeschrieben hatte? Sie sann und konnte die Worte nicht finden. Wen sie nur fragen könnte? Niemand! Niemand! … Der Vorhang ist über dem Drama gefallen … die Tragödie ist beendigt … Dupaty hat an ihrem Vater, hat an ihr unsäglich gefrevelt. Ihrem Vater kann und wird Recht werden und sein Werk wird unter dem Titel »Die Sieger«, den er ihm gab, seinen Namen durch die Welt tragen … Ihr wird kein Recht werden! Sie hat dem Leben, diesem Ungeheuer, in die gräßliche Fratze gesehen … dieser Vampyr hat ihr Hoffnung und Freude, Licht und Herzblut ausgesogen … sie lebt noch, sie atmet noch und ist doch längst gestorben … Aber so groß auch der Frevel war, den Dupaty an ihr begangen hatte … der Tod hat seine Schuld gelöscht … er hat gefehlt … er hat gebüßt … nicht in unauslöschlichem Haß wird sie an ihn zurückdenken, sondern in Mitleid und Verzeihen! …
Und Freystätter? War sie nicht tief in seiner Schuld? Daß er sie geliebt hatte und daß sie seine Neigung nicht erwidern konnte … das war es nicht! … Sie hatte ihm nie die leiseste Hoffnung, an der er sich hätte emporranken können, gemacht, sie hatte ihm nur Freundschaft geboten und nur Freundschaft von ihm verlangt … nein, das war es nicht! … Aber hatte sie nicht dennoch in sein Schicksal eingegriffen, in dieses ernste, pflichterfüllte, stillumfriedete, ehrenwerte Dasein? Mußte sie nicht sein Anerbieten, ihre Briefe von Dupaty zu fordern, zurückweisen? Mußte sie nicht voraussehen, daß es zwischen diesen beiden Männern, die sie beide liebten und beide von dieser Liebe wußten, zu einem furchtbaren Zusammenprall kommen würde, kommen mußte? Und wieder eilten ihre Gedanken zurück zu diesem Briefe, den die Kugel durchrissen hatte, und immer klarer wurde es ihr, daß dieser unselige Brief den einen dem Tode, den anderen dem Gericht zugeführt hatte … Wo Freystätter wohl sein mag? Fünf Monate ist er schon der Freiheit beraubt und muß, wie sie aus seiner Mutter Worten entnehmen konnte, noch ein Jahr, ein ganzes, langes Jahr dort hinvegetieren, losgerissen von seiner Familie, von seinen Freunden, seinem Beruf, von der Freude am Leben. Die anderthalb Jahre hat sie ihm gestohlen … sie allein! Sie sann und sann! Ob sie wohl Frau Ralchen schreiben, sie bitten soll, noch einmal, nur ein einziges Mal zu ihr zu kommen und ihr alles zu sagen, damit sie die Finsternis durchdringen, damit sie in das Licht – und sei es noch so grell und schmerzhaft – sehen könnte? …
Die Pflegerin setzte sich ihr wieder gegenüber und fragte:
»Darf ich dem gnädigen Fräulein die Fortsetzung des Romans vorlesen?«
»Nein, nein,« lächelte Constanze mühsam, »ich bin heute zu unaufmerksam. Lesen Sie mir lieber den vermischten, den lokalen Teil. Da brauche ich nicht aufzupassen.«
Und das hübsche Mädchen, dem schon der nächste dienstfreie Abend mit Doktor Ellwanger durch den Kopf schwirrte, las pflichtgetreu von dem großen Lose, das ein so schrecklich armes Dienstmädchen gewonnen, von den Millionen, die ein so entsetzlich blinder Bettler hinterlassen hatte, von durchgegangenen Pferden und Weibern, von Hitzschlägen und Feuersbrunst, von Verlobungen und anderen Unglücksfällen. Und währenddessen tanzten dem Mädchen immer die unternehmungslustigen Augen Ellwangers zwischen den Zeilen.
»Lesen Sie mir doch lieber die Theaternachrichten vor!«
»Gleich, gnädiges Fräulein! ›Herr Emil Brodtmann vom Stadttheater in Bremen wird als Don José und als Radames auf Engagement gastieren‹ … ›Wie wir unseren Lesern zu unserer großen Freude mitteilen können …‹«
Die Schwester stockte … ihre hellen Augen überflogen die Zeilen, und eine Blutwelle färbte ihr hübsches Gesicht.
»Warum lesen Sie nicht weiter?« forschte Constanze und sah sie scharf an.
»Ach, es ist nichts!« und das Mädchen wollte die Zeitung fortlegen.
»Da steht wohl etwas über mich? Geben Sie mir das Blatt!« Und als die Pflegerin in immer sichtbarer wachsender Angst noch zögerte, wiederholte Constanze ernst:
»Geben Sie mir augenblicklich das Blatt!« Und sie las: »Wie wir unseren Lesern zu unserer großen Freude mitteilen können, wird unser verehrter Mitarbeiter Herr Doktor Sigmund Freystätter von morgen an das musikalische Referat in unserem Blatte wieder aufnehmen. Herrn Doktor Freystätter, der wegen der bekannten Duellaffäre zu anderthalb Jahren Festungshaft verurteilt war, ist der Rest der Strafe im Gnadenwege erlassen worden; er ist gestern nacht bereits nach München zurückgekehrt.«
Die Schwester beobachtete Miene und Bewegung, um im Augenblick vielleicht drohender Gefahr hinzuspringen zu können. Constanze starrte in das Blatt, überflog die Zeilen noch einmal und sah dann in das Grün der Bäume. Sie atmete auf. Eine leichte Röte huschte über ihr schönes Gesicht. Von der Last, welche sie noch ein ganzes Jahr niederdrücken sollte, war sie befreit. Der heiße Wunsch stieg in ihr auf, Freystätter zu sehen und von ihm die Wahrheit zu erfahren. Langsam erhob sie sich, lehnte die Hilfe der Pflegerin ab, ging zum Schreibtisch und schrieb mit zittriger Hand, während ihr die Schwester über die Schulter sah:
»1. 9. 90.
Lieber Freund! Ich möchte Ihnen noch heute dankbar die Hand drücken. Kommen Sie bald, recht bald.
Ihre Constanze Assing.«
Sie adressierte und gab der Schwester den Brief zur sofortigen Beförderung.
Du kleines, winziges Papier wanderst jetzt durch breite Straßen und enge Gassen, über stille Plätze und geschäftige Märkte, durch leuchtenden Sonnenglanz und durch schattige Winkel, durch buntes, fröhliches, sommerliches Leben, und ahnst nicht, daß Du mit jedem Schritt, mit dem Du Dich dem Ziele näherst, in zwei Schicksale eingreifst, ahnst nicht den ungeheuren Aufruhr, den Deine wenigen Worte in einem des Friedens bedürftigen Herzen erregen, und ahnst nicht, daß diese mit zitternder Hand geschriebenen zwei Zeilen das Geschick zweier Menschen lenken und entscheiden werden. Bringst Du ihnen das Glück, so eile, eile! Bringst Du ihnen das Verderben, kehr' um! Sei mitleidig und kehr' um!
Sigmund hatte den ganzen Vormittag mit seinen Eltern geplaudert und ihnen die Leidenszeit, die er hatte durchleben müssen, mit so drollig erfundenen Einzelheiten geschildert, daß Frau Ralchen oftmals hell auflachte und Herr Salomon den Gedanken näher ins Auge faßte, in einer so reizenden, lustigen Stadt wie Ingolstadt eine Filiale zu errichten. Und schnell weiteten sich ihm ungeheure Fernsichten, und bei dem Gedanken an die Möglichkeit der Militärlieferungen in Buckskins und wollenen Unterhosen trat ihm der Schweiß auf die Stirn.
Dann war Freystätter in seine alte, liebe Bude hinaufgestiegen, die ihn mit einem Willkommensgruß über der Tür und Blumen auf dem Schreibtisch empfangen hatte, und setzte sich in den alten Lehnsessel, der ihm allerlei Freundliches und Zärtliches zuraunte, um die eingelaufenen zahllosen Briefe zu sichten. Mitten in der mühseligen Arbeit sprang er auf und öffnete den Schreibtisch. Da lagen noch die beiden Mappen, deren Inhalt drei Menschen Unheil gebracht hatten, da lag noch sein letzter Wille, den er zu vernichten vergessen hatte, da lagen noch die Briefe Constanzens, die ihr für den Fall seines Todes zurückgestellt werden sollten. In langem Sinnen stand er am Fenster und sah in den ihm so vertrauten, winkligen Hof und blickte hinüber zu den drei alten Kameraden, die, vom Winde leicht bewegt, sich in vollem Schmuck ihm zuneigten: »Für den Fall meines Todes«. Sie und ihn hatte der Tod gestreift, sie und er, die in heller Jugendzeit in unlöslich scheinender Freundschaft verbunden schienen, leben noch und sind doch tot für einander. Und die Wunde brach auf und brannte und schmerzte wieder, wie in jenem furchtbaren Augenblick, in dem er mit eigenen Augen die Worte gelesen hatte: »Der arme Narr!« »Nein!« sagte er sich und pochte mit der Faust auf das Fensterbrett, daß ein paar Tauben ängstlich aufflatterten, »jetzt muß es zu Ende sein! Unsere Wege haben sich einmal gekreuzt, wir sind eine Strecke zusammengegangen, und dann hat sie mich verlassen, und ich habe ihr nachgestarrt. Jetzt ist's genug! Sie darf keine Gewalt mehr über mich haben, und sollte sie jemals wieder in mein Leben eingreifen und in den Frieden, den ich mir mühselig genug erkämpfe, dann wird sie in mir nicht mehr den opferwilligen Freund finden, der sie verteidigt, sondern den Mann, der sich mit allen Kräften gegen sie wehrt!« …
Veilchen kam herein, legte einen Brief auf den Schreibtisch und verschwand, eine leichte Wolke von Aepfeln und Makronen zurücklassend.
Er kehrte vom Fenster zurück und wollte die Schublade des Schreibtisches verschließen, als sein Blick plötzlich auf den soeben abgegebenen Brief fiel. Die Handschrift war verzerrt und zittrig, und er erkannte sie doch. Sein Herz pochte und hämmerte, und er hielt sich am Sessel fest, weil er umzusinken glaubte. Er riß das Kuvert auf und las ihre Bitte, »noch heute, bald, recht bald« zu ihr zu kommen. Was wollte sie noch von ihm? Was konnte sie wollen? Wollte sie ihm eine rührende Szene vorspielen? Wollte sie ihn mit Vorwürfen und Anklagen überschütten, daß er ihr den Herzallerliebsten genommen? Wollte sie ihm danken, daß er sie von dem Nichtswürdigen befreit?
Er ging auf und ab, unentschlossen, was er tun solle. Soll er ihr nicht antworten? Soll er ihr schreiben, daß »der arme Narr« Wichtigeres zu tun habe, daß er endlich einmal auch an sich denken würde und nicht mehr nur an andere? Soll er hingehen? Heute? Morgen? In einigen Tagen? Er ging auf und ab und war in unruhvolle Gedanken so verloren, daß er das Klopfen an der Tür gar nicht hörte.
Manner eilte ihm entgegen, und lange hielten sich die Freunde umschlungen.
»Da … lies! Rate mir! Was soll ich tun?«
Manner las die beiden Zeilen und sagte dann nach einer kurzen Pause, während deren er seine schönen, von des Lebens Hast ein wenig verschleierten Augen prüfend auf Freystätter richtete:
»Bist Du Deiner selbst sicher? Ganz sicher?«
»Ja!«
»Hast Du überwunden?«
»Ja!«
»So sicher, daß all die Not und all die Pein Dich nicht wieder packen und unterjochen kann? Gib mir Dein Wort, Sigmund, fühlst Du Dich so gefeit?«
»Ich gebe Dir mein Wort. Es kann mir nichts mehr geschehen!«
»Dann gehe hin! Soll ich mitkommen?«
»Ich gehe allein!«
»Aber ich werde Dich hinbegleiten!«
Manner und Freystätter gingen durch das Gewühl der Gassen und den Lärm der Straßen. Freystätter erzählte von den Erlebnissen der Festungshaft und Manner von den musikalischen Begebenheiten und Plänen. Langsam wanderten sie noch eine Strecke durch den in üppigstem Laubschmuck von der Sonne durchleuchteten Englischen Garten, bis sie sich endlich vor dem Hause in der Schönfeldstraße verabschiedeten.
Und während Sigmund Freystätter mit klopfendem Herzen die Treppe hinaufstieg, ging Manner in tiefen Gedanken seiner Wohnung zu, und er wußte nicht, ob der Weg, den sie soeben gegangen waren, den Freund zu einem Blumenhag geführt habe oder zu einer Dornenhecke …
Constanze wartete in fieberhafter, sich immer steigernder Ungeduld. Sie schickte die Schwester fort und klingelte gleich wieder nach ihr. Immer wieder fragte sie, ob der Brief auch sofort befördert worden sei … durch wen? An wen er dort abgegeben worden sei? Ob Herr Doktor Freystätter zu Hause war? Sie lechzte nach Gewißheit, nach Wahrheit … sie erwartete viel weniger den Freund, als den einzigen, der ihr Aufschluß geben könnte über die Ursache des Duells … Warum kommt er nicht? Warum zögert er so lange? … Die Erkenntnis, wie eng verschlungen ihr und Dupatys Geschick gewesen war, der furchtbare Ernst des Lebens werden ihn von seiner Leidenschaft geheilt haben … er wird an diese Liebe vielleicht hie und da noch mit ein wenig Wehmut zurückdenken, aber er wird sie überwunden haben … und dann wird er ihr wieder der sein, der er ihr früher gewesen: der treue, uneigennützige und gütige Freund! … Und die Uhr schleicht und schleicht … eintönig geht der Schlag des Pendels hin und her, immer hin und her, und jede Sekunde wird zur Stunde, und jede Minute wird zur Ewigkeit.
Constanze hatte das leise Anschlagen der Flurglocke nicht gehört. Die Jungfer nahm Freystätter Hut und Stock ab und empfand ein prickelndes Gruseln, den Mann in der Nähe sehen zu können, der den »bildschönen« Dupaty erschossen hatte. Sie öffnete die Salontür und meldete leise:
»Herr Doktor Freystätter!«
Die Schwester ging trotz des ärztlichen Verbotes, das Fräulein nicht einen Augenblick unbeobachtet zu lassen, in das Nebenzimmer, zog die Portieren vor und dachte an den nächsten dienstfreien Abend, an dem sie den Doktor Ellwanger »von einer anderen Seite kennen zu lernen« bereits fest entschlossen war.
Constanze und Sigmund Freystätter waren allein. Zum ersten Male nach ereignisschwerer Zeit! Zum ersten Male seit jenem Freitag mittag, an dem sie ihn gebeten hatte, ihre Briefe von Dupaty zurückzufordern.
Sie sprachen kein Wort. Sie sahen sich lange an, und jedem von ihnen war klar, wie tiefe und unauslöschliche Linien das Schicksal in ihre Züge gekerbt hatte. Durch Constanzens wundervolles Haar, das einem goldenen Helm geglichen hatte, zog sich eine dünne weiße Strähne, und diese Augen, die einst von Lebenslust und Lebenssieg geleuchtet hatten, erzählten Trauriges von körperlichen Leiden, von qualvollen Tagen, von durchwachten Nächten. Und zwischen Freystätters gütige und kluge Augen hatte sich eine tiefe Falte gedrängt, welche sein Gesicht um Jahre gealtert hatte.
»Sie haben mir geschrieben,« begann er, »daß Sie noch heute mit mir zu sprechen wünschen. Womit kann ich Ihnen dienen?«
Sie lud ihn mit leichter Handbewegung ein, Platz zu nehmen.
»Lieber Freund,« hub sie an, und ihre einst so klangvolle Stimme erschien ihm fremd, »ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind.«
»Sie haben mir für nichts zu danken!« erwiderte er ruhig. Ja, er fühlte sich sicher, er wußte, daß sie keine Macht mehr über ihn habe. Er brauchte nur an den Brief zu denken, mit dessen Veröffentlichung ihm Dupaty gedroht hatte, und der Zauber, den sie sein Leben lang auf ihn ausgeübt, war gebrochen. Das Feuer war erloschen und nur ein paar winzige Fünkchen Mitleid glühten unter der Asche.
»Ich habe Ihnen zu danken, was Sie für mich getan haben!«
»Was ich tat, tat ich für mich, nur für mich!«
Ein schmerzliches und bitteres Lächeln antwortete ihm. Er wies ihren Dank zurück. Er hatte sich losgelöst von ihr. Sie besaß nicht mehr sein Herz, seine Freundschaft.
»Ich habe das letzte halbe Jahr in einem Traumzustand dahingelebt, ich habe jeden Zusammenhang mit der Welt verloren. Ich komme mir vor, als ob ich mitten im Ozean auf einer kleinen wüsten Insel gelebt hätte, abgeschnitten von allem und allen, und es ist mir jetzt, wo ich erwache, als ob ich in einen Kahn steige, um wieder endlich dem Festlande entgegenzurudern, das ich in noch weiter, nebelhafter Ferne sehe … Ich weiß nur, was geschehen ist, nicht wie es geschah. Sie sind der einzige Mensch, den ich fragen kann, und der mir antworten muß!«
»Muß? Fräulein Assing, ich bin nicht hierher gekommen, um die traurigen und unabänderlichen Geschehnisse zu erörtern. Ich kam nur, weil ich glaubte, der Dame einen Dienst erweisen zu können.«
»So hätten wir uns also nichts mehr zu sagen?«
»Wir haben uns nichts mehr zu sagen!«
Er stand auf, um sich zu verabschieden. Er verbeugte sich kühl.
Was war nur mit ihm geschehen? Was hatte seine Herzensgüte in diese Härte, was seine Freundschaft in diese Grausamkeit verwandelt? Zur Erkenntnis, daß sie seine Neigung nicht erwidere, daß sie einen anderen liebe, war er schon früher, viel früher gelangt und hatte es still und ergeben getragen, und hatte ihr bei der Entdeckung des Dupatyschen Frevels seine Hilfe angeboten und geliehen. Diesen offenkundigen Haß mußte irgend etwas hervorgerufen haben, was seinen Stolz furchtbar verletzt und was ihm eine tiefe und nicht geheilte Wunde geschlagen hatte. Nein! Sie wollte ihn nicht gehen lassen, ohne Gewißheit zu haben; sie wußte, daß er nicht mehr wiederkehren würde … nie mehr! Sie wollte sich rechtfertigen, wenn er sie anklagte; sie wollte versuchen, gut zu machen, wenn sie gefehlt hatte.
Und während er zur Tür ging, flog ihr blitzschnell ihr Brief durch den Sinn, ihr Brief, aus dem die Kugel in ihrem Lauf einen kreisrunden Fetzen herausgerissen hatte, ein paar kleine Worte, auf die sie sich trotz allen Grübelns und Mühens nicht mehr besinnen konnte. Nicht die angedrohte öffentliche Brandmarkung hatte zu dem Duell geführt; sie hatte nur den Anstoß gegeben. Entscheidend gewesen waren zweifellos diese wenigen Worte, die sie einst über ihn an Dupaty geschrieben, und welche dieser als furchtbare Waffe gegen ihn hatte brauchen wollen. Ja, diese wenigen Worte, die ihrem Sinn entfallen waren, weil sie niemals aus ihrem Herzen stammten, diese flüchtig im Uebermut des Glücks, in Gedankenlosigkeit hingeworfenen paar Buchstaben hatten die Freundschaft kurz und klein geschlagen, hatten die Liebe erstickt und hatten den Haß geboren, den flammenden, lodernden Haß!
Er hatte schon die Tür erreicht; er faßte schon nach der Klinke und verbeugte sich noch einmal kühl.
Nur Gewißheit! Nur Gewißheit! Nur wissen! Nur nicht mehr in nagendem Zweifel in die Dunkelheit starren, nur ins Licht blicken, mag's noch so blenden und schmerzen … nur wissen! Wissen! Sonst kann sie nicht mehr leben! … Er geht … er kommt nie mehr wieder … und nie wird sie erfahren, warum der eine, den sie geliebt, nicht mehr lebt, und warum der andere, den sie geachtet, sie haßt! … Nur Gewißheit! Und wenn sie das Aeußerste wagen sollte!
»Ich bitte noch um einen kurzen Augenblick!«
Er trat einige Schritte ins Zimmer zurück und sah sie kalt und fragend an. Er fühlte sich sicher … sie konnte ihm nichts mehr anhaben … sie konnte ihn nicht mehr verwirren … sie konnte ihm nicht mehr wehe tun!
Constanze öffnete eine auf dem Tisch neben ihr stehende kleine Truhe; sie entnahm ihr den durchlöcherten Brief und sah ihn mit ihren einst so leuchtenden und jetzt so angstvoll auf ihn gerichteten Augen an:
»Sie kennen den Inhalt dieses Briefes?«
Er stand dicht vor ihr. Er starrte hinein. Da waren sie wieder: die gräßlichen, höhnenden Worte: »wenn er nur nicht auf die unglückliche Idee gekommen wäre, sich in mich zu verlieben … und so hoffnungslos! Der …«
Sein bleiches Gesicht färbte sich dunkelrot. Er bebte am ganzen Körper. Dann sagte er kalt und mit aller Selbstüberwindung:
»Nein!«
Er hatte sich verraten. Sie wußte alles, wußte, daß der andere, um sich zu retten, diesen Brief nichtswürdig mißbraucht hatte, daß er ihn, als er sah, daß es keine Rettung mehr gäbe, mit ins Verderben reißen wollte. Und daß der, überdrüssig des Lebens, sich vor Dupatys Pistole gestellt hatte, in der Hoffnung, zu fallen.
Er stand noch dicht vor ihr und hielt den Brief in der zitternden Hand und starrte auf diese Buchstaben, die ihm vor den Augen tanzten und flogen und wirbelten.
Und plötzlich, mit Blitzesschnelle, ohne daß sie wußte, wie es kam, tauchten aus weiter, weiter Ferne die Worte vor ihr auf, denen sie nachgegrübelt und nachgesonnen hatte, die sie einst töricht und leichtfertig hingeschrieben, und welche die Kugel zerstört hatte, und diese Worte, die ihr jetzt auf der Seele brannten, hießen »der arme Narr!« … Und ehe er es wehren konnte, griff sie nach seiner flatternden Hand, welche den Brief noch krampfhaft umschloß, und beugte sich über sie:
»Constanze!« sagte er in tiefster Ergriffenheit, »was wollen Sie tun?«
»Gutmachen!« murmelte sie, und er fühlte ihre Tränen auf seiner Hand. »Gutmachen!« …
Die tiefe Stille, die eine Weile zwischen ihnen herrschte, wurde unterbrochen durch die Pflegerin, deren Blick Freystätter zum Aufbruch mahnte.
Er war gekommen als Feind, der sie der drei Worte willen haßte, und er ging als einer, der sie nicht mehr liebte, der aber versuchen wollte, die drei unseligen Worte in der Zeiten Lauf zu vergessen …
Frau Ralchen hatte dank Veilchens oft erprobter Stirnfestigkeit erfahren, daß »mei Sig« auf Manners Rat den schweren Gang zu Constanzen getan hatte, und ihr sorgenschweres Herz hatte ihn begleitet. Sie hatte ihn weggehen gesehen in tiefem Ernst und ihr altes müdes Herz hüpfte vor Seligkeit, als er wiederkam. Denn ihre gütigen und scharfen Augen, die ihrem Jungen bis in die geheimsten Falten seines Herzens zu dringen wußten, sahen, daß er die Gefahr bestanden, daß die schwere Last von ihm genommen war, an der er so lange und so mühselig getragen, und heimlich, ganz heimlich jubelte sie:
»Dem Herrn sei Dank! Er liebt sie nicht mehr!«
Einige Tage später hatte Frau Ralchen ihrem Sig, um ihn zu zerstreuen, seine treuen Freunde Sinsheimer und Ellwanger zum Abendbrot geladen, und Veilchen hatte geschmort und gedämpft, gebraten, gesotten und gebacken, als ob sich nicht fünf Personen, sondern die gesamte Garnison von Ingolstadt an diesem Eßgemetzel beteiligen sollte. Und mitten zwischen den dampfenden Gerichten, bei denen sich Herrn Salomons Kurzsichtigkeit für kleinere Stücke wieder glänzend betätigte, sagte Ellwanger:
»Ich war heut' wieder bei der Assing. Die Veränderung, die seit ein paar Tagen mit ihr vorgegangen, ist wunderbar und wundervoll. Denken Sie sich nur, Mama Freystätter, in ihr erwacht wieder die Liebe zu ihrem Beruf, zu ihrer Kunst, und die Schwester erzählte mir, daß die Assing gestern plötzlich das Klavier geöffnet und gesungen habe. Wir brauchen keine Sorge mehr um sie zu haben. Sie ist geheilt, sie ist gerettet!«
»Der Kunst zum Heil,« fügte Sigmund Freystätter ernst hinzu, und die fünf Gläser klangen hell zusammen.
»Du meintest: sie sei geheilt,« sagte Sinsheimer auf dem Nachhauseweg zu Ellwanger, »was ich noch für wichtiger – wenigstens für uns – halte: er ist geheilt, er liebt sie nicht mehr … oder richtiger: er liebt nicht mehr das Weib, er liebt nur noch die Künstlerin!«
»Liebt sie nicht mehr?« lachte Ellwanger bitter auf. »Du Kindskopf! Er wird sie immer lieben! … Er wird diese Leidenschaft nie mehr los … wenn auch jetzt vielleicht unter dem Nachklang der Ereignisse seine Liebe ein bisserl eingeschlummert ist … paß auf, mein Sohn, sie wird über kurz oder lang in hellen Flammen auflodern und …«
»… wird ihn zu Grunde richten?« warf Sinsheimer erschrocken ein.
»Ich bin Mediziner, mein lieber Schorschl, wie Dir nicht unbekannt sein dürfte … ich bin kein Prophet … Prophezeien ist und bleibt 'ne undankbare Chose. Nein, er wird sie nicht mehr los: diese Liebe. Ja, siehst Du: ein Kerl wie ich … ich würde mich mit einem großen Luftsprung über die ganze Geschichte hinwegeskamotiert haben. Mit Grazie! Aus! Erledigt! Servus! … Aber unser Sig ist aus ganz anderem Holz geschnitzt … der wird in diesem Netze zappeln sein Leben lang. Ich denke gar nicht daran, behaupten zu wollen, daß sie ihm dieses Netz über den Kopf werfen wird mit Bewußtsein, mit Absicht, mit Koketterie, mit all den kleinen Kunststücken, die wir ja kennen … keine Spur … sie ist keine Herzensfischerin … sie ist eine Person … na also … so eine ganz besondere Rasse, aber er wird an dieser Kette schleppen und schleppen und …«
»Also? Also? Der langen Rede kurzer Sinn: was meinst Du? Wird ihn diese Liebe zum Verderben führen oder zum Glück?«
»Die Frage werde ich Dir in zehn Jahren beantworten; gute Nacht, Schorschl!«
»Gute Nacht!«
Herr Salomon hatte seine Abendzeitung beiseite gelegt und wollte sich eben in die Gefilde der holden Traumwelt zurückziehen, als er sich plötzlich von seiner neben ihm ruhenden Gemahlin am Aermel gezupft fühlte, und leise zirpte es ihm entgegen:
»Salomon!«
Der Manufakturwarenhändler en gros und en détail, der nächtliche Unterhaltungen schon seit vielen Jahren nicht mehr schätzte, griff zu dem altbewährten Mittel und fing an, den Radetzkymarsch zu schnarchen.
Frau Ralchen aber, durch langjährige Erfahrung gewitzigt, kannte die Kniffe ihres Herrn und zirpte noch einmal:
»Salomon!«
Und das wußte er nun auch zur Genüge: wenn sein Gemahl die letzte Silbe seines Namens betonte, hatte sie ihm etwas Besonderes mitzuteilen.
»Nu, was is?«
Heimlich jubelnd, wisperte sie ihm zu:
»Wir wollen Adonai danken, er liebt sie nicht mehr!«
Herr Salomon nahm von der Mitteilung gebührend Notiz und zog sich dann in sein Privatleben zurück. Frau Ralchen löschte das Licht. Noch lange starrte sie in die Dunkelheit, und mit dem beseligenden Gedanken, daß sie ihren Sig nun endlich wieder habe, schlief sie ein.
Ellwanger hatte recht gehabt: Constanze war geheilt und war gerettet. Die Gewißheit über den Zusammenhang der Geschehnisse hatte sie beruhigt. Sie fühlte wieder festes Land unter sich. Sie wollte wieder tapfer marschieren lernen, wollte wieder ihre Pflicht tun, wollte wieder Vertrauen zu den Menschen gewinnen, wollte wieder atmen, wieder leben! Sie konnte nicht von ihm verlangen, daß er ihr schnell verzeihe, aber sie war fest entschlossen, langsam und unermüdlich um seine verlorene Freundschaft zu werben.
Und die Menschen machten es ihr leicht, wieder voll Hoffnung in die Zukunft zu schauen; sie umhegten sie mit zärtlicher Liebe, sie zollten ihr innige Achtung, sie wollten ihr mit jedem Worte, mit jedem Blick beweisen, daß sie ihr »Liebling« geblieben sei: »dös Stanzerl Assing«. Und wie sie innerlich wieder erstarkte, so blühte sie auch äußerlich wieder auf in voller und prangender Schönheit. Der ganze Zauber ihres Wesens, dieses seltsame und einzigartige Gemisch von stolzer Größe und herzlicher Fröhlichkeit, von ernstem Pflichtbewußtsein und liebenswürdiger Schelmerei brach wieder durch, der Sonne gleich, die nach dem vorübergebrausten Gewitter wieder siegreich durch die Wolken lacht. Sie war schöner als je, und die Menschen, welche ihr im Englischen Garten, meistens am Arme Manners, der sie treulich führte, begegneten, lachten ihr zu, als ob sie ihr zurufen wollten: »Grüß Gott! Jetzt endlich haben wir Dich wieder!«
Auf einem dieser Spaziergänge vertraute sie Manner an, daß der gute, alte Buchbinder Gerum gestern bei ihr gewesen sei und sie um die beiden Mappen gebeten habe, in denen die Originalblätter zu des Vaters Musikdrama »Die Sieger« aufbewahrt seien. Freystätter besäße sie noch: was er ihr wohl zu tun rate.
»Bitten Sie ihn doch, sie Ihnen persönlich zurückzuerstatten.«
Und da er auch nicht das leiseste Zittern in ihrer Stimme bemerkte, das er in Erinnerung an Vergangenes gefürchtet hatte, wagte er sich einen Schritt weiter vor:
»Liebste Freundin, die Sache muß doch nun endlich mal in Ordnung gebracht werden. Wir haben lange genug auf Ihr entscheidendes Wort warten müssen. Jetzt können Sie es sprechen und müssen es sprechen. ›Die Sieger‹ von Richard Assing gehören nicht allein Ihnen, die gehören der Welt!«
»So ist's recht, lieber Freund! So ist's recht! Ich werde Freystätter nicht bitten, mir die Mappen zu bringen; ich werde sie mir von ihm abholen! Glauben Sie mir: ich bin ihm mehr schuldig als einen Besuch!«
»Wissen Sie, Constanze, wenn ich nicht so graue Haare hätte, wenn ich nicht so alt wäre, daß ich Ihr Vater sein könnte, möchte ich … auf Ehr' und Seligkeit … möchte ich Ihr Mann sein. Und Ihnen würde ich sogar treu bleiben!«
»Da wäre ich ja wahrhaftig die erste!« lachte sie ihm herzlich zu.
Und ritterlich und in tiefer Verehrung küßte er ihr die Hand.
Um den guten Vorsatz gleich auszuführen, nahm sie sich noch am Nachmittag desselben Tages einen Fiaker und fuhr durch das Innere der Stadt nach der Kaufinger Straße. Zum ersten Male nach acht Monaten sah sie die ihr lieben Straßen und vertrauten Gassen wieder mit ihrem Gewühl, ihrem bunten Leben, ihrem Hasten und Treiben, und mußte unwillkürlich an die beiden letzten Fahrten denken, welche sie an all diesen Häusern vorbei gemacht hatte: das eine Mal in der Morgenfrühe, als sie mit Dupaty nach dem Bahnhof gefahren war, in Jubel und Seligkeit, das zweite Mal in dem Abendnebel, als sie allein zum Buchbinder Gerum fuhr, in Angst und Verzweiflung. Vorbei, vorbei! Sie sah zum Fenster hinaus, und ihr Blick fiel auf die Auslage der Musikalienhandlung. Damals stand dort ihr Porträt neben dem Dupatys, und zwischen ihnen stand der »Liebestod«. Sie sah jetzt nur noch ihr Bild … vorüber, vorüber! Der Wagen hielt vor dem Hause mit dem Muttergottesbilde und dem »ewigen Licht«, und Constanze trat in den Laden, in welchem es wegen des berühmten »großen Ausverkaufs« von Käufern wimmelte. Aber Herrn Riesenfelds schwarze Augen hatten sie doch erspäht; er stürzte wie damals zu Herrn Salomon, der gerade ein paar ehrwürdige Ladenhüter als letzte »Pariser Nowuteh« verkaufen wollte, und flüsterte ihm zu:
»Herr Freystätter! Um Gottes willen, erschrecken Se net! Nur Ruhe, nur kaltes Blut! So wahr ich lebe – der liebe Gott soll mich gesund erhalten hundert Jahr und meinetwegen Sie auch: die Assing is da!«
Herr Salomon erschrak durchaus nicht. Im Gegenteil. Er freute sich sehr, denn so mir nix dir nix kommt »die Assing« nicht in seinen Laden. Sie wird ihm einen großen Posten abkaufen, sie wird ihn sogar bar bezahlen, also soll sie reell bedient werden. Die Begrüßung war herzlich. Herr Salomon erkundigte sich nach dem »werten Befund«, bedauerte unendlich, daß seine Frau »grad net z'Haus sei«, und benutzte die kurze Gelegenheit, Constanzen einen Wintermantel für die Köchin, ein Kleid für die Jungfer, eine Jacke für Frau Schwabenmeyer und einige Dutzend Strümpfe, Krawatten und Kragen für nicht näher bezeichnete Personen aufzuhalsen. Constanze wußte, daß das nun einmal das Eintrittsgeld war, das Herr Salomon gewohnheitsgemäß von ihr erhob, und sagte lächelnd:
»Ist Ihr Sohn zu Hause?«
»Soviel i weiß, is er da. Vielleicht bemühen Se sich gefälligst 'nauf. Sie wissen ja Bescheid … Ja, ja, i komm' schon,« und er verschwand im Gewühl der Käufer.
Constanze ging die immer dämmerige und immer knarrende Treppe hinauf, und dann, da ihr auf ihr Klingeln nicht geöffnet wurde, die zweite Stiege, auf welcher ihr das alte Veilchen begegnete. Die Köchin und große Horcherin hätte in diesem historischen Augenblick jedem Praxiteles, Canova oder Schwanthaler zum Modell für Lots Weib dienen können. Ihre erste Tätigkeit bestand darin, erstarrt zu sein, ihre zweite, zu denken: »De Assing, und Frau Ralchen net da … was will se hier?« Als ihr aber Constanze heiter und unbefangen die Hand reichte und bat, sie doch bei Herrn Sig anzumelden, erwachte sie und meldete den unerwarteten Besuch an mit den graziösen Worten, die sie wohl jedenfalls vom Herrn Riesenfeld aufgeschnappt hatte:
»Sig … nur kaltes Blut … erschrick net … ich soll leben und Du sollst leben und Dei' Vater und Dei' Mutter sollen leben … de Assing is da!«
Sigmund Freystätter war am Schreibtisch in seine Arbeit »Richard Assing, sein Leben und sein Werk« vertieft und hatte sich, einer alten Gewohnheit gemäß, Kragen und Manschetten abgeknöpft. Er war zunächst so verwirrt, daß er Veilchen überhaupt keine Antwort gab. Dann aber bat er, Fräulein Assing sofort eintreten zu lassen; er würde möglichst bald erscheinen. Während er sich schnell umzog, wartete Constanze im Arbeitszimmer. Herr des Himmels, war sie lange nicht hier gewesen! Sie kam sich ganz alt vor, als sie überdachte, daß es wohl fünf Jahre her sein müßten. Es stand noch alles am selben Fleck, der Flügel beladen mit Noten, an dem sie so oft, von ihm begleitet, geprobt hatte, die Bücherstellagen, der alte Lehnstuhl, das Sofa, auf dem ganze Berge von Kissen aufgetürmt waren, die Kolossalbüste Beethovens, die sie ihm noch vergangene Weihnachten geschickt hatte, der Schreibtisch mit den Bildern der Eltern … nur eins fehlte in dem alten traulichen Zimmer: ihr eigenes Bild stand nicht mehr auf der alten Stelle, und sie empfand doch einen leisen Stich durchs Herz.
Freystätter hörte mit gespannter Aufmerksamkeit Constanzens Bitte zu, die beiden Mappen dem Besitzer zurückzustellen, und sagte dann:
»Natürlich muß der Wunsch des Herrn Gerum respektiert werden. Da ich aber mitten in der Arbeit bin und Briefe und Noten für die Biographie notwendig brauche, werde ich mit Ihrer Einwilligung morgen den Herrn bitten, mir die Handschriften noch zu lassen!«
»Und dann wollte ich Sie fragen, was aus den ›Siegern‹ werden soll? Manner meinte heute, die Sache müßte nun doch endlich in Ordnung gebracht werden.«
»Ich teile Manners Wunsch und Empfindung vollständig. Wir haben uns schon früher darüber ausgesprochen. Wir sind dafür, daß die sämtlichen Partituren und Klavierauszüge des ›Liebestod‹ zurückgezogen werden, und daß das Werk ohne jeden weiteren Kommentar als ›Die Sieger‹, Musikdrama in drei Akten von Richard Assing, erscheint. Und daß wir bei der …«
Er stockte.
»Fahren Sie nur fort,« bat Constanze und sah ihn fragend an.
»Ich weiß ja nicht, Fräulein Assing, wann Sie Ihre Tätigkeit wieder aufnehmen können. Hoffentlich recht bald …«
»In ungefähr zwei Monaten.«
»Ich weiß ja auch nicht, ob Sie …,« und wieder stockte er.
»Ich aber weiß, was Sie mich fragen wollen: ob ich in dem Werke, das früher der ›Liebestod‹ hieß, überhaupt wieder auftreten werde?«
»Das allerdings wollte ich Sie fragen.«
»Ich werde die Rolle der Königin nicht als erste wählen, ich muß mich erst wieder an Rampenlicht und Publikum gewöhnen. Aber dann bin ich fest entschlossen, in dem Werke ›Die Sieger‹ so oft als nur möglich mitzuwirken. Das bin ich mir, das bin ich meinem Vater schuldig!«
Sigmund Freystätter sah Constanzen mit seinen gütigen und klugen Augen an: sie hatte also überwunden, sie war innerlich fertig geworden mit dem Erlebnis, sie hatte abgeschlossen mit der Vergangenheit.
»Ich komme heute gleich mit einem Korb voll Bitten. Wollen Sie die Rolle der Königin mit mir durchstudieren? Es wird nach der achtmonatigen Pause nötig sein, sie meinem Gedächtnis wieder einzuprägen. Wollen Sie?«
»Befehlen Sie nur! Ich stehe Ihnen als Musiker jederzeit zur Verfügung.«
Und wieder fühlte sie einen leisen Stich durchs Herz. »Als Musiker« … nicht als Freund, der er ihr einst gewesen war. Aber sie ließ sich nicht so leicht entmutigen … Er wird und muß sie vergessen: diese bösen und leichtfertigen Worte … sie will sie ausrotten aus seinem Herzen mit Stumpf und Stiel … sie wird ihn sich schon wieder erringen … den Spezi … und er wird ihr verzeihen, denn er ist ein gütiger und vornehmer Mensch.
Dann sprachen sie über eine Stelle im »Fidelio« und ereiferten und erwärmten sich; alle Befangenheit war von ihnen gewichen. Die Kunst, die beider Leben beherrschte, näherte sie in dieser Stunde. Er setzte sich an den Flügel, und sie lauschte von dem alten Lehnstuhl aus seinem Spiel. »Wie einst!« sagte sie sich und horchte den ergreifenden Tönen, denen er seine Seele lieh. Wie einst und doch nicht mehr wie einst! Sie sah ihn an, während er, von Beethoven ganz umfangen, weiterspielte. Sein unschönes Gesicht hatte an Ernst, an Männlichkeit, an Energie noch gewonnen. Und sie? Ja, ja: das Schicksal war an ihnen beiden nicht spurlos vorübergegangen. Es hatte ihnen die Sorglosigkeit der Jugend genommen, aber es hatte beide gereift und gefestigt und ihnen neue und starke Kräfte geliehen, den Lebenskampf aufzunehmen und zu bestehen. Und plötzlich stand Constanze neben ihm, und, von ihm leise begleitet, begann sie aus dem »Fidelio« zu singen, und ihre Stimme blühte auf in all der wundervollen Pracht und war durch die schmerzensreichen Erfahrungen veredelt und verklärt und jubelte und schluchzte und bangte und hoffte. Ja … sie war gerettet, sie war geheilt, und als sie geendet hatte, herrschte tiefe und feierliche Stille in dem alten traulichen Zimmer.
Und dann verabredeten sie, daß er alle Dienstag und Freitag nachmittag zu ihr kommen würde, um mit ihr die Rolle der Königin in Richard Assings »Siegern« zu studieren.
Constanzens Besuch wurde in dem Hause mit dem Muttergottesbild und dem »ewigen Licht« sehr verschiedenartig aufgefaßt. Herr Salomon war zufrieden mit dem Einkauf »von die Assing«, bei dem er trotz »reellster Bedienung« einen hübschen Schnitt gemacht hatte, Sigmund Freystätter hatte sich gefreut, mit der Künstlerin eine weihevolle Stunde verlebt zu haben, nur Frau Ralchen nahm bei ihrer Rückkehr die Nachricht nicht mit der gleichen Wärme auf. Sie grübelte, als sie in der »guten Stube« am Fenster saß, vor sich hin; sie schaute nicht durch den Spion, sie schmähte nicht die Vorübergehenden, sie häkelte nicht, sie hatte die Hände in den Schoß gelegt und sann und sann. Und plötzlich sagte sie mit einer Willenskraft, welche man der kleinen verhutzelten Frau gar nicht zugetraut hätte, ganz leise:
»Noch einmal nimmt sie ihn mir nicht … weiß Gott … noch einmal nicht!«
In jeder Woche zweimal klingelte Freystätter an Constanzens Tür, und dann erlebten sie Stunden, in denen beide, ganz eingehüllt in Musik, ganz umsponnen von Musik, ihrer Kunst und nur ihrer Kunst ergeben waren.
Der »Liebestod«, dessen Titel auf dem Einband nicht mehr warmen Blutstropfen, sondern nur kalten Buchstaben glich, lag vor ihnen aufgeschlagen. Immer aufs neue durchdrangen sie die Schönheiten des Werkes, immer aufs neue bewunderten sie den Schöpfer, den sie beide so geliebt hatten. Eines Tages las Freystätter Constanzen die ersten sechs Kapitel aus seinem Werk über Richard Assing vor. Sie lauschte und lauschte, und vor ihr stieg mit wundervoller Plastik die Gestalt ihres Vaters auf. Sein Denken und Fühlen, sein Ringen und Kämpfen, sein Hoffen und Verzweifeln, des Vaters ganze Seele breitete dieser kleine, unscheinbare Mensch vor ihr aus. Nicht allein der feinfühlige, so selten begabte Musiker, nicht nur der scharfsinnige Kritiker konnten das Bild in solcher Vollendung entwerfen: der gütige, vornehme Mensch klang aus jedem Wort empor. Und als er nach mehreren Stunden geendigt hatte, reichte ihm Constanze beide Hände, und in inniger Dankbarkeit sagte sie nach langer, banger Zeit wieder das Wort, das ihre Jugendzeit begleitet hatte, und das im Sturm des Lebens fast verweht wäre:
»Lieber Spezi!«
Und dieses Wort, das sie so lange nicht sprechen durfte und das er so lange nicht mehr hören konnte, glich einer süßen und zarten Melodie …
Als Freystätter gegangen war, stand Constanze noch lange am Fenster und starrte in die Abenddämmerung. Ein liebes und heiteres Lächeln umspielte ihre schönen Züge.
In weiter Ferne, noch nebelhaft verschwommen und dennoch schon erkennbar, winkte ihr ein Land … ein Land voll Blumen und voll Sonne, ein Land, nach dem sich ihr Herz zu sehnen begann. Und dann wandelte sich dieses frohe und hoffnungsvolle Lächeln in ein trauriges, verzichtendes und bitteres. Denn sie wurde sich bewußt, daß sie dieses Land niemals würde mehr erreichen können. Die Kluft, welche das Schicksal geschaffen hatte, war zu tief.
Die Stunden dehnten sich zu Tagen, die glitten hinüber in Wochen und Monate. Ein Jahr war verflossen seit Constanzens Erkrankung, und an ihrem Geburtstage trat sie als Elsa zum ersten Male vor das Publikum.
Das Wiedersehen war ergreifend. Und einige Wochen später wurden »Die Sieger«, Musikdrama in drei Akten von Richard Assing, aufgeführt. Und wieder raste über den Tumult des erbitterten und aufrührerischen Volkes plötzlich eine Stimme, die gellte und sauste und peitschte, die grollte und donnerte, eine Stimme wie eine entfesselte Naturgewalt, wie eine elementare Verheerung, und wieder drängte sich durch das Volk mit wildflatternder Mähne ein Weib, und wieder klang es von dessen Lippen erschreckend, furchtbar und erschauernd:
»Haltet ein! Laßt diesen Frevel nicht gescheh'n!« Constanze Assing glich nicht mehr einer Seherin, die in die Zukunft blickte, sie glich einer Rächerin, die in die Vergangenheit zurücksah!
Sigmund Freystätter hatte wieder seinen gewohnten Platz inne, aber der Sessel neben ihm war leer geblieben. Seine Mutter hatte ihn nicht begleiten wollen.
Als Ellwanger einige Tage nach diesem Abend am frühen Vormittag die Theatiner Straße herunterging, um sich vor der Klinik noch schnell beim »Lachenden Wirt« durch ein paar Weißwürste und ein oder vielleicht auch zwei Maß zu stärken, sah er plötzlich Frau Ralchen, die, auf ihren Stock gestützt, grade über den Fahrdamm humpelte. Er begrüßte sie und fragte sie lustig, wohin sie denn in aller Herrgottsfrühe schon strebe? Der Tempel läge doch gerade entgegengesetzt?
Sie käme aus dem Tempel, erwiderte sie leise.
Oder ob er sie gar auf verbotenen Wegen ertappt habe? neckte er sie.
Zwei Tränen, die in Frau Ralchens Augen standen, antworteten ihm, und als er sie erschrocken nach dem Grunde ihres Kummers fragte, entgegnete sie ihm mit zitternder Stimme:
»Lieber Martin, i geh' jetzt ä schweren Gang. I will zur Assing, sie soll mir mei Sig wiedergeben.«
Ellwanger ging einige Schritte stillschweigend neben der Greisin und forschte dann:
»Weiß Sig davon?«
Da sie stumm verneinte, fuhr er in tiefem Ernste fort, und er lieh seinen Worten die herzliche Verehrung, die er für diese kleine mutige Frau hegte:
»Meine liebe gute Mama Freystätter: folgen Sie mir! Tun Sie's nicht! Kehren Sie um! Sie sind die beste und gütigste Mutter, die es gibt, solang' die Sonne scheint. Wozu wollen Sie Vorsehung spielen? Ich weiß es nicht, ob ich Ihnen einen guten oder schlechten Rat gebe. Das weiß kein Mensch. Das weiß nur das Schicksal, das weiß nur die Zukunft. Ich kann Ihnen nur aus meinem Gefühl heraus raten. Und das sagt mir: an so zarte, so heimliche Dinge darf niemand rühren, selbst nicht eine Mutter. Sie sind auf dem besten Wege, das Band innigster Liebe, welches Sie mit dem Sig verbindet, zu lockern, wenn nicht gar zu zerreißen. Denn wenn er Fräulein Assing wieder liebt – wie ich es voraussah und wie es kommen mußte – und sie mehr liebt als je, denn er ist jetzt für diese Liebe durch Himmel und Hölle gejagt worden … ja, liebste Mama Freystätter … dann … dann wird jedes Hindernis, welches Sie ihm in den Weg legen wollen, ihn nur noch mehr reizen, das ersehnte Ziel zu erreichen, und er wird sich schwersten Herzens von Ihnen wenden, weil er nicht anders kann! … Vielleicht … verhüten Sie mit diesem Besuch ein großes Unglück … vielleicht zerstören Sie ein großes Glück! … Nein … nein, liebe Mama … lassen Sie den Sig nur gewähren … folgen Sie mir und kehren Sie um!«
Frau Ralchen humpelte in tiefem Schweigen neben ihm.
Dann reichte Doktor Martin Ellwanger, trotzdem er sonst jüngere weibliche Jahrgänge entschieden bevorzugte, der alten verschrumpelten Frau den Arm und führte sie durch das bunte Gewirr der Straßen mit einem Stolz, als ob er ein Page wäre und sie seine Königin.
Am Nachmittag desselben Tages war Sigmund, weil er sich in der Uhr versehen hatte, um ein halbes Stündchen früher von Hause weggegangen. Er wollte Constanze heute die beiden neuen Kapitel aus seinem Werke über ihren Vater vorlesen. Sie konnte ihn, als er in den Flur trat und Hut und Mantel ablegte, noch gar nicht erwartet haben, da noch geraume Zeit an der verabredeten und von ihm sonst pünktlich eingehaltenen Stunde fehlte. Aus dem Musikzimmer klangen ihm die Töne entgegen, die in selig-hoffenden Tagen in seinem Kopf und Herzen entstanden waren. Constanze sang eins der »Traumbilder«:
»All das unruhvolle Sehnen,
All die wundervolle Pein,
Alles Träumen, alles Wähnen
Gilt nur Dir, nur Dir allein!«
Er lauschte an der Tür, bis sie geendigt hatte. Dann las er ihr vor, was er an seinem Werk gefördert, und wieder bewunderte sie die Tiefe der Gedanken, die Liebe der Forschung, die Reinheit der Empfindung.
»Sie setzen dem Vater ein herrliches Denkmal,« sagte Constanze.
»Aber doch nur ein vergängliches. Das ewige hat er sich selbst errichtet mit den ›Siegern‹. Mit diesem Werk hat er die Höhe erklommen, auf der die Unsterblichen weilen.«
Er ging ein paarmal durchs Zimmer und setzte sich dann an den mit Blumen und Musikalien beladenen Flügel und phantasierte. Constanze trat an das Klavier und folgte seinen tiefen und edlen Gedanken. Im Raume herrschte leichte Dämmerung wie damals an jenem Nachmittag, als er ihr gesagt hatte, daß er sie liebe, und als sie ihn gebeten hatte, sich mit ihrer Freundschaft zu begnügen. Er hatte das »Traumbild«, das sie vorher gesungen, unwillkürlich wiederholt, und plötzlich, ganz leise, hörte sie, wie damals, seine heiße und flehende Bitte. Er war aufgesprungen und stand, wie damals, durch den Flügel getrennt, ihr gegenüber in der bangen Erwartung, ob sie ihn erhören oder ihm das Todesurteil verkünden würde.
Eine tiefe Stille schwirrte durch das Zimmer, ein großes und zitterndes Schweigen.
Constanze hatte die Augen gesenkt und lange vor sich hin gestarrt. Dann klang es zu ihm herüber:
»Mein lieber Spezi! Ich danke Ihnen, danke Ihnen aus tiefster Seele. Ich weiß, daß ich unter Ihrem Schutz geborgen sein würde fürs ganze Leben. Ich habe Sie immer verehrt, ich habe Sie immer liebgehabt … jetzt liebe ich Sie von Herzen!«
Sie hatte endlich, endlich das Wort gesprochen, nach dem er sich gesehnt hatte, solange er denken konnte, dieses Wort, das ihm das Tor aufschloß zur leuchtenden und lachenden Welt!
»Und dennoch,« und die Worte tropften Constanze immer langsamer, immer leiser, immer qualvoller von den Lippen, »dennoch kann ich … meine Hand nicht in die Ihre legen … niemals!«
Was war das? Hatte er recht gehört? Sie hatte die Tür geöffnet, durch welche ihm ein heller Sonnenschein entgegenflimmerte, und schloß sie wieder, um ihn in der Dunkelheit allein zu lassen?
»Warum nicht?« keuchte er.
»Ich kann nicht … ich darf nicht!«
»Wer … um Himmels willen … kann es Ihnen verbieten?«
»Ich!«
»Den Grund! Constanze! … den Grund!«
»Ich … ich habe nicht mehr … das Recht dazu, Ihre Frau zu werden!« …
Die große Wanduhr tickte langsam und schwer … ein Scheit Holz fiel verglimmend im Kamin, und die Sekunden dehnten sich zu Ewigkeiten.
Freystätter starrte auf den Teppich, und da er noch immer nicht sprach, reichte sie ihm über den Flügel die Hand und sagte leise:
»Ich wußte, daß es so kommen mußte, lieber Spezi. Leben Sie wohl!«
Freystätter hob den Kopf. Aus seinem Gesicht war jeder Blutstropfen gewichen. Dann sah er Constanzen lange an und murmelte:
»Constanze, lassen Sie mir zwei Tage Zeit … heute ist Mittwoch … am Samstag früh komme ich wieder.«
Sie war allein. Ja, sie hatte gewußt, daß es so kommen würde … hatte gewußt, daß er noch einmal um sie werben würde; sie hatte sich nach diesem Augenblick gesehnt und hatte sich vor ihm gefürchtet, daß sie dem arglos vertrauenden Mann Rechenschaft ablegen müsse über Vergangenes, und daß dieses Geständnis den Faden zwischen ihnen beiden zerreißen würde für alle Zeit, und hatte geahnt, daß dieser Augenblick ihn doch nicht vorurteilslos und groß genug finden würde, und daß seine Liebe doch nicht so mächtig wäre, über dieses Bekenntnis hinweg ihr die Hand zu reichen … So Tausende von Mädchen hätten geschwiegen und hätten nicht gebeichtet … sie hatte es nicht vermocht … und gerade ihr wäre es doch ein so leichtes gewesen zu schweigen, weil der Mund des einzig Mitwissenden verstummt war … sie hatte gefühlt, daß es ihr nicht möglich sein würde, ihr und sein Glück auf einer Lüge aufzubauen … sie mußte – da nützte alles Sich-wehren nichts – ihr Leben lang die Kette schleppen, die einst aus Rosen gewunden und jetzt aus Eisen geschmiedet war, in dem unaustilgbaren, niederschmetternden, erniedrigenden Bewußtsein, daß ein Unwürdiger sie zum Weibe gemacht! … »Lassen Sie mir zwei Tage Zeit.« Wozu? Um ihr in gewiß nicht verletzenden … im Gegenteil in gewiß sehr feinen Worten und in vornehmster Form zu sagen, was sie ja weiß!
Sie stand noch immer am Fenster und lächelte bitter über diese seltsame und wunderliche Komödie, die man das Leben nennt, über diesen grausamen Hohn des Schicksals, das nun Vergeltung übt und unweigerlich die Quittung vorlegt. »Bezahle! … bezahle mit Deinen Hoffnungen und Wünschen, mit Deinem Glück und Deinem Herzblut, gleichviel: bezahle! Du hast ihn damals zurückgewiesen … heute weist er Dich zurück, dann erst ist Eure Rechnung beglichen. Ich mag Dir ein hartherziger und unerbittlicher Gläubiger scheinen, ich bin es nicht. Ich bin nur gerecht!«
Zwei Tage! Und selbst, wenn er sich durchringen sollte zur Klarheit, zum Entschluß, zu dem sicheren Bewußtsein, daß seine Liebe zu ihr alles vergißt und alles verzeiht … er würde seiner alten Mutter sein Herz ausschütten und würde sie um Rat fragen, und dieselbe kleine verhutzelte Frau, die damals in dem Glasverschlag ihres Ladens und dann auf dem Spaziergang im Englischen Garten sie angefleht hatte, ihren Sig zu beglücken … dieselbe kleine Frau würde ihn heute anflehen, nicht mit offenen Augen in sein Unglück zu stürzen!
»Ich bin kein hartherziger Gläubiger; ich bin nur gerecht. Bezahle! bezahle!«
In unruhvoller Pein vergingen die beiden Tage. Gegen ihre sonstige Gewohnheit war Constanze am Samstagmorgen früh aufgestanden; die Ungeduld, die Angst hatten sie nicht länger ruhen lassen. Sie hörte draußen vor der Eingangstür den Briefträger mit der Jungfer sprechen; aber sie bezwang sich und blieb im Zimmer. Das Mädchen brachte ihr mit den Zeitungen einen großen, eingeschriebenen Brief. Sie erkannte die Handschrift und unterschrieb mit Zittern den Schein. Sie ging ans Fenster; sie riß das Kuvert auf. Es enthielt keinen Brief. Nur eine einzige große feingestochene Karte, und auf der stand: Constanze Assing, Dr. Sigmund Freystätter, Verlobte. München, im April 1891.
Sie blickte in die Karte. Sie las immer wieder die wenigen Worte. Sie las sie nicht, sie schlürfte sie ein, blutrot flimmerte es ihr vor den Augen. Dann warf sie sich in einen Sessel und weinte lange.
Wenige Stunden darauf streckte sie dem eintretenden Sigmund Freystätter beide Hände entgegen. Sie sprach kein Wort. Sie sah ihn nur an. Aber aus diesem Blick tauchte alles empor, was sie in tiefstem Herzensgrund für diesen kleinen, unansehnlichen Mann empfand: Achtung, Verehrung, Vertrauen, Stolz, Dank, Liebe!
»Constanze,« sagte er leise und sah ihr in die Augen. »Das Leben hat uns bezwingen sollen … wir haben das Leben bezwungen … wir sind doch die Sieger geblieben!«