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Im Strudel

Im Rakettklub sprach man den ganzen Abend von nichts anderem. Der erste, der es mitteilte, war Respi, Nicolino Respi. Er war tief bekümmert, aber wie gewöhnlich gelang es ihm nicht, zu verhindern, daß die Erregung sich auf seinen Lippen in ein nervöses Lächeln verwandelte, ein Lächeln, das seinem bleichen, hysterischen, scharfgeschnittenen Gesicht bei den ernstesten Erörterungen und in den spannendsten Augenblicken des Spiels ein so charakteristisches Aussehen verlieh.

Die Freunde umringten ihn bestürzt und neugierig:

»Wirklich verrückt geworden?«

»Nein, im Scherz.«

Traldi, der mit dem Riesengewicht seines Elefantenkörpers auf dem Diwan ausgestreckt lag, benutzte die Hände mehrmals als Hebel, um sich hochzuziehen und eine aufrechte Haltung anzunehmen. Während der Anstrengung traten seine blutunterlaufenen Glotzaugen weit aus ihren Höhlen. Er fragte:

»Verzeihung, sagst du das -- O je, o je -- sagst du das, weil er dich auch so angesehen hat?«

»Mich auch? Angesehen? Was meinst du damit?« fragte jetzt verwirrt Nicolino Respi, indem er sich den Freunden zuwandte. »Ich bin heute morgen aus Mailand angekommen und finde hier diese unglaubliche Nachricht vor. Ich weiß nichts und kann auch noch nicht begreifen, wieso Romeo Daddi, der doch wirklich der Ruhigste, Heiterste, Umsichtigste von uns allen war …«

»Haben sie ihn in eine Anstalt gebracht?«

»Aber ja, ich sagte es euch schon. Heute um drei. In die Anstalt auf dem Monte Mario.«

»Der arme Daddi!«

»Und Donna Bicetta? Wie hat … hat sie es veranlaßt?«

»Nein, sie nicht, sie wollte es sogar durchaus nicht. Der Vater ist vorgestern aus Florenz herbeigeeilt.«

»Ach deshalb …«

»Ja, und er hat sie gezwungen, diesen Entschluß zu fassen, auch um seinetwillen. Aber sagt mir doch, wie es eigentlich geschehen ist. Und du, Traldi, weshalb hast du mich gefragt, ob Daddi ›mich auch‹ angesehen hat?«

Carlo Traldi war wieder selig in seinen Diwan versunken und hatte den Kopf hintenüber gelegt, so daß das bläuliche, beschwitzte Doppelkinn hervortrat. Er schlenkerte mit den dünnen Froschbeinen, die er infolge seines ungeheuren Bauches stets unanständig weit auseinander hielt, und während er nicht minder unanständig in einem fort seine Lippen anfeuchtete, erwiderte er zerstreut:

»Ach ja … weil ich glaubte, du meintest, er sei deswegen verrückt geworden.«

»Wieso deswegen?«

»Aber ja, dadurch ist der Wahnsinn zutage getreten. Er sah alle auf eine bestimmte Art an, mein Lieber … ich will nicht sprechen, Kinder. Erzählt ihr ihm, was für einen Blick der arme Daddi hatte.«

Die Freunde erzählten nun Nicolino Respi, nach seiner Rückkehr vom Lande sei Daddi ihnen allen ganz verstört und geistesabwesend vorgekommen. Ein lebloses Lächeln sei auf seinen Lippen erschienen, und die Augen seien stumpf und glanzlos geworden, sobald ihn jemand angesprochen habe. Dann sei die Verwirrtheit verschwunden und einer furchtbaren und seltsamen Starrheit des Blicks gewichen. Er habe sie anfangs aus der Ferne hinterrücks fixiert; dann, wie durch gewisse Merkmale angezogen, die er bei dem einen oder anderen Freunde, besonders denen, die beharrlicher in seinem Hause verkehrten, zu entdecken glaubte -- ganz natürlich übrigens, da sie alle infolge der plötzlichen und seltsamen Veränderung, die so sehr im Widerspruch zu seinem Charakter gestanden habe, in der Tat bestürzt gewesen seien -- dann habe er begonnen, sie aus größerer Nähe zu belauern, und in den letzten Tagen sei er geradezu unerträglich geworden. Er habe sich bald vor den einen, bald vor den anderen hingestellt, ihm die Hände auf die Schultern gelegt und ihm ganz starr in die Augen gesehen.

»Donnerwetter, da erschrak man sich!« rief Traldi in diesem Augenblick, indem er sich wieder hochzog, um eine aufrechte Haltung anzunehmen.

»Aber wieso denn?« fragte Respi nervös.

»Hört ihn an, den Grund will er wissen!« rief Traldi wieder. »Du fragst, weshalb man sich erschrak? Mein Teurer, ich wollte, ich hätte dich diesem Blick ausgeliefert gesehen. Ich nehme an, daß du jeden Tag das Hemd wechselst, daß du sicher bist, saubere Füße und heile Strümpfe zu haben. Bist du aber ebenso sicher, daß du da drin, in deinem Gewissen, nichts Schmutziges hast?«

»Na, ich sollte meinen …«

»Geh, du bist nicht ehrlich!«

»Bist du es denn?«

»Ich, ja, ich bin sogar durchdrungen davon. Und glaube mir, es geht allen von uns mehr oder weniger so, daß wir in Augenblicken der Erleuchtung das Schwein in uns entdecken. Seit einiger Zeit pflege ich jeden Abend vor dem Einschlafen, wenn ich das Licht gelöscht habe …«

»Du wirst alt, mein Lieber, du wirst alt!« riefen die Freunde im Chor.

»Vielleicht, weil ich alt werde«, gab Traldi zu. »Um so schlimmer! Es ist kein Vergnügen, vorauszusehen, daß ich schließlich meiner eigenen Einschätzung nach nur noch aus einem alten Schwein bestehen werde. Übrigens warte mal! Wollen wir nach dem Gesagten eine Probe machen? Ruhig alle miteinander!«

Und Carlo Traldi erhob sich schwerfällig, legte Nicolino Respi die Hände aus die Schultern und rief ihm zu: »Sieh mir genau in die Augen! Nein, nein, nicht lachen, mein Lieber! Sieh mir genau in die Augen! Warte! Warte! Seid ganz ruhig …«

Die ganze Runde schwieg beklommen und auf das seltsame Experiment gespannt.

Traldi fixierte mit seinen großen, eirunden, blutunterlaufenen, aus ihren Höhlen tretenden Augen sehr scharf die von Nicolino Respi. Sein immer bohrenderer und angestrengterer Blick schien mit boshaftem Feuer dessen Gewissen zu durchleuchten und in den verborgensten Winkeln die häßlichsten und schändlichsten Dinge zu entdecken. Allmählich begannen Nicolino Respis Augen, obschon die Lippen darunter mit dem gewohnten Lächeln sagten: »Ich gebe mich ja nur zu einem Scherz her«, ihren Glanz zu verlieren, trübe zu werden und auszuweichen, während Traldi den schweigenden Freunden mit fremder Stimme, ohne mit dem Fixieren aufzuhören und ohne auch nur im geringsten in der Intensität des Blickes nachzulassen, frohlockend verkündete:

»Da habt ihr's! Siehst du, siehst du?«

»Aber so geh doch«, entfuhr es Respi, der nicht länger widerstand und sich schüttelte.

»Geh du doch, denn wir haben uns erkannt«, rief Traldi. »Du bist schmutziger als ich.«

Er brach in ein Lachen aus. Auch die anderen lachten und hatten dabei ein Gefühl von unerwarteter Erleichterung. Traldi fuhr fort:

»Nun ist dies nur ein Scherz gewesen, und nur im Scherz kommt es vor, daß einer von uns den anderen so fixiert. Denn sowohl in dir wie in mir ist die Gesellschaftsmaschine in Ordnung, und wir sorgen dafür, daß die Schlacken unseres gesamten Tuns, Denkens und Fühlens sich still und heimlich auf dem Grund des Gewissens absetzen. Wenn aber einer, der den Verstand verloren hat, dich so ansieht, wie ich dich angesehen habe, und zwar nicht im Scherz, sondern im Ernst, und dir den ganzen Bodensatz da drin in Gärung bringt, dann sag mir noch, daß du dich nicht erschrecken willst.«

Mit diesen Worten erhob Carlo Traldi sich ungestüm, um fortzugehen. Er drehte sich jedoch noch einmal um und fügte hinzu: »Und weißt du, was er vor sich hinmurmelte, leise, leise, der arme Daddi, wenn er dich so ansah? Sagt ihr es ihm, wie er murmelte!«

»›Was für ein Abgrund … Was für ein Abgrund …‹«

»So?«

»Ja. ›Was für ein Abgrund … Was für ein Abgrund …‹«

Als Traldi fortgegangen war, löste der Kreis sich auf, und der verwirrte Nicolino Respi blieb in Gesellschaft von nur zwei Freunden, die ihn noch ein Stück begleiteten, um über das Unglück des armen Daddi zu sprechen.

Es war kaum zwei Monate her, daß er ihn in seiner Villa bei Perugia besucht hatte. Er hatte ihn ruhig und heiter gefunden wie immer und bei ihm die Gattin und eine Freundin von dieser, eine ehemalige Schulgefährtin, Gabriella Vanzi, die seit kurzem mit einem zur Zeit auf See befindlichen Marineoffizier verheiratet war. Er hatte sich drei Tage in der Villa aufgehalten, und in diesen drei Tagen, nein, da hatte Romeo Daddi ihn auch nicht ein einziges Mal so angesehen, wie Traldi es beschrieben hatte.

Wenn er es getan hätte …

Nicolino Respi wurde von einem Schreck ergriffen, wie von einem Schwindel, und, um sich anzulehnen, tat er, lächelnd und ganz bleich, als wolle er einen von den beiden Freunden vertraulich einhaken. Was war geschehen? Was sagten sie? Die Folter? Welche Folter? Ach die, der Daddi seine Frau unterzogen hatte.

»Nachher?« entfuhr es ihm ungewollt. Die beiden drehten sich um und sahen ihn an.

»Wieso nachher?«

»Nein, ich meine … nach … nachdem er den Verstand verloren hat?«

»Gewiß! Vorher natürlich nicht.«

»Sie waren wirklich ein Wunder an ehelicher Eintracht und häuslichem Frieden. Irgend etwas muß auf dem Lande geschehen sein.«

»Ja. Jedenfalls wird ihm irgendein Verdacht gekommen sein.«

»Aber ich bitte euch! Hinsichtlich der Gattin?« fuhr Nicolino Respi auf. »Wenn überhaupt, konnte das nur Wirkung, nicht Ursache des Wahnsinns sein. Nur ein Wahnsinniger …«

»Ganz richtig, ganz richtig!« riefen die Freunde.

»Eine Frau wie Donna Bicetta.«

»Untadelhaft! Anderseits jedoch …«

Nicolino Respi vermochte den beiden nicht länger zuzuhören. Er erstickte. Er brauchte Luft, hatte einen einsamen Spaziergang nötig. Er ergriff einen Vorwand und verabschiedete sich.

Ein drückender Zweifel hatte sich bei ihm eingeschlichen und drehte alles in ihm um.

Niemand konnte besser wissen als er, wie untadelhaft Donna Bicetta war. Es war länger als ein Jahr her, daß er ihr seine Liebe erklärt hatte. Seit mehr als einem Jahr warb er um sie, ohne je etwas anderes zu erreichen als ein süßes Lächeln des Mitleids mit seinen vergeblichen Anstrengungen. Mit einer Seelenruhe, die nur der hat, der seiner selbst völlig sicher ist, hatte sie ihm, ohne gekränkt oder empört zu sein, auseinandergesetzt, all sein Drängen sei unnütz, da sie selbst ebenso verliebt und vielleicht noch verliebter sei als er, aber in ihren Mann. Wenn er sie wirklich liebe, müsse er begreifen, daß sie unter diesen Umständen seinem Werben keinesfalls nachgeben könne. Begriffe er es nicht, so sei das ein Beweis, daß er sie nicht liebe. Also!

Manchmal hat das Meerwasser an einsamen Gestaden eine so lautere und durchsichtige Klarheit, daß, wie gern man sich auch hineinstürzen möchte, um sich auf das angenehmste zu erfrischen, man doch eine fast heilige Scheu davor hat, es zu trüben. Diese Lauterkeit und diese Scheu davor hatte Nicolino Respi stets empfunden, wenn er dem Wesen von Donna Bicetta Daddi nahegekommen war. Diese Frau liebte das Leben mit einer so gelassenen, beharrlichen und einfachen Liebe! Erst während der drei Tage, die er in ihrer Villa bei Perugia zugebracht, hatte er, von glühendem Verlangen übermannt, die Scheu durchbrochen, die Lauterkeit angetastet, und war zurückgewiesen worden.

Nun hatte er folgende drückende Befürchtung: Die Verwirrung, die durch ihn in den drei Tagen verursacht worden sei, habe sich nach seiner Abreise nicht sogleich gelegt, sei etwa gar so stark geworden, daß der Mann sie bemerkt habe. Jedenfalls war Romeo Daddi bei seiner Ankunft in der Villa ganz ruhig gewesen, und wenige Tage nach seiner Abreise war der Wahnsinn ausgebrochen.

Seinetwegen also? Sie war also tief erschüttert geblieben, war doch von seinem Liebeswerben bezwungen worden?

Aber ja, aber ja! Wie konnte er es bezweifeln?

Nicolino Respi fand die ganze Nacht keinen Schlaf und wälzte sich in der schrecklichsten Unruhe hin und her. Bald war eine wilde, hämische Freude stärker als seine Gewissensbisse, bald diese stärker als die Freude.

Am nächsten Morgen eilte er, kaum daß ihn die Stunde passend dünkte, zum Hause von Donna Bicetta Daddi. Er mußte sie sehen, mußte sofort, auf welche Art immer, zur Klarheit kommen. Vielleicht würde sie ihn nicht empfangen. Aber jedenfalls wollte er sich zeigen, bereit, allen Folgen der Lage zu begegnen oder nachzugeben.

Donna Bicetta Daddi war nicht zu Hause.

Ohne es zu wollen, ohne es zu wissen, quälte sie seit einer Stunde ihre Freundin Gabriella Vanzi, eben die, die drei Monate auf dem Lande ihr Gast gewesen war, mit der grausamsten aller Foltern.

Sie war zu ihr gegangen, um gemeinsam mit ihr nicht die wirkliche Ursache, gewiß nicht, aber doch wenigstens den äußeren Anlaß des Unglücks zu suchen, und zwar in der Zeit, da er sich zuerst gezeigt hatte, nämlich während der letzten Tage des Landaufenthaltes. Sie selbst hatte trotz allen Nachdenkens nichts zu entdecken vermocht.

Seit einer Stunde war sie hartnäckig dabei, sich jene letzten Tage ins Gedächtnis zurückzurufen, sie Minute für Minute wiederherzustellen.

»Weißt du das noch? Besinnst du dich noch, wie er morgens ohne seinen Leinenhut in den Garten ging, wie er rief, daß er ihn aus dem Fenster geworfen habe, und wie er dann mit einem Rosenstrauß lachend wieder heraufkam? Weißt du noch, daß ich zwei Rosen davon nehmen sollte, daß er mich dann bis ans Gitter geleitete, mir ins Automobil half und mich bat, ihm aus Perugia Bücher mitzubringen? Warte … eins war … ich weiß nicht … es handelte von Blumensamen. Besinnst du dich nicht? Besinnst du dich nicht?«

In die Anstrengung des Zurückrufens so vieler geringfügiger und wertloser Einzelheiten vertieft, merkte sie die ständig zunehmende Beklommenheit und Erregung ihrer Freundin nicht.

Ohne die leisesten Anzeichen von Verwirrung hatte sie die drei im Landhause von Nicolino Respi verbrachten Tage heraufbeschworen und sich auch nicht einen Augenblick bei der Erwägung aufgehalten, ihr Mann könne vielleicht in dessen unschuldigem Werben einen Anlaß zum Wahnsinn gefunden haben. Das war nicht denkbar. Dieses Werben war nach Respis Abreise nach Mailand ein Gegenstand des Lachens unter ihnen dreien gewesen. Warum also dort etwas vermuten? Und war ihr Mann nicht auch nach Respis Abreise mehr als vierzehn Tage so ruhig und heiter gewesen wie früher?

Nein, nie hatte es auch nur den leisesten Anflug eines Verdachtes gegeben, in den ganzen sieben Jahren ihrer Ehe nicht. Wie und wo hätte sich auch ein Anlaß finden sollen? Und nun, auf einmal, dort im Frieden des Landlebens, ohne daß irgend etwas geschehen war …

»O Gabriella, liebe Gabriella, glaube mir, ich werde verrückt, ich werde auch verrückt!«

Als Donna Bicetta Daddi sich von dieser Verzweiflungskrisis erholt hatte und die tränenüberströmten Augen zum Antlitz ihrer Freundin hob, entdeckte sie unvermutet, daß diese im Widerstand gegen einen unüberwindlichen Krampf bleich und steinern geworden war wie ein Leichnam, daß ihre Nasenlöcher sich vor Erregung geweitet hatten und ihre Blicke stechend geworden waren. O Gott! Fast die gleichen Blicke, mit denen ihr Gatte sich ihr in den letzten Tagen genähert hatte.

Sie fühlte sich zu Eis erstarren, empfand etwas wie Todesangst.

»Weshalb … auch du … weshalb …«, stammelte sie bebend, »-- weshalb siehst auch du mich so an?« Gabriella Vanzi machte übermenschliche Anstrengungen, um den Ausdruck, den sie ohne Wissen angenommen hatte, in ein gütiges, mitleidiges Lächeln zu verwandeln.

»Ich … sehe ich dich an? Nein … ich dachte … siehst du, ich wollte dir sagen … ja, nun weiß ich es. -- Bist du deiner ganz sicher -- hast du dir nichts, gar nichts vorzuwerfen?«

Donna Bicetta Daddi fuhr zusammen; dann preßte sie die Hände vor das Gesicht und schrie mit weit aufgerissenen Augen:

»Wie? Aber du sagst mir jetzt … ja seine eigenen Worte. Wie, wie ist das möglich?«

Gabriella Vanzis Gesicht entfärbte sich, und ihre Augen wurden glasig.

»Ich?«

»Ja, du. O Gott, und du verwirrst dich wie er. Was heißt das, was bedeutet das?«

Sie hatte noch nicht aufgehört so zu jammern und die Empfindung zu haben, als versinke sie in irgendeinen Abgrund, da fand sie die Freundin in ihren Armen, an ihrer Brust.

»Bice … Bice … du hast mich im Verdacht! Du bist zu mir gekommen, weil du mich verdächtigst, nicht wahr?«

»Nein, nein. Ich schwöre dir, Gabriella … nein … eben erst …«

»Jetzt aber doch? Nein … du bist im Unrecht, Bice, du bist im Unrecht … Denn du kannst ja nicht begreifen …«

»Was ist vorgefallen? Komm, Gabriella, sag mir, was vorgefallen ist!«

»Unmöglich, daß du begreifst; unmöglich! -- Ich weiß, weshalb dein Mann wahnsinnig geworden ist. Ich weiß es.«

»Du kennst den Grund? Nun … und?«

»Ich weiß ihn, weil ich denselben Grund zum Wahnsinn in mir habe … von dem her, was uns beiden begegnet ist.«

»Euch beiden?«

»Ja, mir und deinem Mann.«

»Nun, also?«

»Nein, nein, nicht so, wie du denkst. Du kannst es nicht begreifen. Ohne Betrug, ohne Denken, ohne Wollen. In einem Nu. Etwas Schreckliches, für das keiner sich die Schuld geben kann. Siehst du nicht, wie ich mit dir darüber spreche, wie ich es dir sagen kann? Weil ich keine Schuld habe, und er auch nicht. Aber eben deshalb … hör mich an; und wenn du alles weißt, wirst auch du vielleicht wahnsinnig, wie ich dabei bin, wahnsinnig zu werden, und wie er wahnsinnig geworden ist. Hör mich an! Du hast den Tag heraufbeschworen, an dem du im Automobil nach Perugia fuhrst, nicht wahr? Als er dir zwei Rosen gab und dich um die Bücher bat …«

»Ja, Ja.«

»Nun, an dem Morgen ist es gewesen.«

»Was?«

»Was? Ich weiß es nicht. Alles, was geschehen ist. Alles und nichts. Laß mich sprechen, um des Himmels willen! Es war sehr heiß, besinnst du dich? Als wir dich hatten abfahren sehen, gingen er und ich durch den Garten zurück. Die Sonne brannte, und die Grillen zirpten, daß es einen betäubte. Wir traten ins Haus und setzten uns in den kleinen Salon neben dem Speisezimmer. Die Jalousien waren heruntergelassen und die Läden geschlossen. Es war fast finster, und es herrschte eine durch nichts bewegte Kühle. Ich will versuchen, dir meine Empfindung zu schildern, die einzige, die ich hatte, die einzige, deren ich mich entsinne und stets entsinnen werde. Vermutlich hat er genau die gleiche gehabt; ja, er muß sie gehabt haben, denn sonst könnte ich mir nichts mehr erklären. -- Durch diese unbewegte Kühle nach all der Sonne und all dem Zirpen der Grillen geschah es … in einem Nu, ohne Denken, ich schwöre es dir. Denn nie, nie hatten weder ich noch er, ganz gewiß nicht … wir wurden gleichsam unwiderstehlich angezogen durch die seltsame Leere, die berauschende Kühle des Halbdunkels … Bice, Bice … so war es … ich schwöre es dir … ein Augenblick …«

Donna Bicetta Daddi erhob sich in einer Aufwallung von Haß und Zorn.

»Ah, deswegen also?« blies sie durch die Zähne, während sie katzenartig zurückwich.

»Nein, nicht deswegen«, schrie Gabriella Vanzi, während sie ihr flehentlich und verzweifelt die Arme entgegenstreckte. »Nicht deswegen, nicht deswegen, Bice! Dein Mann ist deinetwegen wahnsinnig geworden, deinetwegen, nicht meinetwegen!«

»Meinetwegen wahnsinnig geworden? Was soll das heißen? Aus Reue?«

»Nein, weshalb denn Reue? Es gibt nichts zu bereuen, wenn man die Tat nicht gewollt hat. Du kannst mich nicht verstehen, ebenso wie ich das Schicksal deines Mannes nicht verstehen würde, wenn ich nicht an den meinen dächte. Ja, ja, ich begreife jetzt den Wahnsinn deines Gatten, weil ich an den meinen denke, der auch wahnsinnig würde, wenn ihm das begegnete, was dem deinen mit mir begegnet ist. Ohne Reue! Ohne Gewissensbisse! Eben weil keine Reue dabei war … verstehst du? Das ist ja gerade das Furchtbare. Ich weiß nicht, wie ich es dir begreiflich machen soll. Ich verstehe es, wie gesagt, nur, wenn ich an meinen Mann denke und mich so ohne Reue einer Handlung gegenüber sehe, die ich nicht habe begehen wollen. Siehst du nicht, wie ich, ohne zu erröten, darüber reden kann? Weil ich nicht weiß, Bice, weil ich wirklich nicht weiß, wie dein Mann war, wie er jedenfalls auch nicht wußte und nicht wissen konnte, wie ich bin … es war wie ein Strudel, verstehst du? wie ein Strudel, der plötzlich und ganz unvermutet zwischen uns war, der uns ergriffen und einen Augenblick herumgewirbelt hat, aber sofort wieder gewichen ist, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Denn gleich darauf war unser Gewissen wieder klar und beruhigt. Wir haben auch nicht einen Augenblick mehr an das gedacht, was zwischen uns vorgefallen war. Die Verwirrung war nur eine ganz vorübergehende. Wir sind auseinandergegangen; aber kaum allein, war es, als sei gar nichts geschehen; und nicht nur dir gegenüber, als du gleich nach sechs aufs Land zurückkehrtest, sondern auch vor uns selbst. Wir haben uns in die Augen sehen und miteinander reden können, genau wie vorher, weil keine Spur von dem Gewesenen, ich schwöre es dir, mehr in uns war. Nichts, nichts, auch nicht ein Schatten von Erinnerung, auch nicht ein Funke von Begehren. Nichts. Völlig zu Ende, verschwunden. Das Geheimnis eines Augenblicks, für immer begraben. Nun, das ist es, was deinen Mann wahnsinnig gemacht hat. Nicht die Tat, die keiner von uns hat begehen wollen; dies aber: denken zu müssen, daß so etwas geschehen kann, daß eine ehrbare, in ihren Gatten verliebte Frau, plötzlich, ohne es zu wollen, weil die Sinne sie unvermutet überrumpeln, weil Stunde und Ort geheimnisvoll verschworen sind, einem Mann in die Arme fällt, und gleich darauf alles für immer zu Ende ist, der Schlund sich geschlossen hat, das Geheimnis begraben ist, ohne Reue, ohne Verwirrtsein, ohne die geringste Anstrengung, vor den anderen und vor sich selbst zu lügen. Er hat einen Tag, hat zwei, drei Tage gewartet und hat keine Regung in sich verspürt, nicht in deiner Gegenwart und nicht in der meinen, und er hat gesehen, daß ich genau war wie vorher, mit dir wie mit ihm. Kurz darauf, entsinnst du dich, hat er meinen Mann ankommen sehen, hat beobachtet, mit welcher Ungeduld und welcher Liebe ich ihn empfangen habe. Da hat der Abgrund, in dem unser Geheimnis für immer untergegangen war, ohne die leiseste Spur zu hinterlassen, ihn mehr und mehr angezogen und ihm den Verstand geraubt. Er hat an dich gedacht, hat gedacht, auch du hättest vielleicht …«

»Auch ich?«

»O Bice, es ist nie vorgefallen, ich glaube es dir. Liebe Bice! Aber wir, ich und er, wissen aus Erfahrung, daß es geschehen kann, und daß, was bei uns möglich war, ohne daß wir es gewollt haben, bei jedem möglich ist. Er wird daran gedacht haben, daß er dich manchmal, wenn er heimkam, im Salon mit einem seiner Freunde gefunden hat, und daß mit dir und diesem Freunde in einem Augenblick und auf die gleiche Art hat vor sich gehen können, was zwischen mir und ihm vor sich gegangen ist; daß du dasselbe Geheimnis ohne äußerliches Merkmal in dir verschließen und, ohne zu lügen, geheimhalten kannst, das ich in mir verschlossen und, ohne zu lügen, vor meinem Mann geheimgehalten habe. Und kaum ist ihm dieser Gedanke bewußt geworden, hat ein scharfes und heftiges Brennen an seinem Gehirn zu nagen begonnen, sobald er dich unbefangen, fröhlich und verliebt sich gegenüber sah; nicht anders, als ich meinem Mann gegenüber war, meinem Mann, den ich, ich schwöre es dir, mehr als mich selbst und mehr als die ganze Welt liebe. Er wird gedacht haben: dabei hat diese Frau, die so mit ihrem Mann ist, einen Augenblick lang in meinen Armen gelegen. Wer weiß also, ob nicht auch meine Frau einmal … wer weiß es, wer kann es je wissen? Und er ist wahnsinnig geworden. -- Still, Bice, still, um des Himmels willen!«

Gabriella Vanzi erhob sich bebend und totenbleich. Sie hatte gehört, daß sich im Vorsaal die Tür öffnete. Ihr Mann kam heim.

Als Donna Bicetta Daddi sah, wie ihre Freundin sich auf einmal beruhigte, rosige Wangen und leuchtende Augen bekam und dem Gatten lächelnd entgegenging, stand sie wie vernichtet da.

Nichts mehr, so war es. Keine Verwirrung, keine Reue, auch nicht eine Spur …

Und Donna Bicetta begriff vollkommen, weshalb Romeo Daddi, ihr Mann, wahnsinnig geworden war.


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