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Baldovinos Arbeitszimmer, mit ernster Eleganz eingerichtet. Tür im Hintergrund und rechts.
Baldovino trägt denselben Anzug wie im ersten Akt. Er sitzt düster und steif die Ellenbogen an den Knien und das Gesicht auf die Hände gestützt und blickt vor sich hin. Maddalena sitzt ganz nahe bei ihm und spricht sorgenvoll auf ihn ein.
Maddalena: Sie müssen doch begreifen, daß Sie kein Recht dazu haben! Jetzt handelt es sich ja nicht mehr um Sie und um uns, sondern nur um das Kind!
Baldovino hebt den Kopf und sieht sie wild an: Was geht mich das Kind an?
Maddalena erschreckt, nimmt sich aber zusammen: Mein Gott, das ist wahr! Ich will Sie aber daran erinnern, Sie haben sich doch so für das Kind eingesetzt und damit das Herz meiner Tochter tief gerührt. Verstehen Sie das nicht? Jetzt, wo sie nur noch Mutter ist …
Baldovino: Ich verstehe nichts mehr …
Maddalena: Sie selbst machten ihn doch gestern auf die Konsequenzen betreffs des Kindes aufmerksam.
Baldovino: Mich geht es nichts an … Ich wußte es ja, daß es so kommen wird! Betrachtet sie eher verachtend, als mißmutig. Und übrigens wußten dies auch Sie, gnädige Frau, im voraus!
Maddalena: Ich wußte nichts! Ich schwöre Ihnen, daß ich nichts wußte.
Baldovino: Sie hätten es nicht gewußt? Ich bitte Sie! Warum hätte er denn sonst die Aktiengesellschaft gegründet?
Maddalena: Ich glaubte, um Ihnen eine Stellung zu schaffen, damit Sie arbeiten können.
Baldovino: Jawohl, um mich aus dem Hause zu entfernen. Und er frei mit Ihrer Tochter …
Maddalena unterbricht ihn schnell: Nein, ich versichere Sie, Agata hatte nichts mit der Sache zu tun.
Baldovino hebt die Arme hoch, ausbrechend: Herrgott, sind Sie denn blind? Wollen Sie mir diese Versicherung geben? Sie … mir? …
Maddalena: Das ist die Wahrheit.
Baldovino: Erschrecken Sie nicht, wenn Sie mir das sagen? Pause. Verstehen Sie denn nicht, daß ich gerade deshalb gehen muß.
Maddalena: Nein! Sie selber wird Sie daran hindern.
Baldovino: Um des Himmels willen, gnädige Frau! Soll ich auch noch den Kopf verlieren? Damit mir keine Kraft bleibt, die Folgen der Taten zu übersehen, die andere blindlings begehen. Blindlings! Nur ich sehe, weil ich in dieses Haus nicht darum aufgenommen wurde, um darin zu leben. – Hüten Sie sich! Wenn das Leben mich wieder packt und auch mich blind macht. Er unterbricht sich, zügelt schwer die ausbrechende Erregung, die ihn zu überwältigen droht und ihm jedesmal etwas Wildes verleiht, und setzt dann ruhig und kalt fort: Wenn der Herr Marchese einen ehrlichen Menschen – nicht mich, verstehen Sie, sondern einen, den er in diese Stellung gebracht hat – zum Dieb machen will, dann muß doch jemand das Geld stehlen, und wenn ich es nicht tue, muß er es tun.
Maddalena: Das kann er nicht! Das darf er nicht.
Baldovino: Ich sage Ihnen, er wird es tun. Sonst tue ich es. Wollen Sie mich dazu zwingen?
Maurizio kommt aufgeregt von rechts.
Baldovino sobald er ihn sieht, bricht er in Lachen aus: Auch du kommst, um mich anzuflehen, daß ich »diese Verrücktheit« nicht begehe?
Maddalena schnell zu Maurizio: Ja, ja, ich bitte Sie, überreden Sie ihn doch!
Maurizio: Aber seien Sie ganz beruhigt, er wird sie nicht begehen! Er weiß doch, daß es eine Verrücktheit wäre – und nicht er ist verrückt, sondern Fabio!
Baldovino: Er schickt dich wohl her?
Maurizio: Du hast mir geschrieben, ich soll kommen.
Baldovino: Stimmt. Hast du mir die hundert Lire mitgebracht, die du mir leihen sollst?
Maurizio: Nein, ich habe nichts mitgebracht.
Baldovino: Als Mann von Geist hast du natürlich sofort begriffen, daß es sich um eine Finte handelt. Bravo! Er zeigt auf seine Jacke. Du siehst mich schon in Reisekleidern. – Ich trage denselben Anzug, in dem ich gekommen bin. Mir fehlen nur noch die hundert Lire, die ich von dir borgen muß, um als anständiger Mensch zu verschwinden. In einem plötzlichen Ausbruch tritt er nahe an ihn heran und packt ihn an beiden Armen: Ich lege den größten Wert auf diese Finte.
Maurizio verwirrt: Was redest du da, zum Teufel?
Baldovino dreht sich zu Maddalena, blickt sie an und lacht wieder: Die arme gnädige Frau macht große Augen! Liebenswürdig, zweideutig: Haben Sie keine Angst, daß ich meine Drohung wahrmache und in drei bis vier Jahren das Kind verlange. Damit habe ich den Marchesen nur eingeschüchtert. Was soll ich mit dem Kinde? Oder fürchten Sie eine Erpressung?
Maurizio: Aber daran denkt doch kein Mensch!
Baldovino: Wenn ich nun aber daran gedacht hätte?
Maurizio: Jetzt hör' schon auf damit!
Baldovino: Erpressung – nein. Höchstens könnte es mir Spaß machen, daß ihr mich jetzt anflehen müßt, etwas zu lassen, was ich erst begehen sollte.
Maurizio: Aber du hast doch nichts begangen!
Baldovino: Richtig. Weil er es begehen soll, und zwar mit eigenen Händen. Er sieht Fabio aufgeregt, sehr blaß und verwirrt an der Schwelle der rechten Tür erscheinen. Und er wird es begehen, verlaßt euch darauf.
Fabio: Ich werde es begehen? Er nähert sich bleich und bebend Baldovino: Um Gottes willen, haben Sie den Kassenschlüssel in fremden Händen gelassen?
Baldovino: Nein, Herr Marchese, wieso?
Fabio: Mein Gott, aber was dann? Hat jemand etwas erfahren? … Durch Indiskretion des Fongi?
Maurizio: Fehlt Geld in der Kasse?
Maddalena: Du lieber Himmel.
Baldovino: Seien Sie ruhig, Herr Marchese. Er schlägt an seine Brusttasche. Ich habe es hier.
Fabio: Ach! Sie haben es genommen?
Baldovino: Sie wissen doch, ich tue nichts Halbes.
Fabio: Wohin soll das führen?
Baldovino: Haben Sie keine Angst, ich wußte ja, daß ein Edelmann Ihrer Art davor zurückschrecken würde, wenn auch nur für eine Minute, dieses Geld aus der Kasse zu nehmen; darum ging ich gestern abend hin und holte es selbst.
Fabio: Warum denn?
Baldovino: Um Ihnen, Herr Marchese, die Möglichkeit zu einer herrlichen Geste – zu der Entlarvung und Zurückerstattung – bieten zu können.
Fabio: Sie bleiben also bei Ihrer Verrücktheit?
Baldovino: Genau so, wie Sie es haben wollten.
Fabio: Aber jetzt will ich nicht mehr!
Baldovino: Aber jetzt will ich!
Fabio: Was wollen Sie eigentlich?
Baldovino: Genau das, was Sie wollten. Gestern sagten Sie der gnädigen Frau er meint Agata, ich hätte das Geld, und jetzt habe ich es in der Tasche.
Fabio: Mich haben Sie aber noch nicht in der Tasche!
Baldovino: Doch, auch Sie, Herr Marchese! Ich gehe jetzt in die Versammlung des Aufsichtsrates; Bilanz vorlegen. Daran können Sie mich nicht hindern. Ich werde selbstverständlich über dieses Plus an Einnahme, die Herr Marchetto Fongi so sinnvoll für mich herstellte, schweigen. Und werde den ertappten Dieb vortrefflich spielen.
Fabio: Das werden Sie nicht.
Baldovino: Ich werde es tun, Herr Marchese!
Fabio: Und wenn ich Sie selbst bitte, zu bleiben?
Baldovino düster, gedehnt und wuchtig, indem er sich zu ihm wendet und ihn wie ein Löwe anblickt: Und wie denken Sie sich das, wenn ich bleibe?
Fabio: Ich bereue … aufrichtig …
Baldovino: Was bereuen Sie?
Fabio: Was ich getan habe.
Baldovino: Bereuen Sie lieber, was Sie nicht getan haben!
Fabio: Was hätte ich denn tun sollen?
Baldovino: Sie hätten sofort oder nach einiger Zeit zu mir kommen sollen. Um mir zu sagen, daß wir beide zwar unsere Abmachungen einhalten können, daß aber außer uns noch jemand da ist, dessen edle und vornehme Gesinnung sich dagegen sträubt, dann hätte es sich gezeigt, daß ein anständiger Mensch in meiner Rolle unmöglich ist. Ein schwankender Charakter wäre hier zum Gauner geworden: Nur ich kann es mir leisten, skrupellos den Dieb zu spielen.
Maurizio: Weshalb?
Fabio gleichzeitig: Zum Spaß?
Maurizio: Wer zwingt dich?
Maddalena: Niemand, wir bitten Sie alle …
Baldovino zu Maurizio: Du aus Freundschaft … Zu Maddalena: Sie des Kindes wegen … Zu Fabio: Und Sie?
Fabio: Auch deswegen.
Baldovino ihm ganz nahe starr in die Augen blickend: Und weshalb noch?
Fabio antwortet nicht.
Baldovino: Ich will es Ihnen sagen: Weil Sie jetzt die Folgen dessen, was Sie anstellten, überblicken können! Zu Maddalena: Der reine Name des Kindes? … Der ist nur Illusion! Sie müssen aber jetzt andere Sorgen haben als das Kind, meine Gnädigste. Wendet sich auch an die anderen: Glaubt ihr, daß ich hier für euch ewig ein körperliches Gespenst bleiben werde! Auch ich habe Blut in den Adern! Schwarzes, von Erinnerungen vergiftetes Blut … und ich habe Angst, daß es aufflammt. Gestern, als dieser Herr er zeigt auf Fabio mir in Gegenwart Ihrer Tochter meinen angeblichen Diebstahl vorwarf, da fiel ich, blinder als ihr alle, in eine viel schlimmere Falle – in die Falle meines Blutes! Ich hätte schweigen sollen in ihrer Gegenwart und für sie ein Dieb bleiben, aber ich konnte nicht. Mein Blut schrie auf … Sie! … Sie! … du! … Zeigt der Reihe nach auf alle drei. Habt ihr jetzt noch den Mut, mich zurückzuhalten? Alle blicken ihn stumm erschrocken an. Kurze Pause. Von rechts tritt Agata ein, bleich und stumm. Sie bleibt nach ein paar Schritten stehen. Er will sich zwingen, ihr gelassen und ruhig entgegenzutreten. Man sieht ihm aber sein Entsetzen und seine Verwirrung an den Augen an.
Agata zu Maddalena, Maurizio und Fabio: Laßt mich allein mit ihm.
Baldovino fast stotternd, mit niedergeschlagenen Augen: Nein … nein … nein …
Agata: Ich habe Ihnen etwas zu sagen.
Baldovino wie oben: Es ist ganz … ganz … vergebens. Ich sagte den Herrschaften alles, was ich zu sagen hatte.
Agata: Und jetzt müssen Sie das anhören, was ich Ihnen zu sagen habe. Zu den anderen: Ich bitte euch, uns allein zu lassen. Drei ab.
Agata: Ich will Sie nicht zum Bleiben überreden – ich gehe mit Ihnen.
Baldovino ist eine Sekunde lang tief verwirrt und hält sich nur mit Mühe aufrecht, dann ganz leise: Ich begreife: Sie wollen das Kind nicht erwähnen … Eine Frau wie Sie verlangt kein Opfer – sie opfert sich selbst.
Agata: Es ist kein Opfer, es ist meine Pflicht.
Baldovino: Nein, nein, das dürfen Sie nicht!
Agata: Ich bin Ihre Gattin. Wollen Sie fort von hier? Gut, dann gehe ich mit Ihnen.
Baldovino: Wohin denn? – Was reden Sie da … Haben Sie Mitleid! Lassen Sie mich schweigen. Verstehen Sie doch. Erraten Sie doch … Warum ich … in Ihrer Gegenwart … nicht reden kann?
Agata: Keine Worte mehr. Nach den ersten Worten, die ich damals sie denkt an das Lauschen im ersten Akt von Ihnen hörte, hätte ich ins Zimmer kommen und Ihnen die Hand reichen sollen.
Baldovino: Ach, hätten Sie es doch getan! – Ich habe es eine Sekunde lang gehofft, dann wäre alles vermieden worden.
Agata: Hätten Sie sich gleich zurückgezogen?
Baldovino: Nein, geschämt hätte ich mich vor Ihnen … wie ich mich jetzt schäme.
Agata: Worüber? Über Ihre Ehrlichkeit?
Baldovino: Es ist so leicht, ehrlich zu sein, wenn es nur darum geht, den Schein zu wahren. Hätten Sie damals das Spiel für unmöglich erklärt, dann wäre ich keine Sekunde länger in diesem Hause geblieben … so wie ich jetzt nicht mehr bleiben kann. Die Rolle, zu der ich mich hergab …
Agata: Wir haben sie von Ihnen verlangt!
Baldovino: Aber ich bin darauf eingegangen. Sie allein haben den Mut gehabt, sich dagegen aufzulehnen. Meine Ehrlichkeit war unnatürlich! Jetzt sind Sie nur noch Mutter, aber ich bin nicht der Vater des Kindes.
Agata: Sie gehen also, weil das Kind nicht das Ihre ist?
Baldovino: Ich bin nur die Maske eines Vaters.
Agata: Sie sind ein Mensch.
Baldovino: Was wissen Sie von mir?
Agata: Das weiß ich. Und da Baldovino ganz vernichtet den Kopf sinken läßt. Sie können ruhig Ihr Haupt erheben, wenn ich Sie ansehe. Wir alle müssen die Augen vor Ihnen niederschlagen, wenn Sie sich Ihrer Fehler schämen.
Baldovino: Nie hätte ich gedacht, daß mir das Schicksal solche Worte gönnen würde. Zuckt plötzlich heftig zusammen, wie um den Zauber von sich abzuschütteln. Genug … glauben Sie mir: ich bin unwürdig! Wissen Sie, daß ich … hier … fünfhunderttausend Lire habe.
Agata: Sie geben sie zurück und dann werden wir gehen.
Baldovino: Ich ge–be sie nicht zurück.
Agata: Ich folge Ihnen trotzdem …
Baldovino: Auch wenn ich ein Dieb bin? …
Agata: Auch dann. Langes Schweigen.
Baldovino zieht die Brieftasche heraus und wirft das Geld auf den Tisch: Jetzt weiß ich, was ich den Herren zu sagen habe! …
Vorhang.