Wilhelm von Polenz
Wurzellocker - Erster Band
Wilhelm von Polenz

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Erstes Buch

Die schwüle Luft eines Spätsommertages lag auf der Stadt. Kein Windzug entführte den Rauch, welcher aus ungezählten Essen emporstieg und zu einem Schleier von totem Grau verdichtet über dem ganzen Weichbilde stand. Der Fluß führte wenig Wasser unter den breitspannenden Brückenbogen thalwärts, und das bißchen Kühle, das er auf seinen gelben Wellen mit sich gebracht, verflog schnell, aufgesogen von der Sonne, die, schon seit Wochen unbarmherzig vom wolkenlosen Himmel herniedersengend, den Blättern der Alleebäume längst die Farbe des Tabaks gegeben und das Erdreich in morschen Zunder verwandelt hatte. Jeder Windzug entführte davon Teile, die sich in inniger Verquickung mit dem Straßenstaub, dem Ruß der Fabrikessen und der Schornsteine auf Menschen, Tiere, Pflanzen legten und den Lungen eines jeden Lebewesens das Atmen erschwerten.

Wem in dieser Jahreszeit Beschäftigung oder Kasse nicht erlaubt hatten, ins Hochgebirge oder an die See zu entfliehen, der suchte in den Feierstunden wenigstens aus den Mauern hinauszugelangen in die luftig gebauten Villenvororte, in die Obstgärten und Weinberge unterhalb der Stadt, vielleicht auch in die ausgedehnten Waldungen im Norden.

Die Menschenwogen, welche sich aus dem rauchigen Centrum in die Naturfrische ergossen, hatten jenen herdenartigen Charakter angenommen, den die Menge zeigt, sobald ein Naturereignis, ein gemeinsames Erleben, oder auch nur verwandtes Bedürfnis sie nach einer bestimmten Richtung treibt. Das Gefühl unerträglicher Schwüle hatte in diesen Tausenden den nämlichen Drang erzeugt: hinaus unter freien Himmel.

Eine Gruppe von drei Menschen trennte sich ab von dem allgemeinen Schwarme: zwei Männer, ein Mädchen. Während die meisten anderen der ausgestreckten Hand eines Wegweisers folgten, der in fünf Minuten die schönste Aussicht, Kegelbahn, Bier, Kaffee und andere Herrlichkeiten verhieß, schlugen diese drei einen sandigen Fußsteig ein, der in den Wald hineinführte.

Einem Mädchen wie diesem begegnet man gern. Frische Wangen, schönes Haar, guter Wuchs. In den Bewegungen die Leichtigkeit und anmutige Weichheit, die nur das junge Weib hat. Helle, freundlich blickende Augen, welche man sich mit Thränen gefüllt sehr rührend vorstellen konnte, Augen, die nicht kokett blickten, aber aus denen unbewußt die rührende Mädchenbitte sprach: finde mich hübsch! Nichts Rätselhaftes, nichts Dämonisches, nichts Mystisches, aber umsomehr gesunde Sinnlichkeit.

So mancher Mann wendete unwillkürlich den Kopf nach dieser Erscheinung, und »ein bildhübsches Mädchen«, das war eine häufige Bemerkung, die Alma Lux hinter sich geflüstert hören konnte.

Wahrscheinlich war das gestreifte Sommerkleidchen, das sie gut kleidete, ihr eigenes Machwerk. Aus ihrem Hut mit allzuviel künstlichen Blumen und dem grellfarbigen Sonnenschirm, den sie nicht recht zu handhaben verstand, sprach das harmlose Bestreben des Kindes aus dem Volk, für eine Dame gehalten zu werden.

Von den beiden Männern trug der ältere seinen einfachen, braunen Lodenanzug mit einem gewissen großartigen Selbstbewußtsein zur Schau, als wolle er sagen: wenn ich mich gut anzöge, würde meine Häßlichkeit nur noch grotesker wirken. Und in der That, aus diesen abfallenden Schultern, eckigen Hüften und dünnen Beinen, hätte die größte Schneiderkunst nichts Anmutiges zu gestalten vermocht.

Die Gesichtszüge dieses Mannes, der im Anfang der dreißig stehen mochte, machten freilich manches wieder gut, was der Körper an ästhetischen Sünden beging. Es war das Gesicht eines intelligenten Pudels. Schmale, hohe Stirn, in die rotblondes Haar in lockigen Büscheln fiel. Lebhafte, glänzende, kluge und zugleich gute Augen. Brauen, die sich von der gleichmäßig roten Farbe des ganzen Gesichts nur wenig abhoben. Eine spitze Nase mit weiten, beweglichen Nüstern. Das Untergesicht vorspringend. Oberlippe und Mundwinkel ganz vom blonden Schnauzbart versteckt.

Von ganz anderem Schrot und Korn war der Jüngere. Die lässige Haltung, die Art, wie er seinen ehemals gut gemachten, jetzt abgenutzten Anzug trug, sprachen von dem stolzen Gehenlassen eines Menschen, dem der Stempel guter Herkunft von Natur aufgedrückt ist. Die Haut zart, die Glieder schlank und gut proportioniert, die Züge eigentümlich kapriziös gemischt. Die edle Stirn, das ausdrucksvolle Auge schienen einen Anlauf zu energischer Männlichkeit nehmen zu wollen, doch waren Kinn und Lippen die eines Weibes. Niemand konnte es dem jungen Menschen verargen, daß er das Haar im Nacken lang trug, denn es hatte einen ungewöhnlichen, an matte Seide erinnernden Glanz.

Der ältere der beiden schien des Weges kundig zu sein. Zwar war Doktor Lehmfink kein Autochthone. Seine Wiege hatte in einem schwäbischen Gebirgsstädtchen, nahe der Schweizer Grenze gestanden. Sein Leben war eine Wanderung nach Wissen und nach Brot. Ein eigentliches Heim hatte er auch hier nicht; man müßte denn eine Chambre garnie und einen Schemel vor einem Redaktionspult so nennen. – Seit zwei Jahren lebte er in dieser Stadt. Er schätzte den Platz, wie man eine Schutzhütte zu schätzen weiß im Gebirge, die einem eine Zeit lang notdürftige Unterkunft gewährt.

Und auch sein um etwa fünf Jahre jüngerer Begleiter war ein moderner Nomade. Das holperige Pflaster des nordhannöverschen Nestes, dem er entstammte, hatte Fritz Berting seit Jahren nicht mehr betreten. Er war mit seiner Familie zerfallen, galt den Verwandten als ein verlorener Sohn. Trotz seiner Jugend hatte er seine Füße schon an den verschiedensten Herdfeuern gewärmt.

Sie kannten einander von Berlin her, wo sie sich in litterarischen Kreisen getroffen hatten. Lehmfink besaß eine hohe Meinung von Bertings Begabung. Er liebte den Jüngling mit einer Art schmerzlichen Bewunderung, wie es selbstlose Menschen thun, die in einem jüngeren Genossen jene glücklichen Anlagen finden, die sie in sich selbst zu erziehen einstmals heiß bemüht gewesen sind.

Auch nach seinem Wegzug von Berlin hatte Doktor Lehmfink den jungen Berting nicht aus dem Auge verloren. Vor einiger Zeit erfuhr er durch die Zeitungen, daß ein Drama des jungen Dichters bei seiner Erstaufführung in Berlin in aufsehenerregender Weise durchgefallen war. Er schrieb an den Autor einen Beileidsbrief. Daraufhin war Fritz Berting eines Tages bei ihm erschienen, mit wenig Gepäck, ohne Geld und in Begleitung eines weiblichen Wesens.

Lehmfinks Auffassung von Liebe war nicht eng. Das Leben hatte ihn gelehrt, daß man in allem, was die Beziehungen der Geschlechter betrifft, nicht weitherzig genug urteilen kann. Aber er wußte auch, daß es keine gefährlichere Klippe giebt für den Menschen, der noch keine gefestigte Stellung hat, als ein ernsthaftes Liebesverhältnis.

Er nahm scheinbar Almas Gegenwart als etwas Selbstverständliches hin, stellte keine neugierigen Fragen, forschte nicht, wie die beiden einander gefunden hätten und was ihre Zukunftspläne seien.

Lehmfink sah es für Freundespflicht an, zunächst für Fritzens äußeres Unterkommen zu sorgen. Er half eine möblierte Wohnung suchen für die beiden, dann wußte er einen Verleger, der gerade auf Ausschau war nach verheißungsvollen Talenten, zu interessieren für den jungen Dichter. Auf Doktor Lehmfinks Empfehlung hin gab der sonst äußerst vorsichtige Geschäftsmann für einen Roman, den Berting noch nicht einmal zu schreiben begonnen hatte, einen Vorschuß von etlichen hundert Mark.

Fritz Berting hatte die nächsten Wochen dazu gebraucht, sich in der fremden Stadt umzuschauen. Man mußte doch erst in Stimmung kommen, ehe man sich niedersetzte zum Schreiben. Der Verleger hatte nichts wieder von ihm gesehen, seit dem Tage, wo er so unvorsichtig gewesen war, seine guten Scheine in Fritzens Hand zu legen, in der Hoffnung, sie in Gestalt von beschriebenem Papier zurückzubekommen. Dem Freunde gegenüber hatte Berting die Entschuldigung, daß man bei der herrschenden Hitze von keinem Menschen Gedanken und Einfälle verlangen dürfe.

Lehmfink hätte erwidern können, daß er bei jeder Temperatur Tag ein Tag aus sein Pensum abarbeiten müsse; aber er unterdrückte die Bemerkung, denn es kam ihm nicht bei, seine Thätigkeit mit der Bertings zu vergleichen.

So streifte Fritz denn in der Stadt umher, betrachtete die Auslagen in den Schaufenstern, studierte Physiognomie und Wesen der Einwohner, amüsierte sich über ihre Aussprache, die eine Karikatur war des Hochdeutsch, saß in Restaurationen und Kaffees, schlürfte einen Eiskaffee nach dem anderen, las Zeitungen, und ging abends ins Gartenkonzert.

Alma saß derweilen in der gemieteten Wohnung allein. Anfangs hatte sie die Zeit damit zugebracht, seine und ihre Garderobe in besseren Zustand zu bringen. Als sie damit schnell fertig geworden war, dachte sie daran, sich nach Arbeit umzusehen. Das nächstliegendste für sie wäre gewesen, wieder in einem Konfektionsgeschäft Stellung zu suchen, als Probierfräulein oder dergleichen. Zwar war tote Saison, aber mit ihrer Figur konnte sie schon den Versuch wagen. Fritz jedoch wollte davon nichts wissen, er fand diese Art Broterwerb ihrer durchaus unwürdig. Da entsann sich Alma, daß sie in der Zeit, ehe sie in die Konfektion gekommen, Krawatten genäht hatte. Ganz verlernt würde sie das inzwischen auch nicht haben. Sie fragte in verschiedenen Geschäften nach Arbeit und erhielt schließlich einen Posten zugeschnittener Ware überwiesen. Gern hätte sie sich eine Nähmaschine gekauft oder geliehen. Aber Fritz legte dagegen ein entschiedenes Veto ein. Bei der Engigkeit ihres Logis würde ihn das impertinente Geräusch der Nähmaschine stören. Alma, die gewohnt war, sich in allen Stücken seinen Wünschen zu fügen, mußte daher die Arbeit mit der Hand verrichten.

Heute hatte Doktor Lehmfink die beiden abgeholt, um ihnen etwas von der Umgebung der schön gelegenen Stadt, von der sie so gut wie noch nichts gesehen hatten, zu zeigen.

Die Unterhaltung war nicht gerade lebhaft; Lehmfink trug ihre Kosten so ziemlich allein. Fritz Berting war schon seit einigen Tagen schlechter Laune. Machte das die andauernde Hitze, oder eine ungünstige Besprechung, die neulich in einer angesehenen Zeitschrift über seine Gedichte gestanden hatte, oder endlich die Entdeckung, daß die von dem Verleger vorgeschossene Summe wie der abnehmende Mond unaufhaltsam kleiner wurde; oder waren es diese unangenehmen Dinge vereinigt? Kurzum, Fritz sah die Welt durch eine rauchgeschwärzte Brille und nahm sich nicht die Mühe, diesen Seelenzustand vor seiner Umgebung zu verbergen.

Doktor Lehmfink sprach wie gewöhnlich von Litteratur. Er hatte in früheren Jahren nach dem Dichterlorbeer gestrebt, ohne es weiter zu bringen als zum Litteraten.

Eine von Lehmfinks Liebhabereien war, die Literaturgeschichte nach vergessenen oder bei Lebzeiten irgendwie zu kurz gekommenen Autoren zu durchstöbern, um diese Verkannten nachträglich zu Ehren zu bringen. Schon verschiedene solcher Verschollenen hatte er in Anthologieen und billigen Ausgaben populär zu machen versucht. Er setzte bei solchem Bemühen nur Geld zu und Zeit. Von der Not getrieben, war er schließlich zum Journalismus übergegangen. Bei dem Feuilleton einer politischen Tageszeitung fand er Unterschlupf. Hier mußte er so ziemlich über alles schreiben: Theater, Bücherbesprechungen, Wissenschaftliches. Seine gründliche Bildung kam ihm dabei zu statten, während der hohe künstlerische Maßstab, den er an litterarische Erzeugnisse anzulegen für Pflicht hielt, ihn oft genug in Kollision brachte mit den banalen Forderungen des Publikums, das vor allem Lesefutter will und Sensationelles.

Fritz Berting, hörte nur mit halbem Ohre hin.

Mehr Interesse legte Alma Lux an den Tag. Sie besaß die Bildung der Volksschule, schrieb unorthographisch und kam in ihren litterarischen Interessen nicht über den Kolportageroman hinaus. Aber auf sie wirkte, wie auf die meisten Frauen, viel weniger das Thema, als die Persönlichkeit des Sprechenden.

Doktor Lehmfink war ihr interessant. Noch nie in ihrem Leben hatte sie einen Menschen gesehen, der ihm ähnlich gewesen wäre. Die großen Augen, das strubbelige Haar und die rötliche Hautfarbe seines Gesichts, dazu seine Storchbeine reizten sie beständig zum Lachen. Sie konnte sich gar nicht in die Existenzbedingungen eines solchen Wesens hineindenken, betrachtete diesen Menschen als etwas Neues, Fremdes, Erstaunliches, wie eine Art Schauspiel, das zu ihrem besonderen Vergnügen aufgeführt wurde. Auch wenn sie seine Worte gar nicht verstand, bereitete es ihr doch Genuß, ihnen zu folgen und dabei zu denken, wie freundlich es von diesem hochgelehrten Herrn sei, sich überhaupt mit ihr abzugeben.

Und was ihr Vertrauen zu Doktor Lehmfink unendlich vertiefte, war das instinktive Gefühl, daß er ein anständiger Mann sei, der nichts Unrechtes von ihr wolle. Sie hatte trotz ihrer neunzehn Jahre die Erfahrung gemacht, daß das bei Männern etwas äußerst Seltenes ist.

Die Drei hatten ein schmales, mit dünnem Wald bestandenes Thal durchschritten, in dessen Grunde ein seichtes Wässerlein hie und da aufblitzte. Nun stiegen sie durch tiefen Sand zu einer unbedeutenden Erhöhung empor. Der Gipfel war gelichtet und gestattete freien Ausblick.

Da unten über Baumwipfel hinweg sah man die Stadt liegen. Sie füllte das breite Flußthal mit ihren Häusermassen bis zu den jenseitigen Hügelreihen. Im Osten standen, gleich blauen Würfeln, eine Anzahl Berge gegen den milchweißen Himmel, deren Gipfel wie mit dem Messer abgeschnitten schienen. Der Fluß, von zahlreichen Brücken überspannt, trat in gefälliger Kurve aus der Stadt heraus, nur für ein kurzes Stück durch freies Land fließend, dann verdeckten ihn schon wieder Gebäudemassen, Häuserzeilen, Fabriken. Das ganze, weite, muldenartige Thal besetzt von menschlichen Anwesen. Selbst die niederen Höhenzüge, die nach beiden Seiten zurücktretend breiten Bänken fruchtbaren Vorlandes Platz machten, waren besät mit Dörfern, Einzelgehöften, Schlößchen und Landhäusern, die inmitten von Obstgärten und eingehegten Parks lagen. Wo nach Süden das Gelände offen im Anprall der Sonne sich breitete, hatte der Weinbau seinen Platz gefunden. Nach Norden hin aber dehnte sich auf rauhem Hochplateau dunkler Kiefernwald, sandige Heideflächen, sumpfiges Wiesenland.

Und in diesen breiten, prächtigen Rahmen eingebettet, lag die Stadt, halb in ihrem eigenen Dunst und Rauch verhüllt, mit ihren unzähligen Dächern, Essen, Schornsteinen, Giebeln, aus denen hie und da ein schlanker Turm, eine majestätische Kuppel, das Glasdach eines Bahnhofs, der viereckige Kasten einer Kaserne als Ruhepunkt im Wechsel kleinerer Formen auftauchten.

Lehmfink machte den Erklärer. Er benannte die einzelnen Stadtteile, die öffentlichen Gebäude, die Kirchen, die Paläste, die gewerblichen Anlagen, die großen Straßenzüge.

Es war der günstigste Augenblick. Die Sonne, im Sinken von intensiver Farbenkraft, vergoldete die Kirchturmspitzen und die Kuppeln, spiegelte sich in tausend großen und kleinen Scheiben, ließ einzelne Gebäude selbstleuchtend hervortreten, verlieh sogar den Fabrikessen, den großen Steinkästen, den kahlen Brandmauern, einen wärmeren Ton und durchleuchtete die Wolke von Dunst und Staub, die über dem Ganzen lag.

Fritz Berting ließ die blasierte Miene fallen; seine Züge belebten sich bei dem Anblick dieses Bildes voll Mannigfaltigkeit. Er war überrascht. Er hatte da unten gesteckt in einer heißen, engen, wenig sauberen Vorstadtwohnung. Hatte unter Kohlenstaub und Straßenlärm gelitten und schon manch liebes Mal den ganzen Ort verwünscht.

»Nicht wahr, das hättest du nicht vermutet?« fragte ihn Lehmfink.

»Ja, was denn! Das ist ja wirklich eine schöne Stadt!« rief Fritz.

»Wenn man so mitten drin steckt, Berting, merkt man zu viel von den Details und zu wenig von der Physiognomie. Hier aus der Vogelschau sieht man, daß das Ding einen Anfang hat und ein Ende, eine Umgebung, und eine Lage. Und man versteht nun auch den Sinn, nicht wahr? – begreift, daß eine Stadt gerade hier hat entstehen müssen.«

»Und da man als Deutscher, mein lieber Lehmfink, ja natürlich nicht Ruhe hat, bis nicht Zweck und Ursache eines Dinges endgiltig festgestellt sind, erkenne ich diesem Orte jetzt erst Existenzberechtigung zu, erkläre mich mit seinem Dasein ausgesöhnt und einverstanden.« Fritz lächelte ein wenig spöttisch, dann verlor er sich wieder ganz in Gedanken.

Lehmfink wollte in seinen Erläuterungen fortfahren, aber Fritz unterbrach ihn. »Verschone mich mit Namen, Lehmfink, oder gar mit Geschichte! Wenn mir jemand eine Landschaft erklärt, streift er für meine Augen unfehlbar allen Reiz davon ab. – Ist das da unten nicht wie ein persönliches Wesen? So müßte man von irgend einem Punkte aus auf unseren Maulwurfshaufen von Erde herabblicken können! Dann würde man vielleicht die richtige Würdigung haben des Lebens. Distanz ist alles! Das ist ja mein Traum; den höchsten Standpunkt zu finden, von dem aus man mit überlegenem und alles umfassendem Blick ein Bild geben könnte, zwingend durch Wahrheit, erdrückend durch Natürlichkeit. Das müßte ein wunderbares Kunstwerk geben, wenn man das ganze große Leben von solcher Warte aus belauschen könnte.«

»Schreibe dieses Buch!« rief Lehmfink lebhaft. »Schreibe uns dieses Buch!«

»Die Stadt müßte man erweitern zu einem Symbol des gesamten Volkes, der ganzen Menschheit. Ach! Man müßte die Dächer da unten aufdecken können, und den Leuten in ihre Stuben blicken und Kammern. Wie sie essen, wie sie schlafen, müßte man wissen, wie sie sich gebärden, wenn sie sich ganz unbeobachtet glauben. Hüllenlos sie sehen bei jeder Bethätigung, in ihren primitiven Leidenschaften sie belauschen, wenn sie lieben und hassen, wenn sie hungrig sind, wenn sie sich voll gegessen haben und getrunken. Wie Neid, Eifersucht und Liebe abwechselnd sie gegeneinander und aufeinander treiben, wie sie sich bald umarmen, bald einander belügen und betrügen und sich den Tod an den Hals wünschen. Durch all die heuchlerischen Hüllen müßte man hindurchblicken können, die sie Geselligkeit, Familie, Gesetz, Sitte zu nennen belieben. Wem das gelänge, die Menschen so im Allerheiligsten der Alltagsprosa zu fassen! Die Tiere, ja die kann man belauschen. Aber der Mensch ist Schauspieler. Es ist so schwierig, menschliche Dokumente, wirklich echte Dokumente zu sammeln!« Fritz seufzte.

»Und was hättest du schließlich davon, wenn du auch ein paar Dutzend solcher Dokumente glücklich in deine Scheuern gesammelt hättest?« meinte Lehmfink. »Den großen Schatz ewiger Wahrheit hättest du damit nicht bereichert. Überlasse doch das Sammeln solch kleiner Augenblickswahrheiten der Wissenschaft. Warum willst du in einem Kehrichthaufen wühlen, lieber Berting, wo dir als Künstler das ganze Weltall zum Tummelplatz frei steht. Früher schrieb man Gedichte über Helden und Götter, über Menschen nur, wenn sie außerordentliche Dinge wollten; jetzt wird nicht mehr das Erhabene geschildert, sondern das Zwergenhafte. Ja, man verläßt das Gebiet des Geistigen und Seelischen vollständig, stellt in den Mittelpunkt einen toten Mechanismus als Symbol: ein Warenhaus, eine Straße, ein Bergwerk und schreibt darüber Dithyramben.«

»Schließlich bedarf die Seele doch des Leibes,« warf Berting ein, »und der Leib wieder des Kleides und der Behausung. Wir sind Sklaven der Sachen, in denen wir leben. Wie die Menschen essen, trinken, schlafen, davon hängt ab, wie sie denken, fühlen und handeln. Diese Grundlage des menschlichen Daseins muß auch die Kunst anerkennen, sie kann nicht, wie sie es bisher gethan hat, nur in den Wolken schweben wollen. Auf die allernüchternste Unterlage des Alltäglichen soll sie ihre glänzenden Muster sticken. Gefühl, Stimmung, Phantasie haben wir; aber das genügt noch lange nicht, um den großen Experimental-Roman zu schreiben, so wie ihn das Ausland hat, wie wir ihn überhaupt noch nicht ahnen. Die Wissenschaft, die Technik, die Soziologie, die ganze Natur, die Welt, alles, was es giebt, müßte man beherrschen, im Detail sowohl wie im Ganzen. Wir haben ein modernes Leben, ein großes, gewaltiges. Überall drängt es sich uns in die Sinne, aber es ist gewissermaßen nur äußerlich da, seine Eindrücke bleiben auf der Netzhaut. Wir sind so von ihm befangen, so von seiner Neuheit betäubt, daß noch niemand dazu gekommen ist, es zu verarbeiten. Und es ist so riesenhaft in seinen Dimensionen, daß die Arbeit fast hoffnungslos scheint, es jemals künstlerisch zu durchdringen. Ja, wenn man den Optimismus hätte und die Arbeitskraft eines Zola!«

»Ich begreife deine Hoffnungslosigkeit nicht,« sagte Lehmfink nach einigem Überlegen. »Daß eine Fülle von Stoff vorhanden ist, der der Verarbeitung harrt, kann man doch für den Künstler unmöglich als Unglück betrachten. Es kommt eben darauf an, den Geist zu erfassen, den höheren Sinn der tausend verwirrenden Einzelheiten um uns her. Wenn der Gelehrte vor dieser Aufgabe erschrickt, so kann ich das begreifen, denn er muß Kleinarbeit leisten und wird sich möglicherweise darin aufreiben. Der Dichter aber faßt zusammen, schenkt uns einen Blick von hoher Warte aus, der uns plötzlich die dunklen Thäler der Empirie aufhellt. Der Künstler kann seinen Standpunkt gar nicht erhaben genug wählen. Ängstliches Forschen, Sezieren, pedantische Wiedergabe der Wirklichkeit überlasse er den Forschern. Ihm ist Freiheit gegeben und Intuition, er soll uns die Harmonie hören lassen aus allen Disakkorden des Lebens, die nur seinem Ohre vernehmbar ist. Muß ich dir das sagen, Berting!«

»Klingt ganz gut, Lehmfink. Du vergißt nur eins: wir Modernen sind an die Wirklichkeit gebunden mit ehernen Klammern. Unsere Vorfahren hatten es leicht; sie entfalteten einfach die Phantasieschwingen; je höher sie flogen, je mehr wurden sie bewundert. Aber inzwischen ist die Menschheit älter geworden. Die Naturwissenschaft hat sie aus ihren Träumen zum hellen Bewußtsein aufgeweckt. Die Sinne wollen zu ihrem Rechte kommen. Alles schreit nach Thatsachen. Die vorige Dichtergeneration hat sich Mühe gegeben, dem Publikum den Wirklichkeitssinn auszutreiben, alles mußte verhüllt, vergoldet, idealisiert werden. Wir lachen über diese Gestalten, die eine unmögliche Sprache sprechen, von Heroismus triefen und von bürgerlicher Tugendhaftigkeit. Dazu ein Milieu, das kein Milieu ist. Mit einem Worte: Unnatur, Mangel an Mut, Kräfte Originalität. Diesen ganzen falschen Idealismus wollen wir ausfegen. Das moderne Leben ist längst über ihn hinweggeschritten. In der Politik, im Erwerb, in der Technik herrscht der Realismus. Nur in der Litteratur sind wir um ein halbes Jahrhundert zurück. Das Ausland belächelt uns. Wir, die wir uns mit unzähligen Siegen brüsten, die wir uns anschicken, der ganzen Welt ein wissenschaftliches Gravelotte und ein industrielles Sedan zu bereiten, müssen uns einfach verkriechen, wenn man uns nach unseren künstlerischen Thaten fragt. Minnige, innige Butzenscheibenlieder, gedrechselte Professorenromane mit wissenschaftlichen Fußnoten, tönende Jambendramen, falsch nach Schiller empfunden. – Was soll ich noch weiter unser ganzes Elend aufzählen! – Du weißt doch, Lehmfink, wofür wir Jungen kämpfen, daß wir herauswollen aus der Misere. Wenn je eine Revolution berechtigt, notwendig, ja heilig ist, dann diese!« –

Fritz Berting ließ seinen Blick über die Stadt gleiten, über das ganze weite von Leben und Arbeit erfüllte Thal. Doktor Lehmfink hätte noch manches zu erwidern gehabt, aber er verschluckte es. Er wollte den Freund nicht aus seinem Träumen reißen. Er sah, daß in jenem ein Entschluß arbeite; und das schien ihm gut zu sein.

Fritz Berting sprach ein paar Worte, wie zu sich selbst: »Den großen, deutschen, naturalistischen Roman, wer den schriebe! Ein freies, rücksichtsloses Buch! Größer als Stendhal, Flaubert, Balzac und die Goncourts, als Zola und Dostojewskij. Wem das gelänge!« –

Alma blickte ihn mit scheuer Miene von der Seite an. Wenn Fritz so ernst dreinschaute, dann begriff sie den Abstand zwischen sich und ihm. Und das Bewußtsein dieses Abstandes machte sie traurig.

Berting umfaßte das ganze Rund noch einmal mit den Augen, dann nickte er befriedigt.

* * *

Sobald man das Weichbild der Stadt wieder erreicht hatte, trennte sich Doktor Lehmfink von seinen Freunden. Er hatte in der Redaktion seines Blattes zu thun, wo heute Abend Konferenz der Redakteure stattfand.

Alma hatte sich bei Fritz eingehängt. Sie war doch ein wenig müde geworden von dem ungewohnten Marschieren. Langsam schlenderten die beiden die Straße hinab; es kam ja wenig darauf an, ob sie eine halbe Stunde früher oder später in ihrem Quartier ankamen. Was wartete ihrer dort, als ein unerträglich heißes Zimmer, ein schmales Abendbrot, das man appetitlos genoß, und später ein Lager, auf dem man sich ruhelos wälzen würde, bis einen in den Morgenstunden bleierner Schlaf ohne Erquickung umfing.

Nicht immer gestattete es Fritz, daß sie sich so bei ihm einhängte. Er liebte die »Vertraulichkeiten auf offener Straße«, wie er das nannte, im allgemeinen nicht. Alma aber wünschte, wie die meisten Mädchen in ihrer Lage, alle Welt solle wissen, daß sie einander zugehörten, daß er ihr Schatz sei. Sie war unendlich stolz auf ihn. Oft genug, während sie so schritten, streifte ihn ihr Blick heimlich bewundernd von der Seite. Er hing seinen eigenen Gedanken nach, vor denen sie großen Respekt hatte. Das Mädchen war schon zufrieden, wenn er nur duldete, daß sie ab und zu seinen Arm ein wenig drückte, um ihm ein verstohlenes Zeichen ihrer Anwesenheit zu geben.

An einer Mauer, auf die ihr Weg sie gerade zuführte, war unter anderen ein großes, rotes Plakat angebracht, auf dem ein Gastwirt sein Gartenetablissement anpries. Heute Abend sollte dort bei »feeenhafter Beleuchtung« ein »Monstrekonzert« von zwei Militärkapellen ausgeführt werden.

Alma hatte Halt gemacht und schickte sich an, das Plakat von Anfang bis zu Ende durchzulesen. Fritz zog sie davon weg. »Schauderhaft!« meinte er.

Mit einem bedauernden Blick nach dem roten Zettel folgte ihm Alma. In ihrer Phantasie hatte das Gelesene eine starke Wirkung hervorgebracht. Sie glaubte wörtlich an die feeenhafte Beleuchtung, an das Monstrekonzert, und malte sich das Ganze aus als ein Paradies von Schönheit und vornehmem Genuß. Aber sie sagte nichts, obgleich sie sich lebhaft sehnte, nach der Langeweile der letzten Wochen gerade heute ein Vergnügen zu haben.

Fritz kam unerwarteter Weise selbst auf den Gedanken, daß man den Abend dort zubringen könne. »Die Musik wird zwar peinigend sein,« sagte er. »Mißverstandener Wagner und ungarische Rhapsodie im Stile eines Defiliermarsches vorgetragen. Auch auf die Beleuchtung würde ich gern verzichten, ein paar chinesische Lampions in den Bäumen und Fettnäpfchen an den Rasenplätzen. Aber wenigstens werden wir gute Luft haben. Ich bekomme die ewige Cervelatwurst, die uns Frau Klippel jeden Abend besorgt, nachgerade auch satt. Wir können uns schon mal eine Ausschweifung gönnen.«

Alma jubelte.

Man beschloß trotzdem erst nach Haus zu gehen, denn es war gegen sieben Uhr, und das Konzert sollte in der neunten Stunde beginnen.

Der Weg führte durch Straßenzüge, die im freien Felde endigten, an Lattenzäunen vorbei, über liederliches Bauland, auf dem Schutt und Kehricht abgeladen worden war. Dann ein freier Platz, dessen Hintergrund die weitläufige Anlage einer Fabrik bildete. Und wieder kamen Straßen mit häßlichen, graugelben Häuserfronten und hohen, kahlen Brandmauern.

In den Gassen dieses Viertels herrschte freies, ungeniertes Leben. Männer in Hemdsärmeln, Cigarre im Munde und Frauen in lockeren Flanellblusen lehnten zum Fenster hinaus. Ganze Familien hatten sich's auf der Straße gemütlich gemacht, wo sie in voller Öffentlichkeit ihr Abendbrot verzehrten. Kinder balgten sich und trieben mit viel Geschrei wilde Spiele auf dem Bürgersteig. Ein Leierkastenmann drehte sein Instrument und veranlaßte die Hunde der Umgegend zu kläglichem Heulen. Mädchen, modisch aufgeputzt, mit schlecht gepflegtem Haar und unsauberen Händen hatten mit einander zu tuscheln, liefen kichernd über die Straße und schielten gelegentlich nach einer Gruppe junger Burschen, die Hände in den Taschen und Hut im Genick, an einer Straßenecke standen, und vorläufig auf die Koketterie dieser Schönen nicht zu achten vorgaben. Gerüche aller Art strömten aus den offenen Hausthüren und Kellerlöchern. Die Schaufenster schienen hauptsächlich für die Fliegen da zu sein; Fliegen schwammen in Glocken und klebten schwarzen Rosinen ähnlich am Leim der Tüten und Bänder, die man ihnen als heimtückische Fallen aufgestellt hatte. Was sonst an Auslagen vorhanden war hinter den schmutzigen Glasscheiben, konnte eher abschrecken als zum Kaufen anlocken.

Unter gewöhnlichen Umständen würde Fritz Berting sich beeilt haben, möglichst schnell solchen Eindrücken zu entkommen. Heute verweilte er dabei mit einem gewissen liebevollen Interesse. Es war, als hätten diese schlampigen Weiber, diese groben Männer, die aufgeputzten Mädel, die schmutzigen Kindergesichter, als hätten die häßlichen Häuser, die ganze Straße, ihm irgendwelche wichtigen Geheimnisse zu erzählen. Der Hauch von Armseligkeit und Vernachlässigung aber, der über allem lag, seinen verwöhnten Nerven sonst ein Greuel, gab ihm heute nur den Eindruck einer intim charakteristischen Stimmung.

Alma wußte nicht recht, warum er jetzt in einem fort Halt machte und mit interessierter Miene die gleichgiltigsten Dinge betrachtete. Aber sie hütete sich wohl, ihn darüber auszufragen. So lieb er häufig sein konnte, so empfindlich und unberechenbar war er zu anderen Zeiten. Dann brachte ihn eine Frage, eine Bemerkung, ein Lachen, ganz außer sich.

Alma fürchtete sich vor Szenen. Nicht aus gewöhnlicher Feigheit. Sie ahnte dunkel, daß mit jedem Streit, den sie miteinander hatten, ein Teil des Liebeskapitals unwiederbringlich dahinschwinde, des gemeinsamen Kapitals, zu dem sie sowieso den größeren Teil beisteuerte.

An der nächsten Straßenecke gab es einen großen Menschenauflauf. Ein Mann und ein junges Weib zankten sich. Es war schwer zu erkennen, um was es sich eigentlich handelte, denn die halbe Straße hatte sich im Nu versammelt. Weiber nahmen Partei, Männer lachten und feuerten an, Kinder lärmten dazwischen. Aus allen Fenstern blickten neugierig Köpfe.

Das junge Weib in anderen Umständen, nur leicht bekleidet mit Rock und Nachtjacke, das Haar zerzaust, warf ihrem Manne, einem großen, ungeschlachten Burschen, Untreue vor. Er stand trotzig da, kam nicht zu Worte unter der Flut von Beschuldigungen, die sich über ihn ergoß. Die Frau plauderte alles aus, enthüllte das ganze traurige Familienleben, gab es der Schadenfreude der Zuhörer preis. Er ballte die Fäuste, bedrohte sie. Da trat sie dicht vor ihn hin, forderte ihn heraus, sie zu schlagen, sie ins Gesicht zu schlagen, vor der ganzen Straße sie zu schlagen, wie er es, wenn sie allein seien, so oft thue. Der große Kerl knirschte mit den Zähnen vor Wut, rollte die Augen und wagte es doch nicht, sie anzurühren.

Fritz Berting betrachtete den Vorgang mit atemloser Spannung. Alles nahm er in sich auf, jede kleinste Veränderung der Züge, die wechselnden, blitzartigen Bewegungen, jede Nuance der Stimmen. Das armselige Weib, wie sie unter der Wucht ihrer Gefühle und im Bewußtsein ihres Rechtes über sich selbst hinaus gesteigert wurde. Wie sie Worte fand von Kraft und Größe, die ihr im gewöhnlichen Leben sicherlich niemals zu Gebote gestanden hätten. Während bei dem brutalen Manne vor diesem unerwarteten Ausbruch großer Leidenschaft die feige Hundsnatur zum Durchbruch kam. – Nichts entging Fritz. Er sah die Physiognomieen der Zuschauer, ihre Lüsternheit; wie sie danach lechzten, daß jener zuschlagen möge, wie sie ein blutiges Schauspiel herbeisehnten.

Alles das nahm der Dichter in sich auf, mit einer gewissen kühlen Befriedigung den Schatz von Dokumenten bereichernd, den er, wo er ging und stand, zu vermehren bemüht war.

Als sich die Streitenden schließlich bei der Annäherung eines Polizisten ins Haus zurückzogen, verließen auch Fritz und Alma den Platz.

›Wahrhaftig!‹ dachte Fritz Berting bei sich, ›man braucht doch nur die Nasenspitze eines Gesichtes zu sehen, um den ganzen Menschen mit Leichtigkeit daraus zu rekonstruieren. Ich kenne die ganze Vorgeschichte, die intimsten Erlebnisse dieser beiden Menschen. Und nicht bloß sie, ihre Sippe, die Klasse, die ganze Straße, die Atmosphäre, das Milieu, in dem sie leben. Es steht klar und deutlich vor mir, als lebte ich seit Jahren mit ihnen zusammen, teilte ihre Genüsse, ihr Elend. Über ihre Gedanken, ihre Regungen, ihre Bedürfnisse könnte ich Rede stehen, bis ins Kleinste.‹

Bei Alma hatte das Erlebte ganz andere Gefühle ausgelöst. Sie kannte solche Szenen, wie die eben gesehene, nur zu gut. Mit geheimem Grauen erfüllte sie dergleichen. Erinnerte es sie doch an ihre traurige Kindheit. In ähnlicher Umgebung war sie aufgewachsen. Armut und Elend tragen überall in der Welt das gleiche Gewand. Schamlosigkeit, Zügellosigkeit, Mangel an Würde blickten durch die Löcher ihres zerfetzten Kleides. Wie genau kannte sie diese Auftritte auf offener Gasse, die rohen Männer, die keifenden Weiber, die gaffende, schadenfrohe Menge, wenn der Jammer der Häuslichkeit herausgeschafft wird wie Kehricht, in dem dann jedermann nach alten Knochen und dergleichen zu wühlen sich für berechtigt hält.

Fritz Berting spann das Erlebnis mit Behagen weiter aus. Ihm hatte es einen noch weit intensiveren Genuß bereitet, als der Anblick der schönen Stadt zu seinen Füßen im Abendsonnenschein.

 

Als die beiden von dem Ausfluge in ihre Wohnung zurückkehrten, sagte Frau Klippel, die Quartierwirtin, es wäre ein Herr dagewesen, der nach Herrn Berting gefragt hätte und etwas Geschriebenes zurückgelassen habe; außerdem sei auch ein Brief mit der Post gekommen.

Fritz ging ins Wohnzimmer. Er griff zunächst nach dem Brief. Der Umschlag zeigte ihm die Hand seiner Schwester. Schrieb Konstanze auch einmal wieder! – Was darin stehen würde, glaubte er im voraus zu wissen. Ihre Briefe waren sich ja alle ziemlich gleich. Sie enthielten Berichte darüber, was ihr Mann, den sie über alles bewunderte, gesagt und gethan habe, und ermahnende Worte für Fritz, der, seit er sich der Litteratur zugewendet hatte, von der Familie als verlorener Sohn betrachtet wurde.

Fritz hätte die Lektüre des schwesterlichen Briefes, der ihm schwerlich Neues bringen würde, auf später aufgeschoben, wenn nicht der Poststempel Berlin gewesen wäre, der ihn stutzen machte. Sein Schwager Wedner war in einer östlichen Provinzialhauptstadt Regierungsbeamter. Wie kam es, daß Konstanze ihm aus der Reichshauptstadt schrieb? –

Der Brief gab ihm hierüber sofort Aufklärung. Die Schwester vermeldete, daß sie nach Berlin versetzt seien. Wedners brennender Wunsch, ins Kultusministerium zu kommen, sei damit erfüllt. Sonach wäre ihr Mann nun endlich in der Stellung angelangt, in die er seinen religiösen Interessen und seiner ernsten Gesinnung nach gehöre. Daß die Versetzung außerdem auch eine Rangerhöhung und eine nicht unbedeutende Gehaltsaufbesserung bedeute, ließ die Schreiberin mit einfließen. Eines sei ihr nur wehmütig, daß jetzt, wo sie nach Berlin gekommen, Fritz gerade die Stadt verlassen hätte. Dann kamen Fragen, wie es ihm gehe, und die Bitte, ihr doch zu schreiben. Die Verstimmung, die leider zwischen ihm und Wedner bestehe, dürfe nimmermehr auch auf sie übergreifen. Sie wollten doch ja nicht vergessen, daß sie beide einzig noch übrig seien von den Geschwistern. Ganz nebenbei erwähnte die Schwester, daß Fräulein Mariechen Pauli noch immer unverlobt sei.

Fritz mußte lächeln, als er an diese Stelle kam. Konstanze blieb doch immer dieselbe: stets bereit, den Bruder für die Ehe einzufangen, um ihn damit der soliden Bürgerlichkeit wieder zuzuführen.

Eines fehlte Fritz noch zur Vollständigkeit des schwesterlichen Briefes: die Ermahnungen. Sie kamen auch und in unerwarteter Form. Neulich, so schrieb Konstanze, habe Wedner in einem Blatte, noch dazu in einem anerkannt schlecht gesinnten, eine Erzählung von Fritz gefunden. Wedner, der sonst niemals solche Sachen lese, habe hier einmal eine Ausnahme gemacht, um zu sehen, was sein Schwager eigentlich jetzt schreibe. Er sei entsetzt gewesen, habe Fritzens Arbeit eine »Verhöhnung« genannt, »alles dessen, was uns heilig ist«. Sie selbst habe das Blatt gar nicht in die Hand nehmen dürfen, könne nur aus Wedners Entrüstung ihre Schlüsse ziehen. Warum denn Fritz so etwas thue? Ob er denn gar nicht daran denke, daß er aus guter Familie stamme? Wenn der Vater das erlebt hätte, der so auf den Namen Berting gehalten habe. –

Hier hielt Fritz inne. Er war gegen Konstanzens Vorwürfe ziemlich abgebrüht und machte sich im allgemeinen aus ihren mütterlichen Winken nicht viel; wußte er doch, daß die Gute nur ein Echo war ihres Gatten. Von dem Schwager Wedner aber Verständnis oder gar Billigung seiner Kunst zu erwarten, hätte geheißen, vom Maulwurf Sinn für Astronomie verlangen. Fritz wunderte sich über Mißdeutung seines Schaffens von der Seite nicht. Wenn aber die Schwester ihm sagen wollte, was er seinem Namen schuldig sei, brachte sie sein Blut in Wallung.

Über den letzten Teil des Briefes hingegen konnte Fritz nur lachen. Die Schwester erkundigte sich, ob er denn immer noch mit »dieser Person« in Beziehung stünde, mit der er in Berlin gesehen worden sei. Sie könne ihm nicht verschweigen, was Wedner über diesen Punkt gesagt habe: daß, solange Fritz seinen Wandel nicht ändere und nicht ernsthafte Zeichen von Besserung an den Tag lege, an eine Aussöhnung nicht zu denken sei. Außerdem, so fügte die Schwester charakteristischer Weise hinzu, müsse ihm ein solches Leben doch sehr teuer kommen. Wie es denn mit Fritzens Geldverhältnissen stünde? Sie könne doch unmöglich glauben, was in der Verwandtschaft erzählt werde, daß Fritz das Seine schon völlig verthan habe. Er solle nur nicht denken, daß die Familie für ihn eintreten würde; dazu seien sie einmal nicht in der Lage und außerdem habe Wedner gesagt, müsse man es Gott überlassen, Fritz auf den rechten Weg zurückzuführen.

Mit der abermaligen Bitte, recht bald zu antworten, schloß der Brief der Schwester.

Fritz faltete das Schreiben zusammen und legte es in ein besonderes Fach, zu dem er den Schlüssel stets bei sich in der Tasche trug. Er traute der Quartierswirtin nicht, und auch Alma brauchte diesen Brief nicht zu lesen.

Dann summte er sich einen Gassenhauer, suchte die lästigen Gedanken, die ihm Konstanzens Geschreibsel erweckt hatte, loszuwerden.

Auf dem Tisch lag auch noch der Zettel von jenem Herrn, der in seiner Abwesenheit dagewesen war. Fritz nahm ihn zur Hand und trat damit ans Fenster.

Er entzifferte aus der ziemlich unleserlichen Handschrift, daß ein gewisser Karol ihn ersuche, heute abend in ein Bierlokal der inneren Stadt zu kommen; der Tisch, an dem Herr Karol sitzen würde, war genau bezeichnet.

Er kenne Herrn Berting aus seinen Veröffentlichungen, schrieb Karol, und fühle den lebhaften Wunsch nach persönlicher Bekanntschaft. Auch er sei ein Mann der Feder. Er glaube verwandte Ziele zu haben mit Berting und darum würde es ihm eine Genugthuung bedeuten, sich einmal unter vier Augen mit ihm auszusprechen.

Karol, Karol!– – Fritz strengte sein Gedächtnis an. Er glaubte sich zu entsinnen, den Namen beim Durchblättern sozialistischer Blätter einigemale unter Feuilletons gesehen zu haben. Er hatte die Artikel nicht gelesen, weil er im allgemeinen nicht viel von einer Verquickung der Kunst mit Parteipolitik hielt. Aber ein Gedicht war ihm in Erinnerung geblieben, das auch die Unterschrift »Karol« trug. Es hatte angefangen: »Laßt eure Federn Dolche sein!« und war, wie Fritz bei flüchtigem Durchlesen erschien, stark an Herwegh angelehnt. Und dieser Mann schrieb ihm jetzt, daß er die persönliche Bekanntschaft des Dichters Berting herbeisehne. –

Fritz mußte unwillkürlich lächeln. Er seinerseits sehnte sich nicht nach Begegnung mit diesem Kollegen. Es war zehn gegen eins zu wetten, daß es eine Enttäuschung geben werde.

Von dem Spaziergang etwas ermüdet, hatte er sich auf dem Sofa niedergelassen. Er überlegte, sollte er der Aufforderung Folge leisten? Es war doch eigentlich Arroganz, jemanden, den man gar nicht kannte, einfach zum Rendezvous aufzufordern mit der Behauptung, daß man »gemeinsame Ziele« habe.

Aber gerade das Selbstbewußtsein, das sich in den Zeilen ausdrückte, reizte auch wieder die Neugier, den Schreiber kennen zu lernen. Vielleicht war Herr Karol doch nicht ganz ohne litterarischen Einfluß. Man konnte nicht wissen, ob man sich nicht eine Chance verdarb, wenn man den Mann einfach an seinem Tische vergeblich warten ließ.

Eben war er mit sich ins reine gekommen, daß er den Abend diesem Karol opfern wolle, als aus dem Schlafzimmer Alma eintrat. Sie hatte sich umgezogen, ihr bestes Kleid angelegt.

»Soll ich den Sammethut aufsetzen?« fragte sie, »oder den mit den Mohnblumen?«

Da fiel ihm ein, was er ihr vorhin zugesagt hatte.

»Ach richtig, dein Monstrekonzert! – Entschuldige, Liebling, daraus kann heute nichts werden. Ich muß mich mit einem Herrn treffen, der mir geschrieben hat.«

Das eben noch strahlende Gesicht des Mädchens verdüsterte sich. Die Thränen kamen ihr sofort. Sie schluckte an irgend einem unausgesprochenen Wort und trat ans Fenster.

Fritz setzte ihr vom Sofa her auseinander, daß die Sache von größter Bedeutung für ihn sei. Er erklärte, daß er durch diesen Herrn Karol mit einem angesehenen Blatte in Verbindung kommen werde. Alma glaubte ihm nicht. Sie lebte lange genug mit Fritz zusammen, um sofort zu fühlen, wenn er es nicht ganz aufrichtig meinte.

Ihr Ohr war das der Eifersüchtigen. Alma war eifersüchtig auf jedes Ding, jeden Menschen, mochte es Mann sein oder Weib. Sie war in diesem Falle auch gekränkt. Da schrieb ein beliebiger, wildfremder Herr an ihn und sofort hatte Fritz darüber vergessen, was er ihr versprochen.

Wie hatte sie sich auf dieses Konzert gefreut! Garnicht so sehr der Musik wegen, oder der Beleuchtung, wie er wohl annahm; sondern darauf, mit ihm dorthin gehen zu dürfen, an seinem Arme, überhaupt ihn einmal wieder für sich zu haben einen ganzen Abend lang. Das war nun alles zu Wasser geworden, und seine schönsten Erklärungen änderten daran nichts.

Was bedeuteten Vernunftgründe für Alma. Sie hörte nur das eine aus seinen Worten, daß die Kunst, oder um was es sich sonst handeln mochte, ihm mehr bedeute als sie.

Sie schwieg beharrlich. Das hübsche Gesicht, das man nur immer heiter und aufgeräumt zu sehen gewohnt war, glich auf einmal einem festlichen Zimmer, in dem alle Kerzen ausgelöscht sind.

»Übermorgen ist Sonntag!« sagte Fritz. »Ich wollte längst einmal Lehmfink einladen. Dann gehen wir zusammen aus, Liebchen. Ich will sogar Sekt spendieren. Den haben wir lange nicht getrunken. Denke mal: Sekt!«

So ließ Alma sich nicht beschwichtigen. Sie hatte eine jener Enttäuschungen erlebt, die Frauen nicht leicht vergessen. Fritz kannte sie schlecht, wenn er glaubte, sie mit einem in Aussicht gestellten Sektdiner zu versöhnen. Er begriff überhaupt nicht, um was es sich für sie handelte. Wenn er ihr in diesem Augenblicke gesagt hätte: Ich werde dem fremden Herrn abschreiben, gieb du dein Konzert auf, wir wollen den Abend ganz still hier verbringen – jubelnd würde sie diesem Vorschlage zugestimmt haben. Mit ihm zusammen sein, am liebsten allein! Fühlen, daß man einander zugehöre, die Stunde genießen, die so nicht wieder kam. Übermorgen! – Was war Übermorgen? Er hätte ihr ebensogut versprechen können, daß er sie morgen heiraten wolle, das würde sie nicht getröstet haben über das verlorene Glück, das sie für heute geträumt hatte.

Er trat zu ihr, streichelte ihr die Wange und raunte ihr ins Ohr: »Nicht maulen, Liebchen! Wir können noch oft gehen. Konzerte giebt's viele.«

Aber die Stirn blieb kraus und die Augen voll Thränen. Es war so bitter zu denken, daß er ihr das anthun konnte, gerade ihr! Daß sie ihm so wenig bedeutete, nach allem, was sie gemeinsam durchlebt.

* * *

Fritz Berting und Alma Lux hatten einander in Berlin kennen gelernt, etwa vor fünf Vierteljahren. Sie war damals noch nicht lange in der Reichshauptstadt gewesen, in die ein Zufall sie aus ihrer schlesischen Heimat verschlagen hatte.

Ihr Vater war als Aufseher in einer großen Spinnerei angestellt. Sie selbst hatte von der Konfirmation ab der Mutter in der Haushaltung geholfen. Die Familie war stark, das Auskommen schmal und die Frau nicht sonderlich wirtschaftlich. Alma lernte alle Sorgen eines ärmlichen Hausstandes in früher Jugend kennen.

Dann starb der Vater nach kurzer Krankheit. Die Mutter heiratete bald darauf einen jüngeren Mann, der früher Schlafbursche im Hause gewesen war. Alma, empört über das, was ihr wie Treulosigkeit vorkam, verließ die Mutter und trat als Verkäuferin in ein Geschäft ein.

Dort sah sie ein berliner Geschäftsreisender. Er redete dem jungen, bildhübschen Mädchen zu, nach Berlin zu kommen, in der Hauptstadt wolle er ihr eine bessere Stellung verschaffen. Alma wäre vielleicht nicht auf die Lockungen des redegewandten Mannes eingegangen, wären nicht die unerquicklichen Verhältnisse in der Familie gewesen.

In Berlin erwiesen sich die Versprechungen des Reisenden als blauer Dunst. Alma besaß jedoch Besonnenheit genug, sich seinen kupplerischen Plänen zu entziehen. Auf eigene Faust suchte sie sich Beschäftigung.

In einem großen Geschäftshause für Damenkonfektion fand sie feste Stellung. Aber auch hier wurde ihr das Leben schwer gemacht. Ein jugendlicher Commis wollte sie durchaus heiraten, und einer der Chefs näherte sich ihr mit minder ehrenvollen Anträgen. Sie wechselte die Stelle, ohne daß es ihr an dem neuen Platze in dieser Beziehung besser ergangen wäre.

Die Kolleginnen verlachten sie wegen ihrer Sprödigkeit, und die abgewiesenen Männer waren nicht gut auf sie zu sprechen. Aber sie ließ sich nicht irre machen. Was sie daheim in ihrer nächsten Umgebung als junges Ding gesehen, hatte dem Mädchen einen tiefen Abscheu beigebracht vor Leichtsinn in Liebesdingen. Lieben wollte sie, aber nur, wenn der Rechte käme und nur diesen einen. Heute diesem, morgen jenem ohne Liebe sich hingeben, wie sie es bei so manchem Mädchen erlebte, das schien ihr ekelhaft und ein großes Unrecht.

Eines Tages lernte sie Fritz Berting kennen bei einem öffentlichen Balle, den zu besuchen sie sich durch eine Freundin hatte bereden lassen. Er brachte sie abends bis vor die Hausthür und bat um Erlaubnis, sie wiedersehen zu dürfen. Sie sagte nicht nein, und man traf sich von da ab häufig.

Zwar begriff Alma sehr bald, daß es sich bei Fritzens Liebeswerbung auch nicht um Heirat handle; aber es fiel ihr darum nicht ein, ihn mit den Männern, die sich ihr bisher genähert hatten, auf eine Stufe zu stellen. Ihr hatte sich mit seinem Erscheinen ein Traum erfüllt. Der Rechte war gekommen.

Fritz Berting verlangte von Alma, daß sie ihre Stellung als Ladenfräulein aufgebe, er werde für sie sorgen. Sie zogen nicht zusammen. Er besaß damals noch eigenes Vermögen und konnte sich den Luxus gestatten, zwei Wohnungen zu bezahlen. Alma wurde von ihm reichlich mit Kleidern ausgestattet; er wünschte, daß sie wie eine Dame auftreten solle. Auch verlangte er, daß sie ihre Hände schone, damit ihre Fingernägel in »anständigen Zustand« kämen. Sie that ihm den Gefallen, enthielt sich jeder groben Arbeit, obgleich das langweilig genug war; das Nichtsthun lag gar nicht in ihrem Wesen. Aber dieses Mädchen hätte schließlich noch ganz andere Opfer gebracht für den Mann, den sie liebte.

Was Fritz Berting eigentlich sei, womit er den Lebensunterhalt verdiene, hätte Alma damals kaum anzugeben vermocht. Sie kümmerte sich darum auch nicht im ersten Liebesglück. Dann als sie in aller Unbefangenheit über einen Menschen spottete, der aussehe »wie ein Dichter«, sagte er ihr: auch er sei ein solcher, und er kenne keinen höheren Titel. Sie war belustigt über seine Bemerkung, die sie für Spaß hielt, bis sie ein Buch fand, das seinen Namen als Verfasser trug. Neugierig begann sie darin zu blättern. Es waren Verse. Er nahm ihr das Buch weg; davon verstehe sie nichts. Sie erklärte stolz, daß sie auf der Schule manches Gedicht auswendig gelernt hätte. Zum Beweise begann sie zu deklamieren. Aber er hielt sich entsetzt die Ohren zu und rief: mit Uhland könne man ihn umbringen.

Mit der Zeit lernte Alma auch verschiedene seiner Bekannten näher kennen. Das waren die wunderlichsten Leute der Welt. In ihren Reden und Angewohnheiten konnte man sich gar nicht zurecht finden. Ernsthafte Dinge behandelten sie leicht und leichte äußerst ernsthaft. Die Männer waren noch nicht das erstaunlichste; aber die Damen dieses Kreises! Wie sie sich kleideten und über was für Dinge sie sprachen! – Der kleinen Alma blieb oft der Mund offen stehen. Zu schreiben schienen sie mehr oder weniger alle, Männlein wie Weiblein. Und die, die nicht schrieben, malten, traten öffentlich auf, hielten Vorträge vor hunderten und tausenden von Zuhörern.

Alma versuchte gelegentlich zu den Gesprächen auch ein Wort zu sagen; aber da sah man sie erstaunt an, als rede sie in fremder Zunge. Oder man belustigte sich über ihre Aussprache, zog sie wohl gar auf. Fritz saß mit verdrossener Miene dabei, und machte ihr, wenn sie allein waren, Vorwürfe. Sie hielt ihm vor, daß sie doch nichts dafür könne, wenn sie wenig gelernt habe. Er meinte: auf Bildung komme es in diesem Falle gar nicht an, sondern auf Geschmack. Bildung könne sie sich noch jetzt zur Not erwerben, aber Geschmack sei eine Sache der Kultur und des Taktes; die habe man oder man habe sie nicht. Das verstand sie nun wieder nicht; aber das Demütigende fühlte sie wohl heraus. Am meisten aber grämte sie sich, daß Fritz sich ihrer vor seinen Freunden zu schämen schien. Sie verhielt sich fortan ganz stille in Gesellschaft, gab nur noch verschüchtert Antwort, wenn sie direkt gefragt wurde.

So war Alma, obgleich sie mitten drin stand in einem Kreise interessanter, ungewöhnlicher Menschen, doch eigentlich einsam. Sie fühlte sich herausgerissen aus allem, was sie bisher gehabt. Freilich hatte sie ihren Fritz. Er konnte sehr lieb sein und gütig in den glücklichen Augenblicken ihres Zusammenlebens. Manchmal aber war er schroff und kalt, ja geradezu feindlich gegen sie.

Das machte, er hatte Sorgen. Sie merkte es sehr bald, obgleich er ihr nicht Einblick gewährte in seine Verhältnisse. Wie gern hätte sie geholfen! Warum war er nur so stolz? Warum verdiente er sich nichts? Sie stellte ihn einmal darüber zur Rede. Er antwortete ihr: in Deutschland habe alles seinen Marktpreis, nur nicht Verse. Als sie darauf sagte: dann möge er das Versemachen doch lassen und etwas schreiben, das Geld einbrächte, da lachte er bitter auf und nannte sie »Eva«.

Fritz Berting war jetzt ganz in Anspruch genommen von etwas Neuem. Er hatte sich entschlossen, sein Drama »Leiser Schlaf«, das alle Bühnen bisher abgelehnt hatten, auf eigene Kosten zur Aufführung zu bringen.

Er nannte es: einen »letzten Wurf«. Wenn das ein Mißerfolg sei, dann könne er sich eine Kugel vor den Kopf schießen.

Ohne alles zu verstehen, was er sagte, begriff Alma doch, daß es sich für ihn um Großes, Entscheidendes handle. Sie klagte nicht, wenn er fortan durch Proben, Besuche bei Schauspielern und Kritikern und andere Vorbereitungen für den »Tag der Schlacht« ihr immer mehr entzogen wurde.

Fritz Berting hatte auf diese Aufführung, wie auf eine letzte Karte, den Rest seines kleinen Vermögens gesetzt. Mit seiner Familie war er zerfallen. Der Vater, dem Korrektheit über alles ging, hatte ihm niemals verziehen, daß er die begonnene juristische Carriere aufgegeben und zur Bohême übergelaufen war, daß er anstößige Gedichte schrieb und Dramen, die alles andere waren als hofbühnenfähig.

Die Kunst hatte für ihn einen goldenen Boden noch nicht gehabt. Seine Gedichtsammlungen waren in preciösester Ausstattung erschienen und brachten ihm, obgleich sie im Kreise der Kenner nicht unbeachtet geblieben waren, die Herstellungskosten keineswegs zurück.

Dramen zu schreiben, hatte er sehr früh angefangen. Lessing, Schiller, Körner, Laube standen bei seinen Erstlingen Pate. Dann hatte er fünfaktige Römerdramen verfaßt, und die große von der Geschichte selbst geschriebene Hohenstaufentragödie in schlechten Jamben verballhornisiert. Durch Zufall kam ihm Grabbe in die Hände, und nun wimmelten seine Entwürfe von grausamen Lüstlingen und Bluthunden, die sich mit dem Mantel philosophischen Weltschmerzes zu drapieren verstanden. In der Zeit, wo der junge Dichter mit der lebendigen Bühne in erste Berührung kam, beherrschte das französische Sittenstück und seine Nachahmungen das Repertoire. Von da ab ließ er seine Stücke nur noch im Salon spielen. Natürlich handelte es sich um Ehekonflikte. Die Gestalt des allwissenden, die Absicht des Dichters interpretierenden, witzigen Raisonneurs, fehlte auch in Fritz Bertings Komödien nicht.

Diese Einflüsse verblaßten vor einem Gestirn von unerhörter Form und Strahlenbrechung, das damals am Himmel der deutschen Litteratur aufstieg: Ibsen.

Er wirkte wie die Entdeckung eines neuen Erdteiles. Alles war an diesem Dramatiker ungewöhnlich: die Technik, die Sprache, die Probleme, auch seine Persönlichkeit, sein Werdegang. Als eine fertige, gereifte, in sich geschlossene Erscheinung stand er mit einem Male da, auftauchend aus dem Unbekannten. Er war weit mehr als ein Theaterdichter. Wenn auch nur für seine kleine Heimat geschrieben, meinten seine Dichtungen doch die ganze Welt. Er war der Dichter der Epoche, weil er die Sehnsucht nach einer neuen Ethik zu erfüllen schien. Denn bei ihm gab es keine Staatsaktionen, keine Intriguen und Verwickelungen im Sinne des alten Theaters, das Interesse war konzentriert auf das Seelische, die Handlung verlegt in das Gewissen der Menschen. Moralisch waren seine Stücke, aber im Sinne einer neuen, subtileren, freieren Moral als die alte, nach himmlischer Belohnung schielende. Eine Moral, die auf gesundem Egoismus und kühner Selbstverantwortung ruhte. Die moderne, selbstherrliche, dem Gängelbande von Staat und Kirche entwachsene Menschheit wurde gezeigt, nach welchen Grundsätzen sie in Wahrheit lebt, welche Triebe, Bedürfnisse und Ziele sie in Wirklichkeit regieren. In die tiefsten Schichten der sozialen Heuchelei bohrte dieser Dichter hinab, an alles morsche Gestein klopfte er. Ein revolutionärer Dichter, der alte Götzen von ihren Piedestalen warf und an das Heiligste und Verehrteste kühl den Maßstab unerbittlicher Wahrhaftigkeit legte, eine neue Welt mit neuen Gesetzen für Gut und Böse, Schön und Unschön, Gesund und Krank schuf.

Fritz Berting stand zunächst vor dem Phänomen Ibsen wie überwältigt. Dann sah er keine andere Rettung, sich von dem unerhörten Ereignis zu befreien, als es sich von der Seele zu schreiben.

Das Drama, das er in dieser Verfassung schrieb, hieß: »Leiser Schlaf«. Er wollte damit zeigen, wie für das empfindliche Bewußtsein des Modernen nicht die groben Übertretungen der landläufigen Moral es sind, die den Menschen zum Schuft machen, sondern die viel feineren Verstöße, die kein Staatsanwalt verfolgt, die moralische Feigheit, die Unterlassung mutiger Thaten. Diese Dinge haben einen leisen Schlaf.

Das Drama hatte wenig äußere Handlung, war aber, wie der Autor glaubte, wirksam durch ungewöhnliche Wandlungen und Enthüllungen im Seelenleben. Leider konnte er jedoch keinen Theaterdirektor zu der eigenen günstigen Meinung bekehren, so verzweifelt er sich auch nach dieser Richtung bemühte.

Schließlich kam er zu dem Entschluß, das Stück in einem gemieteten Saale von selbst engagierten Schauspielern aufführen zu lassen.

Von vornherein stand ein Unglücksstern über Leisem Schlaf. Einer der wichtigsten Darsteller sprang noch während des Einstudierens ab, weil ihn ein berühmter Mime auf seine Gastspieltouren ins Ausland mitnahm. Bis ein Ersatz gefunden war, vergingen Wochen. Darüber rückte der Frühling heran, für das Theater die tote Saison.

Schließlich kam's aber doch zur Aufführung. Das Haus war zwar in Anbetracht der Jahreszeit immer noch leidlich besucht, aber das Publikum trug keine verheißungsvolle Physiognomie, für den, der sich auf das rätselvolle Ding, Premierenschicksal, einigermaßen verstand. Die wenigen Kritiker, die ihren Beruf höher auffassen als den eines Theater-Reporters, waren ausgeblieben. Die Zeitungen hatten ihre grünsten Jungen entsandt, weil sie der Sache nicht viel Wert beilegten. Die für Litteratur und Theater interessierten Laien, auf die der Dichter so sehr gehofft hatte, waren schwach vertreten. Was gekommen, war eine von Neugier und allerhand unsachlichem Interesse angezogene, oder auch durch ziemlich wahllos verteilte Freibillets herbeigelockte Masse von zweifelhafter Verständnisfähigkeit.

Es kamen noch einige nicht vorauszusehende Mißgeschicke hinzu, welche das Publikum von vornherein in eine dem Erfolge gefährliche Stimmung versetzten. Der Schauspieler, den Fritz Berting an Stelle jenes anderen, untreu gewordenen, herangezogen hatte, war um eines Hauptes Länge kleiner als seine Partnerin, die überhaupt aus dem zusammengewürfelten Ensemble körperlich wie geistig stärker hervorragte, als für eine einheitliche Wirkung gut war.

Und dazu ein Publikum, das nicht wußte, was es mit dem Dargebotenen anfangen sollte! Der Dialog zündete nicht, die Situationen ließen kalt, die Pointen fielen unter den Tisch. Es wollte nicht jene Verbindung eintreten, nicht jene Leitung feiner Fäden des Einverständnisses sich anspinnen zwischen Zuschauer, über den Darsteller hinweg, mit dem Dichter im Hintergrunde, die so notwendig ist für den Erfolg eines Abends.

Als der Vorhang zum ersten Male niederging, erscholl einiger Applaus. Aber die paar Leute, die durch ihre Freibillets, oder weil sie persönliche Freunde des Autors waren, sich verpflichtet fühlten, zu klatschen, wurden, als sie es gar zu eifrig trieben, schließlich durch Zischen zur Ruhe verwiesen.

Im zweiten Akte schlug die Stimmung des Publikums um. Bisher hatte man sich anständig gelangweilt, jetzt aber entstand Husten, unruhiges Hin- und Herrücken und Flüstern; ein böses Omen für den Ausgang der Sache.

Und nun der Höhepunkt des Dramas. Ein Dialog zwischen Held und Heldin, wo die Gegensätze der Naturen in einer leidenschaftlichen Szene aufeinanderplatzten. Es war einer jener Momente, die bei Premieren nicht selten sind. Die Stimmung ist dann wie bei einem Gewitter, schwer, geladen, tragisch, voll höchster Spannung. Dann spricht das Unbedeutendste mit. Ein einziger falscher Ton kann alles verderben. In solchen Momenten hat selbst die grobe Masse ein instinktives Künstlerurteil. Sie weiß es, daß in ihre Hand das Schicksal der Dichtung, ja vielleicht des Dichters gelegt ist. Dieses Bewußtsein von der eigenen Bedeutung macht jedes Ohr feiner hören, jedes Auge schärfer erkennen.

Unter Gelächter fiel der Vorhang über dem zweiten Akte. Als er sich zum dritten und letzten Male hob, zeigte es sich, daß die Schlacht verloren sei. Die Leute, die am Ulke Freude haben, hatten nun die Oberhand gewonnen. Die Schauspieler selbst aber gaben das Spielen auf, sagten nur noch ihre Rollen zu Ende.

Der Dichter hatte einige Tage vorher, als er noch des Gelingens seiner Sache sicher gewesen, die Darsteller und eine Anzahl Freunde zur Zusammenkunft in einer Weinstube eingeladen. Das Fest wurde trotz der Niederlage schließlich noch abgehalten, das einmal bestellte Diner verzehrt und dem kalt gestellten Sekt tüchtig zugesprochen. Es herrschte Galgenhumor. Maximilian Nackede, Fritzens ehemaliger Studienfreund und jetziger Dichtergenosse, tröstete den Autor in einer launigen Ansprache damit, daß eben vor manchen Stücken das Publikum rettungslos durchfallen müsse. Er feierte den Abend als einen heiligen Taufakt: die Aufnahme eines neuen Mitglieds in den Orden der Verkannten.

Die Mehrzahl der Erschienenen, Herren wie Damen, bezechten sich. Der Dichter selbst wurde, seiner Sinne nicht mächtig, von einigen ebenfalls stark schwankenden Freunden in früher Morgenstunde nach seinem Quartier geschafft.

Als er dort im Laufe des Vormittags erwachte, fand er an seinem Lager Alma, die das Gelage nicht mitgemacht hatte.

Sie wich nicht mehr von Fritz. Ohne daß er sie eingeladen hätte, quartierte sie sich bei ihm ein. Er legte ihr nichts in den Weg.

Fritz ließ alles gehen, wie es gehen wollte. Gleichgültigkeit hatte ihn befallen, als natürlicher Rückschlag gegen die fieberhafte Aufregung der letzten Wochen.

Den Gnadenstoß gaben ihm die Besprechungen, die über sein Stück in den Zeitungen erschienen. Den Jünglingen von der Kritik war sein Durchfall eine gefundene Gelegenheit, ihren Witz an Dichter und Dichtung auszulassen. Hatten doch diese Herren sämtlich mindestens ein unaufgeführtes Drama im Schubfach liegen, das wie eine feurige Kohle glimmend allen ihren Theaterkritiken zugrunde lag. Es bleibt immer eine Freude, konstatieren zu können, daß ein Rivale zu Falle gekommen ist. Und nun gar hier, wo einer versucht hatte, mit eigenem Gelde seinem überall abgewiesenen Stücke auf die Bretter zu helfen. Wie kam ein Dichter überhaupt zu Geld? – Das war gegen alle Traditionen des Standes. Der »gesunde Instinkt« der Zuhörerschaft wurde belobt, der sich gegen ein solches Experiment aufgelehnt hatte.

Berting lernte die Kollegen von eigentümlicher Seite kennen. Solange er als Lyriker ein verhältnismäßig harmloses, weil wenig einträgliches Gebiet bestellt hatte, ließ man ihn gewähren, hatte ihm sogar gelegentlich ein Wort der Aufmunterung gegönnt. Sobald er aber als Dramatiker nach einem Kranz zu greifen wagte, den jeder im stillen ersehnte, weil er mit dem größeren Ruhme auch die größeren Einnahmen verhieß, ward er verdächtig; man warf ihm Knüppel zwischen die Beine.

Die mißlichen Geldverhältnisse vermehrten die Bitterkeit seiner Lage. Fritz hatte niemals ein Budget gemacht; seitdem er in den Besitz des väterlichen Erbteils gekommen, immer nur aus dem Vollen gelebt. Jetzt war das Kapital verbraucht. Um so zahlreicher liefen die Rechnungen ein, an deren Bezahlung er niemals gedacht hatte. Er wechselte die Wohnung, um den allzu aufdringlichen Mahnern entrückt zu sein.

Eine Sendung von einigen hundert Mark, die anonym ankam, half ihm fürs erste sich über Wasser halten. Er ahnte, von wem das Geld komme. Sein Freund Nackede, der zwar selbst kein Krösus war, aber einige wohlhabende Gönner seiner leichtgeschürzten Muse in Berlin W besaß, steckte unverkennbar dahinter. Die lustigen Verse in verstellter Handschrift, welche die Sendung begleiteten, trugen ganz den Stempel Nackedeschen Witzes.

Schwer genug fiel es, solches Geschenk anzunehmen für einen, der sich noch nicht an das Leben auf anderer Leute Kosten gewöhnt hatte. Aber wenigstens hatte ihm Nackede durch seine graziöse Brücke das Betreten des ungewohnten Weges etwas erleichtert.

Ein Gedanke kam Fritz, an seinen Freund, Michael Baron Chubsky, zu schreiben. Der hatte ihm vor gar nicht langer Zeit von Paris aus geschrieben – mit einem mitleidigen Seitenblick auf die barbarischen Litteratur- und Kunstverhältnisse in Deutschland, denen er glücklich entronnen sei – Paris sei die einzige Stadt, in der ein Mensch von Geist und Geschmack atmen könne. Chubsky, der in drei Sprachen, polnisch, deutsch und französisch dichtete, hatte Fritz – allerdings im Absynthrausche – früher einmal gestanden, daß er, wäre er überhaupt der Freundschaft fähig, wahrscheinlich am ersten noch Fritz Berting mit diesem Gefühl beehrt haben würde.

An den Baron Chubsky also schrieb Fritz, teilte ihm mit, wie kläglich es ihm ergangen sei, daß er sich Berlins gründlich müde fühle, und daß er daran gedacht habe, nach Paris überzusiedeln. Chubsky antwortete mit einer Pünktlichkeit, die man sonst nicht an ihm kannte: er rate dringend ab, nach Paris zu kommen, dort sei gar kein Boden für einen deutschen Autor. Und er, Michael Chubsky, reise eben für einige Monate an die englische Küste, könne also gar nichts in der Sache thun. Zwischen den Zeilen war nur zu deutlich die Besorgnis zu lesen, daß der Freund ihm über den Hals kommen könne.

In dieser trüben Zeit, wo alle Quellen zu versiegen schienen, erfuhr Fritz Berting, was er an Alma besaß. Sie sorgte und dachte für ihn wie eine Mutter.

Er hatte ihr wohl früher in schlechter Laune vorgeworfen, sie erschlage ihn geistig mit ihrem Banausengeschwätz. Und nun wurde es für ihn zur Erquickung, sich von ihr vorerzählen zu lassen. Er fand heraus, daß sie sehr nett zu plaudern verstehe, ja er mußte gestehen, daß sie viel natürliche Beobachtungsgabe und Mutterwitz besitze. Dabei strebte sie nicht an, geistreich gefunden zu werden. Sie redete, wie ihr der Schnabel gewachsen war. Die Anklänge an den Dialekt ihrer schlesischen Heimat, die das berliner Leben noch nicht ganz verwischt hatte, gaben ihrer Sprechweise etwas anheimelnd Schlichtes.

Sein Unglück war für sie zum Glück ausgeschlagen. Das Schicksal hatte ihn hilfsbedürftig gemacht. Nun konnte sie zeigen, wie sie ihn liebte. Nun durfte sie ihm dienen und im Dienen herrschen, was im Grunde die Sehnsucht jedes liebenden Weibes ist.

Denn sie wollte seine ganze Liebe haben. Seine Zärtlichkeit bedeutete ihrer Leidenschaft nur ein magerer Brocken. Sie wollte die Seele des Geliebten. Die schnell aufflackernden und schneller verflogenen Regungen der Sinne waren ihr immer nur Abschlagszahlungen auf Höheres.

Auch er solle mit der Zeit von denselben starken Gefühlen erfaßt werden, die sie beseelten, das hoffte sie zu erreichen, indem sie sich ihm unentbehrlich machte, ihn der sanften Gewohnheit des Geliebt-seins unterjochte.

Auch noch von anderer Seite wurde in dieser Zeit für Fritz eine Art Hilfsaktion ins Leben gesetzt. Seine Familie, die nach verschiedenen Todesfällen jetzt nur noch aus der Schwester, deren Mann, dem Gatten der verstorbenen Schwester und den noch jungen Kindern aus beiden Ehen bestand, rührte sich, nachdem man längere Zeit sich um den verloren Gegebenen nicht gekümmert hatte. Sie hatten durch die Blätter von seiner Niederlage als Dramatiker gehört. Der Augenblick schien günstig, den, wie sie annahmen, kleinlaut Gestimmten, der Bohême zu entreißen, ihn dem bürgerlichen Leben wiederzugewinnen.

Sein Schwager Regierungsrat Wedner besuchte ihn in Berlin. Er bezeichnete sich, als Bevollmächtigter der Familie, bereit, mit ihm zu unterhandeln. Die Vorschläge, die man zu machen hatte, waren folgende: Fritz solle das Schreiben lassen, das seinen Namen nur diskreditiere und nicht einmal Geld einbringe; ferner müsse er das Frauenzimmer von sich thun, mit dem er zusammen lebe. Auszahlung, falls solche nötig, wollte der Schwager in die Hand nehmen. Und als letzten Punkt: Fritz sollte zurückkehren zur juristischen Carriere, die er sinnloser Weise verlassen.

Zu dem »Rettungsversuch«, wie der Schwager Regierungsrat das nannte, gehörte auch der Wink, daß man für Fritz eine junge Dame in Aussicht habe, aus achtbarer Familie, nicht ohne Vermögen, die bereit sein würde, über sein Vorleben wegzusehen und es mit ihm zu versuchen.

Dieses in allem Ernst gestellte Ansinnen seiner Anverwandten wirkte auf Fritz empfindlicher als ein Peitschenschlag auf nackte Haut. Das jagte ihn auf aus der Lethargie, die ihn nach seinem Mißerfolge befallen hatte. Nun war es Ehrensache, jenen zu zeigen, daß er ihrer nicht bedürfe, daß er sie mitsamt ihrem traurigen Rettungsversuche verachte. Die nächste Folge der sehr erregt endenden Unterredung war ein unheilbarer Bruch mit seinem Schwager Wedner.

Die Indignation über das Erlebte glühte noch in ihm, während er eine Anzahl Skizzen abfaßte, in denen er die faule Moral, die Heuchelei, die Unnatur des modernen Familienlebens der höheren Stände rücksichtslos geißelte. Und siehe da, diese Federzeichnungen, welche in verschiedenen Blättern sofort Abdruck fanden, verschafften ihm in wenigen Wochen mehr Popularität, als er mit seiner gesamten bisherigen Produktion gewonnen.

Noch einen anderen Erfolg hatte die mißglückte Einmischung der Anverwandten in seine Verhältnisse: Fritz Berting war sich seiner Liebe zu Alma erst recht bewußt geworden. In tiefer Empörung stellte er sich auf Seite der Verunglimpften. An sie war er nun mit verstärkten Ketten gebunden.

* * *

Am zweiten Tische links vom Eingang der Bierstube, in die er Fritz Berting gebeten hatte, saß der Dichter Karol. Da er die sämtlichen Zeitungen des Lokales bereits durchgelesen hatte, war er jetzt unbeschäftigt und überdachte noch einmal die Worte, die er an den Kollegen von der Feder richten wollte. Er lächelte selbstzufrieden, schon im voraus des günstigen Eindruckes gewiß; denn so rechnete Karol: welcher Mensch und zumal welcher Schriftsteller würde widerstehen können, wenn man ihm seine Dichtungen ins Gesicht lobte.

Er hatte nicht immer seinen jetzigen Namen getragen, eigentlich hieß er Silber. Aber dieser Name paßte nach Ansicht des Trägers nicht recht zu einem deutschen Dichter. In Silber lag ein harter, verdächtiger Metallklang, der sich mit dem Idealismus, den man hierzulande bei dem Sänger voraussetzte, nicht gut zu vertragen schien.

Sein Vater war von Russisch-Polen ins Reich eingewandert, hatte in einer jener rapid aufblühenden Industriestädte des oberschlesischen Kohlenreviers sich niedergelassen. Er handelte mit fertiger Herrengarderobe. Der alte Silber nahm aber auch jeden anderen Verdienst gern mit. Eine Spezialität von ihm war, bei Umzügen, Todesfällen oder auch Konkursen Sachen aufzukaufen, mit denen die Leute augenblicklich nicht wußten, wohin, um sie später mit Profit wieder an den Mann zu bringen.

Der älteste Sohn Siegfried besuchte die Realschule. Der Vater hatte ihn zum Kaufmann bestimmt. Der kleine Siegfried trat schon frühzeitig in ein Verhältnis zur Weltlitteratur; und zwar geschah dies auf nicht ganz alltägliche Weise. Unter dem Trödelkram, den der Vater allmählich in den Hinterräumen seines Geschäftes aufstapelte, befanden sich auch allerlei Bücher. Da gab es ganze Romanbibliotheken, Lexika, Encyklopädieen, Bände von deutschen Magazinen und französischen Revuen, illustrierte Zeitungen, Witz- und Modeblätter. In diese Bücherei höchst gemischter Natur versenkte sich der Jüngling, dem Frühreife und die Wißbegier seines Stammes in hohem Grade eigen war.

In der Schule bekam Siegfried zu hören, daß wir Deutschen eine Litteratur besäßen, die man in eine althochdeutsche Zeit, eine mittelhochdeutsche Zeit und eine neudeutsche Zeit einteile, und daß die großen Dichter der klassischen Periode, Klopstock, Lessing, Wieland, Herder, Schiller, Goethe seien. Siegfried Silber dachte darüber anders. Für ihn gab es nur einen Dichter, der hieß: Heinrich Heine.

Er war auf die vollständige Ausgabe von Heines Werken gestoßen. Sein geistvoller Stammesgenosse stellte ihm alles in den Schatten, was je in deutscher Sprache gesungen und geschrieben worden war. Heine zu erreichen, vielleicht zu übertreffen, wurde der ehrgeizige Traum des jetzt Sechzehnjährigen, der als Commis hinter dem Ladentische seines Vaters mit Bergarbeitern, Dienstboten und schmierigen Polacken um den Preis von Hosen, Stiefeln und Mützen hin und her feilschen mußte.

Neben seinem Ideal, Heine, gab es für ihn auch Götter niederen Ranges. Da waren Gutzkow, Laube, Herwegh, Freiligrath. Die Autoren des jungen Deutschland mit ihrer Schwärmerei für Humanität, Weltbürgertum und Tyrannensturz entsprachen seinem jugendlich freigeistigen Oppositionsdrang.

Es blieb nicht beim Lesen allein. Siegfried Silber fing an, sich mit der Feder zu versuchen. Die litterarischen Sporen wurden im Feuilleton eines heimatlichen Winkelblattes verdient. Dann fiel dem jungen Menschen von ungefähr eine Broschüre Lassalles in die Hände, die auf sein leicht erregbares Gemüt wirkte wie ein Funken, der in eine Pulvermine fällt. Von dem temperamentvoll genialen Erwecker des vierten Standes war die Brücke schnell geschlagen zu dem nüchterneren Karl Marx, und Siegfried Silber damit gewonnen für die rote Internationale.

Der alte Silber war durchaus nicht einverstanden mit der politischen Entwickelung des Sohnes. Er war ein Israelit vom alten Schlage, orthodox und konservativ, der es für die beste Politik hielt, die Leute streiten zu lassen und es mit denen, die im Regimente saßen, nicht zu verderben. Er mißbilligte auch die Beschäftigung des Sohnes mit Litteratur, die er für ein brotloses Gewerbe ansah.

Siegfried aber fühlte, daß er zu größeren Dingen berufen sei als zum Kleiderhandel. Er quittierte den Dienst beim Vater und wandte sich zunächst nach Breslau. Der angehende Litterat erkannte jedoch schnell, daß es in der Provinzialhauptstadt seinesgleichen genug gebe und setzte seinen Stab noch ein Stück weiter westwärts.

Ohne Geld, ohne Verbindungen war er in eine ihm gänzlich fremde Stadt eingezogen. Kühn that er auch den Sprung in das Wagnis einer auf die Feder allein gegründeten Existenz. Zunächst nahm er den indifferent klingenden nom de plume »Karol« an.

Er war fürs erste durchaus nicht auf Rosen gebettet. Sein Vater gewährte ihm keine Unterstützung, weil der Sohn gegen seinen Willen gehandelt hatte. Mit der Begründung eines litterarischen Rufes aber ging es nicht so schnell, wie Siegfried Silber sich das gedacht hatte. Die Blätter radikaler Richtung nahmen zwar seine Gedichte auf, deren revolutionäre Tendenz ihnen zusagte, bezahlten dafür aber kein Honorar. Die sogenannte gutgesinnte Presse aber wies die Feuilletons des kleinen, unbekannten Schnorrers hochmütig ab. Ebenso ging es ihm bei den Bücherverlegern, denen er seine Arbeiten anbot. Die Partei nützte seinen Eifer aus und seine Intelligenz. In den Debattierklubs und im Arbeiterbildungsverein war er ein gern gehörter Redner. Aber alles das brachte kein Geld. Siegfried Silber lernte das Hungern gründlich kennen.

Schließlich half er sich mit dem Abfassen von Zeitungsromanen, die er miserabel bezahlt bekam; mit Übersetzen verdiente er sich auch ein paar Groschen, außerdem schrieb er den Text zu einer Operette. Jeden Auftrag nahm er an. Sogar Gelegenheitsgedichte und Couplets für Tingeltangelsänger entflossen der Feder, die Heinrich Heine hatte übertreffen wollen.

Aber während er so um das tägliche Brot sich abmühte, in einer ganz elenden Wohnung existierte, ließ er den Mut nicht sinken. Vor dem Verzweifeln schützte ihn der zähe Optimismus seiner Rasse. Er war nach wie vor entschlossen, die Welt mit der Feder zu erobern.

Er, der in gar keinem Verhältnis stand zur Gesellschaft, der völlige Outsider, kritisierte, ja verachtete sie im Grunde. Die Menschheit betrachtete er als Material für seine hochfliegenden Pläne. Dabei besaß er nur seine Belesenheit und die Geschäftskenntnisse, die er sich hinter dem Ladentische des Vaters erworben hatte. Seine Bildung war durchaus lückenhaft, er sah die Welt aus der Perspektive des Kaffeehauses. Aber was ihm hier fehlte, ersetzte er reichlich durch Kombinationsgabe, Spürsinn und Findigkeit. Er gehörte zu der Art, denen die Zeitung Surrogat ist für die Eigenanschauung; Menschen, scheinbar ohne Erlebnisse, ohne Erfahrungen, die doch mit Hilfe der argusäugigen Presse von allem erfahren, an allem teilnehmen und über alles zu räsonnieren verstehen.

Um die Stadt, in der er lebte, kümmerte er sich ebenso wenig, um ihre Schönheiten, Kunstwerke, Altertümer, Umgebung. Für dergleichen hatte er keinen Sinn. Er war durch und durch Nomade, ohne Heimatgefühl, und darum auch ohne Gefühl für Kulturwerte.

Hingegen sagte ihm sein Scharfsinn, daß gerade hier das rechte Terrain sei zum Ausbau seiner Pläne. Es kam nur darauf an, sich eine Weile über Wasser [zu] halten, auf dem Posten zu sein und seine Augen überall zu haben. Dann mußte auch seine große Zeit kommen.

Vor allem hieß es Anschluß gewinnen an litterarische Kreise, sich Freunde machen unter seinesgleichen, womöglich eine Clique bilden, in der, soviel wußte er, das Regiment ganz von selbst auf ihn übergehen würde.

Ähnliche Briefe, wie den an Fritz Berting, hatte er schon einige geschrieben. Bisher mit negativem Erfolge. Die Leute waren einfach nicht gekommen.

Siegfried Silber fing an unruhig zu werden. Sollte er heute wieder der Geäffte sein? Er sah nach der Uhr; die zum Rendezvous vorgeschlagene Stunde war überschritten.

Endlich trat ein hochgewachsener, blonder junger Mensch durch die gegenüberliegende Thür und sah sich suchend im Lokale um. Siegfried Silber erhob sich eiligst.

»Sie sind Herr Berting, ich bin Karol!«

Man verbeugte sich gegenseitig und nahm dann an dem Tische einander gegenüber Platz.

Fritz Berting ließ das Auge etwas erstaunt auf der Erscheinung des Jünglings ruhen, der ihn hierher citiert hatte. Es war ihm nicht in den Sinn gekommen, daß der Träger des Namens Karol Jude sein könne. Nun sah er es auf den ersten Blick. In Berlin hatten Juden zu seinem vertrautesten Umgang gehört; Fritz war an sie und ihre Art gewöhnt.

Trotzdem frappierte ihn diese Physiognomie, die, offenbar durch keine Kreuzung verdorben, den Stempel echten Semitentums trug. Die Nase stark gebogen, das Gesicht bei breitem Schädel schmal. Stirn und Kinnpartie fliehend, die Ohren spitz und zurückliegend. Dunkel blitzten die mandelförmigen Augen aus dem weißgelben Gesicht hervor, wie aus einer Maske, hatten ein Leben ganz für sich. Der Bart um die roten vollen Lippen, das Haupthaar, das über der Stirn schon dünn wurde, seidenschimmernd lockig.

Eigentlich war das Gesicht nicht häßlich; wie ein Individuum, das den Ausdruck wirklicher Rasse trägt, überhaupt nicht unschön sein kann.

Die schwächliche, schon in der Jugend gekrümmte Figur, und die ausgemergelten Gliedmaßen verrieten die Zugehörigkeit zu einem Volke, das Jahrhunderte der Knechtschaft nicht gebrochen, nur äußerlich gebeugt haben.

Fritz fiel zweierlei sofort stark an dieser fremdartigen Physiognomie auf: der scharf beobachtende Blick, dem doch die Stetigkeit fehlte, und ein spöttisches Lächeln. Dem stand zur Korrektur gewissermaßen die große Höflichkeit und bescheidene Zuvorkommenheit gegenüber, deren sich der Besitzer der aufdringlich funkelnden Augen und des ironisch zuckenden Mundes befliß.

»Was will der eigentlich von dir?« war der Gedanke, den Fritz Berting nicht los werden konnte, diesen forschenden, lächelnden, in steter nervöser Erregung begriffenen Zügen gegenüber.

»Ich hatte mir schon längst gewünscht, den Dichter von ›Leiser Schlaf‹ kennen zu lernen,« begann Siegfried Silber, als sie einander an dem kleinen Tische gegenüber saßen, und der Kellner das Bier für Fritz gebracht hatte. »Nun fügt es der Zufall – – oder vielmehr, es ist nicht Zufall! In seelischer Beziehung giebt es keinen Zufall. – Es ist etwas Magisches dabei; man kann es eine höhere Art der Anziehungskraft auf immateriellem Gebiete nennen. Wenn ich mich im übrigen auch von allen Vorurteilen frei gemacht habe und mir das Metaphysische eigentlich quantité néligeable ist, so huldige ich auf einem Gebiete doch mit vollem Bewußtsein frommem Glauben. Ich glaube fest, daß es heimliche Beziehungen giebt der Geister, elektrische Ströme vielleicht, welche auf mystische Weise die Sympathie von Mensch zu Mensch vermitteln. Denken Sie doch nur, es ist geradezu wunderbar, ich beschäftige mich im Geiste viel mit Ihnen, habe Ihre Werke gelesen; der Dichter Berting ist mir längst ein geistiger Bruder. Ich sehne mich im stillen danach, ihn kennen zu lernen, unterlasse es aber, an ihn zu schreiben, weil der Brief ein so armseliger Vermittler von Gefühlen ist, vielleicht auch aus Scheu, aus Angst, aufdringlich zu erscheinen. Und da auf einmal erfahre ich, daß Sie in denselben Mauern weilen, wie ich. Auch Sie haben sich geflüchtet vor der Verständnislosigkeit der Banausen. Ich will nicht unzart eingreifen in Ihre persönliche Erlebnisse, Herr Berting. Ich glaube zudem, alles zu wissen. Die Überzeugung, daß zwischen uns eine Art Verwandtschaft nicht bloß in der Auffassung des Dichterberufs, nein auch in den Schicksalen besteht, ist stark in mir. Ich hoffe, daß Sie mir das nicht als Unbescheidenheit auslegen werden, Herr Berting! Ich bin eine impulsive Natur, und Sie haben mich warm gemacht durch Ihre Dichtungen.«

So ging es weiter. Silber erzählte seine ganze Leidensgeschichte mit ungeheurem Wortreichtum und Zungenfertigkeit. Bei Fritz überwog die Belustigung über diesen sonderbaren Kauz, der ihm nach einer eben erst geschlossenen Bekanntschaft bereits alle »Heiligtümer« und »geheimen Blutungen« seines Innern aufdeckte.

Der Dichter Karol trug zunächst die Kosten der Unterhaltung allein. Seine Rede floß dahin, wie Wasser, das in einer Rinne eilig plätschernd bergab schießt. Es ist kein Ende abzusehen, und stauen, daß es eine Tiefe bilde, kann man es auch nicht.

Fritz wußte schließlich kein anderes Mittel, um diesen stetig murmelnden Redestrom zu unterbrechen, als nach der Uhr sehend, zu bemerken, daß er heut abend noch etwas vorhabe.

Sofort zeigte Siegfried Silber eine gänzlich veränderte Miene. Er rückte näher an Fritz heran und sprach auf einmal in nüchtern sachlichem Tone. Es war, als ob ein zweiter Mensch, der Geschäftsmann, urplötzlich aus irgend einer Versenkung seines Wesens emporgestiegen wäre.

Soviel er wisse, sagte Siegfried Silber, sei Berting fremd in dieser Stadt. Fragen, wie es mit seiner pekuniären Lage beschaffen sei, wolle er aus Gründen der Diskretion nicht. Aber, daß er mit Gedichtsammlungen und einem durchgefallenen Stücke keine Schätze erworben habe, liege wohl klar auf der Hand. Die einzige Möglichkeit für den Litteraten, bekannt zu werden und Geld zu verdienen, sei heutzutage nun einmal die Zeitung. Falls Herr Berting, wie er, Karol, annehme, den Wunsch hege, mit der lokalen Presse in Verbindung zu treten, so gestatte er sich hierdurch seine Vermittelung anzubieten.

Fritz erwiderte darauf, daß, falls er mit der Presse hätte in Verbindung treten wollen, ihm dies durch seinen Freud Doktor Lehmfink ein leichtes gewesen wäre. Mit absichtlicher Kühle dankte er für die freundliche Absicht. Er konnte nicht umhin, das Anerbieten und die Art, wie es gemacht wurde, etwas aufdringlich zu finden.

Bei Nennung des Namens Lehmfink zeigte Siegfried Silber eine überraschte, wenig erfreute Miene. Auch er habe die Ehre, Herrn Doktor Heinrich Lehmfink zu kennen. Er wollte wohl noch etwas Ungünstiges hinzufügen, dem spöttischen Zucken des Mundes nach zu schließen; als aber Fritz betonte, Lehmfink sei sein intimster Freund, meinte er einlenkend: »Ein ausgezeichneter Mann, der Herr Lehmfink. Als Charakter sehr ehrenwert, gewiß! Aber ich meine doch, daß er ein wenig altmodisch ist. Seine politischen Ansichten sowohl wie sein litterarisches Urteil sind, gelinde gesagt, rückständig. Sollte Ihnen das entgangen sein, Herr Berting? Das kann ich mir bei einem Beobachter, wie Sie sind, kaum denken.«

Fritz ließ das auf sich beruhen. Silber lächelte und machte eine Bewegung, als wolle er sagen: gehen wir über solche Kleinigkeiten hinweg. Abermals rückte er näher an Fritz heran, und nachdem er sich umgesehen hatte, als fürchte er Lauscher, suchte er mit einem großen Aufwande eindringlicher Beredsamkeit Berting zur Mitarbeiterschaft für ein bestimmtes Blatt zu gewinnen. Sie brauchten eine »erste Kraft« für das Feuilleton, und Berting sei gerade der rechte Mann dafür. Er schreibe, wie man aus seinen letzten Skizzen ersehen habe, einen gepfefferten Stil und gehe rücksichtslos vor in der Kritik der höheren Stände.

Fritz war sich längst darüber klar, welcher Partei sich Silber verschrieben habe. Er erwiderte, daß er nicht die geringste Lust und Anlage in sich verspüre, für ein politisches Blatt zu arbeiten. Er würde sich gelähmt fühlen in seinem Schaffen, wenn er beständig nach einem Chefredakteur oder gar nach der allmächtigen Partei im Hintergrund blicken müsse. Ihm sei im Grunde alle Politik furchtbar langweilig, und er begreife nicht, wie Leute von Geist und Geschmack damit ihre Zeit vergeuden mochten. Auch habe er gefunden, daß Menschen, die sich einer Partei verschrieben, mit der Zeit unrettbar versimpelten. Jede Frage werde dann in das Prokrustesbett des Parteiprogramms gezwängt, wo sie verstümmelt wieder herauskomme. So hätte er es an Leuten verschiedenster Richtungen beobachtet. Am langweiligsten aber sei ihm von allen politischen Phrasen die erschienen, wonach die Massen regieren sollten. Und um vom künstlerischen Schaffen zu reden: er meine, daß politische Tendenz jedes Kunstwerk in seinen Grundbedingungen aufhebe; denn Freiheit sei der Urgrund aller Kunst. –

Auf das Wort »Freiheit« fuhr Silber, der Fritzens Rede mit nervös zuckenden Mienen begleitet hatte, wie ein Stoßvogel los.

»Freiheit!« rief er und erhob theatralisch die Arme, »Freiheit giebt es ja im modernen Deutschland nicht!« . . . . Und nun öffneten sich die Schleusen seiner Beredsamkeit von neuem.

»Wir leben in Zuständen, wie ein mündiges Volk sie krasser niemals gesehen hat. Große Dinge sind äußerlich erreicht, jawohl! Aber ich frage Sie, Herr Berting, was haben wir, die Intellektuellen, durch die Reichsgründung gewonnen? – Das Vaterland ist größer geworden, reicher, mächtiger; was nützt uns das, den Menschen mit geistigen Bedürfnissen! Ich will nicht davon reden, daß man uns nicht heranläßt an die Staatskrippe; ich verlange nichts von den Regierenden als das eine: Geht uns ein wenig aus der Sonne! Freie Bahn dem Talent! Gleiches Recht für den Adel auch des Geistes! Gleichheit vor dem Gesetz steht nur auf dem Papier! Es herrscht im neuen Deutschland schlimmere Stickluft als im dunkelsten Europa! Da ist das Philistertum, das jeden Fortschritt verbarrikadiert wie ein unbewegliches, glotzäugiges Mammut. Da ist die Streberei, die kein höheres Ziel kennt, als Regierungsrat zu sein, oder wenigstens den Leutnant der Reserve auf seine Karte setzen zu dürfen. Überall knieen wir vor dem Erfolge. Wenn man uns nach geistigen Thaten fragte antworten wir: im Jahre 1870 haben wir die Franzosen geschlagen. Oder: wir haben Bismarck. Jawohl, Bismarck! Sein schwindelerregendes Glück in allen Ehren; aber ist er für uns Junge ein Glück? Lastet er nicht auf uns allen wie ein eherner Alp? Was kann im Schatten eines solchen Kolosses gedeihen? Ahnt er etwas von unseren Schmerzen? Was sind wir vor ihm? – Dieser Alte ist unser Fluch. Eine Generation von Greisen hat das Heft in Händen. Sie lassen uns nicht aufkommen. Es ist in der Kunst genau wie in der Politik und im wirtschaftlichen Leben. Eine kleine Kaste von Junkern, Offizieren, Beamten, Priestern giebt den Ton an. Wir sind in ihren Augen Hunde. Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen, Herr Berting, damit Sie nicht denken, ich übertreibe. Ich hatte einen Freund, der als Freiwilliger diente. Mit Begeisterung war er an die Dienstzeit herangegangen, denn er liebte die Armee, nannte sie das Größte und Glänzendste, was wir besäßen, glaubte an die Phrase, daß die allgemeine Dienstpflicht eine Schule sei für das ganze Volk. Dem armen Kerl sind diese Illusionen bald genug ausgetrieben worden. Ich muß einschalten: mein Freund war von Beruf Journalist, er hatte schon verschiedene aufsehenerregende Sachen veröffentlicht, ehe er eintrat. Der Leutnant, der die Freiwilligen ausbildete, machte sich unausgesetzt lächerlich über den Beruf meines Freundes, sprach von »Federvieh«, von »verfluchter Dintenkleckserei«, von »roten Litteraten« und so weiter. Das ist charakteristisch! Die Intellektuellen werden bei uns verfolgt mit Haß und Verachtung von der hochmütigen brutalen Herrscherkaste. Wir sind ihnen das, was in alter Zeit das fahrende Volk den Schnapphähnen war. Deutschland steckt noch tief, tief im Mittelalter. Ich habe vergessen zu erzählen, daß mein Freund jetzt Sozialdemokrat ist von Überzeugung, und mit der Zeit sicher in unserer Partei eine Rolle spielen wird. Ist es dann ein Wunder, wenn wir, die gebildete Jugend, uns denen zuwenden, die gleich uns geknechtet sind, die wie wir Hunger fühlen, den doppelten Hunger nach Brot und nach Licht. Das Brot können wir ihnen nicht geben, denn wir haben selbst keins; aber Licht wenigstens können wir ihnen von dem unsrigen leihen. Die Herren oben werden es eines Tages bitter bereuen, daß sie die Intelligenz vor den Kopf gestoßen haben. Sie werden es bereuen, sage ich!«

Fritz Berting sah mit Staunen in Siegfried Silber, wie er das sprach, wieder einen ganz neuen Menschen vor sich. Die dunklen Augen glühten in leidenschaftlichem Haß, sein schwächlicher Leib zitterte vor Erregung. So gefiel er Fritz eigentlich besser. Denn diese Anwandlung war echt und ohne Pose. Es war die Empörung eines verbitterten Menschen, der empor will und überall zurückgewiesen wird. Wieviel furchtbare Erfahrungen mochten hinter solchem Hasse liegen? Fritz konnte ihm das nachfühlen; man brauchte nicht Jude zu sein, um den dumpfen Druck zu empfinden, der durch das ganze Land auf den Gemütern der Aufstrebenden lag.

 

Ein korpulenter Herr im eleganten Sommeranzug, der aus einem Hinterzimmer des Restaurants kam, trat an den Tisch, an welchem die beiden saßen. Es war der Verleger Weißbleicher. Sein ungesundes Gesicht mit der dicken Nase und den Hängebacken erinnerte an die Physiognomie eines fetten Bibers. Auf der Nase balancierte in höchst unbequemer Lage, weil er nirgends Halt fand, ein goldener Klemmer. Als der Mann den Hut lüftete, sah man, daß er nur noch wenig Haar auf dem runden Schädel hatte.

Weißbleicher fragte, ob es erlaubt sei, sich für einen Augenblick bei den Herren niederzulassen. Doch wurde die Frage nur pro forma gethan, denn er hatte dabei schon den Stuhl in der Hand und warf den Hut in die Mitte des Tisches, um von vornherein zu zeigen, daß er mit den beiden jungen Litteraten keine großen Umstände zu machen beabsichtige.

Fritz war wenig angenehm berührt, mit diesem Manne hier zusammenzutreffen. Er hatte Weißbleicher gegenüber kein ganz reines Gewissen. Als Lehmfink vor Wochen mit ihm bei dem allmächtigen Verleger gewesen war, wurde besprochen, daß Fritz Berting sofort mit seinem Roman beginnen solle. Nur unter der Voraussetzung, daß er bald etwas von dem Autor in Händen halten würde, hatte sich der sonst vorsichtige und zähe Geschäftsmann dazu bewegen lassen, Geld auf Vorschuß zu geben. In dem peinlichen Bewußtsein, noch keine Zeile an dem Buche geschrieben zu haben, war Fritz seinem Gläubiger bisher wohlweislich aus dem Wege gegangen. Nun hatte ihn die Nemesis doch ereilt; hier gab es kein Ausweichen.

Breit und protzig saß Weißbleicher da und erzählte über die Badereise, von der er kürzlich zurückgekehrt war. Er habe vorgehabt, Herrn Berting in diesen Tagen aufzusuchen; das heutige Zusammentreffen erspare ihm den Weg.

Wie Fritz erwartet hatte, erkundigte sich der Verleger sehr bald nach den Fortschritten »unseres Romans«. Der Dichter murmelte etwas von großer Hitze, und daß er schlecht disponiert gewesen sei, darum habe das Werk nicht den Fortschritt gemacht, den er selbst gewünscht. Weißbleicher sah ihn von der Seite an und meinte: »Ihr Freund Doktor Lehmfink sagte mir damals: Sie produzierten leicht.« Fritz hätte gern darauf erwidert: daß leichtes Produzieren nicht immer das beste sei, bedachte dann aber noch rechtzeitig seine Schulden, und versicherte, er werde künftighin um so fleißiger sein. Der Verleger gab ihm den Rat, das ja wahr zu machen; denn wenn er mit seinem Buche Geschäfte machen wolle, müsse es zum Weihnachtsmarkte fertig ausliegen.

»Ich will versuchen, Sie zu lancieren. Wollen mal sehen, ob wir einem von euch Jungen nicht Bahn brechen können. Ich thu's, weil ich wirkliches Interesse habe an der Bewegung. Verdienen wird man dabei nichts, wahrscheinlich sogar nur zusetzen. Aber, wie gesagt, ich habe nun mal die Liebhaberei für Neues und Originelles und bin von jeher Optimist gewesen.«

Fritz Berting wußte ganz genau, was er von der Glaubwürdigkeit solcher Worte im Munde seines Verlegers zu halten hatte. Lehmfink hatte den Mann ein »notwendiges Übel« genannt. Die listigen Äuglein in dem fetten Gesicht, die der goldne Klemmer nicht ganz verdeckte, verrieten ihn. Seine plumpe Nase war doch fein genug, um unfehlbar herauszuwittern, was auf dem Wege war, Mode zu werden. War es jetzt noch nicht Mode, um so besser! Dann konnte man es billig erwerben. Er sicherte sich die jungen Autoren, von denen er glaubte, daß sie Zukunft hätten. Er that es um der Sache willen, weil er Optimist war, wie er sagte. Diese Begeisterung, entlockte ihm wohl einmal ein paar hundert Mark, wie hier.

Nachdem er Fritz Berting noch einmal gnädig aufmunternd zugenickt hatte, erhob sich Weißbleicher. Schon halb im gehen wandte er sich und sagte: »À propos, Herr Karol! so nennen Sie sich ja wohl, junger Mann?«

Siegfried Silber beeilte sich, zu versichern, daß so sein Dichtername sei.

»Mir fällt da eben ein, daß sich von Ihnen noch ein Manuskript bei uns herumtreibt. Ich habe neulich hereingeguckt; aber es ist nichts für meinen Verlag. Sie haben sich da ein sehr wenig erfreuliches Thema gewählt. Der Gegensatz zwischen orthodoxen Juden und Reformjudentum. Es mag ganz gut beobachtet sein; aber, wie gesagt, es wirkt peinlich. Das Publikum will nun mal solche unsympathischen Stoffe nicht! Lassen Sie das Manuskript abholen, Herr Karol, ich kann es nicht gebrauchen.« –

Fritz sah, wie Siegfried Silbers bleiches Gesicht noch um eine Nuance bleicher wurde. Ein Blick flammenden Hasses aus den Augen des jüngeren Semiten folgte dem Stammesgenossen, der sich entfernte, ohne den kleinen Bocher auch nur des Lebewohls zu würdigen.

Silber faßte sich jedoch schnell, seine Gefühle verbergend. »Sie haben Glück gehabt, bei Weißbleicher anzukommen,« sagte er nervös lächelnd zu Fritz. »Er hat Renommee und Geld, und gilt für einen smarten Geschäftsmann.«

* * *

Fritz Berting war in jener Nacht gar nicht zu Bett gegangen. Nachdem er sich von Siegfried Silber getrennt hatte unter dem Vorwande, müde zu sein, unternahm er einen Gang durch die Stadt, die sich in dieser schwülen Sommernacht belebter zeigte als am Tage.

Vor den hell erleuchteten Gartenlokalen saßen Gäste, Kopf an Kopf. In den breiten, baumbepflanzten Avenuen erging sich das Volk: Arbeiter, Dienstboten, alle jene, die am Tage nicht Zeit hatten, der Stadt zu entfliehen. Dazwischen schlenderte junges Volk einher, Ladenjünglinge, Schüler mit Cigarren und Spazierstöcken, die den Eindruck wirklicher Herren hervorzurufen suchten, was ihnen hin und wieder mit Hilfe des Dämmerlichtes auch gelang. Auf allen Banken, besonders aber auf denen, die weit weg waren von den Gaslaternen, Liebespaare, deren Zärtlichkeit im umgekehrten Verhältnis stand zu der Stärke der Beleuchtung. Von einem Vergnügungsetablissement, das am jenseitigen Ufer des Stromes lag, wurden hie und da Walzermelodieen herübergetragen und brachten Stimmung in die Herzen und Lebendigkeit in die Füße der Mädchen.

Fritz Berting schritt durch dieses Treiben ohne Plan. Es zog ihn heut Nacht nicht nach Haus, obgleich er wußte, daß Alma seiner wartete. Sie konnte ihm in dieser Stimmung nichts sein. Das was in ihm entstehen wollte, was nach Ausdruck rang, gestattete keine Rivalität, bedurfte einer stillen, von allen fremden Tönen befreiten Stunde. Er selbst kannte es ja noch nicht einmal genau, das Neue, das sich unklar und verworren in der letzten Zeit und seitdem immer deutlicher gemeldet hatte, Leben heischend, Gestaltung fordernd in seinem Innern. Zwiesprache wollte es mit ihm halten; und dazu mußten sie ganz allein sein, er und dieses unfertige junge Gebilde. Er zitterte davor, wie eine Jungfrau zittern mag vor der Berührung des Mannes, scheu, voll Bangigkeit und voll wonniger Erwartung zugleich.

Er suchte einsamere Orte auf, als jene breiten, belebten Alleen waren. Bald hallte sein Schritt auf dem Trottoir langer, wenig belebter Straßenzüge. Vor ihm leuchteten in endloser Linie, allmählich zu winzigen Punkten verschwindend, die Straßenlaternen. Er schritt über einen weiten Platz, als gerade die Glocke vom Turme der alten Kirche Mitternacht verkündete. Darauf geriet er in das Gewirr kleiner, dunkler Gassen und Gäßchen. Der Polizist, der hier auf Wache stand, musterte ihn mit scharfem Blick; in solcher Gegend erweckt ein gutgekleidetes Individuum Verdacht. Ein weibliches Wesen, dessen Züge er im Dunkeln nicht erkennen konnte, flüsterte ihm hastig ein Wort zu, dessen Sinn zu dieser Stunde nicht mißzuverstehen war. Als die enge, von widerlichen Gerüchen erfüllte Gasse plötzlich endete, empfing ihn ein frischer Luftzug. Es war der Strom, der von weither aus den Gebirgsgründen, Wiesen und Wäldern, in denen sich seine Wässer sammelten, diesen erquickenden Hauch in die städtische Schwüle brachte.

Nun wußte Fritz auf einmal ein Ziel für seine Wanderung. Hinaus aus dieser Enge, immer hinwandern am Laufe des Flusses, der ihm vorkam wie ein trauter, gleich ihm nach Einsamkeit dürstender Freund. Unterhalb der Stadt, wo er zwischen flachen Ufern dahinströmte, war eine Stelle, die Fritz liebte. Durch Zufall war er neulich in die Gegend gekommen bei einem Abendspaziergange mit Alma.

Dorthin lenkte er seine Schritte. Die Dunkelheit verhüllte die Häßlichkeit der Schuppen, Kohlenhaufen, Fabriken, Dampfessen, die hier überall die Häuserreihen unterbrachen. Endlich war er außerhalb des Bereichs der Gebäude und schritt auf einem langen Steindamm hin.

Wie viel schöner das alles noch war bei Nacht! Im Wasser spiegelte sich der Mond. Ein leichter Nebel lag über dem jenseitigen Ufer. Es herrschte in der Stille doch ein heimliches Leben und Weben. Die Natur schlummert nicht in den Sommernächten. Aus dem Weidengestrüpp längs des Dammes ertönte der verschlafene Ruf von Wasservögeln. Insekten zirpten im Grase, Nachtfalter umsurrten ihn. Bald hatte er auf der einen Seite freies Feld. Aber hinter ihm der leuchtende Ausschnitt der Himmelsglocke zeigte die Stelle an, wo die Stadt lag, von der sich der nächtliche Wanderer schnell entfernte.

Er atmete auf. Einsamkeit! Das war es was ihm gefehlt hatte in der letzten Zeit. Nicht die Hitze hatte ihn am Schaffen gehindert, wie er dem Verleger gegenüber behauptet; nein! Die Anforderungen, die das Leben an einen stellte, die Zerstreuungen, zu denen es einen stetig verführen wollte; ja selbst Liebe und Zärtlichkeit der Freundin, alles, alles waren ebensoviel Hindernisse.

Fritz Berting gehörte zu den Künstlern, die nicht produzieren können, wenn Menschen um sie sind; deren Erfindungskraft wie gelähmt ist, wenn ein fremdes Auge auf ihnen ruht. Die bloße Anwesenheit eines anderen im Zimmer verursachte ihm peinigendes Schamgefühl, erstickte jeden Gedanken im Keime. Selbst Alma störte ihn, auch wenn sie garnicht sprach, wenn sie nur mit ihrer Näherei dabei saß. Das Mädchen kannte diese Eigenheit, verhielt sich so still wie möglich. Aber dann war es wieder ihr Schweigen, was ihn verdroß. Er lauerte gewissermaßen auf den Moment, wo sie ihn stören würde. Und geschah es, dann warf er ihr vor, durch ihr Verschulden sei ihm wieder einmal der Faden abgerissen. Das gab dann einen wundervollen Grund, an einem solchen Tage die Arbeit ganz und gar ruhen zu lassen.

Von dieser unfruchtbaren Stimmung, die ihn schon seit Wochen in ihrem Banne gehalten hatte, fühlte er sich heute Nacht endgiltig befreit. Schon am Nachmittage hatte er es empfunden, beim Anblick der schönen Stadt, die Lehmfink ihnen gezeigt hatte, daß sich etwas rege, sich melde in ihm, zum Leben befreit sein wolle von ihm. Ein unruhiges, banges, süßes Gefühl, wie es den Menschen befällt, der eine große Idee empfangen hat. Dazwischen hatte er an allerhand andere Dinge gedacht, sich mit verschiedenen Leuten unterhalten, neue Eindrücke aufgenommen. Aber er hatte bei alledem gewußt: das ist nicht das Wesentliche. Viel viel wichtiger war das, was in ihm vorging. Mit Namen konnte er es noch nicht nennen; aber doch war es da und wuchs, ohne sein Dazuthun.

Er ging und ging. Das Plätschern der Wellen ward ihm zur rhythmischen Begleitung seiner Gedanken. Nichts Anregenderes und Vertraulicheres als das strömende Wasser.

Solch ein Fluß ist ein lebendiges Ding, ein Wesen, von eigenem Willen beseelt, und doch ein stiller unaufdringlicher Geselle, ohne Verlangen und Neugier, nur mit sich und seinem Rinnen beschäftigt. Beständigkeit und Wechsel in einem, jung und uralt zugleich. Ein Bild des unaufhaltsamen, rätselhaften, unberechenbaren Lebens.

Die Gedanken eilten, als würden sie von den glitzernden Wellen leicht davongetragen, in unermeßliche Fernen. Rückwärts und vorwärts schaute der Dichter. War sein Dasein nicht wie dieser Strom? Das kleine Stück, welches sich dem Auge darbot, die Gegenwart, hell erleuchtet, dann eine Biegung des Laufes – über das Heute sah niemand hinaus. Und die Vergangenheit, aus den Träumen der Kindheit verschleiert auftauchend, wie ein dünnes, blitzendes Band aus Nebeln. Der Sinn des Ganzen ein Rätsel! Einiges, wo ein Lichtstreif hinfiel, sah man, dahinter Strecken, die grau waren. Bis sich die letzte Spur verlor, in dem Dunkel der Herkunft.

Wo kam er her? Wo ging er hin? Wer war er? –

 

Wenn Fritz Berting in Augenblicken der Selbstbetrachtung überschlug, was wohl an den sechsundzwanzig Jahren seines Lebens das Außerordentlichste sei, das Wertvollste, dasjenige, was ihm Lust und Verlangen gab, dieses Leben weiterzuführen, so war es das Bewußtsein, ein Dichter zu sein.

Seine Entwickelung war nicht auf ebener Bahn hingegangen. Zum Dichter hatte er sich gebildet im scharfen Gegensatz zu seiner Umgebung.

Die Kindheitseindrücke hafteten nicht tief, verliehen seinem Denken und Dichten nicht das Lokalkolorit eines bestimmten Gaus, einer bestimmten Landschaft. Sie konnten es nicht; denn Fritzens Vater gehörte jener Klasse moderner Nomaden an, den Beamten, die heute hierhin, morgen dahin beordert werden durch den Dienst, ihre Zelte abbrechen und aufstellen müssen, nicht wie und wo es ihnen gefällt, sondern nach Bestimmungen, die irgend ein Mensch in irgend einem Ressort weit weg in der Hauptstadt trifft.

Geheimrat Berting war ein Mann von Ehrgeiz; ein Mann, den die Regierung seiner Gewandtheit und Schneidigkeit wegen gern auf schwierige Posten stellte. Von Geburt Hannoveraner, war er nach dem Jahre sechsundsechzig mit fliegenden Fahnen zum Sieger übergegangen. Man hatte ihn zunächst nahe der östlichen Grenze angestellt, in jenen Provinzen, wo Preußen auch im Frieden beständig unter Waffen steht gegen die Polen. Dann war Berting plötzlich zur Schlichtung schwieriger Arbeiterverhältnisse in das westfälische Kohlenbecken versetzt worden. Schließlich langte er wieder in seiner Heimat im Hannoverschen an.

Fritz, der als Kind und als halbwüchsiger Mensch diese Versetzungen mitgemacht hatte, empfing von der wechselnden Szenerie keinerlei starke Impulse. Die Atmosphäre im Vaterhause blieb auch in den verschiedensten Städten immer die nämliche. Wie die Möbel und der Hausrat, die man von einem Ende Deutschlands zum andern mit sich herumschleppte, ungemütlich, steif und langweilig, so waren auch Sitte und Gewohnheit des Hauses ohne Frische, Natürlichkeit und Farbe. Es herrschte in der Geheimratsfamilie der auf die Häuslichkeit übertragene Ton des Bureaus, korrekt, pedantisch, frostig, der Entwickelung einer Individualität, nun gar einer künstlerischen, direkt feindlich.

Später verwunderte sich Fritz oft selbst, woher er eigentlich die »Lust am Fabulieren« habe. Vom Vater gewiß nicht. Das mütterliche Angesicht verschwamm ihm undeutlich in der Erinnerung; ihr Wesen hatte keinen festumrissenen Eindruck hinterlassen. Für das Kind war ihre Persönlichkeit ausgelöscht, als sie früh starb. Aber in späteren Jahren hatte Fritz manchmal die undeutliche Empfindung, daß er der Frau, die ihn die ersten Kinderlieder gelehrt und ihm später schöne Märchen erzählt hatte – soweit der Gatte solche Allotria gestattete – doch mehr für seine Entwickelung verdanke, als sich zahlenmäßig nachweisen ließ.

Zu seinen beiden älteren Schwestern stand Fritz auch nur bestenfalls im Verhältnis der Gleichgiltigkeit. Er versäumte dadurch jenen glücklichen Zustand harmloser und intimster Neigung vom Knaben zum Mädchen, der eben nur zwischen Bruder und Schwester möglich ist; eine Erfahrung, die für den werdenden Mann von größtem Segen werden mag. Fritzens Schwestern waren daran schuld, daß ihm dieses Glück nicht zuteil wurde. Die jungen Damen betrachteten den jüngeren Bruder mehr oder weniger als höchst unnötigen Ballast für die Familie und als ein Hindernis vor allem für ihren Plan, sich möglichst schnell und möglichst gut zu verheiraten. Beide erreichten diesen Lebenszweck in mehr oder minder vollkommener Weise, und verließen leichten Herzens das Vaterhaus, in dem jetzt nur der alternde Geheimrat und der minderjährige Fritz zurückblieben.

Innerhalb der einzelnen Schulen, die Fritz in den verschiedenen Städten der väterlichen Residenz aufsuchte, bestanden große Unterschiede der Schülerschaft, des Lehrkörpers, der Einrichtungen. Zweierlei nur schien sich an allen Stätten humanistischer Bildung gleich zu bleiben: der pedantische Eifer, mit dem man bestrebt war, den jungen Leuten die Sprachen des Altertums einzupauken, und als Gegensatz dazu: die Vernachlässigung der Muttersprache.

In der Provinzialhauptstadt, in deren höchstem Regierungskollegium der alte Berting schließlich einen Ruheposten erhielt, gab es ein gutes Theater. Fritz, der sich daheim in der steifen Gesellschaft des ältlichen Herrn, der viel an dem Sohne herumzunörgeln fand, nichts weniger als wohl fühlte, wurde zu einem eifrigen Theaterbesucher.

Er sah staunend die Dichter, welche ihm die Trockenheit des Litteraturunterrichts nahezu verekelt hatte, hier in jugendlicher Kraft und Frische auferstehen. Er machte die Bekanntschaft jener Welt von unvergänglicher Gedankenfülle, die den schlichten Namen trägt: Shakespeare. Er lernte nun auch die Dichter unseres silbernen Zeitalters kennen, die das Gymnasium ihm unterschlagen hatte. Dazwischen hinein sah er direkt aus Paris Importiertes oder doch nach Pariser Modell Gearbeitetes. Das Talmi vom Edelmetall zu unterscheiden, war er noch zu jung. Er nahm mit gierigem Appetit alles, was geboten wurde, kritiklos in sich auf.

Die drastische Kraft des lebendigen Theaters übte auf die leicht erregbare Phantasie des jungen Menschen fascinierende Wirkung. Er stand gerade in dem kritischen Alter, wo im Jüngling sich der Mann schüchtern zu regen beginnt. Wo der Körper sich reckt und streckt, der Bart sprießt, die Stimme wechselt. Jene komisch rührende Zeit des männlichen Backfischtums, in der alle Gesetze regelmäßiger Entwickelung plötzlich aufgehoben erscheinen, wo der Junge ängstlich staunt über das, was sich in ihm und an ihm vollzieht wie die Wirkung einer fremden Macht. Eine Periode der scheuen Träume und Wünsche, lächerlicher Einbildungen und dreister Eroberungspläne. Nichts ist da im Gleichgewicht; die Gliedmaßen scheinen einander zu bekämpfen, kein Ebenmaß, weder im Körper noch in den Funktionen; und auch in der Seele herrscht derselbe Anarchismus.

In dieser Zeit meldet sich tief beunruhigend der Trieb zum anderen Geschlecht. Die Liebessehnsucht tritt mit jener elementaren Kraft auf des Naturereignisses, die Hüllen der Schüchternheit und Scham sprengend, rücksichtslos wie alle Lebensprozesse.

Das weibliche Wesen, das Fritzens erste Liebe entzündete, war die Heroine des Theaters. Eine Person von reifen Formen mit ausdrucksvollen Zügen, eine echte, weithin wirkende Bühnenerscheinung. Sie war ungefähr doppelt so alt wie Fritz, verheiratet und hatte Kinder. Was bedeutet das einem verliebten Jüngling! – Er sah in Frau Korsewska überhaupt nicht ein irdisches Weib, für ihn war sie ein Wesen aus einer anderen Welt. Es kann solcher Leidenschaft, über die zu lachen oder entrüstet den Kopf zu schütteln leicht ist, etwas eigen sein wie religiöse Hingebung, eine Inbrunst die nur die junge, unentweihte Seele in solcher Kraft zu empfinden vermag.

Die Briefe des Primaners an diese Dame fanden keine Beantwortung; aber einen dem liebeglühenden Fritz völlig unerwarteten Erfolg hatten sie: der Gatte der Schauspielerin, ein pensionierter Offizier, suchte Fritzens Vater auf und bat ihn, seinem Filius zu raten, nicht soviel Porto anzulegen für Briefe, welche der Adressatin anfangs äußerst belustigend gewesen, auf die Dauer aber doch lästig würden.

Das war einer jener Schläge, die das jugendlich unbewehrte Gemüt treffen, wie Ruten einen entblößten Rücken. Frühe Liebe wurde hier mit roher Hand ausgemerzt gleich einem Verbrechen, statt behandelt zu werden als verzeihliche Verirrung.

Fritz hatte das Unglück, in dieser Krisis an seinem Vater nicht einen Freund zu haben, sondern einen korrekt pedantischen Aufseher. Geheimrat Berting fand dem Fehltritte seines Sohnes gegenüber kein anderes Gefühl als das moralischer Entrüstung. Auf den Gedanken, daß Fritz Schmerzen leide, daß er weniger der Strafe als des Zuspruchs bedürftig sei, kam er nicht. Damit war für den Vater endgültig die Gelegenheit versäumt, das Vertrauen des Sohnes zu gewinnen.

Es wuchs Gras über diese Angelegenheit, die Wunde vernarbte äußerlich; denn in jenem Alter bietet die Natur wunderbare Heilkräfte. Aber bei Fritz blieb, ohne daß er es selbst wußte, etwas verkapselt zurück, ein dumpfes Mißtrauen gegen den Vater, eine allgemeine Verbitterung und frühreife Weltverachtung.

Das Erlebnis bewirkte bei dem Gymnasiasten nicht etwa »Zerknirschung und innere Einkehr«, die der Vater verlangte, sondern höhnischen Cynismus als Reaktion seiner Verzweifelung. Der Besuch des Theaters war ihm streng untersagt; aber er wußte sich anderwärts schadlos zu halten. An Stelle jener ersten idealen Liebe trat ein durchaus realer Liebeshandel. Bei einer drallen Kellnerin fand der junge Mensch Erhörung seiner Wünsche.

Schulden beim Wirt, Händel mit einem eifersüchtigen Freunde der Schönen, Anzeige beim Vater, waren die unausbleiblichen Folgen dieses frühen Liebesverhältnisses.

Geheimrat Berting fragte sich in tiefer Bekümmernis, wie gerade er zu einem so ungeratenen Jungen komme. Daß er vielleicht selbst Schuld habe an den Ausschreitungen des Sprößlings, sagte sich der alte Mann nicht.

Das Maturitätsexamen wurde trotzdem zum Staunen aller Beteiligten bestanden. Hierauf hieß es: sein Jahr abdienen. Fritz trat in Berlin ein, wo er gleichzeitig an der Universität für die juristische Fakultät immatrikuliert war. Er fühlte nicht den geringsten Trieb in sich zum Studium der Rechte; aber sein Vater, von dem er vorläufig noch wirtschaftlich abhängig war, verlangte von ihm, daß er diese Karriere ergreife. Der alte Geheimrat würde das Ansinnen toll gefunden haben, sich mit dem grünen Jungen über die Wahl eines Lebensberufes zu verständigen.

Als Freiwilliger lernte Fritz alle die Vergnügungen bedenklichster Natur kennen, welche Berlin für einen jungen Menschen von ungestümer Sinnlichkeit zu Tages- und Nachtzeiten feilbietet. Der alte Herr fand zwar, daß der Militärdienst etwas teuer zu stehen komme; aber er bezahlte, wenn auch murrend, was von ihm verlangt wurde.

Fritz hatte in diesem anstrengenden Jahre, das ausgefüllt war vom Dienst und den fast noch größeren Strapazen eines ausgelassenen Lebens, weder Zeit für sein Fachstudium noch für irgend welche anderen geistigen Interessen gefunden. Nur zur Musik gewann er ein neues Verhältnis. Durch einen seiner Kameraden wurde er in die Wunderwelt eingeführt, die Richard Wagner heißt.

Dichterische und musikalische Kompositionen, denen dieser große Verführer aller Sinne Leben gegeben, stürmten mit überwältigender Kraft auf den Jüngling ein und betäubten ihn eine Zeit lang allen anderen Stimmen gegenüber. Und Hand in Hand mit dem Komponisten des Tristan kam ein anderer Magier über seine vom Pessimismus schon ergriffene Seele: Schopenhauer. Der eine führte ihn ein in die Schrankenlosigkeit mystischer Urgefühle, der andere lehrte ihn die bewußte Verachtung der Welt und die Flucht ins »Nirwana«. Von dem Verfasser »der Welt als Wille und Vorstellung« war die Brücke schnell geschlagen zu Hartmann, zu Vogt, Moleschott und Büchner. Und nachdem der junge Mensch Blut geleckt hatte beim philosophischen Materialismus, suchte er folgerichtig die Ergänzung solchen Weltbildes in der Naturwissenschaft. Abermals ging ihm eine neue Welt auf mit Darwin und der Evolutionstheorie.

Daß ein Mensch, der so schwere Bissen zu verdauen hatte, nicht Zeit finden konnte, sich auf das Staatsexamen vorzubereiten, lag auf der Hand. Fritz hatte wohl die Unterschriften der Herren Professoren über all die Collegien, die er nicht gehört hatte, in seinem Heft stehen – denn das kontrollierte der Vater – aber sein Kopf blieb völlig unberührt von Pandektenlehre, Civilprozeß und anderen Materien der Rechtsgelahrtheit. Der Geheimrat aber drängte zum Examen; denn er war für den Sohn womöglich noch ehrgeiziger, als er es seinerzeit für sich selbst gewesen.

Fritz wurde sich immer klarer, daß ihn von der Welt des Vaters etwas Unüberbrückbares trenne, das hieß: moderne Weltanschauung. Der Alte stand auf der Seite, die ihm seine siebzig Jahre anwiesen; der Sohn war auf weiter Fahrt begriffen, deren Ende niemand absehen konnte.

Fritz hatte keinerlei Fühlung mit den studentischen Verbindungen, den Couleuren, oder den freien Vereinen. Alles Kommentwesen war ihm zuwider. Dafür verkehrte er in einem Klub, der sich aus Menschen der verschiedensten Berufe und Klassen zwanglos zusammen gefunden hatte. An zwei Abenden der Woche traf man sich, um zu disputieren, Vorträge zu halten und anzuhören, die neuesten Ereignisse des öffentlichen Lebens, der Litteratur und Wissenschaft beim Glase Bier und der Cigarre durchzuhecheln.

Da waren Künstler aller Schattierungen, Menschen der verschiedensten religiösen Bekenntnisse; doch wogen die vor, welche gar keine Religion hatten. Die politische Gesinnung der meisten war radikal. Sozialdemokraten gab es da und Juden – viele waren beides – auch vereinzelte dem Anarchismus nahe stehende Persönlichkeiten. Geistiges Proletariat, ewige Studenten, gescheiterte Journalisten, Menschen, welche alten, abgetragenen Kleidern glichen, deren Farbe und Stoff überhaupt nicht mehr zu ergründen ist, deren Beruf, wenn eine Definition dafür gefunden werden muß, höchstens der war: Zeitgenosse zu sein.

Die Vorträge, welche im verräucherten Hinterzimmer eines obskuren Lokales einer wenig bekannten Gegend des östlichen Berlins abgehalten wurden, die Debatten, die sich daran knüpften, waren, entsprechend der buntscheckigen Gesellschaft, kraus und ungleichwertig genug. Das Panier, das diese Corona zusammenhielt, war jedoch im Grunde kein unedles. Sie hatten eine Hoffnung, einen Glauben, ein Ideal, eine Richtung in die Zukunft. Sie wollten etwas, wenn auch in verworrener Weise, sie träumten von großen Thaten der Kunst und Wissenschaft, ersehnten eine Wandlung der Verhältnisse auf allen Gebieten. So verschieden sie sein mochten nach Herkunft und Lebensgang, eines war ihnen gemeinsam, daß sie die Gegenwart verdammten, und daß sie von der Zukunft Großes erwarteten. Befreiung wollten sie aus den Fesseln des Dogmas, der Schablone, der Konvention, von denen sie sich überall bedrückt und gehemmt fühlten. Ein Durst erfüllte sie nach Freiheit, ein Heißhunger nach Wahrheit und Schönheit. Sie machten von dem Rechte der Jugend reichlich Gebrauch, das Bestehende niederzureißen und groteske Luftschlösser an seine Stelle zu setzen. Sie schlugen Schlachten mit Worten, verdammten allmächtige Staatsleute in Grund und Boden, vernichteten Modekünstler durch ihre Kritik, entthronten wissenschaftliche Theorieen und Systeme, die Jahrhunderte lang gegolten hatten, an einem Abende. Sie gründeten Zeitungen, die es niemals auch nur zum Erscheinen brachten, und beschlossen Theateraufführungen, zu denen außer den stets vorhandenen aufführungsbedürftigen Dramatikern nichts weiter da war.

Aber alles das nicht zum Spaß, sondern in jenem bitteren, fanatischen Ernst der ohnmächtig Einflußlosen, denen nicht gestattet ist, ihren Hoffnungen zu leben.

Es war der uralte Kampf, der von Anbeginn durch die ganze Welt tobt; die Revolution der Jugend, die Empörung neuer Generationen gegen das Althergebrachte, Eingerostete, der knirschende Haß der Aufstrebenden gegen die, welche, auf ihren Erfolgen ausruhend, das Heft in Händen halten.

Weil man an das wirkliche Leben nicht heran konnte, weil man jenseits der Barriere stand, welche von der Praxis die Theorie trennt, ergriff man das einzige Mittel, das zur Verbreitung seiner Ideen übrig blieb: das Wort, das gesprochene wie das geschriebene.

Die einen drückten ihren Schmerz in lyrischen Gedichten aus, die anderen reformierten die Welt durch Leitartikel. Eine Anzahl von ihnen und nicht die wenigsten, legten ihren Protest gegen die bestehende Gesellschaftsordnung in Dramenform nieder.

Fritz Berting bildete in dieser Gesellschaft eine auffällige Erscheinung. Er stammte aus geordneteren Verhältnissen, als die meisten Mitglieder dieses Klubs. Das was ihn zu jenen Bohemiens hinzog, die in Kleidung, Sprache, Manieren seinen von der heimischen Kinderstube her verwöhnten Ansprüchen durchaus nicht genügten, war eben jenes verwandte Bedürfnis nach Befreiung und Selbständigkeit, nach Ausleben und Sich-bethätigen-dürfen.

Das Verhältnis des Sohnes zum Vater wurde immer unerträglicher, je fester der alte Herr auf seinem Willen bestand, daß Fritz die Staatscarriere einschlage, und je deutlicher der junge Mann erkannte, daß die Erfüllung des väterlichen Wunsches gleichbedeutend für ihn sei mit Lebendig-begraben-sein.

Gerade weil Fritz aus einer höheren Schicht der Gesellschaft stammte als seine Genossen, lernte er die Engigkeit der Konvention und die Unduldsamkeit des Vorurteils viel bitterer verspüren, als jene, die, von Anfang an niederer Herkunft, überhaupt nicht deklassiert werden konnten. Als seine erste Gedichtsammlung erschien, erlebte er einen Sturm der Entrüstung in der ganzen Verwandtschaft und Freundschaft. Alte Schulkameraden von ihm, jetzt Offiziere oder Korpsstudenten, ließen ihn, wenn er gelegentlich mit ihnen zusammentraf, durch ihre Zurückhaltung deutlich merken, daß man ihn als einen Verdächtigen betrachte. Er schien in den Augen dieser Leute abgefallen von den Traditionen des Standes, indem er »unter die Litteraten« gegangen war.

Es mußte früher oder später zu einem Bruche kommen zwischen Vater und Sohn. Als Fritz, sobald er mündig geworden, das mütterliche Erbteil für sich verlangte, erhielt er das Geld, welches ihm ja nicht vorenthalten werden konnte, zwar ausgezahlt, aber der Vater machte ihn gleichzeitig darauf aufmerksam, daß, wenn Fritz statt einen soliden bürgerlichen Beruf zu ergreifen, weiterhin in anrüchiger Gesellschaft verkehre und »lascive Bücher« schreibe, er ihn enterben werde. Fritz antwortete einige Zeit nach Ergehen dieser väterlichen Drohung mit der Veröffentlichung einer zweiten Gedichtsammlung, die alles, was der alte Herr an der ersten verwerflich gefunden hatte, in verstärktem Maße aufwies.

Von da ab war das Tafeltuch zwischen ihm und der Familie zerschnitten. Als der Geheimrat ein Jahr darauf starb, fand es sich, daß Fritz im Testament auf das Pflichtteil gesetzt war.

Nun folgten jene Jahre in Berlin, während deren Fritz Berting mit seinen Dramen vergeblich bei den Bühnenleitern, Dramaturgen und Theateragenturen antichambrierte. Der Disputierklub ging ohne Sang und Klang auseinander. Einige wenige von den jungen Leuten rangen sich durch, kamen unter das Notdach einer Redaktion oder ergriffen den ersten besten Beruf als Rettungsplanke. Viele tauchten unter auf Nimmerwiedersehen in der dunklen Woge des berliner Lebens. Fritz machte neue Bekanntschaften. Sein Geld halfen ihm Freunde und noch schneller Freundinnen durchbringen.

Er fragte sich manchmal, wenn er seine Lage bedachte, seine Mittellosigkeit, den geringen Erfolg seiner Dichtungen, ob es nicht doch weiser gewesen wäre, wenn er dem Wunsche seines Vaters folgend, die juristische Laufbahn eingeschlagen hätte. Dann säße er jetzt als wohlbestallter Herr Referendar mit Aussicht auf Beförderung, könnte Leutnant der Reserve auf seine Karte schreiben, wäre Mitglied der guten Gesellschaft und eine geschätzte Stütze von Thron und Altar.

Er mußte zugeben, daß sein Dasein dann ein glänzenderes und bequemeres gewesen sein würde. Und dennoch konnte er nicht bereuen, das andere Teil erwählt zu haben. Es kam ihm vor, als ob – wenn an seinem Leben überhaupt etwas gut und der Achtung wert war – es jener Entschluß sei, mit dem er, vor die Wahl zwischen Philistertum und Künstlerlaufbahn gestellt, sich entschieden hatte für das, was ihm der edelste Beruf dünkte auf Erden: der des Dichters.

* * *

Schon lange glitzerte das Mondlicht nicht mehr über den Wellen. Weißlicher Nebel zog herauf aus unsichtbaren Verstecken, wo er im Verborgenen gelauert hatte, und verhüllte allmählich das ganze weite Flußthal. Zugleich lichtete sich der Himmel im Osten. Kälte in der Luft und Feuchtigkeit am Boden kündeten das Ende der lauen Sommernacht.

Fritz kehrte um. Da er nicht wußte, wo er sich befand, hielt er es für das beste, genau auf dem Wege, den er gekommen, nach der Stadt zurückzukehren. Ihn fröstelte in der Morgenluft und er fühlte den Nachtmarsch in seinen Gliedern. Aber er war glücklich.

Das was er in dieser Nacht ersonnen hatte, konnte ihm nicht wieder genommen werden. Es war etwas da, etwas, das mehr bedeutete als Gefühl und Stimmung. Vor seinem inneren Auge stand es. Nur die Hand brauchte er auszustrecken, und er hielt es fest.

Er wußte jetzt, was der leitende Gedanke seiner Dichtung sein würde. Die Kette gleichsam, in die er den bunten Einschlag verweben wollte seiner Empfindungen, der Grundakkord, der durch alles zittern sollte, das Thema, das zu variieren war.

Wenn es überhaupt einen Namen gab, der umfassend genug war für eine so große, so bedeutsame Sache, so lautete er: das Geschlecht.

Wohl wußte Fritz Berting, daß es kühn sei, ein Buch aufbauen zu wollen auf einem einzigen Begriffe; wohl ahnte er die verborgenen Abgründe, die in einem Thema so heikler Natur lauerten.

Aber in diesem Augenblicke entzückten Erschauens war er wie der Wanderer, der lange in enger Schlucht einhergeschritten ist und auf einmal vor eine herrliche Fernsicht gestellt wird. Er denkt nicht an die Mühseligkeiten, nüchternen Wegstunden und Gefahren, die ihn von jenen Fernen trennen. Als wäre seine Sehkraft gesteigert, sieht er die fernsten Gipfel und Zacken in herrlichster Beleuchtung vor sich liegen, zum Greifen nahe. Und es erscheint so leicht, das, was man klar erkennt, sich zu eigen zu machen.

Das Geschlecht! War es nicht das größte, fruchtbarste, interessanteste Thema, das man sich wählen konnte? – Lag darin nicht alles eingeschlossen, das Körperliche sowohl wie das Geistige? War es nicht der Punkt, wo der Mensch am engsten und nachdrücklichsten zusammenhing mit der Natur? Seine Abstammung vom Tiere wie seine Verwandtschaft mit Gott, seine Achillesferse, wie seine Apotheose, aus diesem einen Punkte wurden sie verständlich. Es war Kraft und Schwäche, Tragik wie Glück und Erfolg, Liebe, Haß, Kampf, Streben und Untergehen, höchstes Heldentum, tiefste Entartung, Aufblühen und Verwelken des Einzelnen, wie ganzer Familien, Klassen, Völker zu erklären aus ihrem Verhalten als Geschlechtswesen.

Fritz hatte einmal von einem seiner medizinischen Freunde gehört, daß bedeutende Psychiater, ehe sie eine Diagnose stellen, sich zunächst über das Geschlechtsleben des Patienten, als die wichtigste Frage, klar zu werden trachten. War hier nicht ein Fingerzeig für den Dichter? –

Was hatte die Naturwissenschaft in den letzten Jahrzehnten zu so erstaunlichen Erfolgen geführt? Was hatte sie triumphieren machen über alle Bethätigungen des menschlichen Geistes? Die Schärfe der Beobachtung. Man hatte das, was man mit Augen gesehen, mit Ohren gehört, was man betastet, gerochen, geschmeckt, mit einem Worte, was man sinnlich wahrgenommen, zunächst einmal nüchternen Sinnes konstatiert, und das also untrüglich Festgelegte in Atome zergliedert und es in seinen feinsten Regungen analysiert. Mit Hilfe scheinbar so einfacher Mittel war man zu tiefen Wahrheiten, zu epochemachenden Entdeckungen, ja zur Aufstellung universeller Systeme gelangt.

Wenn nun schon der Gelehrte, der in dem groben Material empirischen Wissens arbeitete, zu so gesteigerten Resultaten gekommen war, mit Hilfe dieser Methode, wie würde da erst dichterische Phantasie und Intuition Hand in Hand mit exakter Beobachtung und Analyse zu neuen Horizonten führen und herrliche, unerhörte Gebilde zu Tage fördern. –

Vielleicht war man hier auf dem Wege zur neuen Kunst. Vielleicht würde die Dichtung, gestützt auf diese Methode, emporsteigen zu ungekannter Höhe. Warum sollte ihr versagt sein, was die Wissenschaft erreicht hatte, während eines halben Jahrhunderts im Sturmschritt Zeiträume zu durcheilen, zu deren Bewältigung früheren Generationen Jahrtausende nicht genügt hätten.

Es kam darauf an, von der Wissenschaft zu lernen, die wertvollen Vorarbeiten, welche die Forschung geliefert hatte, zu verwerten, ihre Methode sich anzueignen. Genau wie der Gelehrte, hieß es, nüchtern sein, sich nicht durch Aberglauben vergangener Epochen das Auge trüben lassen. Vor allem hieß es auch, die sentimentale Empfindsamkeit abstreifen, die uns im Blute lag. Und weiter galt es, sich freimachen von altmodischem Vorurteil, von alledem, was uns unter dem Namen Moral und Religion Fremdes, Unnatürliches und Erkünsteltes anerzogen worden war. Der Naturwissenschaftler und der Philosoph hatten das längst zum alten Eisen geworfen, auch der Dichter konnte damit nicht mehr wirtschaften, wenn anders er an der Spitze moderner Weltanschauung marschieren wollte. Dabei konnte er sehr gut ein Seher bleiben und ein Prophet. Sein Auge sollte, geschärft durch wissenschaftliches Sehen, in alle Abgründe und Tiefen der Wirklichkeit tauchen, statt wie es früher gewesen, verzückt Ausschau zu halten nach dem, was man jenseits der Wolken vermutete. Rücksichtslos mußte der Moderne sein, auf die Gefahr hin, von prüden Seelen schamlos genannt zu werden. Er durfte sich nicht fürchten, vor dem Armeleutegeruch, jenen Dünsten, die auffliegen von Armut und Krankheit, welche die Moralisten als Schmutz und Laster zu bezeichnen beliebten. Er durfte sich nicht schämen, die Seciersäle, die Gefängnisse, die Irrenhäuser zu betreten; denn alle diese Erscheinungen waren wichtige Bestandteile des Lebens, bildeten menschliche Dokumente, eröffneten große Perspektiven, gaben Gelegenheit, die Welt zu zeigen wie sie war, nicht wie Idealisten träumen mochten, daß sie sei.

Freilich, zimperlich durfte man da nicht sein und auf Zimperlichkeit anderer durfte man auch nicht achten. Den Mut mußte man besitzen, sich ganz auszukleiden, nackt hinzutreten vor die Menge. Dann allein durfte man hoffen, durch Wahrheit wie die Natur selbst zu wirken.

Was aber waren die stärksten, echtesten Gefühle des Mannes? Was beherrschte von dem Augenblicke an, wo unter bangen Wehen aus dem Knaben der Jüngling geboren wird, das Denken, Dichten, Schaffen, Wünschen, kurz, das ganze Sein des normalen, männlichen Individuums? – Von Schopenhauer konnte es lernen, wer es nicht aus eigener Erfahrung wußte: der Geschlechtstrieb. Der gewaltige, autokratische Herrscher, der allmächtige, launenhafte Störenfried, der große Künstler, unter dessen unsichtbarem Finger alles Farbe bekommt und Form, der ewig wache Regulator des Leibes wie der Seele.

Diesen Trieb in den Mittelpunkt setzen einer Dichtung, hieß daher nur konform handeln den ewigen Gesetzen des Kosmos.

Im Geschlecht war die Stelle, wo man an die menschliche Natur herankonnte. In allem anderen wußten die Menschen einen schwer zu durchdringenden Panzer von Konvention, Satzung, von erheuchelter Sittenstrenge um sich zu legen. Hier hatte das Gewand eine Lücke, durch die man ein Stück lebendig nackter Menschenhaut durchschimmern sah.

Und nun für das Leben des Einzelnen wie für das große Ganze diesen roten Faden nachzuweisen, der sich oft verborgen der alltäglichen Einsicht, doch für feinere Augen überall sichtbar hindurchzog, die natürliche Unterlage dieser das Dasein bedingenden Gefühle durchleuchten zu lassen durch alles, wie Gold durch ein feines Gewebe; jenseits aller Moral, sachlich wahr und gerecht das Geschlechtsleben zum Zünglein zu machen der Wage, war das nicht eine Aufgabe, würdig des modernen Dichters, der nicht Sänger sein wollte allein und Fabulist, sondern auch Forscher zugleich, Richter und Gesetzgeber im Geistigen wie im Sinnlichen. Der das ganze Leben mit seinem Auge umspannte und sich das Recht herausnahm, jeder Erscheinung gegenüber seine Ansicht zu äußern, und jedem Stoff, mochte er noch so spröde erscheinen, seinen Schöpferodem einzuhauchen.

Die Erkenntnis dieses Naturgesetzes in Fleisch und Blut des Kunstwerkes umzusetzen, darauf kam es jetzt an. Daß ihm das gelingen würde, bezweifelte er im Augenblicke der Empfängnis nicht.

Auf Zehen schlich er sich in das Quartier. Es gelang ihm ins Bett zu kommen, ohne Alma zu wecken. Er schlief sofort ein, und als er spät im Vormittage erwachte, fühlte er sich stark, frisch und zum Schaffen lustig.

* * *

Sofort ließ er eine Änderung vornehmen in dem Quartier. Sie hatten nur zwei Zimmer zu ihrer Verfügung. Alma pflegte mit ihrer Nähterei im Wohnzimmer zu sitzen, dort stand auch Fritzens Schreibtisch. Da er aber die Angewohnheit hatte, während des Schreibens gelegentlich aufzuspringen und im Zimmer umherzulaufen, so wäre man in dem ohnehin beschränkten Raume allzusehr beengt gewesen. Er traf also ein Abkommen mit Frau Klippel, wonach Alma gestattet sein sollte, in dem Wohnzimmer der Wirtin jenseits des Ganges zu sitzen und zu nähen. Zugleich ließ er nun die von Alma längst sehnlichst gewünschte Nähmaschine anschaffen. Von da drüben her störte ihn das Geräusch ja doch nicht. Das Mädchen war glücklich über die Nähmaschine und noch mehr über die gute Laune, die plötzlich, sie wußte nicht woher, über ihren Fritz gekommen war.

In den nächsten Tagen und Wochen saß Fritz Berting an dem kleinen, wackeligen Schreibtisch aus Nußbaumholz. Er ging nur ganz wenig aus, und Alma hatte Mühe, ihn zum Innehalten der Mahlzeiten zu bewegen, so versessen war er auf die Arbeit.

Freier und leichter seien ihm die Gedanken noch niemals zugeströmt, deuchte ihm. Seine Einbildungskraft schien unerschöpflich. Ein guter Einfall zog den anderen nach sich, Szene reihte sich an Szene. Die Figuren sprangen wie geharnischte Ritter gewappnet aus der Phantasie hervor. Er schuf wie im Fieber und auch wieder jeden Augenblick der Verantwortung seines Thuns sich voll bewußt, eingedenk des großen Amtes, das der Dichter ausübt. Vater und Freund seiner Geschöpfe, hingerissen, erschüttert, mit ihnen bangend, hoffend und liebend, doch über ihnen stehend, kühl ihre Geschicke abwägend, ein Richter über Gut und Böse, über Wahr und Unwahr, über Schön und Häßlich.

Fritz Berting war ein Neuling im großen Roman. Bisher war er mehr Lyriker gewesen als irgend etwas anderes. Selbst seinen Dramen wurde von Kennern der Vorwurf gemacht, daß sie erfüllt seien von lyrischer Stimmung, daß ihnen der große, herbe, geschlossene Gang der Tragödie abgehe. Seine Prosaskizzen hatte er selbst nur als Vorarbeiten betrachtet. Nun stand er endlich vor der Aufgabe, die ihm seit Jahren vorgeschwebt: dem großen naturalistischen Romane.

Das war freilich ein ander Ding als das leichte Abpflücken einer Stimmung, das Austönenlassen einer Sehnsucht, das Weiterspinnen eines melancholischen Traumes. Hier mußte schwere Arbeit gethan werden. Material galt es heranschaffen aus dem Gedächtnis und der Erfahrung. Da mußte gesichtet, geprüft, eingeordnet werden. Auf dem Fundament positiven Wissens sollte das Ganze ruhen, damit es vor dem Wirklichkeitssinn standhalte. Wollte man den Leser zwingen, an die Welt lustiger Ideen zu glauben, die man aufbaute, so mußte man gestalten mit grobem, haltbarem Stoff, ebenso wie ein Architekt, um einen konstruktiven Gedanken auszuführen, Stein und Eisen, Sand und Kalk braucht. Das Schwierige war, die Materialien so zu verbinden, daß sie nicht den Grundgedanken verdeckten, erdrückten oder ertöteten, sondern im Gegenteil in sinngemäßer Anordnung ihn laut und deutlich zum Ausdruck brachten.

Bei einem so groß gedachten Werke waren dem Autor nicht alle Teile gleichmäßig aufgegangen. Oft kamen ihm während des Schreibens Erwägungen, die ihn nötigten, das schon Geschaffene zu ändern und neues einzubauen. Stockungen traten ein. Auf einmal, nachdem eine Zeit lang das Schaffen glatt von statten gegangen war, wie das Abspinnen eines Fadens, gab es einen Knoten. Von seinen Gestalten hätte der Dichter in jedem Augenblicke genau angeben können, wie sie dachten, fühlten, was sie wollten und hofften, planten; aber die Erfindung stockte, und die Phantasie hatte schwereres Arbeiten, wenn es hieß, die äußeren Verhältnisse zu schildern, in denen diese Menschen Tag ein Tag aus lebten.

Als Milieu der Handlung hatte er sich eine große Stadt gedacht. Aber da eine solche doch ein mehr oder weniger umfaßbares Wesen ist, das sich in seinem Umfang der künstlerischen Gestaltung entzieht, hatte er sich innerhalb der Stadt wiederum ein Viertel, und in diesem eine Straße ausgewählt. Und zwar hatte er den Hauptplatz der Handlung in einen Vorort verlegt, ähnlich dem, in dem er augenblicklich lebte. Hier waren die Verhältnisse einfach, ja beinahe primitiv und darum übersichtlich. Die städtische Bevölkerung mit ländlichen Elementen durchsetzt, minder raffiniert, in ihren Äußerungen harmloser und natürlicher, als der Großstadtmensch sich zu geben pflegt. Interessante Gegensätze dazu von reich und arm, von gebildet und ungebildet, von Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Hier war gleichsam ein Filter für das Land, das nach der Stadt hereinströmte und zunächst die gröbsten Bestandteile absetzte. Andererseits war hier aber auch der Kehrichthaufen, auf welchen die Stadt all ihr Verkommnes und Verbrauchtes hinausschaffte, all den Müll, der vom Haushalte eines großen Gemeinwesens abfällt. Dazwischen Familien besseren Ursprungs, die der größeren Billigkeit wegen im Vororte wohnten. Fabrikanlagen, die auf dem wohlfeileren Terrain wie die Pilze aufschossen, deren Besitzer oder Direktoren in prunkvollen Villen logierten, während die Arbeiter und Arbeiterinnen die langen grauen Zeilen der Mietskasernen bewohnten. Damit es dem Straßenbilde aber nicht an Buntheit fehle, verkehrten in dieser Gegend besonders gegen Abend Soldaten aller Truppengattungen aus den unweit gelegenen Kasernen; diese Gäste wurden von den Mädchen ebenso gern gesehen wie von den Gastwirten. In den zahlreichen Vergnügungslokalen fand dann zur Nachtzeit eine oftmals recht innige Verquickung dieser verschiedenartigen Elemente statt.

Welch herrlich charakteristischer Hintergrund, wie gemacht für das Thema, das Fritz sich gestellt hatte! Der Stoff lag hier geradezu auf der Straße. Er brauchte nur das Fenster zu öffnen, und es wurden ihm Geräusche zugetragen, die ihn leicht in Stimmung versetzten: der langgezogene Ton der Fabrikpfeife, das Lärmen unbeaufsichtigter Kinder, die sich ungeniert tummelten wie Sperlingsschwärme, das Geschwätz der Weiber von der Gasse, Leierkastenmusik, welche die Mädchen elektrisierte und die Hunde des ganzen Quartiers zu elegischem Geheul veranlaßte. Vieles ging hier in ländlicher Unbefangenheit auf der Straße, unter dem Thürstock, bei offenen Fenstern vor sich, was man sonst bei verschlossenen Thüren und bei herabgelassenen Gardinen vornimmt.

Alles redete seine Sprache zu Fritz von dem Augenblicke ab, wo er sich die Mühe nahm, darauf zu achten; selbst die Gerüche, die nicht immer angenehm aus Kellern, Budiken, Gruben und Gossen aufstiegen. Auch sie verrieten ihm die Geheimnisse der Häuser, die Gewohnheiten ihrer Bewohner. Es gab nichts in seiner Umgebung, das stumm gewesen wäre.

Und selbst das Quartier, das er bewohnte, wurde zur Fundgrube von Dokumenten. Da war die Wirtin, Frau Klippel, eine Person, der man trotz ihres jetzigen vernachlässigten Aufzuges die Spuren ehemaliger Stattlichkeit noch immer ansehen konnte. Der Mann war Eisenbahnschaffner und hielt sich im Dienste den größten Teil des Tages, oft auch der Nacht, außerhalb des Hauses auf.

Frau Klippel lief von früh bis Abend in loser Bluse, die ihre entwickelten Formen kaum verdeckte, mit ungemachtem Haar, in Filzschuhen einher. Richtige Mahlzeiten zu kochen, war sie zu träge. Das tägliche Brot der Familie bestand größtenteils aus Buttersemmeln, Kuchen und sehr viel Kaffee. Das Quartier war stets schmutzig, obgleich die Frau unter dem Vorwande aufzuwischen, zu jeder Zeit auch in die Zimmer der Mieter eindrang.

Fritz hatte Alma anfangs verboten, sich in intimeren Verkehr einzulassen mit Frau Klippel, denn er wußte wohl, daß sie beide, in ihrem vor dem Gesetz nicht legitimen Verhältnis, sich vor Indiskretion ganz besonders zu hüten hatten.

Aber seitdem Almas Nähmaschine in der Wohnstube der Familie Klippel stand, war der Verkehr mit den Leuten nicht zu vermeiden. Die Wirtin brachte oft Stunden damit zu, eines ihrer beliebten Aufwischtücher in der Hand, bei der fleißigen Alma zu stehen, ihr Rat zu erteilen für die Arbeit.

Diese Frau ersparte einem wirklich das Abonnement eines spannenden Romans beim Kolporteur. Sie war wie ein großes Lexikon des Klatsches für das ganze Stadtquartier, das über heikle Familienangelegenheiten die erstaunlichsten Aufschlüsse zu geben vermochte.

Fritz verschmähte es nicht, sich nun doch mit dieser chronique scandaleuse näher zu befassen. Kaum hatte Frau Klippel gemerkt, daß sie bei Herrn Berting mit ihren Berichten Anklang finde, so ließ sie alle Minen springen, gab für ihren Mieter gleichsam Extravorstellungen.

Fritz staunte geradezu. Die Kraft der Einbildung, die diesem Weibe eigen war, ließ die stärkste dichterische Phantasie hinter sich. Aber auch ihre Beobachtungsgabe, das Vermögen zu kombinieren, aus Kleinigkeiten überraschende Schlüsse zu ziehen und kühne Vermutungen aufzubauen, war beneidenswert. Sie goß ein wahres Füllhorn des Skandals aus. Ihm war, als würde der Kehricht des ganzen Stadtteils vor ihm ausgebreitet.

Frau Klippel sprach den unverfälschten Dialekt ihrer Heimat, der an sich schon geeignet ist, alles ins Ordinäre zu verwandeln. Überhaupt gaben sich in ihrem Charakter die schlechten Eigenschaften ihrer Landsleute ein Stelldichein. Sie war durchaus nicht dumm, im Gegenteil von einer gewissen pfiffigen Intelligenz. Bar jeder Würde und Haltung, genußsüchtig dabei, ohne Energie und Temperament, eifrig im Verdächtigen anderer und in hämischer Spottsucht. Ins Gesicht freundlich und stets bereit, sich wegzuwerfen. Farblos und nachgiebig wie Brei, der auf jeden Druck nach allen Seiten hin nachgiebt.

Glücklich war diese Person nur, wenn sie hinter der Kaffeetasse saß und wenn sie ein Opfer fand für ihre Redseligkeit. Ihre Erzählungen hatten etwas vom Puppentheater an sich. Sie führte ihre Personen meist redend ein. Niemals hatten ihre Geschichten ein Ende, aus jeder entwickelte sich wieder ein halbes Dutzend neue. Alles hing da unentwirrbar zusammen, wie ein großer Rattenkönig. Die Erzählerin aber fand sich in diesem Labyrinth immer zurecht.

Für gewisse Erscheinungen des Liebeslebens hatte der auf alles Skandalöse besonders erpichte Sinn dieser Frau überraschend einfache Erklärungen. Und gerade für das, was Fritzens Thema bildete, das Sexuelle, war sie mit einer Art unfehlbaren Witterung ausgestattet. In allen ihren Erzählungen bildete das Verhältnis der Geschlechter gleichsam das A und das O, das Leitmotiv für unzählige Variationen, der natürliche Untergrund, aus dem jede Erscheinung sich ganz selbstverständlich entwickelte und erklärte.

Nicht, daß Fritz Berting den Rohstoff, welchen die redselige Person in reicher Fülle vor ihm ausbreitete, hätte direkt in seinen Roman aufnehmen können; aber er verschmähte die geheime Mitarbeiterschaft Frau Klippels an seinem Buche nicht. Denn Fritz erkannte mehr und mehr, daß, wenn er sein Ziel erreichen wollte: ein naturalisches Kunstwerk zu schaffen, er sich nicht scheuen dürfe, sein Auge an jede der unscheinbaren und äußerst seltenen Klinzen zu legen, durch welche uns hie und da gestattet ist, die Natur in ihren intimsten Heimlichkeiten zu belauschen.

Er sprach jetzt manchmal mit Alma über den Plan seines Buches, ja las ihr einzelne Stellen vor und suchte ihre Ansicht darüber zu erforschen. Er wußte zwar, daß Almas Geschmack durchaus ungebildet sei, aber ihm lag auch garnichts an ihrer Kritik; etwas ganz andres wollte er von ihr erfahren.

Verschiedene Physiologen, mit deren Werken er sich beschäftigt hatte, behaupteten: das Weib sei das Geschlechtswesen katexochen. Im weiblichen Organismus habe alles Beziehung zu dieser wichtigen Funktion, für die sie recht eigentlich von Natur bestimmt seien. Alles am Weibe, das Alltägliche wie das mystische Rätselhafte könne aus diesem einen Punkte erklärt werden; im Geschlecht liege ihre ganze Inferiorität, aber auch ihre Größe und Genialität.

Fritz vermutete, daß diese Theorie viel Wahres enthalte. Bei wem anders aber mochte man sich darüber vergewissern, als eben beim Weibe selbst!

Es ging ihm jedoch eigenartig mit Alma; sie mochte von diesen Dingen nicht sprechen. Wenn er sie ausforschte über ihre Gefühle, ihre Regungen und Triebe errötete sie, wich ängstlich aus, suchte das Gespräch auf anderes zu lenken. Lachte er sie dann aus wegen ihrer Zimperlichkeit, drang er in sie, Dinge, die zwischen Liebesleuten so natürlich seien, nicht zu verschweigen, dann war sie imstande zu weinen. Einmal nachts unter dem Schutze der Dunkelheit machte sie einen Versuch, ihm alles zu erklären; aber es kam nur ein verwirrtes Stottern heraus, das sie jäh abbrach, um ihr heißes Gesicht bei ihm zu verbergen. Sie müsse sich zu Tode schämen, behauptete sie.

Fritz staunte. Was für ein starkes, ursprüngliches Gefühl doch beim Weibe die Scham war! Alma, die so feurig liebte, deren Lebenselement die Zärtlichkeit war, die sich ihm hundertmal rückhaltlos hingegeben hatte, Alma zog sich scheu zurück, wenn er das, was das alltägliche Brot ihres Verhältnisses war, zu analysieren versuchte. Es schien das mehr als bloß kindische Einbildung.

Er mußte da doch wohl auf ein Naturgesetz gestoßen sein. Und schließlich hatte ihm Alma durch ihr Verhalten mehr verraten von den verstecktesten Geheimnissen des Weibes, als sie durch noch soviel beschreibende Worte vermocht hätte.

* * *

Die einzige Zerstreuung, die Fritz Berting sich in dieser Zeit angestrengtesten Schaffens gönnte, war der Verkehr mit seinem Freunde Doktor Lehmfink. Man traf sich des Nachmittags im Café, oder auch abends im Bierhaus. Da wurde über Politik, Tagesereignisse, am meisten aber über Litteratur geschwatzt.

Abends pflegte Fritz zu diesen Zusammenkünften Alma mitzubringen. Er wußte, daß Lehmfink gegen ihre Gesellschaft nichts einzuwenden habe. Da mußte das Mädchen oft stundenlang den Gesprächen der Freunde zuhören und hatte Mühe, das Gähnen zurückzuhalten, das Fritz nicht leiden mochte. Lehmfink, der ihren Augen die Müdigkeit ansah, hob dann wohl die Sitzung auf unter dem Vorwande, selbst müde zu sein, und verschaffte der Ärmsten so die ersehnte Bettruhe.

Selten kam es vor, daß Fritz Berting und Heinrich Lehmfink derselben Ansicht gewesen wären. Was sie einigte, war eigentlich nur das starke Interesse, das beide für Litteratur hegten, obgleich sie auch hier fast immer im Gegensatz der Ansichten standen. Aber gerade diese Verschiedenheit machte den Verkehr anregend, ließ die Unterhaltung niemals in die seichte Bucht der Fachsimpelei geraten.

Gewisse, wie Fritz deuchte, etwas stark rückständige Moralansichten des Freundes schrieb er auf das Conto der kleinen Verhältnisse, aus denen Heinrich Lehmfink stammte. In der altmodischen Art sich zu kleiden, in einer gewissen würdevollen Steifheit der Haltung, in der hypersoliden Lebensführung, hatte jener den deutschen Spießbürger nicht völlig abgestreift, bei aller Weite seines geistigen Horizonts. Und wie in der grotesken äußeren Erscheinung, so erschienen auch in seinem Charakter komische Züge mit Größe und Freiheit des Wesens merkwürdig vermischt. Fritz konnte nicht anders, als diesen wunderlichen Kauz, der ihn durch seine Pedanterie gelegentlich ärgerte, dessen weltfremdes, altfränkisches Wesen ihn oftmals zum Widerspruche reizte, im geheimen doch zu bewundern.

Fritz wußte, daß sein Freund ein Märtyrer war seiner Ehrlichkeit. Ein Mann von dem gründlichen Wissen Lehmfinks, von seiner Belesenheit, seinem Fleiß, würde, wenn er nur verstanden hätte, sich ein wenig anzuschmiegen, fünf gelegentlich gerade sein zu lassen, den Mantel nach dem Winde der öffentlichen Meinung zu hängen, eine ganz andere Stellung im Journalismus wie in der Litteratur haben einnehmen können. So aber war Heinrich Lehmfink einer von jenen wenig beneidenswerten Sklaven der Feder, der für den Tagesbedarf des Publikums seine guten Kräfte anstrengen mußte. Nebenher arbeitete er wissenschaftlich, schrieb Kommentare, gab kritische Ausgaben heraus. Aber auch hier stand der Erfolg nicht im Verhältnis zur aufgewendeten Kraft.

Fritz wußte, daß sein Freund von seinen Honoraren Mutter und Schwester, die von der Witwenpension eines Stadtschreibers leben mußten, unterstützte. Nun fing Lehmfink neuerdings auch noch an, ganz ungebeten von einer alten Schuld abzutragen, die er in Berlin bei Fritz kontrahiert hatte.

Es war das erste Mal in seinem Leben, daß Fritz Berting Geld, welches er verborgt hatte, zurückerhielt. Eigentlich mußte man sich ja scheuen, das von einem Manne anzunehmen, dem es so wenig glänzend erging, wie Heinrich Lehmfink; aber eine Weigerung würde den leicht Empfindlichen sicherlich schwer gekränkt haben. Und in gewisser Beziehung kam dieses Geld wie vom Himmel gesandt für Fritz, der gerade auf dem Grunde seines Beutels angelangt war, als ihm der Freund die ersten hundert Mark von den tausend ehemals erborgten zurückerstattete.

 

Doktor Lehmfink war in einem schwäbischen Bergstädtchen geboren, das die Einwohnerzahl fünftausend nicht ganz erreichte. Das Städtchen hatte ein Amtsgericht, eine evangelische und eine katholische Kirche und brüstete sich mit seiner Lateinschule. Sein Bürgermeister kam mit einem Ratsschreiber aus.

Ratsschreiber Lehmfink war dem Gehalte entsprechend, das er bezog, ein bescheidener Mann, dem es wie frevelhafter Leichtsinn erschienen wäre, mehr als dreimal in der Woche auf seinem Tische Fleisch zu sehen, oder sich einen zweiten Frack anzuschaffen, ehe sein alter, dessen abgeschabte Stellen von der Frau Ratsschreiber mit Dinte aufgefärbt wurden, ehe dieses kostbare Kleidungsstück nicht so morsch geworden war, daß kein Stich mehr darin hielt. Dieser Mann, den man also nicht gut einen Verschwender und eitlen Gecken nennen konnte, besaß jedoch einen Ehrgeiz, der, wenn man seine Revenuen kannte, immerhin tollkühn genannt werden mußte: er ging nämlich mit dem Gedanken um, seinen Sohn Heinrich studieren zu lassen.

Der Junge war nach drei Mädeln zur Welt gekommen. Vielleicht erklärt die Überraschung über das Faktum, daß, nachdem man hintereinander drei Nieten gezogen, nun doch noch ein Erbe und Stammhalter geboren worden war, vielleicht erklärt der Freudentaumel, der in solchen Fällen jeden Erzeuger zu befallen pflegt, die Wagehalsigkeit dieser Zukunftspläne.

Von dem Augenblicke ab, wo der kleine Heinrich da war, der, wenn alles gut ging, in achtzehn Jahren an den Brüsten der alma mater sich erlaben sollte – stand der Haushalt des Stadtschreibers Lehmfink noch mehr als bislang unter dem Zeichen des Sparens. Vier Kinder durchbringen bei vierhundert Thalern jährlichem Fixum und davon den vierten Teil zurücklegen wollen für den zukünftigen Studiosus, es war ein Rechenexempel, das, trotz seiner scheinbaren Einfachheit, doch immer und immer wieder, ja fast täglich und stündlich, von Vater und Mutter durchgerechnet und äußerst schwer lösbar gefunden wurde.

Dann starben die beiden ältesten Mädchen, zu einer Zeit, da die Diphteritis furchtbare Opfer von dem Kinderbestande des Städtchens forderte. Die Kleinen wurden aufrichtig betrauert von den Eltern; aber nachdem der Trennungsschmerz überwunden war, empfand man, ohne es sich einzugestehen, doch eine Art Entlastung. Das Rechenexempel wurde wesentlich leichter lösbar, seit man statt vier hungriger Münder deren nur noch zwei zu stopfen hatte.

Stadtschreiber Lehmfink hegte vor studierten Leuten eine unbegrenzte Hochachtung. Das Abgangszeugnis von einer Universität erschien ihm als die Eingangspforte zu allen höchsten Stellen der Welt. Was der kleine Subalternbeamte niemals besessen hatte, das sollte sein Sohn wenigstens einmal erreichen: Ehren und Einfluß.

Der väterliche Ehrgeiz schien nicht verschwendet zu sein. Klein-Heinrich erledigte die verschiedenen Stadien des Lesens, Schreibens und Einmaleins-Lernens mit anerkennenswerter Schnelligkeit. Und von dem Augenblicke an, wo er durch die Pforten der Lateinschule in den Tempel klassischer Bildung eingetreten war, bewegte er sich in der oberen Hälfte der Klasse, bis er schließlich aus dem Wettrennen unter zwei Dutzend Klassengenossen als unbestrittener Primus hervorging.

Philologie sollte der Junge studieren, so schlugen die Lehrer dem Vater vor; Heinrich, der mit sechzehn Jahren das Lateinisch in zweierlei Färbung, der archaischen und der ciceronianischen sprechen und schreiben konnte, werde einmal seiner Vaterstadt unsterblichen Ruhm erwerben.

Der Vater Stadtschreiber war natürlich nicht wenig stolz auf seinen Jungen, der in der Klasse über soundsovielen Honoratiorensöhnen saß. Dem jungen Menschen jedoch genügte die ziemlich reichliche Ration von Wissensstoff, die ihm auf der Schule verabreicht wurde, nicht einmal. Es war ein Drang in ihm, sich über den Stundenplan hinweg bekannt zu machen mit dem, was es sonst etwa noch außerhalb der Philologie in der Welt geben mochte. Er ahnte dunkel, daß ihm die Schule da mancherlei unterschlage. Die deutsche Litteratur wurde auch hier stiefmütterlich behandelt. Bücher gab es im väterlichen Hause nicht. Dafür existierte in dem Städtchen ein Buchladen, in dem zwar nur selten ein Buch gekauft, dessen Bibliothek aber um so eifriger benutzt wurde. Vor dem Schunde, der hier den harmlosen Schildbürgern als das Neueste und Beste der Weltliteratur in abgegriffenen, fettklebenden Deckeln verabreicht wurde, bewahrte den jungen Heinrich der schmale Geldbeutel seines Vaters. Für das Lesebedürfnis des Sohnes war in dem Budget des Stadtschreibers ein Posten nicht vorgesehen.

Aber es gab im Rathause ein Zimmer, das den Namen: »Die Bibliothek« führte. Da standen an tausend Bände in schönen, soliden Ledereinbänden. Ein Privatgelehrter, der hier am Orte seine letzten Lebensjahre zugebracht, hatte sie letztwillig der Bürgerschaft vermacht. Die Stadtväter hatten die Stiftung nicht gut abweisen können, obgleich es manchem der braven Pfahlbürger als Unfug und unverantwortliche Verschwendung erscheinen mochte, daß für so unnütze Dinge wie Bücher ein ganzer, schöner, großer Raum des Stadthauses hergegeben werden sollte. Und der wunderliche Mann, von dem die Bücher gesammelt worden waren, hatte mit ihnen auch noch ein kleines Kapital vermacht, von dem ein Bibliothekar die Zinsen erhalten sollte für die Mühewaltung des Ausleihens. Diesen Posten hatte man dem Stadtschreiber Lehmfink gegeben. Er war leicht auszufüllen, denn es gab in dem Städtchen eigentlich niemanden, der von der Gelegenheit, sich gediegene Litteraturkenntnisse anzueignen, Gebrauch zu machen, die kühne Absicht gehegt hätte. Zwar wurden die schönen Bände von Zeit zu Zeit herausgenommen, aber nur um abgestaubt zu werden; im übrigen schliefen sie auf ihren Regalen so ruhig und ungestört, wie die Gebeine derer, die sie verfaßt hatten.

Bis einer kam, der Sohn des Stadtschreibers und Bibliothekars, der junge Heinrich Lehmfink, der die lichten Geister, die hier unter Staub und Spinngewebe schliefen, befreite und sich zur Gesellschaft aus ihren Gräbern citierte.

Hier lernte der Knabe den wunderlichen großen Wolfram von Eschenbach kennen. Der freie, ritterliche Walther von der Vogelweide wurde ihm vertraut wie ein Freund. Hans Sachsens Vielseitigkeit that sich ihm auf. Mit dem witzigen Fischart machte er gute Bekanntschaft. Vom Simplizissimus empfing er starken Eindruck. Klopstock zu lesen, versuchte er, brachte es aber ebensowenig fertig, wie irgend ein anderer moderner Mensch, der nicht gezwungen ist, diesem verzückten Pathetiker durch die Dunkelgänge seiner Gesänge zu folgen. Klarer und freier wurde ihm bei Lessings Verständigkeit zu Mute. In Wielands liebenswürdiger Gesellschaft fühlte er sich eine Zeit lang wohl. Herder regte ihn an, Schiller begeisterte ihn, bis er in Goethe endlich den Born der Schönheit fand, der unausschöpflich ist. Kant allerdings erwies sich seiner Jugend als eine allzu harte Nuß, dafür nahm ihn Jean Paul mit seinen wunderlichen, traurig lustigen Träumereien ganz und gar gefangen. Schließlich ging er mit den Romantikern aus, die blaue Blume zu suchen. Als geborenem Schwaben traten ihm seine Landsleute: Uhland, Mörike und Hauff besonders nahe. Mit Heinrich von Kleist, Körner, Schenkendorf und Arndt fühlte er Deutschlands Schmach und entbrannte für Befreiung von dem Joche der Fremdherrschaft. Durch die Gebrüder Grimm wurde er in die Wunder der deutschen Märchenwelt eingeführt. Germanischen Witz und Tiefsinn lernte er durch Till Eulenspiegel, Reinecke Fuchs, Münchhausen und andere Volksbücher kennen.

Die Bibliothek schnitt an einer bestimmten Stelle unserer Litteratur ab. Vielleicht war der Stifter in seiner Sammelarbeit durch den Tod unterbrochen worden; vielleicht auch hatte er die späteren Dichter nicht geliebt. Heine gab es da nicht, und auch das »junge Deutschland« fehlte. Dafür waren die großen englischen Epiker von Walter Scott bis Dickens in guter Übersetzung vertreten.

In dieser erlauchten Gesellschaft ein paar Jahre zuzubringen, hätte sich auch für einen anspruchsvolleren Menschen, als dieser Jüngling war, verlohnt. Heinrich Lehmfink befriedigte mehr den ersten Heißhunger der Jugend nach Wissen, als daß er schon jetzt literarischer Feinschmecker geworden wäre. Er nahm alles an, was vor ihm in der Krippe lag. Sein besonderes Glück war es, daß seiner Empfänglichkeit nur auserlesene Kost geboten wurde.

Die Lehrer, eingerostete Philologen alten Schlages, sahen es nicht gern, daß der hoffnungsvolle Schüler sich so eifrig mit »außerwissenschaftlichen Materien« abgab, wie sie die deutsche Dichtung nannten. Zu ihrem Erstaunen mußten sie erleben, daß diese Liebhaberei den Knaben nicht nur nicht schädigte, sondern, wie es schien, in seiner geistigen Entwickelung förderte. Er bestand eine gute Abgangsprüfung.

Nun ging's auf die Universität. Vom Militär kam der junge Mensch frei, seiner schwachen Augen wegen. Die hatte er sich in mancher, bei schlechter Öllampe durchstudierten Nacht fürs ganze Leben verdorben. Vater Lehmfink war geneigt, das für ein Glück anzusehen; jedenfalls grämte er sich keinen Augenblick, daß der Junge die kostspieligen Freiwilligenschnüre nicht auf den schmalen Schultern tragen würde. Der Ehrgeiz des Stadtschreibers ging mehr dahin, ihn möglichst bald in Amt und Würden zu sehen, während Mutter und Tochter in diesem einen Punkt anders dachten; sie hätten ein wenig buntes Tuch ganz gern in der Familie gesehen.

Ein paar Semester lang lag nun der junge Student ganz brav dem Studium der alten Sprachen ob, ohne irgendwelche leichtsinnigen Seitensprünge auf andere Wissensgebiete zu unternehmen. Bis er eines Tages durch Zufall in die Vorlesung seines großen Landsmanns Vischer geriet. Der Autor von »Auch einer« that es dem Jüngling an. Plötzlich wurden alle jene Geister der heimischen Rathausbibliothek wieder wach. Der Student alter Sprachen erfuhr durch einen Lehrer, der bis in die Fingerspitzen hinein ästhetische Persönlichkeit war, daß sich klassische Bildung, moderne Weltanschauung und germanisches Empfinden sehr gut vereinigen lassen. Und wie es geschieht, wenn ein Jüngling das Glück hat, in seinem Lehrer einen genialen Anreger zu finden: es gehen dann der jungen Seele ebensoviel neue Horizonte auf, wie ihr von den erstaunten Augen Schleier des Vorurteils genommen werden. Das Altertum war nicht die ganze Welt; die Philologie nicht die Wissenschaft; mit der Moderne verglichen, schrumpfte die Antike zu einer Vorbereitungsstufe zusammen.

Aber der Meister, der bei dem jungen Manne das ästhetische Schauen geweckt, das Erkennen des Schönen und Großen vertieft hatte, senkte ihm zugleich auch einen beunruhigenden Stachel in die Seele: den Trieb, nicht bloß zu wissen und zu erkennen, sondern auch zu erleben.

Heinrich, der sich daheim nur als Kind der Vaterstadt und besten Falles als Schwabe gefühlt hatte, während das Reich etwas Fremdes, ein geographischer Begriff für ihn geblieben war, begann, angeregt durch das Vorbild Vischers, der Stammeseigenart und Deutschtum großen Stiles in seiner überlegenen Persönlichkeit wunderbar harmonisch vereinigte, sich als Bürger eines weiteren Vaterlandes zu fühlen. Und wie dem Studenten sein Brotstudium nun beschränkt vorkam, so erkannte er auf einmal auch die Winzigkeit des engeren Vaterlandes. Neugier erfaßte ihn nach den weiten Landen, die jenseits der Grenzsteine seiner bisherigen Welt sich dehnten. Und diese Sehnsucht kam schließlich in dem Wunsche zum Ausdruck: das Reich, Preußen, Berlin zu sehen.

Nach Ansicht des Vater Stadtschreibers ein ganz toller Gedanke. Preußen, Berlin! – Das war für diesen Stockschwaben so gut wie Feindesland. Und dazu die Kosten der Reise und des Aufenthalts in einer so großen Stadt! –

Aber Heinrich, der die unwiderstehliche Kraft entwickelte des jungen Tieres, das aus dem Neste will, des Pflanzenkeimes, wenn er die Hülle sprengt, setzte seinen Willen durch gegen das ängstliche Abraten des ganzen kleinstädtischen Basen- und Gevatternkreises.

Berlin machte zunächst einen abstoßenden Eindruck auf den jungen Mann. Heinrich Lehmfink ließ sich durch die ungewohnten Dimensionen, den lauten Trara der Millionenstadt nicht die Fähigkeit der Kritik nehmen. Den Mittelpunkt deutschen Lebens hatte er sich doch etwas anders vorgestellt. Ihm konnten die Gardeleutnants, die in gebückter Haltung, Monocle im Auge, den Säbel schleppend, die Linden herabschleiften, ebensowenig imponieren, wie die dunkeläugige, schnodderig dreiste jeunesse dorée von ›Berlin W‹ und die geputzten Frauenzimmer des Café National mit ihren gemalten Wangen, die den Provinzialen, wenn er sich des Nachts in die Gegend der Friedrichstraße verirrte, lachend zum Mitkommen aufforderten, erfüllten ihn mit Ekel vor den unheimlichen Abgründen des glänzenden Großstadttreibens.

Ganz andere Dinge waren es, die ihn in ihren Bann schlugen. Das alte Schloß, das Zeughaus, das Kammergericht redeten für den, der hören wollte, eine beredte Sprache. Die Denkmäler des großen Kurfürsten und Friedrichs blieben nicht stumm. Dazu Sanssouci und Charlottenburg! Heinrich Lehmfink fing an, zu begreifen, daß diese lärmige, unsolide, brutale, künstlich aufgebauschte Stadt doch einen unvergänglichen Kern von historischer Größe und Schönheit besitze.

Er sah auch das milde Angesicht des greisen Kaisers; und für ihn, wie für jeden, der den alten, vornehmen Mann erblickt, wie er sich hinter seinem Fenster vor der grüßenden Menge, pflichtgetreu selbst in der Höflichkeit, unermüdlich verneigte, blieb dieser Anblick unvergeßlich.

Aber erhaben über alles, was groß und neu, gab es noch eines in dieser Stadt, einen Menschen, der wie ein Naturereignis, wie ein Stück personifizierte Weltgeschichte erschien, einen Mann, den man entweder hassen mußte, oder lieben: Bismarck.

Was hatten sie Heinrich Lehmfink daheim in dem schwäbischen Neste von diesem Bismarck erzählt! Er war für das Kind ein Popanz, für den heranwachsenden Jüngling eine unheimliche, unfaßliche Persönlichkeit gewesen. Der Mann von Blut und Eisen, der preußische Junker, der Erzreaktionär, der Feind aller Freiheit, aller Schönheit, aller geistigen Kultur. Aber sehen wollte er ihn, dieses Phänomen, das wie ein weitragender, alter Baum in der deutschen Erde stand, seinen Schatten werfend, bis in das Leben und Denken eines jeden.

Und er sah ihn. Nachdem er manche liebe Stunde umsonst vor dem Reichskanzlerpalais auf und abgeschritten war, lief er eines Tages auf einsamer Promenade im Tiergarten dem Fürsten gerade in den Weg. Lehmfink erkannte ihn erst, als er ihm beinahe gegenüberstand. Ein fliegender Blick aus den großen, blitzenden, dunkelblauen Augen traf den jungen, verblüfft dreinschauenden Menschen. Ein belustigtes Zucken um das granitene Kinn, die schmalen, vieles verbergenden Lippen.

Heinrich Lehmfink erholte sich nur langsam von dem Erlebnis. Dann kehrte er um, lief eiligst dem Fürsten nach. Er holte ihn ein und kam gerade zurecht, Bismarck ein Paar Damen begrüßen zu sehen. Der junge Mensch schritt an der Gruppe vorbei, und er empfing einen neuen Eindruck. Nie hatte er einen Mann sich ritterlicher vor Frauen verneigen gesehen, wie den gewaltigen Greis. Jetzt sah er erst, daß nicht wilde, ungebändigte Kraft das Charakteristische war an dieser Erscheinung, sondern Leichtigkeit, geistige wie körperliche Freiheit. Die Haut zart wie die einer Frau, das Auge berückend im Ausdruck, die Bewegungen graziös, das Lächeln unendlich fein. Lehmfink trug ein unauslöschliches Bewußtsein davon; etwas Schöneres würden seine Augen nie wieder erblicken, meinte er.

Und er sollte doch noch etwas sehen, das diesem Erlebnis an Schönheit gleichkam und es an erschütternder Wucht übertraf.

Die Hochschulen Deutschlands rüsteten sich, den siebzigsten Geburtstag des ersten Reichskanzlers zu begehen. Auch Heinrich Lehmfink ließ sich in den Fackelzug einstellen, den die Studenten ihrem großen Kommilitonen brachten. Als die Spitze des Zuges das Reichskanzlerpalais erreichte, voran die schwarz-weiß-roten Farben, denen er Sinn verliehen hatte, stand dort am geöffneten Parterrefenster, vom Fackellichte grell beleuchtet, die reckenhafte Gestalt eines Alten im Kürassierrock. Das Haar schlohweiß; denn er hatte, da er die Jugend erblickte, das Haupt entblößt. Und als nun die frische Schar vorübermarschierte, Hurrah rufend und die Schläger schwingend, da lehnte sich der Greis weit über die Brüstung, streckte beide Arme aus, als wolle er der Zukunft Deutschlands die Hände segnend aufs Haupt legen. Der Mann, den Europa den Eisernen nannte, schmolz in diesem Augenblicke dahin in unendlichem Glück und unsagbarem Weh. Meister der Diplomatie, Künstler im Abwägen und Zurückhalten, vermochte er seine Züge nicht zu beherrschen, weinte wie ein Kind.

Von diesem Augenblick ab war der Schwabe Heinrich Lehmfink gewonnen für das größere Vaterland. Er war erst bismarckisch gewesen, nun wurde er deutsch.

In seine Heimat wollte er jetzt garnicht zurückkehren. Seinem Vater zuliebe machte er den Doktor, blieb aber weiter in Berlin, angeblich, um sich auch in den neueren Sprachen zu vervollkommnen. In Wahrheit schwebte ihm ein Plan vor, den er nur in Berlin vollenden zu können glaubte: ein Heldenepos beabsichtigte er zu schreiben, in dessen Mittelpunkt er den Mann stellen wollte, der sich ihm in seiner menschlichen Liebenswürdigkeit durch ein Paar einfache Züge, ein Lächeln, eine Thräne verraten hatte. Er plante ein Gedicht in vielen Gesängen. Die Entstehung des neuen Deutschland von Anfang an würde es besingen, als roter Faden gleichsam sollte sich die Entwickelung seines Helden hindurchziehen, bis sich beide schließlich in der Reichsgründung trafen.

Es bedurfte eines Jahres voll mühevollen, verzweifelten Schaffens und sich Abquälens, voll mutlosen Fallen-lassens und sich immer wieder Anspornens und Aufraffens zur vorgenommenen Arbeit, um Lehmfink zu belehren, daß man mit noch soviel Begeisterung und Liebe aus dem herrlichsten Stoffe doch niemals ein Kunstwerk schaffen wird, wenn man kein Dichter ist.

Ein Geständnis, das zu machen sauer fiel; aber seine Ehrlichkeit rang es sich schließlich doch ab. Ein ganzes Jahr an eine Aufgabe verschwendet, die man schließlich doch nicht hatte lösen können! – Wenn er sich der ursprünglichen Reinheit und Größe seiner Absichten nicht bewußt gewesen wäre, er hätte verzweifeln können.

Sein Scheitern hatte auch eine äußerst ernste materielle Seite. Bisher war Heinrich von seinem Vater unterstützt worden; aber der konnte ihm nichts mehr geben, seitdem das kleine Kapital, das er für die Studien seines Sohnes zurückgelegt, aufgezehrt war. Der junge Mann mußte sich fortan den Lebensunterhalt selbst verdienen. Er that dies, indem er zurückgebliebenen Gymnasiasten Nachhilfsunterricht erteilte.

Damals starb sein Vater. Heinrich eilte nach Haus, kam noch zum Begräbnis zurecht und blieb eine Zeit lang bei Mutter und Schwester. Es hätte nahe für ihn gelegen, nachdem er draußen in der Welt Schiffbruch erlitten hatte, sich nunmehr in der Heimat eingeschränkter, aber sicherer anzubauen. Lehmfink machte auch wirklich einen solchen Versuch, ließ sich als Hilfslehrer anstellen. Aber lange hielt er das nicht aus. Weniger die Kleinheit der Verhältnisse war es, als die Engigkeit der Anschauungen, die Verbohrtheit und Querköpfigkeit, die ganze muffige Atmosphäre des Kleinstadt-Philisteriums, die ihn elend machte. Er hatte da draußen freiere Luft geatmet, hatte große Menschen gesehen, hatte vom Wasser lebendiger, stark fließender Entwickelung getrunken. Es zog ihn mit aller Macht dahin zurück, wo wirkliches Leben pulsierte.

In Berlin, wohin er nach einjähriger Abwesenheit zurückgekehrt war, sah er sich nach journalistischer Thätigkeit um. Wenig vertraut mit dem Zeitungswesen, glaubte er, daß es nur der Gediegenheit des Wissens, gefestigter Ansichten und guten Deutschs bedürfe, um im Journalismus vorwärts zu kommen. Der Brave ahnte nicht, daß solche Eigenschaften bei der Durchschnitts-Tageszeitung eher Hindernis als Empfehlung sind.

Nun war er also gezwungen, von Redaktion zu Redaktion zu gehen und seine Dienste anzubieten. Hie und da bekam er ein Stück Arbeit hingeworfen, das er annehmen mußte, mochte der Auftrag ihm liegen oder nicht. Dabei warf er einen Blick hinter die Kulissen nicht nur der Presse, sondern auch der ganzen großstädtischen Litteratur.

Er fiel aus einer Enttäuschung in die andere. Dieses Berlin, dem die glücklichen Errungenschaften einer ganzen Nation mühelos in den Schoß gefallen waren, das ein blühendes Centrum geworden war für Handel und Wandel, das in der Politik den Ton angab für Europa, dieses Berlin war eine litterarisch armselige Stadt. Was es an Litteratur hervorbrachte, was es auf seinen Theatern darstellte, war entweder direkt herübergeholt von dem Volke, das besiegt zu haben man sich brüstete, oder es wurde von geschickten Machern nach allerhand pikanten Rezepten zusammengebraut.

Heinrich Lehmfink gedachte der Manen großer deutscher Denker und Dichter, die doch schließlich alle unsichtbar an dem Reiche mitgebaut hatten, das jetzt äußerlich größer und mächtiger dastand, als jene es in ihren bescheidenen Träumen erschaut haben mochten. Was war Macht ohne Kultur? was Fülle der Kraft ohne Geist? Was nützte Breite des Unterbaues, wenn dem Ganzen als edelste Krönung die echte, zu den Wolken aufstrebende Kunst fehlte? –

Dabei war die Presse voll des Lobes und der Bewunderung für die herrschende Kunst. Kein Wunder! Aus den Feuilletons sproßte diese Afterpoesie ja so üppig hervor; die Kritik düngte den eigenen Boden mit ihrer Zustimmung. Man war Poet, Rezensent, Kaufmann in einer Person. Alles stand zu einander in Fühlung, die Theaterbüreaux, die Feuilletonredaktionen, die sogenannten Dichter. Ihre Interessen waren enger mit einander verflochten als die Schwänze eines Rattenkönigs. Der, welcher nicht Zulaß hatte zu ihrem Klüngel, konnte draußen stehen und die Fäuste ballen.

Aber die Opposition war bereits da. Sie mehrte sich mit jedem neuen Mißbrauch der Machthaber, wartete nur auf ein Stichwort, ein Zeichen, einen Führer. Junge Leute, die aus den verschiedensten Lagern stammend nur darin einig waren: Neues an Stelle des Alten setzen zu wollen.

In dieser Gemeinschaft war es, wo Heinrich Lehmfink und Fritz Berting einander kennen lernten.

Es sollte eine Zeitung gegründet werden; denn man wollte zunächst einmal seine Prinzipien niederlegen, Panier entrollen, ein weithin sichtbares Zeichen für alle Gesinnungsverwandten aufstellen, um dann Sturm zu laufen mit starker Mannschaft.

Dieses jugendliche Projekt wäre wie ungezählte seinesgleichen sicherlich ein schöner Gedanke geblieben, wenn sich nicht zwei Leute gefunden hätten, einer, der das Geld dazu hergab: Berting, und ein anderer, der die Arbeit der Redaktion zu leisten ernsthaft gesonnen war: Lehmfink.

Ungefähr zehn Nummern erschienen, dann ging das Blatt ohne Sang und Klang ein. Das große Publikum hatte sich um das neue Unternehmen nicht gekümmert, weil es von Natur indifferent ist gegenüber allem, was mit Ernst auftritt. Und ernst, bitter ernst war es diesen Jünglingen um ihr reformatorisches Werk. Die wenigen Abonnenten aber, die der Prospekt gewonnen hatte, wußten nicht, was sie mit einem Blatte anfangen sollten, das sich auf der einen Seite sozialistisch-kommunistisch, auf der anderen aristokratisch-individualistisch gebärdete, das für Bismarck und das Germanentum schwärmte und gleichzeitig vaterlandslosen Anarchismus predigte. Ein Blatt, in dem die vierte Dimension spukte, das Übermenschentum, die freie Liebe und der Buddhismus sich ein Stelldichein gaben.

Lehmfink hatte nicht geahnt, daß er mit dieser Gründung nur einen Tummelplatz mehr geschaffen habe für unausgegohrene Ideen. Das Blatt war ein Monstrum und seine Wirkung einem Schlage ins Wasser gleich. Diejenigen, gegen die seine Spitze gerichtet sein sollte, lachten, und das Publikum, soweit es überhaupt Notiz davon genommen, wandte sich, noch verwirrter als zuvor, kopfschüttelnd ab.

Niemand härmte sich groß um das Verschwinden dieses Organes. Fritz Berting, der damals eben in die väterliche Erbschaft eingetreten war, verschmerzte das hineingesteckte Geld schnell. Nur Lehmfink nahm die Sache tragischer; ihm war wirklich eine Hoffnung zu Grabe getragen worden.

Mit Hilfe Bertings löste er sich aus einer pekuniären Verpflichtung, die ihm anhing und setzte seinen Wanderstab weiter. Nach Haus wollte er auch jetzt nicht zurückgehen. In dem kleinen Neste kannten einen zu viele Menschen von Jugend auf und würden es einem nur zu bereitwillig unter die Nase reiben, daß man es trotz großer Erwartungen, die man ehemals erregt, doch zu nichts gebracht habe. Er verließ also Berlin; unter welches Notdach er nun kriechen werde, war ihm in seiner damaligen Stimmung beinahe gleichgiltig.

Mit wehmutsvoller Freude begrüßte er seinen Kumpanen Fritz Berting, der nach Verlauf von zwei Jahren desselben Weges verschlagen wurde. Oft hatte er sich in Gedanken mit dem jungen, hoffnungsvollen Menschen beschäftigt.

Es waren gemischte Gefühle, mit denen Heinrich Lehmfink auf den um einige Jahre jüngeren Freund blickte. Zweierlei hatte Fritz Berting vor ihm voraus, zweierlei, das neidlos einem anderen zuzugestehen – und wäre es der liebste Freund – wohl das Schwerste ist, was dem Manne zugemutet werden kann. Fritz war begabt auf einem Gebiete, das zu erobern auch er einmal geträumt hatte, Fritz war Dichter; Lehmfink wußte jetzt, daß er es niemals gewesen sei und niemals werden würde. Und noch ein anderes Patengeschenk war dem jüngeren Manne von einer generösen Fee mitgegeben worden: das Glück bei Frauen. Nicht ohne Bitterkeit fragte sich Heinrich Lehmfink manchmal, wenn er Alma und Fritz zusammensah, was dieser Mensch eigentlich vor ihm voraushabe, geliebt zu werden, wie er geliebt wurde.

Lehmfink erblickte im Weibe die Krone des Lebens. Er hatte sich im Innersten keusch erhalten; darum war ihm ein ungetrübter Blick für die Weiblichkeit bewahrt geblieben. Man hätte von ihm sagen können, daß er das Weib kenne, weil er die Weiber nicht kannte.

Für Lehmfink war Alma ein echtes Weib, gemacht, den Mann zu beglücken, also das Köstlichste, was die Natur hervorbringt. Und er sah mit geheimem Unwillen, daß Fritz Berting diesen Demantstein nicht nach seinem wahren Werte schätzte und behandelte. Was bedeutete es in Lehmfinks Augen, daß Alma von niederer Herkunft war! Sagte ihm doch seine Menschenkenntnis, daß dieses ungebildete Geschöpf das Herz auf dem rechten Flecke habe, und daß in ihrem Wesen die mütterliche Güte des echten Weibes schlummere.

Daß Fritz in wilder Ehe lebte mit dem Mädchen, fand Lehmfink weniger bedenklich, als die Thatsache, daß der junge Mensch sich der Verantwortung, der großen Verantwortung, nicht bewußt war, welche mit einem solchen Verhältnis der Mann auf sich nimmt.

Er wollte dem Freunde ja das leicht erworbene Glück gern vergönnen, aber ihm graute manchmal in Fritzens Seele. Gewiß, es hieß dem Künstler seiner höchsten Gabe berauben, wollte man ihm die Sinnenfreude nehmen. Phantasie, Empfänglichkeit, Schönheitssinn, trieben ihn zum anderen Geschlecht; aber dieselben Eigenschaften machten ihm auch das Geschlechtsleben zur furchtbaren Gefahr. Es war das heikle Dilemma im Leben des Schaffenden: er braucht das Weib wie das tägliche Brot. Seele und Leib schreien nach Ergänzung im anderen Geschlecht. Und doch mußte ein Verhältnis, das in der Sinnlichkeit allein seine Nahrung fand, mit der Zeit der Versumpfung anheimfallen. Es war Heinrich Lehmfinks innerste Überzeugung, daß ein Künstler, der hier Raubbau treibt, früher oder später an seinem Schaffen schweren Schaden leiden muß.

Denn obgleich er sich selbst nicht für einen Künstler hielt, wußte Heinrich Lehmfink doch, daß Liebe und Kunst aus der nämlichen Quelle stammen, daß Schöpfergabe nur verdichtete Kraft ist des Liebens.



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