Wilhelm von Polenz
Das Land der Zukunft
Wilhelm von Polenz

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Das transatlantische Deutschtum

Keinem andern Volke, mit Ausnahme der Angelsachsen, verdankt die werdende amerikanische Nation so viel, wie dem deutschen. Jeder Züchter weiß, daß es keine bessre Blutmischung gibt, als die: verwandter, in langer Trennung hochentwickelter Arten. Uralte Verwandtschaft arischen Blutes traf hier zusammen mit Verschiedenheit der Gewohnheiten und des Charakters.

Dächte man sich den deutschen Einwandrer aus der amerikanischen Entwicklung weg, so ist kein Zweifel, daß das Volk von Nordamerika heute eine andre Physiognomie trüge. Die romano-keltischen Einflüsse hätten dann den germanischen gegenüber die Oberhand gewonnen; sicherlich würde dadurch die Geschichte des Landes einen andern Gang genommen haben. Wahrscheinlich wäre die Entwicklung sprunghafter, die Politik unbesonnener, vielleicht fanatischer gewesen, wenn das ruhige Gegengewicht deutscher Gründlichkeit und Bedachtsamkeit gefehlt hätte. Deutsches Temperament mit seinem langsamern Schritt hat durch sein blosses Vorhandensein die Abenteuerlust des Yankees schon vor mancher verhängnisvollen Übereilung bewahrt.

Am Ende des siebzehnten Jahrhunderts war es besonders ein Land der Neuen Welt, das viele Einwandrer deutscher Abkunft aufnahm: Pennsylvanien. 371 Die frühere durchaus nicht geringe Einwanderung aus dem Reich war, weil vereinzelt und ohne Nachschub, in den fremden Nationalitäten spurlos aufgegangen. Penn zog starke Auswandrerscharen aus Westdeutschland und Holland in sein Gebiet als wertvolle Verstärkung des Quäkerstaates. Franzosenraubzüge, Mißwirtschaft weltlicher und geistlicher Herren und Glaubensverfolgung trieben in jenen Zeiten tiefster politischer Ohnmacht des Reiches die Deutschen vor allem aus der Rheingegend über das Meer. Pastorius organisierte dann die deutsche Auswanderung nach »Kleindeutschland«, wie Pennsylvanien genannt wurde. Germantown ward gegründet, wo für Amerika die erste deutsche Zeitung herauskam. Die gottesfürchtigen, arbeitslustigen und genügsamen Bürger Pennsylvaniens waren in jenen Zeiten der rauhen Anfänge transatlantischer Kultur für die jungen Kolonien von unschätzbarem Werte.

Geschah schon der erste Schritt, die Besiedlung des Ostrandes, nicht ohne deutsche Hilfe, so spielte bei dem weitern Vordringen der Angelsachsen nach dem Westen die Mitwirkung ihrer teutonischen Vettern erst recht eine wichtige Rolle. Ganz sicher hätte das Volk von Nordamerika seine welthistorische Mission: die Besiedlung des Kontinents von Meer zu Meer, nicht so schnell und nicht so gründlich haben ausführen können, ohne die Hilfe des tüchtigsten Ansiedlers der Welt, des deutschen Bauernsohnes. Die jetzige innerpolitische Lage der Union, das Vorwiegen des Nordens über den Süden, das zukunftsfrohe, wirtschaftliche 372 Aufstreben des Westens ist nicht allein in der Gunst des Klimas und den Schätzen des Bodens zu suchen, die Richtung und Art der Einwandrung spielte eine große Rolle dabei. Die Deutschen wanderten in jenen für die Aufschließung des Westens und die Bildung der jungen Weststaaten so wichtigen Jahren zwischen 1820 und 1860 zahlreicher ein denn je zuvor und ließen sich vorzüglich in dem damals gerade aufblühenden Mississippitale und dem nicht minder wichtigen Seengebiete des Nordens nieder. Hier schufen unsre Landsleute den für Amerika beinahe ganz fehlenden Mittelstand in Stadt und Land. Ihr haushälterischer Sinn bildete ein ausgleichendes Gegengewicht zur Spekulationssucht der echten Yankees. Ihr Hängen an der Scholle, ihre Liebe zum Vieh und ihre gründliche, methodische Wirtschaftsweise machten sie zum Vorbilde eines guten Farmers für die Ansiedler aus aller Herren Länder.

In dem großen Kampfe zwischen Norden und Süden, zwischen Sklavenhaltern und Vertretern der Arbeit auf freiem Boden, zwischen Republikanern und Demokraten nahmen sie für die Sache der Einheit, Freiheit und Ordnung Partei, halfen durch ihre Abstimmung für Lincoln den rechten Mann an den rechten Platz bringen. Das Mitkämpfen so vieler waffentüchtiger, ausdauernder, tapferer Männer, kann, trotzdem die Führer, mit Ausnahme Franz Sigels, nicht aus ihrer Mitte hervorgegangen sind, gar nicht hoch genug für den endlichen Sieg des Nordens veranschlagt werden.

Der Segen, den die deutsche Einwandrung der Neuen Welt gebracht hat, beschränkt sich aber 373 durchaus nicht auf die wirtschaftlich-politische Seite. Im methodischen Denken, in der wissenschaftlichen Kritik, in gründlicher Forschung konnte der deutsche Gelehrte dem vielleicht praktischer angelegten, weltklügeren, aber minder tiefen amerikanischen Kollegen Führer und Vorbild sein. Die neuweltliche Wissenschaft ruht mit dem besten, was sie besitzt, auf deutscher Grundlage; je weiter sie vom Materiellen aufsteigt zum Transzendentalen, desto deutlicher offenbart sie den ursprünglichen Kern deutscher Gedanken.

Was wüßten die Yankees von Musik, wenn nicht deutsche Meister geschaffen hätten, wenn nicht durch das Deutschamerikanertum ihnen erst das Verständnis aufgegangen wäre für eine Kunst, die jetzt wie keine andre drüben das Alltagsleben verschönt? Wie hat Frohsinn, Gemütlichkeit und Genußfähigkeit der Deutschen befreiend auf die asketischen Neigungen der Puritaner-Abkömmlinge Neu-Englands gewirkt! Wie hat deutsche Duldsamkeit und Weitherzigkeit die finstre Büßerlust und die heuchlerische Gesetzesherrlichkeit der angelsächsischen Umgebung veredelt und zu freieren Sitten geführt!

Wie in so vielem ist den Vereinigten Staaten auch mit der teutonischen Einwandrung ein großes Glück unverdient in den Schoß gefallen. Als das Land tüchtige, arbeitsame, genügsame Landwirte und Handwerker brauchte, da sandte ihm Deutschland Scharen von Bauern, gelernten Arbeitern und Kleinmeistern, die den Grund graben und die Fundamente legen halfen des wirtschaftlichen Baues. Als die Verhältnisse drüben 374 reif waren für edelste Zivilisation und als die amerikanische Gesellschaft, die in Kunst, Wissenschaft und Philosophie eigne Schöpfergeister nicht hervorgebracht hatte, doch Sehnsucht empfand nach der feinsten Geisteskultur der Alten Welt, da sandte ihnen Europa und in erster Linie Deutschland diejenigen von seinen Söhnen, die sich daheim mit der Ordnung der Dinge nicht einverstanden fühlten, auf deren zartbesaiteten, stolzen Seelen der Druck philisterhafter Enge, der polizeilichen Bevormundung und der Krähwinkelei zumal, allzu schwer lastete. Damals wanderten alle jene Idealisten und Phantasten aus Deutschland aus, denen das alte Vaterland durch die Metternichsche Reaktion, unter dem Schutze der Heiligen Allianz, durch die Bundestagskorruption und die preussische Demokratenriecherei verekelt worden war. Die große Demokratie jenseits des Atlantischen Ozeans aber hat ja von jeher aus den dem reaktionären Europa wegen religiösen oder politischen Druckes entweichenden Scharen ihre besten Anhänger und ihren wertvollsten Nachwuchs gewonnen. So hat auch die 1848er und 1849er Einwandrung für Amerika eine höchst erwünschte Summe von Talent, Intelligenz, Kenntnissen und Bildung gebracht. Was bedeutet allein ein Name wie Karl Schurz! Dabei ist Schurz nur einer, wenn auch vielleicht der edelste Vertreter jener für das damalige Deutschland unerträglichen, weil allzu hoch strebenden und verfrüht großpatriotisch gesinnten Vollnaturen, der für sein temperamentvolles Jugendstreben erst in Amerika den rechten Spielraum gefunden hat.

375 Die Neue Welt hat unberechenbar gewonnen und gewinnt heute noch durch die deutsche Einwandrung. Für unser Land und Volk hingegen hatte die Auswandrung nach Amerika für lange Zeit die Bedeutung einer immerfort fließenden Wunde, durch welche viel gute Kraft nutzlos verrann.

Denn die Deutschamerikaner sind für die alte Heimat dauernd verloren, politisch ganz und kulturell beinahe vollständig. Für unser Wirtschaftsleben kommen sie mindestens ebenso sehr als Konkurrenten wie als Vermittler zwischen zwei Handelszonen in Betracht.

Der Traum, daß die Deutschen sich jenseits des großen Wassers ein Neu-Deutschland gründen könnten, ist längst und wohl für immer von allen nüchtern Denkenden aufgegeben worden. Am klarsten hat bereits Ende der achtziger Jahre des verflossnen Jahrhunderts der ausgezeichnete Friedrich Kapp nachgewiesen, weshalb die Deutschen in Nordamerika nicht deutsch bleiben können, selbst wenn sie es wollten. Glieder, die sich von einer großen Nationalität ablösen, müssen entweder auf neuem Boden einen ganz neuen, der Umgebung angepaßten Bau aufführen, wie es die Angelsachsen in ihren dreizehn Kolonien der atlantischen Küste getan, oder sie verdorren, schwinden vor der Überlegenheit einer fremden Kultur dahin; das ist der Fall der Spanier im Westen und Süden der Union. Oder sie gehen auf im anders gearteten, ihnen bei alledem doch nicht allzu fremden Volkstum; das ist der Fall des deutschen Elements in Nordamerika.

Wir mögen es bedauern, daß es so gekommen 376 ist, aber der Deutsche ist und bleibt in Amerika eine dem Untergange geweihte Größe. Kapp sagt: »Was wir deutsches Element in den Vereinigten Staaten nennen, ist kaum mehr als die gerade lebende eingewanderte Generation, welche in sich abstirbt.« Den Deutschamerikanern ist daraus kein Vorwurf zu machen; sie gingen nicht übers Meer, um drüben zu kolonisieren. Die Not trieb sie hinüber. Viel eher könnte man das Vaterland tadeln, das sie ziehen ließ oder gar sie von sich stieß, das immer mit verschränkten Armen zugesehen hat, wie seine Söhne fremde Staatswesen verstärken halfen.

Es war zudem das Unglück der Deutschen in Amerika und der eigentliche Grund, warum sie bei aller Tüchtigkeit niemals in der amerikanischen Gesellschaft jene Anerkennung gefunden haben, die ihnen von Rechts wegen gebührte, daß sie mit einem Volke zusammenstießen, welches ihnen politisch durchaus überlegen ist. Als die Deutschen in größeren Scharen in die Neue Welt einzuströmen begannen, hatten sich die englischen Kolonisten längst eigne Lokalverfassungen gegeben, hatten ihre Selbstverwaltungen ausgebildet, denen sich die später Zuwandernden einfach fügen mußten. Ebenso war es mit der Sprache und dem Gemeinen Recht. Was hatten die Söhne armer deutscher Bauern, die zum größten Teile des Hochdeutschen nicht einmal mächtig waren, der Sprache der Neu-Engländer und jenen den Angelsachsen in Fleisch und Blut übergegangenen großen Rechtsprinzipien der Magna Charta, der Bill of rights und des Common law entgegenzusetzen?

377 In jenen rauhen Zeiten der Westwandrung und der Besitzergreifung des Landes, in denen das Sprichwort sich bewahrheitete: »Wer zuerst kommt, malt zuerst!« mußten die Deutschen gerade durch die besten Seiten unsres Volkscharakters: Gewissenhaftigkeit, Genügsamkeit, Treue und Ehrlichkeit, vor einem zielbewußtern und rücksichtslosern Rivalen, dem Yankee, zurückstehen. Dazu kamen erschwerend die Fehler des deutschen Wesens, die auch in der Neuen Welt nur von den wenigsten abgelegt wurden: Uneinigkeit, Pessimismus, Schwerfälligkeit, Eigensinn. Und da es anfangs fast nur niedres Volk war, das einwanderte, fehlte dem einzelnen vollständig die Waffe des selbstbewußten Stolzes fremden Einflüssen gegenüber. Der kleine Mann hat ja selten den Trieb in sich, seine Art zur Geltung zu bringen, er ist froh, wenn er sich anlehnen oder irgendwo unterkriechen kann.

Man hat richtig gesagt: die Franzosen seien in Nordamerika gescheitert, weil sie Führer besaßen, aber keine Heere, die Deutschen dagegen hätten dort nichts erreicht, weil sie Heere geblieben wären ohne Führer. Es fehlte der deutschen Einwandrung im 17. und 18. Jahrhundert das, was die englische von Anfang an gehabt hatte: das Hirn. Später, vor allem nach 1830 und 1848, kamen dann auch von unsrer Seite die Intellektuellen nach, aber da war es schon zu spät; der Würfel war längst gefallen darüber, wer in Amerika herrschen solle. Außerdem konnten die deutschen Demokraten auf politischem Gebiete nirgendwo Führer 378 sein. Kapp schildert uns in drastischer Weise, wie die hochgebildeten Flüchtlinge aus Deutschland drüben erst vollständig umlernen mußten, was für dornenreiche Umwege sie zu machen, wie viel mühevoll Erlerntes sie über Bord zu werfen hatten, ehe sie aus unpraktischen Theoretikern praktische Amerikaner zu werden sich anschickten.

Und noch einen andern verhängnisvollen Nachteil hat der Teutone dem Angelsachsen gegenüber: seine mangelhafte gesellschaftliche Bildung. Zum Wesen des Deutschen gehört nun einmal Formlosigkeit. Sie wird bei uns zu Hause höchstens durch die ständische Gliederung der Gesellschaft, die militärische Disziplinierung des ganzen Volkes und den selbst auferlegten Kasten- und Korpsgeist etwas in Schranken gehalten. Fällt solcher Zwang weg, wie in der Neuen Welt, so tritt das schrankenlose Wesen der Deutschen, ihre Maßlosigkeit und Formverachtung erschreckend zu Tage. Nirgends vielleicht läßt man sich unter Deutschsprechenden so gehen wie in den Kreisen der Deutschamerikaner. In diesem Nationalfehler liegt eine Erklärung, warum das sonst hochgeachtete deutsche Element in den großen transatlantischen Städten gesellschaftlich gar keine oder nur eine geringe Rolle spielt.

Auch hier wird für den Deutschen das Übertreiben an sich guter und sympathischer Eigenschaften zur Untugend. Wir verinnerlichen alles, darüber vernachlässigen wir die Pflege des Äußern; der Inhalt ist uns zu viel, die Form zu wenig. Die aus unserm Innern zu Tage geförderten Schätze bereichern die 379 Welt; andere Nationen eignen sie sich mühelos an, aber wir selbst werden oft um den verdienten Erfolg betrogen, weil wir über dem tiefen Nachsinnen, Träumen und theoretischen Fordern versäumen, das Leben zu nehmen, wie es ist, es zu verarbeiten, statt uns von ihm treiben und überwältigen zu lassen.

Vor der Größe, Fremdheit und Brutalität der Verhältnisse in der Neuen Welt steht der deutsche Michel zunächst ratlos da. In der Heimat mit ihren vielen Grenzen, Abteilungen, Klassen und Zünften, hat er sich doch immerhin als ein kleines Ich fühlen können; wenn nicht als Beamter oder Würdenträger, dann wenigstens als Mitglied einer Gemeinde, einer Korporation, eines Vereins. In Amerika ist er Stein unter Steinen. Er erscheint sich verloren in der Masse, wie ein Tropfen im Weltmeer. Es ist, als ob ein Bäumchen aus eng umfriedigtem Garten in den großen Wald versetzt würde. Furchtbares Gefühl, plötzlich zu erkennen, wie unbedeutend, ja gleichgültig die Einzelexistenz für das Ganze ist. Ein kalter Hauch, gleichsam aus dem unendlichen Weltenraume, berührt einen. Der arme Einwandrer steht wie gelähmt vor der großen, fremden, feindlichen Welt, in der alles anders ist, als daheim. Auf den Yankee wirkt das Bewußtsein von dem Umfang und der Großartigkeit aller Verhältnisse in seinem kontinentalen Lande gerade umgekehrt; ihn begeistert das Gefühl, Anteil zu haben an solcher Größe. Seine stärksten Eigenschaften: Optimismus, Enthusiasmus, Energie, entspringen nicht zum geringsten Teile aus diesem Bewußtsein.

380 Den Deutschen, besonders den aus kleinen Verhältnissen stammenden, erschreckt die Weiträumigkeit des Kontinents, die den Eingebornen fortreißt, begeistert und anspornt. Er hockt am liebsten zusammen mit seinesgleichen, sucht Anschluß bei den Landsleuten. So sind eine Anzahl jener deutschen Kolonien geworden, wie Neu-Ulm, Neu-Braunfels, Friedrichsburg, in denen kein Deutschtum großen Stiles erblüht, höchstens eine Fortsetzung des heimischen Pfahlbürgertums erstanden ist.

Der von philanthropischen Ideen ausgehende, aber mit Unkenntnis der amerikanischen Verhältnisse begonnene Staatengründungsversuch des »Mainzer Vereins deutscher Fürsten, Grafen und Herren«, scheiterte kläglich. Er lenkte jedoch die Aufmerksamkeit auf das wie kein andrer Staat zur Kolonisation geeignete Texas. Im Süden, wo sonst die Deutschen eine geringe Rolle spielen, haben sie sich gerade in diesem Staate am erfolgreichsten niedergelassen und am intaktesten erhalten, während das Deutschtum in Pennsylvanien, das älteste und kompakteste der Union, heute eine Entartung der Sprache und einen Mischmasch der Sitten und Anschauungen zeigt, die mit echtem Deutschtum fast nur noch die Unsitten gemein haben.

Nirgends erkennt man den schlimmen Mangel höherer staatsmännischer Leitung bei den Deutschamerikanern so deutlich wie an ihren Städtegründungsversuchen. Sie sind samt und sonders im kleinen stecken geblieben. Franzosen, Holländer, Engländer, ja selbst Spanier haben den Grund zu den Weltstädten 381 drüben gelegt. Die Deutschen haben keine Stadt von nur mittlerer Bedeutung angelegt. Dagegen geben sie für viele wichtige Städte wie Milwaukee, St. Louis, San Francisco, Cincinnati, Chicago die anerkannt besten Bürger ab.

Der Deutsche scheint nicht jenen Pioniergeist zu besitzen, den zum Beispiel die Franzosen in Kanada und im Mississippitale bewiesen haben. Er braucht einige Zeit, ehe er sich im fremden Lande an das neue Element gewöhnt. Mühsam muß er sich die Organe schaffen, um die veränderten Lebensbedingungen zu meistern. Sein Gegenstück darin ist der Irländer, der sich sofort in der Neuen Welt heimisch fühlt. Der Kelte ist eben leichtblütiger als der Germane und minder mit Grundsätzen beladen. Paddy schwimmt daher auf den hochgehenden Wogen des amerikanischen Lebens wie ein Kork, während der gehaltvollere Deutsche zur Tiefe sinkt.

Das Deutschamerikanertum hat nur eine Gegenwart, aber keine Zukunft. Es gleicht einem Eisberg, der, sobald er in südliche Gewässer kommt, schneller und schneller von den gierigen Wellen benagt wird und im Ozean vergeht. Die Yankees verlangen dieses restlose Aufgehen des naturalisierten Fremden in ihrem Volkstum als Bürgerpflicht. Theodor Roosevelt donnert in seiner Rede über den »wahren Amerikanismus« gegen den »parochialen Geist, den Patriotismus der Kirchturmpolitiker«. Er sagt: »Wir brauchen keine Deutschamerikaner, keine Irischamerikaner, die eine besondre Schicht in unserm politischen und gesellschaftlichen 382 Leben bilden wollen. Es ist ein unsagbar großer Vorteil für jeden Einwandrer, amerikanischer Bürger zu werden. Der Name Amerikaner ist ein Ehrentitel. Wer anders darüber denkt, hat kein Recht, diesen Titel zu tragen und muß, je eher, je lieber, nach Europa zurückkehren.« Das klingt stolz, aber es ist vom amerikanischen Standpunkte aus konsequent gesprochen. Es zeigt in furchtbarer Schroffheit jedem Europäer den einzig gangbaren Weg, der ihm bleibt, wenn er in dem Lande seiner Wahl vorwärts kommen will.

Der deutschen Untugend entsprechend, willenlos im fremden Wesen aufzugehen, hat sich jener Prozeß der Assimilierung, der hier als Gebot der Bürgertugend aufgestellt wird, bei den meisten unsrer Landsleute in Amerika ziemlich rasch vollzogen. Die Bezeichnung: »Völkerdünger« ist hart aber nicht unzutreffend für gewisse Teile der deutschen Einwandrung.

Aber es gibt noch eine andre Sorte Deutschamerikaner, Gott sei Dank für unsern Stolz gibt es solche, die nicht schmerzlos und ohne Sträuben das angeborne Volkstum aufgeben. Wir finden da einmal die Klasse der Unzufriednen, denen die Neue Welt nicht gehalten hat, was sie sich in überspannter Hoffnung von ihr versprochen hatten, und die sich nun von Grund der Seele zurücksehnen nach der alten Heimat. Sie sind die tragischen Figuren unter den Eingewanderten. Den Anschluß an die Alte Welt haben sie verloren, aber in der Neuen konnten sie auch keine Wurzeln schlagen. Man wird meist finden, daß diese Pessimisten arg auf Amerika schimpfen, daß sie jedoch ebenso 383 gern an Deutschland herumnörgeln. Es ist ihnen vom Deutschbewußtsein nur noch ein unklarer, sentimentaler Zug geblieben; phrasenhafte Gefühlsduselei, Schwärmerei für Schiller und Goethe, die sie nicht lesen, und ein erstaunlich schiefes Urteilen über unsre neuste politische Entwicklung.

Ist das etwa zu verwundern? – Für diese Menschen ist Amerika nun einmal die Wirklichkeit geworden. Amerikanisch ist die Luft, die sie atmen, amerikanisch sind die Gesetze, unter denen sie leben, die Einrichtungen, mit denen sie täglich in Berührung kommen, kurz alles Reale. Vom alten Vaterlande erhalten sie höchstens Kunde durch Zeitungen, Briefe, bestenfalls durch Besuch. Vollends die zweite Generation bekommt nur noch indirekt durch Abstraktionen: im Unterricht, durch Bücher, vielleicht durch Erzählungen der Eltern, Kunde vom Heim ihrer Vorfahren. Stärker als die Atmosphäre des Elternhauses aber wirkt auf die Kinder der Eingewanderten die Schule ein; vor der planvollen Amerikanisierung durch den Unterricht hält die nur schwach gehegte Pietät für das ferne Mutterland nicht stand.

Es gibt Deutschamerikaner, die sich ernstlich bemühen, gute Bürger der Neuen Welt zu sein und doch dabei das alte Vaterland nicht zu vergessen, die danach streben, sich auch drüben ein richtiges Urteil über reichsdeutsche Verhältnisse zu bewahren, ja, die den heroischen Versuch machen, ihre Kinder beim Deutschtum zu erhalten. Diese Klasse ist auf dem Lande am stärksten vertreten. Der nivellierende Zug des 384 Stadtlebens zeigt sich auch darin, daß der in der Stadt lebende Eingewanderte sich schneller akklimatisiert als der einzeln wohnende Farmer.

Die beste Arbeit für Erhaltung deutschen Wesens in Amerika hat die Kirche geleistet. Doch macht sich leider in der deutsch-lutherischen Kirche, auch auf dem Lande, eine Bewegung für Einführung der englischen Sprache in Gottesdienst und Kirchenschule geltend. Siegt die anglisierende Richtung, dann würde die Sterbeglocke des Deutschtums in Nordamerika erst recht geschlagen haben, denn das, was viele Farmer und Farmerssöhne einzig und allein in lebendiger Verbindung erhält mit der deutschen Gedankenwelt, ist ihr Luthertum. Der große Reformator ist auch als Profanschriftsteller ein vielgelesner Autor in jenen Kreisen.

Am sympathischsten ist mir das Deutschamerikanertum im kirchlichen Wesen entgegengetreten. Der Gottesdienst, soweit er evangelisch, trägt deutschländischen Charakter. Es ist ein merkwürdig ergreifendes Gefühl, wenn man am Sonntag, irgendwo im Norden oder Süden der Union, in eines dieser einfachen Gotteshäuser tritt und hier mitten im großen Amerika eine unverfälschte deutsche Feiertagsgemeinde vorfindet. Die Köpfe, unverkennbare Bauernköpfe, die aus einem Cranachschen Bilde geschnitten sein könnten; die ganze Atmosphäre bäurisch: das langsame Singen, der Ernst des Auftretens, die altfränkische Kleidung, die würdevolle Ruhe der Gemeinde, die den Pastor alles machen läßt. Dazu das tiefe Versonnensein dieser Menschenkinder, die bei scheinbarem Phlegma innerlich doch 385 tiefen Anteil an der Sache nehmen. Das alles ist so ganz unamerikanisch, daß man das Gefühl hat, auf eine Insel verschlagen zu sein, auf der sich, allen Sturmfluten des neuweltlichen Lebens zum Trotze, etwas vom reinsten Deutschtum in voller Ursprünglichkeit erhalten hat.

Solcher Inseln sind aber viel zu wenige, als daß ihnen für das Geistesleben der Deutschen eine bedeutende Rolle zufallen könnte.

Ein oft übersehner Grund, warum die deutschen Einwandrer die Muttersprache so schnell aufgegeben haben, ist der, daß sie, vom platten Lande kommend, das Hochdeutsch gar nicht beherrschten. Einzelne Dialekte, Plattdeutsch und Schwäbisch zum Beispiel, zeigen drüben ein zäheres Leben als das Schriftdeutsch, aber natürlich sind sie außer im engsten Kreise nicht zu verwenden. Manche Deutsche müssen englisch lernen, um sich nur mit ihren ein andres Idiom sprechenden Landsleuten in Amerika verständigen zu können.

Wie niedrig das Bildungsniveau mancher Deutschamerikaner sein muß, geht wohl daraus hervor, daß nächst religiöser Lektüre vor allem die übelsten Schundromane von ihnen verschlungen werden. Das in Amerika heute am meisten gefragte Buch in deutscher Sprache ist, wie mir glaubwürdig versichert wurde, noch immer das »Ägyptische Traumbuch«.

Für die Literatur können wir wenig von den Deutschen Amerikas erwarten. Was sie zu geben hatten, einige rührende Lieder voll Heimatsehnsucht und einige gute Bücher über das Deutsch-Amerikanertum, 386 haben sie uns längst geschenkt; haben sie sich damit scheinbar verausgabt. Als Schriftsprache wie als Gebrauchssprache ist das Deutsch in Nordamerika verloren. Die Jugend geniert sich, es zu sprechen. Ich erlebte eine auffällige Bestätigung dieser traurigen Beobachtung. Ein junger Mann, gänzlich Yankee in Erscheinung und Manieren, sagte mir, seine Eltern stammten aus Deutschland, doch wußte er nicht, aus welchem Gau. Dieser Mensch verstand kein Wort seiner Muttersprache. Er ließ sich von mir seinen guten deutschen Namen, der auf niedersächsische Abkunft deutete, übersetzen. Ein andres Beispiel erlebte ich in St. Louis, das als eine der deutschesten Städte der Vereinigten Staaten gilt. Dort wurden mir in einer High-School-Klasse von sechzig Kindern rund zwei Drittel als von deutscher Abkunft bezeichnet. Von diesen sprachen nur noch fünf oder sechs mit ihren Eltern deutsch.

Die einzige Hoffnung für den, der in regen geistigen Beziehungen das beste Verständigungsmittel zwischen zwei grossen Nationen erblickt, ist, daß die deutsche Sprache, die leider als Gebrauchssprache drüben dem Untergange geweiht scheint, als Kultursprache wieder erstehen möge. Es muß für den gebildeten Amerikaner, einerlei welcher Abkunft, Bedürfnis werden, sie zu erlernen. Das kann erst dann geschehen, wenn die deutsche Literatur, die man in Amerika jetzt nur sehr wenig würdigt, endlich zu dem ihrer Bedeutung gebührenden Ehrenplatze neben die englische und die französische aufgerückt sein wird.

Wenn auch die Deutschamerikaner für ihr altes 387 Vaterland als verloren angesehen werden müssen, so können sie sich doch um die beiden Völker, denen sie ihre Existenz verdanken, ein großes Verdienst erwerben. Nicht nur als Vermittler zweier Kulturen, sondern vor altem auch als Bürgen für den Frieden der Welt. Ihnen fällt die hohe Aufgabe zu, dem Kriege vorzubeugen, ja den Krieg zwischen dem Lande ihrer Herkunft und dem Lande ihrer Wahl zur Unmöglichkeit zu machen. Das können sie, wenn sie überall den Mißverständnissen entgegentreten, die durch Neid, Mißgunst und Übelwollen immerfort gesät und von einer frivolen Presse hüben und drüben genährt werden. Falls ein Krieg ausbräche, würden sie es am schwersten büßen.

Seit dem Samoa-Konflikt wissen wir, wo die Deutschamerikaner fechten würden; für das Land nämlich, dem sie bei ihrer Einbürgerung den Treueid geleistet haben. Daß sie blutenden Herzens die Waffen gegen ihr altes Vaterland tragen würden, können wir zu ihrer Ehre annehmen.

Ihre Stimmen fallen drüben schwer ins Gewicht. Gerade weil sie sich dem Parteigetriebe im allgemeinen fern gehalten haben, und da sie infolgedessen von Korruption leidlich frei sind, muss man mit ihnen rechnen. Man wird sich hüten, sie zu verstimmen.

Ihre Stellung als Zünglein an der Wage des öffentlichen Lebens sollten sie mit staatsmännischer Klugheit ausnutzen für die edelste Aufgabe: die Erhaltung des Weltfriedens. 388

 


 


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